Die Herrin der Vögel - Bachtyar Ali - E-Book

Die Herrin der Vögel E-Book

Bachtyar Ali

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Beschreibung

Stunde um Stunde verbringt die junge Sausan in der Bibliothek ihres Vaters. Wegen ihrer Gesundheit zu einem Leben am immer selben Ort verdammt, entdeckt sie die Vielfalt der Welt durch ihre Bücher: Sie liest von fernen Städten und alten Völkern, von Meerestieren, Motoren und wundersamen Pflanzen. Sie ist sich gewiss: Sollte sie je heiraten, dann einen Mann mit weltoffenem Geist, der die Liebe zu Geschichten im Herzen trägt. Als gleich drei Verehrer um ihre Hand anhalten, stellt sie ihnen eine Aufgabe: Acht Jahre lang sollen sie die Ferne bereisen und ihr nach Ablauf dieser Zeit einhundert Vögel zurückbringen. Dann wird sie ihre Berichte hören, jedem in die Augen schauen und prüfen, ob sie darin den Reichtum dieser Welt erblickt.

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Seitenzahl: 459

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Über dieses Buch

In ihren Büchern entdeckt Sausan wundersame Orte, doch das Reisen bleibt ihr verwehrt. Als drei Verehrer um ihre Hand anhalten, schickt sie die Männer aus: Acht Jahre lang sollen sie die Ferne bereisen und ihr einhundert Vögel zurückbringen. Danach wird sie jedem in die Augen schauen und prüfen, ob sie darin den Reichtum dieser Welt erblickt.

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Bachtyar Ali, geboren 1966 in Sulaimaniya (Nordirak), ist der bekannteste Schriftsteller des irakischen Kurdistan. Sein Werk umfasst Romane, Gedichte und Essays. Er lebt seit Mitte der Neunzigerjahre in Deutschland. 2017 wurde er mit dem Nelly-Sachs-Preis, 2023 mit dem Hilde-Domin-Preis ausgezeichnet.

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Ute Cantera-Lang, geboren 1974 in Erlangen, lebt seit vielen Jahren in Österreich. Sie studierte Musik an der Kunstuniversität in Graz. Zahlreiche Auslandsaufenthalte führten zu Dolmetschtätigkeiten in Spanisch und Englisch. Gemeinsam mit Rawezh Salim übersetzt sie aus dem Kurdischen (Sorani).

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Rawezh Salim, geboren 1973 in Sulaymaniyah (Nordirak), floh während des kurdischen Bürgerkrieges nach Österreich, wo er Translationswissenschaften studierte. Er arbeitet unter anderem als Übersetzer und Dolmetscher für die Sprachen Deutsch, Kurdisch und Arabisch.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Hardcover, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Bachtyar Ali

Die Herrin der Vögel

Roman

Aus dem Kurdischen (Sorani) von Ute Cantera-Lang und Rawezh Salim

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 1 Dokument

Die Originalausgabe erschien 2009.

Lektorat: Hans-Ulrich Müller-Schwefe

Originaltitel: Koşkî Balinde Xemgînekan

© by Bachtyar Ali 2009

© by Unionsverlag, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Lukman Ahmad, Waiting for an Absent Lover, 2014, Acryl auf Leinwand (Ausschnitt)

Umschlaggestaltung: Peter Löffelholz

ISBN 978-3-293-31091-9

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Version vom 19.10.2024, 17:38h

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Inhaltsverzeichnis

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Titelseite

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Inhaltsverzeichnis

DIE HERRIN DER VÖGEL

1 – Es war ein kalter Abend, an dem Mangur …2 – Khalid Mam Sabur, den alle Khalid Amun nannten …3 – Asrin schwebte in Lebensgefahr, als sie das Krankenhaus …4 – Nach einer Reihe von Katastrophen in Bagdad überlegte …5 – Die Nachricht von dem jungen Studenten, der von …6 – Die Freude der Familie über Nizars Studienabschluss an …7 – Kameran war nicht gerade ein Meister, wenn es …8 – Am Vormittag des folgenden Tages machte sich Khalid …9 – Prusche erlitt bei der Trauerfeier ihres jung gefallenen …10 – Fikrat hielt Mangur für einen gefährlichen Narren …11 – Nach fünf Tagen durfte Asrin das Krankenhaus verlassen …12 – An dem Abend, an dem Asrin aus dem …13 – Erst als Mariam am Wochenende von der Universität …14 – Die Nachricht, jemand aus dem Amun-Clan habe um …15 – Das Gedicht von Mustafa Hazhar und das Lied …16 – Wenn man das Haus von Sausan aus der …17 – Sausan beschloss, alle drei Heiratswilligen am selben Tag …18 – Mit gedämpfter Stimme, den Nacken gebeugt, stellte sich …19 – Asrin Ibrahim dachte sehr lange über das Gespräch …20 – In dieser Woche bedeckten die Flügel eines langen …21 – Wir wussten, dass die drei Heiratskandidaten Sausan die …22 – Am Abend verbreitete sich die Nachricht von Sausans …23 – Asrins Nacht des Abschieds war besonders. Dutzende von …24 – Kamerans größte Schwierigkeit war, Geld für die Reise …25 – 1987, mit Frühjahrsbeginn, verließen alle drei ihre Heimat …26 – In den folgenden Monaten zeigten sich bei Mangur …27 – Qalandars Attacke auf Mustafa geriet nicht so schnell …28 – 1988 war eines der härtesten Jahre der jüngeren …29 – Prusches Heirat veränderte so manches in Sausans und …30 – Als sich 1991 der Irak gegen die ganze …31 – In der Nacht hörten wir, dass Sausan unauffindbar …32 – Niemand machte Sausan Vorwürfe, denn sie kehrte krank …33 – Die Baathisten sannen auf Vergeltung für das Massaker …34 – Nach dem Aufstand war es für die drei …35 – Als 1994 der Bürgerkrieg ausbrach, war von der …36 – Im Frühling des Jahres 1994 kamen die beiden …37 – Wider Erwarten war jedoch Kameran Selma der Erste …38 – Am Abend machte sich Kameran in Begleitung von …39 – In dieser Nacht wurde bis zum frühen Morgen …40 – Am nächsten Tag gingen Sausan, Prusche und ihre …41 – Sie trug alle Käfige einzeln nach oben …42 – Die Nachricht von dem blutigen Anschlag auf Khalids …43 – Eine Woche nach der Rückkehr von Khalid Amun …44 – Sausan bemerkte, dass Khalid Amuns Vögel selten zwitscherten …45 – Als Khalid Fikrats Haus verließ, ahnte er …46 – Asrins Fortgehen betrübte Sausan. Der Gedanke an Asrins …47 – Die Nachricht von Sausans Brief erreichte zuerst das …48 – Schon vor Kamerans Treffen mit Sausan und Fikrat …49 – Zehn Tage nach der Hochzeitsnacht zogen sie in …50 – Nachdem Khalid die Stadt verlassen hatte, landete er …51 – Das gesamte Jahr 1995 über wurde der Gesang …52 – Bereits einen Tag vor dem Einmarsch hatte sich …53 – Abends, nachdem sie die Stadt eingenommen hatten …54 – Um halb zwei war Sausan erwacht. Sie hatte …55 – Um zu Sausan und den Vögeln zurückzukehren …56 – Die Vögel starben, einer nach dem anderen …57 – Im Jahr 2002 verstarb Saqi Mahmoods Schwester …58 – Aryan kam in den letzten Jahren täglich zum …

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1

Es war ein kalter Abend, an dem Mangur Babagaura und Kameran Selma an der Ecke einer Gasse Asrin Ibrahim abpassten. Eine Stunde lang hatten sie auf ihn gewartet, um ihn zur Rede zu stellen. Kameran Selma hatte geschworen, Asrin umzulegen, sollte das Gespräch mit ihm nicht zum gewünschten Ergebnis führen. Er würde ihn einfach auslöschen, ihn im eigenen Blut wie einen Hund ertränken. Eine andere Wahl gäbe es nicht. Man kannte ihn und wusste, was für ein Hitzkopf er war.

Seit einiger Zeit gingen Gerüchte um, die Kameran in den Wahnsinn trieben. Niemand weiß, wie sie an Kamerans Ohren gelangten, aber es muss eine gottlose Seele gewesen sein, die sie ihm, ausgeschmückt mit eigenen Fantasien, zuflüsterte. Man behauptete, Sausan Fikrat, das hübsche, scheue Mädchen, das vor einem Jahr aus Bagdad hergezogen war, würde von Asrin Ibrahim umworben. Sollte das wahr sein, sah sich Kameran Selma gezwungen, Asrin umzubringen, und wenn es nicht anders ginge, sich selbst dazu, denn er konnte sich nicht vorstellen, diese Liebe, die ihn verzehrte, aufzugeben. Seine Verliebtheit war Furcht einflößend. Jedem und jeder, den Trinkkumpanen, seinen Schwestern und Cousins, den Nachbarn und den Leuten neben dem Laden seines Bruders hatte er erzählt, dass er Asrin umbringen würde, falls die Unterredung nicht zu seiner Zufriedenheit verliefe.

Man wusste, dass Kameran Selma eine solche Tat zuzutrauen war. Er gehörte zu den Messerhelden der Stadt, und am gefährlichsten war, wenn so ein Wirrkopf sich plötzlich verliebte. Mangur Babagaura, der Vernünftigste unter seinen Kumpanen, hatte ihm gut zugeredet, er solle zuerst mit Asrin sprechen.

»Niemand weiß etwas über das Verhältnis zwischen Sausan Fikrat und Asrin Ibrahim. Sei nicht voreilig! Du kannst nicht jemanden ohne einen Beweis einfach umlegen«, sagte Mangur.

Er selbst gehörte zu den ältesten und bekanntesten Messerhelden der Stadt und hatte immer wohlüberlegt gehandelt.

»Bevor die Hand das Messer ergreift, muss man alles versucht haben.« So lautete sein Credo.

Er hatte Kameran immer schon als einen Sohn oder kleinen Bruder betrachtet. In ihm steckten so viel Mut und Tapferkeit. Er respektierte diese jungen Hitzköpfe, weil in ihnen das Feuer des Lebens brannte, was ihm sehr gefiel. Kameran war noch nicht einundzwanzig. Die beiden hatten einander vor einem Jahr bei einer Pokerrunde im Keller eines Hotels kennengelernt, das seine Bekanntheit dem dort herrschenden Mangel an Sauberkeit und dem Umstand verdankte, dass die besten und erfahrensten Spieler der Stadt dort ihr Glück suchten. Mangur beeindruckte von Anfang an Kamerans draufgängerische Art und dass er den Umgang mit solchen Profispielern pflegte, obwohl manche von ihnen nicht davor zurückschreckten, sich mit Gewalt zu behaupten, und nicht erst, wenn es um Geld ging. Mehr als sein gutes Aussehen, das rabenschwarze Haar und die weizenfarbene Haut beeindruckten die Spieler sein selbstbewusstes Auftreten und sein scharfer Blick, der gleich am ersten Abend in ihre Geheimnisse und die des Hotels eindrang. Seine Art zu sprechen und die maßgeschneiderte kurdische Tracht führten dazu, dass alle im Keller ihn mit Bewunderung anstarrten.

Ohne Mangur Babagauras Freundschaft hätte Kameran sich wahrscheinlich sehr bald in tödliches Unheil verwickelt. Er war ein Hasardeur, der nicht einmal gezögert hätte, einen Drachen zu provozieren. Dazu kam sein gefährlich überzogenes Selbstbewusstsein. Auch die Sorgen seiner Schwestern und ihre Ratschläge brachten ihn nicht zur Vernunft. Wenn er in einem seiner typischen Wutanfälle abrauschte, wurden alle Bemühungen seiner Schwestern hinfällig. Alle waren sich einig, dass er bereits in jungen Jahren in eine Katastrophe mit tödlichem Ausgang geraten würde. Vor ein paar Jahren hatten bereits zwei seiner Cousins in einem völlig sinnlosen Streit ihr Leben gelassen. Als läge den Leuten seiner Familie so etwas im Blut. Solche Menschen hatte Mangur selten unter seine Fittiche genommen. Er wusste, dass Kameran in einer anderen Zeit unterwegs war als er selbst vor zwanzig Jahren. Damals hatten die Menschen einen besseren Überblick, und der Staat hatte nicht überall seine Spione, vor denen man sich in Acht nehmen musste. Seither war alles beängstigender und dunkler geworden. Er würde nicht zulassen, dass Leidenschaft und Aggressivität Kameran den Kopf kosteten. Vor zwanzig Jahren hätte ihn gleichgültig gelassen, gegen wen er sein Messer richten und wer ihn töten würde. Aber nun hätte es ihm leid getan, einen so feurigen Jungen sterben zu sehen. Zu seinen Freunden sagte Mangur: »Dieser junge Mann durchlebt gerade eine Phase der Hirnlosigkeit. Wir müssen ein Auge auf ihn haben.«

Mit Freude und einem gewissen Stolz in der Stimme verriet Kameran Mangur, dass er von der Tochter Fikrat Guldantschis angetan sei. Wie Kameran von seiner Liebe sprach, versetzte Mangur in Erstaunen. In fünfundzwanzig Jahren hatte er immer wieder erlebt, wie Männer von ihrer Liebe schwärmten, aber noch nie hatte er jemanden gesehen, der so über sein Liebesempfinden sprach. Überall und jedem erzählte Kameran mit königlichem Stolz von seiner Liebe zu Sausan. Auch seinen Schwestern und Cousinen gegenüber trumpfte er mit seiner Leidenschaft auf. Dabei wussten alle, dass Sausan selbst nichts davon ahnte.

»Sausan ist so schön, dass sich leicht die Hälfte der Männer in sie verknallt haben könnte«, sagte einmal eine seiner Schwestern.

Kamerans Cousinen hielten Sausan alle für hochnäsig. Obwohl sie sich nicht auffällig kleidete und nur leicht schminkte, ging ein Strahlen von ihr aus, womit sie überall die Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie wirkte feiner und gebildeter als andere Frauen, die sich mit ihrem Make-up und überhaupt große Mühe gaben. Sie war eine Städterin. Neben ihr wirkten die anderen wie Mädchen vom Lande. Mangur sagte, als er Sausan zum ersten Mal sah: »Sollte diese junge Dame deine Frau werden, wärst du für immer ein glücklicher Mann.«

Obwohl Kameran in Liebesdingen kaum Erfahrung hatte, glaubte er doch, wie alle anderen gut gekleideten jungen Männer seines Alters, dass er das Herz eines jeden Mädchens, das er sich wählte, jederzeit erobern könnte. So viel Selbstgefälligkeit war völlig unbegründet. Er sah zwar gut aus, aber sein schlechter Ruf hatte dafür gesorgt, dass die meisten Mädchen, außer seinen Cousinen, ihn nicht gerade als idealen Ehemann oder Liebhaber in Betracht zogen. Mangur aber war davon überzeugt, dass die, die ihm näherkämen und seine Offenheit und Warmherzigkeit erlebten, über die Wutanfälle, seine ordinäre Sprache und seine Streitsüchtigkeit hinwegsehen würden.

»Sein Alter ist an seinen schlechten Eigenschaften schuld«, pflegte Mangur zu sagen.

Alle hatten das Gefühl, Mangur verzieh Kameran seine Messerattacken nur deshalb, weil er damit seine eigenen Missetaten in jungen Jahren entschuldigen wollte. Damals, als der Name des gnadenlosen Messerhelden und erbarmungslosen Streithammels in aller Munde war. Seine ungezügelte Gereiztheit hatte er hinter sich gelassen. Er riet Kameran wie einem jüngeren Bruder: »Zücke niemals dein Messer gegen jemanden, den du nicht kennst. Tritt einen Kampf nur an, wenn du weißt, wer dein Gegner ist!«

An dem kalten Winterabend, an dem die beiden Asrin auflauerten, zog ein Schneesturm auf. Es war so kalt, dass Mangur am ganzen Leib zitterte. Er begann die Zeichen des Alters zu spüren. Seit drei Jahren konnte er die Winterzeit ohne Pelzmütze nicht mehr ertragen, und immer ging er mit hochgezogenen Schultern, den Rücken gekrümmt. An seiner gebückten Haltung und der dicken russischen Pelzmütze war er schon von Weitem zu erkennen.

Nach einer halben Stunde tauchte Asrin auf. Er war ein stattlicher junger Mann, den die Kälte nicht beeindruckte. Der Wind fuhr ihm durch sein dichtes Haar. Schlank war er, und er sah etwas traurig aus. Sein Gesichtsausdruck wirkte, als hätte ein schwerer Tadel ihn gerade geknickt. Mangur wusste nicht, wie mit solchen jungen Männern umgehen. Der Junge hatte eine zarte, unbekümmerte Stimme, an der aber nichts Weibliches war, denn das wäre für einen Mann eine Schande gewesen. Er war genau die Art von Person, auf die Mangur neidisch war, denn als kleiner, kahlköpfiger Mann mit Aknenarben musste er besonders brutal und erbarmungslos auftreten, um zu überleben. In einer derart harten Stadt musste ein hässlicher Mann zehnmal mehr an Überlebenskünsten aufbieten, um existieren zu können und nicht unterzugehen. Männer wie Asrin dagegen sind beliebt und werden schnell akzeptiert und gern aufgenommen. Als Mangur dem jungen Mann in die Augen sah, wurde ihm klar, dass er verliebt war, unsterblich verliebt. Menschen wie Asrin wirkten harmlos und ungefährlich, aber in ihrem Inneren waren sie hart und unerbittlich, davon war Mangur überzeugt. Ihm gefielen eher Leute, die sich ebenso schnell wieder beruhigen, wie sie aufbrausen.

Asrin wusste bereits Bescheid. Mangur hatte ihm durch einen Freund eine Nachricht überbringen lassen des Inhalts, dass er und ein Bekannter ihn treffen wollten, aber Zeit und Ort des Treffens waren nicht angegeben. Überheblichkeit und Selbstbewusstsein, Überreste der feurigen Gefühle aus seiner Jugendzeit, ließen ihn glauben, dass jeder ihn kennen müsse. Verführt durch seine Bekanntheit unter den Spielern und den Verkäufern im Bazar, hielt er sich für eine der wichtigsten Persönlichkeiten der Stadt. Asrin aber hatte den Namen noch nie gehört.

Zuerst dachte er, es handle sich um eine seiner Schwestern und deren Beziehung zu einem Goldschmied. Asrin befürchtete schon lange, ihre Verliebtheit würde am Ende Unglück über die Familie bringen. »Nun ist es so weit«, dachte er. Verliebt, wie er war, meinte er, es hätten nicht zwei Verliebte gleichzeitig in einem Haus Platz. Mangurs Erscheinung war ihm bekannt. Es gab niemanden, dem dieser Mann in der von Bügelstärke starrenden kurdischen Tracht mit den schneeweißen Klash-Schuhen, der in den Tee- und Grillhäusern herumhing, nicht schon aufgefallen wäre. Ein kahler Kugelkopf, ein Gesicht mit Aknenarben, ein kurzer Hals, klein und kugelrund und sagenhaft stolz. Asrin, im dritten Jahr seines Biologiestudiums, gehörte aber nicht zu seiner Welt. Mangurs honigfarbene Augen glichen den Mangel an Schönheit ein wenig aus. Augen, die freundlich, aber auch wütend und böse blicken konnten. Wer den Ausdruck seiner Augen zu deuten wusste, konnte Streit mit Mangur vermeiden. Aber an jenem Abend waren seine Augen kalt und ausdruckslos. Er war einzig und allein damit beschäftigt, Asrin davon zu überzeugen, eine Bar oder den Laden eines Freundes oder irgendeinen geschlossenen Raum aufzusuchen, wo er dem kalten Wind nicht länger ausgesetzt wäre.

Schließlich gingen sie in ein Lager im Keller des Ladens von Khdro Duyar. Es war groß, gefüllt mit defekten Ventilatoren, alten Klimaanlagen, rostigen Schaltern, Wasserpumpen und zerbröselten, aufgerollten Kabeln. Dass Asrin so einfach zwei fremden Männern folgte, war verwunderlich. Allerdings dachte er bis zu dem Moment, in dem er ihnen gegenüber Platz nahm, es ginge um die Liebesbeziehung seiner Schwester. Hätte er gewusst, dass über Sausan Fikrat geredet werden sollte, wäre er gewiss nicht mitgegangen. Nichts auf der Welt konnte ihn dazu bringen, über seine Gefühle zu Sausan zu sprechen.

Der Geruch und die Unordnung in dem Lager riefen bei Asrin eine Reihe von Erinnerungen wach: an sein Kinderzimmer im Haus der Großeltern mit den prachtvollen Teppichen, das Sterbezimmer seines Freundes Hoshyar im Krankenhaus, das Labor für Meerestiere der Universität und an weitere Orte, die nur in seiner Erinnerung miteinander zusammenhingen. Noch wusste er nicht, dass dieser Keller sein Leben verändern und ihn weit weg schicken würde.

Kameran Selma war anfänglich still. Asrin ahnte nicht, weshalb er Mangur begleitete. Mangur selbst war redebegabt. Er wusste geschickt gepflegte Worte mit der Sprache der einfachen Leute und der Proleten des Bazars zu mischen. Asrin spürte, dass Mangur ein wichtiger Mann war. Die Gebetskette mit den großen Perlen in seiner Hand, seine Augen, der Hauch von Schweiß, den er wahrnahm, alles verriet ihm, dass es sich um einen vernünftigen Mann handelte. Hätte er das nicht gespürt, wäre er ihm niemals in den Keller gefolgt. Als Mangur zu sprechen begann, fing Asrins Herz an zu pochen.

»Mein Lieber, es gibt etwas, das wir friedlich mit dir lösen möchten. Glaub mir, ich wünsche mir einen gütlichen Ausgang. Wir finden keinen Gefallen an Streit. Mein ganzes Leben wurde mir eine Liebe zu Messerkämpfen nachgesagt, aber das stimmt nicht. Mein Gefährte Kameran und ich sind gekommen, um mit dir zu sprechen, damit nicht Streit und Zank entstehen. Kameran möchte um die Hand der Tochter von Fikrat Guldantschi anhalten. Man munkelt, dass du etwas mit diesem Mädchen hast. Ob das der Wahrheit entspricht, wissen wir nicht. Wenn es aber stimmt, möchten wir, dass du dich zurückziehst. Das ist alles. Wenn du dich nicht querstellst, gibt es kein Problem. Ja, mehr ist es nicht.«

Asrin erschrak, als er den Namen Fikrat Guldantschi hörte. Noch nie in seinem Leben hatte er sich auf Händel eingelassen, aber auch nie das Gefühl gehabt, ein Feigling zu sein. In diesem Moment wusste er nicht, was er sagen sollte, und auch nicht, ob er tatsächlich etwas mit der Tochter von Fikrat Guldantschi hatte. Vor zwei Monaten war Sausan in Begleitung ihrer Cousine zu einem Fest in der Universität gekommen. Da Sausans Cousine Mariam eine Studienkollegin von Asrin war, hatte es sich so ergeben, dass Sausan und Asrin unter den neidischen Blicken vieler Studenten während der gesamten Feier beieinanderstanden. Sie war so bezaubernd, dass er sich gleich in sie verliebte. Die junge Frau wusste zu seiner Verblüffung mehr über seltene Vögel und Pflanzen als die Professoren, obwohl sie keine Universität besucht hatte. Am Ende der Feier bat Asrin sie um ihre Telefonnummer. Da sie zu Hause aber kein Telefon hatte, bot sie ihm an, sie über ihre Cousine zu kontaktieren. Nur zwei Mal hatte er danach angerufen. Mariam hatte vermittelt, hatte aber die Geschichte auch gleich in der Uni und in der ganzen Stadt verbreitet. Mariams Zunge war zum Fürchten. Jedes Geheimnis hängte sie sofort an die große Glocke.

Asrin hatte nur zwei Mal mit Sausan gesprochen, was konnte er nun Großartiges sagen? Sollte er sagen, er habe ein Verhältnis mit ihr? Man verliebte sich schnell in sie, wusste jedoch nicht, worüber man mit ihr sprechen sollte. Beide Male hatte ihn Sausan gebeten, sich nicht in sie zu verlieben. Sie sagte, auf der Universität könne er viel bessere Mädchen finden. Trotzdem, er hatte sich bis zum Verrücktwerden in sie verliebt. Seit dem Fest war er ihr ein paarmal zufällig über den Weg gelaufen, als sie mit Mariam und weiteren Cousinen im Bazar war. Beide Male hatten sie kurz angehalten, einander angesehen und flüchtig begrüßt, weil Mariam an ihrer Seite war. Asrin hatte in ihren Augen eher Mitleid als Liebe wahrgenommen. Was sollte er nun sagen? »Ich gebe das Mädchen auf. Für dich, den verehrten Kameran Selma, den ich nie zuvor in meinem Leben gesehen habe, oder für Mangur, der das Unmögliche von mir verlangt.«

Asrin sah die beiden Männer an, und plötzlich war ihm, als blickte er in Mariams Gesicht: So etwas passierte ihm immer wieder. In den ungünstigsten Momenten trat ihm etwas vor Augen, das nicht zu der Situation passte. Er hielt kurz inne und überlegte, dann antwortete er: »Sausan hat nichts mit mir, aber ich habe etwas mit ihr. Seit mehr als zwei Monaten bin ich in sie verknallt. Im Namen der Liebe, die ich in meinem Herzen spüre, verlange ich, dass ihr euch von Sausan fernhaltet!« Kameran wollte sprechen, aber Mangur hob seine Hand und hielt ihn zurück. Aus seiner Hosentasche zog er ein frisches weißes, noch gefaltetes Taschentuch, putzte seine Nase und murmelte: »Ich glaube, ich habe mich verkühlt. Mir kommt dieser Winter länger vor als der vom vergangenen Jahr. Wenn der Winter länger dauert als sonst, verschlechtert sich mein Gesundheitszustand. Geht es Ihnen auch so, Herr Asrin Ibrahim, passiert Ihnen das auch?« Asrin überging seine Worte und wiederholte: »Ich will, dass ihr euch von Sausan fernhaltet! Ich kann sie nicht aufgeben. Sausan hat mir nichts versprochen, aber ich liebe sie unbeschreiblich.« Dieses Mal nahm Kameran keine Rücksicht auf Mangur, er sagte: »Ich töte dich! Bei der Ehre meiner Mutter, ich bring dich um, verstanden?« Mangur wischte erneut seine Nase und sagte: »Es ist bedauerlich, dass Sie, Herr Asrin, offensichtlich nicht verstehen, was ich eben angesprochen habe: Ich habe Ihnen klar mitgeteilt, dass es kein Problem gibt, wenn Sie sich nicht querlegen. Die Sache ist nicht so einfach, wie Sie glauben. Wenn Mangur beteiligt ist, können Sie sich nicht einfach erlauben zu sagen, Sie liebten diese Dame unbeschreiblich, oder was weiß ich. Das ist nur Gerede und hat für mich keinen Wert. Unbeschreiblich gibt es nicht. Eine Frau zu vergessen ist leichter, als ein Paar Socken auszuziehen. Früher habe ich auch geglaubt, dass ich mir eine Frau unmöglich aus dem Kopf schlagen könne. Und schon am nächsten Tag, sobald ich eine noch schönere Frau sah, lächelte ich über mich. Wenn du klug bist, machst du dich am Tag danach über deine Einstellung lustig.«

Asrins Gesichtsfarbe schimmerte unter dem Licht der Glühbirne gelblich. Mit einem traurigen Lächeln erwiderte er: »Ich verstehe, was Sie sagen wollen. Ich weiß selbst nicht, ob Sausan für mich etwas empfindet oder nicht, aber was ihr von mir verlangt, ist zu viel.«

»Dieses Mädchen wird meine Frau, verstanden! Kein Schwein darf sich auch nur vorstellen, in meine zukünftige Ehefrau verknallt zu sein!« Kameran bebte vor Wut.

Asrin fuhr fort, gleichgültig und furchtlos: »Wenn dich die Tochter von Fikrat heiraten sollte, werde ich die Stadt verlassen. Sei versichert, dass ich auswandere und diese Stadt nie wieder betreten werde.« Kameran empfand Asrins Worte als Beleidigung. Es war ihm, als würde er sagen: »Du taugst nichts und bist nicht wert, der Ehemann von Guldantschis Tochter zu werden.« Ohne zu zögern, zückte er sein Messer. Mangur erschrak. Vor zwanzig Jahren hätte er auch so reagiert. Mit der gleichen Rage hätte er zu seinem Messer gegriffen. Er wollte ihn nicht zurückhalten. Es tat ihm gut, diesen animalischen Zorn zu erleben. Ruhig stand er da und beobachtete die Szene. Kamerans blitzartiger Angriff gefiel ihm. Er wollte etwas sagen, aber als würde er plötzlich zu einem unbeteiligten Schaulustigen, griff er nicht ein. Er genoss es zu beobachten, wie Kameran mit aufblitzender Klinge losstürzte, wie Asrin vom Stuhl fiel und sein stattlicher Körper sich auf dem Boden krümmte. Dann aber dachte er: »Großer Gott, dieser Trottel sticht einfach zu. So geht das doch nicht!« Er war sich sicher, würde Kameran das Messer Asrin noch zweimal auf diese Art in den Leib rammen, würde dieser nicht überleben. Als Kameran sein Messer wieder hob, kam Mangur zu sich und griff blitzschnell nach der Hand, die das Messer hielt: »Was bist du für ein wildes Tier, Kameran Selma? Du lernst es nie, mit dem Messer umzugehen. Was für ein Ungeheuer!«

Als wäre er von jemandem verletzt worden, schüttelte sich Kameran brüllend: »Lass mich ihn umbringen. Wenn ich ihn jetzt nicht töte, werde ich mein Leben lang bedauern, ihn nicht umgebracht zu haben!«

Mangur konnte ihn mit einer geschickten Bewegung zurückhalten. Innerhalb eines Sekundenbruchteils entriss er Kameran das Messer, indem er sein Handgelenk umklammerte und so schüttelte, dass die Finger das Messer fallen ließen. Die Geschwindigkeit, mit der alles geschah, erstaunte den jungen Mann. Niemals hätte er geglaubt, dass jemand so leicht ein fest umkralltes Messer aus seiner Faust würde lösen können. Mit einem verzweifelten Stöhnen, das klang, als würde er gleich anfangen zu weinen, presste er hervor: »Hundesohn, hättest du gleich aufgegeben, hätte ich dich nicht verletzen müssen!« Im nächsten Augenblick war Mangur über Asrin und riss ihm das Hemd vom Leib, um zu sehen, wie schlimm die Verletzung war. Zu Hilfe! Das Messer war zwischen den zwei untersten Rippen eingedrungen. Mangur wusste, dass diese Stelle kritisch war. Wenn man nicht Glück hatte, konnte die Wunde tödlich sein. Und wieder dachte er: »Du lernst es nie, ein Messer richtig einzusetzen, nie!«

2

Khalid Mam Sabur, den alle Khalid Amun nannten, verließ um zwei Uhr nachmittags das Haus. Er war sich sicher, dass er um diese Uhrzeit Sausan sehen würde, falls sie sich wie gewöhnlich außer Haus begab. In den kurzen Tagen im Winter wäre er normalerweise in seinem Laden geblieben und zur Mittagspause gar nicht nach Hause gegangen. Er hätte im Duft der Parfums und im feinen Schweißgeruch der vielen Frauen gegessen, die im Bazar ständig auf der Suche nach den neuesten Büstenhaltern, nach Parfums und Make-up waren. Aber seitdem er wusste, wann Sausan Fikrat immer den einen Weg nahm, hatte er seine alten Angewohnheiten aufgegeben. Mittags eilte er nach Hause, in der Hoffnung, Sausan am Nachmittag aus der Ferne zu beobachten, wenn sie das Haus verließ.

»Das Schlimmste am Verliebtsein ist, dass es dein gesamtes Alltagsprogramm auf den Kopf stellt«, dachte Khalid Amun.

Der einzige Unterschied zwischen Frauen und Männern, wenn es um Liebe geht, besteht darin, dass die Liebe die Frauen nicht derart durcheinanderbringt und ihren Alltag nicht so ramponiert wie den der Männer, denn Männer sind die einzigen Kreaturen, denen die Liebe den Kopf völlig verdreht. In den letzten vier Monaten hatte die Liebe sein Leben nicht nur vollkommen umgestülpt, sondern ihm auch das Selbstvertrauen geraubt. Mit den Frauen, die seine Boutique besuchten, war es anders; Spielchen zum Zeitvertreib. Aber jetzt litt er unter Kopfschmerzen, plötzlichen Schwächeanfällen und niedrigem Blutdruck. Im Gegensatz zu den meisten Verliebten fand er, dass die Liebe seltsamerweise dem Leben jegliche Bedeutung nahm. Khalid Amun war der Inhaber einer der größten Boutiquen im Herzen der Stadt. Auf seinem Ladenschild, das einer der besten Kalligrafen dreisprachig gestaltet hatte, stand: »Amuns Boutique – Moderne Ware aus aller Welt«

Das erste Mal sah er Sausan in seiner Boutique in Begleitung von drei weiteren Mädchen. Sie trug ein weißes Chiffon-Kleid mit kleinen blauen Blümchen. Ihre Haare waren auf kunstvolle Weise geflochten, und zwei feine blonde Zöpfe hingen links herab. Ansonsten trug sie keinen Schmuck: weder Ohrringe noch deutlich sichtbares Make-up. Nicht einmal eine Uhr schmückte ihr Handgelenk. Sie war so hinreißend hübsch, dass man alles vergaß, wenn man sie betrachtete. Noch nie zuvor hatte er so eine Frau gesehen, bei der man nicht wusste, ob es ihre Schönheit oder ihre Einfachheit war, die einen in Erstaunen versetzte. Wie sie sprach, schaute und sich bewegte, deutete darauf hin, dass sie von schwacher Gesundheit war.

Khalid Amun, der in einem angesehenen Clan aufgewachsen war und ein leichtes Leben hatte, ging schon als Jugendlicher mit Kundinnen um, die sich für Frauen der Oberschicht hielten. Dazu kamen Erfahrungen mit adligen Damen, aber auch mit Angestellten, die ihr bisschen Geld in seiner Boutique ausgaben. Tausende Frauen hatten bereits in seinem Laden eingekauft, und die meisten wussten, dass er kein anständiger Mann, sondern eher eine männliche Hure war. Aber trotz der Dinge, die im hinteren Teil des Lagers seines Ladens stattfanden, und seiner nächtlichen Aktivitäten im inoffiziellen Rotlichtmilieu war sein Ruf unbefleckt geblieben. Frauen hatten schon immer eine zentrale Rolle in seinem Leben gespielt. Vor einem Jahr, als er verhaftet wurde, weil kein Bild von Saddam Hussein in seinem Laden hing, hatte ihn eine Frau, eine seiner Stammkundinnen, ausgelöst. Er hätte niemals gedacht, dass diese ehrliche, gut aussehende Frau ein Verhältnis zu einem Sicherheitsbeamten unterhielt und in der Lage war, Menschen aus dem Gefängnis zu holen. Aber wichtig war für ihn eigentlich nur gewesen, dieser Hölle zu entkommen.

Nun hatte er seit bereits vier Monaten sein Geschäft vernachlässigt. Kein einziges Mal hatte er die Hauptstadt aufgesucht, um neue Ware einzukaufen, und auch keine Lust mehr, sich bei den Schmugglern einzuschmeicheln, die die Stadt mit Kleidern, Parfum und Make-up versorgten. Seit Wochen verlor seine Boutique an Glanz, die Ware schwand, und seine Konkurrenten höhnten bereits. Am schlimmsten aber war, dass es ihn vollkommen kaltließ.

»Die Liebe bringt einen dazu, nicht zu wissen, was man will«, sinnierte er.

Er war nun vierundzwanzig. Seit seinem achtzehnten Lebensjahr hatte er Erfahrungen mit Frauen gesammelt: von Prostituierten bis zu denen, die eine gute Partie suchten.

In den vier Monaten war Sausan ein paar Mal in seine Boutique gekommen, aber nie allein, und nie hatte sie etwas gekauft. Jedes Mal setzte sie sich auf einen niedrigen Hocker, als wollte sie eine kleine Pause einlegen, während die anderen Mädchen sich umsahen. Sie hatte immer ein paar Zeitungen dabei. Ihre ständige Erschöpfung betonte die Zartheit ihres Wesens. Khalid hatte schon in der ersten Woche alles über sie in Erfahrung gebracht. Zumindest glaubte er, mit der typischen Überheblichkeit der Bazar-Männer, er würde alles über sie wissen. Zwei weitere Male hatte er sie auf dem Heimweg gesehen, aber sie war nicht allein. Um sie war immer ein Schwarm von Frauen, die Khalid nicht kannte. Obwohl er des Öfteren Liebesbriefe von Frauen erhalten hatte, war ihm noch nie in den Sinn gekommen, selbst einen zu schreiben. Er vertrat die Ansicht, glücklich leben könne ein Mann nur mit einer Frau, die keinen weiteren Verehrer hat. Viele Geschichten hatte er im Bazar über Männer gehört, die ihr Leben einer Frau wegen aufs Spiel setzten. Er konnte sich so etwas gar nicht vorstellen. Nun aber war er müde und von der Situation, in die er geraten war, ganz benommen. Außer seinen Empfindungen für Sausan schienen ihm alle anderen Dinge in seinem Leben eine überflüssige Last, die er am liebsten abgeworfen hätte. Manchmal sagte er sich: »Durch die Liebe entdeckt der Mensch die Sinnlosigkeit aller anderen Dinge, sogar die der eigenen Existenz.«

3

Asrin schwebte in Lebensgefahr, als sie das Krankenhaus erreichten, denn bereits seit einer Stunde verlor er Blut. Die Ärzte und Schwestern versammelten sich um ihn wie Kinder, die im Kreis eine verwundete Taube umstehen.

Mangur hatte ein paar Männer beauftragt, ihn so schnell wie möglich ins Krankenhaus zu bringen. Als Messerheld erkannte er, dass die Verletzung lebensbedrohlich war. Wer geschickt mit seinem Messer umging, kannte sich in menschlicher Anatomie genauso gut aus wie die Ärzte und wusste, welche Stiche tödlich waren. Wer sein Messer in einen menschlichen Körper rammen konnte, ohne zu töten, wurde als Künstler angesehen. Mangur hatte in seinem Leben viele Menschen verletzt und trug Narben von elf Stichen am Leib. Mit seiner Gewandtheit hatte er jede Messerstecherei überlebt.

Nun aber zitterten sein und Kamerans Herz, bis das Schicksal des Verletzten feststand. Eine Stunde lang, in der Asrins Familie noch nichts von der Geschichte wusste, unternahm das Ärzteteam alles, was in seiner Macht stand, um Asrin zu retten.

Eine halbe Stunde vor Mitternacht erreichte Vater Ibrahim in Begleitung von Asrins Schwestern Bafrau und Sivan in einem schrottreifen Lada das Krankenhaus. Trotz der nächtlich lauernden Gefahren hatten sie überall nach ihm gesucht. Als sie ihn in diesem Zustand im Krankenhaus sahen, fingen die Schwestern an zu weinen, während sein Vater sprachlos dastand. Er war kein Vater, der den Anblick seines eigenen verletzten Kindes ertragen konnte, schämte sich aber zu weinen und fraß darum alles in sich hinein. Zunächst wollte er zu den Ärzten gehen, um sich zu bedanken, überlegte es sich aber anders, weil er nicht wusste, was sie für Asrin getan hatten. Er wollte nicht, dass sein Sohn in diesem Krankenhaus starb.

»Dieser Ort ist kein guter Ort zum Sterben. Man muss alles daransetzen, woanders zu sterben.« Jedes Mal, wenn er in diesem Krankenhaus war, musste er mit ansehen, wie ein Mensch starb, wie andere klagten und weinten und Menschen in den halbdunklen Gängen hastig hin und her rannten. »Aber die heutige Nacht ist so ruhig. Vollkommen ungeeignet zum Sterben«, dachte er. Jetzt konnte er nur noch flehentlich beten, dass seinem Sohn dieses Schicksal erspart blieb.

Mangur Babagaura gehörte nicht zu denen, deren Name lange unbekannt bleibt. An jenem Abend hatten ihn Dutzende von Menschen mit seiner voluminösen Mütze gemeinsam mit Asrin gesehen. Was Vater Ibrahim aber nicht verstand, war, warum er seinen Sohn hatte umbringen wollen.

Ibrahim war dreiundsechzig Jahre alt, sah aber älter aus. Er war ein gepflegter Mann, der immer ein weißes Hemd mit sauberem Kragen trug. Seit seinem achtzehnten Lebensjahr trug er immer einen blauen Anzug mit einem weißen Hemd, im Winter einen schwarzen Mantel darüber. Auch nach dem Tod seiner Ehefrau gab er diese Gewohnheit nicht auf. Sechs Monate lang band er eine schwarze Krawatte um, ansonsten traten keine Veränderungen auf. Zweiundzwanzig Jahre lang war er als Angestellter bei der Verwaltung beschäftigt gewesen und kannte daher viele Geheimnisse der Stadt. Nun aber war er ratlos und konnte sich nicht erklären, was einen feinen Kerl wie seinen Sohn Asrin mit einem Menschen wie Mangur zusammenbrachte.

Ibrahim und seine beiden Töchter setzten sich mitten in dem unangenehmen Geruch nach Patienten. Die Schwestern waren untröstlich. Zwar hatten die beiden das Haus nicht verlassen wollen, ohne sich zu schminken, was aber nicht bedeutete, dass ihnen ihr Bruder gleichgültig war. Vater Ibrahim dachte: »Am schlimmsten ist dieser krankhafte Zwang der Frauen, sich ständig zurechtzumachen. Die beiden haben das von ihrer Mutter geerbt.« Betrübt fragte er sich: »Was wird aus ihnen, sollten ihr Bruder und ich plötzlich sterben?« Er fand keine Antwort. Ibrahim kam es so vor, als hätte er den Erzengel Azrael mit seinen großen Flügeln gesehen. Er war sich sicher, dass er es war! Es war Azrael mit seinem mächtigen Körper, der in den Gängen des Krankenhauses auf und ab ging. Den Erzengel zu Gesicht zu bekommen, war eines der Übel, die ihn sein Leben lang begleiteten. Mindestens einmal im Monat erschien er ihm bei unterschiedlichen Anlässen. Obwohl er nie gebetet hatte, glaubte er dennoch an Gott. Auch als er in seiner Jugendzeit Anhänger des Kommunismus war, geriet sein Glaube an den Allmächtigen nie ins Wanken. Er war überzeugt, der Todesengel war keine Halluzination infolge seiner Verzweiflung, sondern eine reale Erscheinung. Einmal spürte er ihn sogar knapp an sich vorbeischweben, den Blick auf ihn, Ibrahim, gerichtet.

»Bestimmt verbringt Azrael einen Teil seines Lebens in diesem Krankenhaus«, dachte Ibrahim. Im Morgengrauen sinnierte er dann laut vor sich hin: »Nein, Azrael ist ein viel beschäftigter Engel.« Seine Töchter kannten das schon, dass er seit dem Tod ihrer Mutter Selbstgespräche führte.

Diejenigen, die von Mangur beauftragt worden waren, Asrin ins Krankenhaus zu bringen, bestätigten, dass Mangur gemeinsam mit einem Fremden in dem Kellerlager von Khdro gesehen wurde, aber niemand wusste, was dort genau geschehen war. Gegen Mittag tauchte Mangur im Hof des Krankenhauses auf, die Pelzmütze auf dem Kopf. Die Menschen wussten, was von ihm zu halten war. Von manchen wurde er »Der Hund der engen Gassen« genannt, denn seine Sprache und sein Benehmen waren geprägt von der Gosse und dunklen Teehäusern. Sein Umgang mit Schimpfwörtern war brillant, eine wahre Kunst. Aber um sich hin und wieder auch mit respektablen Männern unterhalten zu können, hatte er Jahr für Jahr seinen Schatz schmutziger Wörter mit ein paar schönen Ausdrücken angereichert. Mit der Zeit war es ihm gelungen, sein wahres Gesicht hinter einem dichten Geflecht aus süßen, gepflegten Worten zu verstecken. Es ging ihm dabei nicht darum, Menschen zu täuschen oder übers Ohr zu hauen, sondern sich als respektable Person präsentieren und gewöhnlichen Leuten nähern zu können.

Sein Auftauchen ließ Ibrahim kurz erzittern. Statt eines väterlichen Wutausbruchs spürte er jedoch eine plötzliche Gelassenheit. Ibrahim saß auf einer Bank im weitläufigen Hof des Krankenhauses. Mangur stellte sich vor und meinte, er sei gekommen, um ihm alles persönlich zu erklären, damit er von den verlogenen Geschichten aus dem Munde anderer verschont bliebe. Plötzlich fing er an, so laut zu reden, dass alle um ihn herum mithören konnten: »Ich weiß nicht, welche indiskreten Menschen etwas über mich erzählt haben, aber ich versichere Ihnen, dass Ihr Sohn in meiner Schuld steht: Ich habe ihm zwei Mal das Leben gerettet. Die Umstände waren nur leider so, dass ich ihn nicht selbst ins Krankenhaus begleiten konnte. Nicht einmal meiner Mutter würde ich mich nähern, läge sie im Krankenhaus. Ich habe mir selbst einmal eine Wunde mit sechs Nähten geschlossen, nur um nicht zum Arzt gehen zu müssen. Die Geschichte hat sich nicht so zugetragen, wie meine Widersacher sie erzählen. Die Sache ist die: Ihr Sohn ist in Fikrat Guldantschis Tochter verliebt. Es ist die Art von Verliebtheit, die einem Menschen Durchfall beschert. Ich kann eine solche Liebe nicht ausstehen. Sie sehen, ich bin nicht mehr in dem Alter, mich zu verlieben. Nicht meinetwegen ist das Ganze passiert. Es geht nur darum, dass Selmas Sohn, falls Sie ihn kennen, das gleiche Elend befallen hat. Auch er weint aus lauter Verliebtheit Tränen aus seinem Arsch, wie Ihr Sohn. Nun will er Fikrats Tochter zur Frau nehmen. Aber Sie wissen ja, zwei Hunde können aus einem Blechnapf fressen, aber zwei Verliebte nicht. Tja, die Dinge sind wegen Kamerans Hirnlosigkeit und Hitzköpfigkeit aus dem Ruder gelaufen. Alles hätte wie geschmiert laufen können, aber jetzt ist es zu spät. Ich konnte nur gerade noch verhindern, dass er ihm einen zweiten Messerstich verpasst. Der allmächtige Gott gab mir rechtzeitig Kraft, ihm zu helfen. Kameran Selma ist mein Freund. In solchen Situationen hat er seine Wut leider nicht im Griff. Das heißt aber nicht, dass er nicht aus einer anständigen Familie kommt. Nun will er partout eine Frau heiraten, die nur von ihm geliebt und von niemandem sonst verehrt wird oder wurde.«

Vater Ibrahim hatte den Namen Fikrat Guldantschi noch nie gehört. Er war nicht gutgläubig, aber glaubte Mangur. Seit Langem war er ihm als gefährlicher, brutaler Mann bekannt, aber er stand auch in dem Ruf, ein fairer, korrekter Messerheld zu sein.

4

Nach einer Reihe von Katastrophen in Bagdad überlegte Fikrat Guldantschi, ob es nicht besser wäre, in den Norden zu ziehen. Bis 1985 war er in Bagdad Angestellter in der Direktion des Versorgungsamtes gewesen und hatte einige große Hallen, in denen Mehl für die Armee gelagert wurde, verwaltet. Zu Beginn des Krieges waren diese Lager zwei Mal von iranischen Kampfjets bombardiert worden. Beide Male entstieg er unversehrt der staubigen Mischung aus Mehl, Schießpulver und Erde, musste aber mit eigenen Händen tote Kollegen, Lastenträger und Frauen aus der Buchhaltung ins Freie tragen, wobei die besondere Farbe von Blut, vermengt mit Mehl, seine Aufmerksamkeit erregte.

Fikrat, der Anfang der Fünfzigerjahre zum Studieren nach Bagdad gegangen war, kehrte nun, nach fünfunddreißig Jahren, in die kurdische Region im Norden zurück. Er war ein belesener Mann, der aufgrund seiner Bildung in Ministerien und höheren Ämtern sehr angesehen war. Sein Wissen umfasste unterschiedliche Bereiche, die weit auseinanderlagen: Er wusste viel über seltene Pflanzen und einzigartige Blumen, aber genauso detailliert kannte er sich im Bereich der Mechanik von Kraftfahrzeugen und der Entwicklung von Hydraulikmotoren und Raketen aus. Seine Kenntnisse umfassten beinahe alles. Angefangen bei Literatur und Kunstgeschichte, den Biografien großer Wissenschaftler und mächtiger Könige. In einer Phase seines Lebens hatte er überlegt, ein Buch über untergegangene Städte zu schreiben. Er wusste viel über Städte, die von Gottes Hand zerstört worden waren, angefangen bei Sodom und Gomorra, bis hin zu Städten, die Menschenhand dem Erdboden gleichgemacht hatte, wie Dresden und Stalingrad. Aber nie ergab sich die Gelegenheit, sein Wissen niederzuschreiben. Nur vier Artikel zu verschiedenen Themen hatte er geschrieben, die in unterschiedlichen Zeitschriften veröffentlicht worden waren.

Dass er im Getreidehandel tätig wurde, ergab sich Mitte der Sechzigerjahre. Damals bereiste er mit einer stattlichen Delegation die Sowjetunion, wo er einen wichtigen Vertrag für den Mehlimport mit ukrainischen Unternehmen abschloss. Seine Sprachkenntnisse führten dazu, dass er für weitere Vertragsabschlüsse Anfang der Achtzigerjahre herangezogen wurde. Fikrat Guldantschi nutzte seine Geschäftsreisen, um besondere Bücher, alte Karten und Antiquitäten zu kaufen. Innerhalb kurzer Zeit sammelte er Dutzende Werke über Pflanzen, Motoren, Ballons, Parfums, Meerestiere und alte Völker. Seine seltenen Atlanten, an die zweihundert Stück, waren in den Siebzigerjahren nirgendwo sonst, weder in Bagdad noch in anderen Bibliotheken des Landes zu finden. Die Privatbibliothek wurde zu seinem großen Stolz. Jeder, der sie zu sehen bekam, fragte erstaunt: »Großer Gott, Fikrat, wie hast du das geschafft?« Aber trotz seiner wertvollen Bibliothek, trotz seiner närrischen Wissbegier wurde aus ihm kein bekannter, erfolgreicher Mann. Die Sorge um die Familie ließ ihn so tief im Mehlhandel versinken, dass ihm wenig Zeit blieb, sich seiner wahren Leidenschaft zu widmen. Das machte ihn zu einem wortkargen, mürrischen und traurigen Mann, von dem zu Hause niemand wusste, worüber er im Stillen grübelte. Seine Frau erkrankte Anfang der Siebziger an Tuberkulose. Gut möglich, dass Fikrats Versunkenheit in seine eigene Welt – den Beruf und die Bücher – der Hauptgrund für die Erkrankung seiner Frau war. Qamar, die all die ungelesenen, staubigen Bücher satthatte, fand in ihrer Einsamkeit nur bei den Frauen in der Nachbarschaft Trost. Sie traf sich so oft mit den Nachbarfrauen, um Reis zu verlesen, grüne Bohnen zu schneiden und Okraschoten zu putzen, dass sie von einer Nachbarin mit dieser bösen Krankheit angesteckt wurde. Zwei Jahre lang lag sie isoliert in einer Spezialklinik außerhalb von Bagdad. Währenddessen war Fikrat, wie üblich, unablässig mit seiner Arbeit, Firmentreffen und dem Ausbau seiner Bibliothek beschäftigt. Jahr für Jahr waren es mehr Bücherregale geworden, sodass es im Haus beinahe keinen Platz mehr für etwas anderes gab. In den achtzehn Jahren Eheleben schenkte ihm Qamar drei Kinder: seinen Ältesten, Nizar, Prusche, die mittlere Tochter, und seine Jüngste, die kranke, schwache Sausan, die erst sehr spät gehen lernte.

Qamar erlag nach einem zweijährigen Quarantäneaufenthalt ihrer Krankheit. Nizar war damals vierzehn, Prusche zwölf und Sausan erst fünf Jahre alt. Nach Qamars Tod durchlebte die Familie einige bittere Jahre. Nizar vergeudete seine Jugend wild und verrückt in Bagdads Straßen. Schon mit sechzehn war er Trinker, und bereits in frühen Jahren hatte er sich einer Davul-Zurna-Gruppe angeschlossen, die in den Stadien mit ihrer Musik die Fußballmannschaften anfeuerte. Darin war er äußerst aktiv und motiviert. All dies hinderte ihn aber nicht daran, seinen Schwestern ein enger Freund zu sein. Immer behielt er sie im Auge. Zwar galt seine Leidenschaft nicht den Büchern, aber 1976 bei seinem Schulabschluss schnitt er so gut ab, dass er einen Studienplatz an der technischen Universität erhielt. Das einzige Bild von ihm aus jener Zeit, das Sausan in Erinnerung behalten hatte, zeigt einen blauäugigen Jungen mit blondem Haar, der breit lächelnd und hocherhobenen Hauptes in einem Anzug dahinschritt.

Nach dem Tod ihrer Mutter fanden die drei Kinder Zerstreuung bei der Pflege des Gartens. Wenn Nizar nicht in den Stadien mit Schreien und Anfeuern beschäftigt war, half er seinen Schwestern zu Hause beim Gärtnern.

»Zuweilen hatte ich das Gefühl, dass er, wie manche Sommerblumen, golden glänzte«, sinnierte Sausan einmal.

Die Beziehung zu seinem Vater war nicht gerade harmonisch, denn Nizar gab der intensiven beruflichen Beschäftigung des Vaters und seinem Ignorieren der Schmerzen Qamars eine Mitschuld an ihrem Tod. Bereits bevor der Krieg gegen den Iran ausbrach, hatte Fikrat überlegt, mit den Kindern in seine Heimat im Norden zu ziehen. Fikrats historische Kenntnisse hatten in ihm ein Gespür für katastrophale Entwicklungen ausgebildet.

Als Saddam Hussein die Macht an sich riss und von einem hohen Balkon herunter die Entstehung einer neuen Welt ankündigte, fand sich Fikrat erstaunt inmitten der euphorischen Menge der Untertanen wieder und starrte den neuen Präsidenten an. Die Szene rief ihm die Karrieren anderer Diktatoren ins Gedächtnis, über die er gelesen hatte und die ihn warnten, dass schwarze Zeiten auf das Land zukämen. Als er in den alten doppelstöckigen Bus stieg, der durch die jubelnden und singenden Menschenmassen vom Maidan-Platz ins Al-Bayaa-Viertel fuhr, war ihm bereits in den Sinn gekommen, sich, um den kommenden Ereignissen auszuweichen, in das Versorgungsamt im Norden versetzen zu lassen.

Nizar war gerade im sechsten Semester. Der Plan seines Vaters rief in ihm großes Unbehagen hervor. Er wollte nicht sein Studium in einer für ihn fremden Stadt fortsetzen müssen, und er wollte seine Bagdadi-Freunde und die regelmäßigen Stadion-Besuche nicht aufgeben. Am schlimmsten war für ihn, dass er die Liebesbeziehung zu Asil Yalmaz nicht würde fortsetzen können. Der Junge ahnte nicht, dass sein Vater einen Krieg voraussah. Seine Kenntnisse der gesamten Region und ihrer Stammeskriege ließen in Fikrat die Furcht keimen, dass die Diktatur dieses Mannes, der so unbedingt im Mittelpunkt stehen wollte, nicht ohne Krieg vorübergehen würde. Seine Erfahrungen in Bagdad besagten, dass die Zeit reif war für eine Katastrophe. Da er sich nicht traute, dem Sohn seine wahren Befürchtungen zu verraten, gab er als Grund für den Umzug vor, alt geworden zu sein und seinem Beruf nicht mehr so intensiv wie bisher nachgehen zu können. Sein Umzugswunsch löste bei Nizar und Prusche eine echte Revolte aus. Sie waren nicht bereit, ihr weiteres Leben in einer der kleinen toten Städte im Norden zu verbringen. Besonders aufgebracht reagierte Prusche. Schuld daran war die Liebe. 1976, einige Tage nach ihrem achtzehnten Geburtstag, hatte sich in einem der großen Parks eine Beziehung zu Nashaat Niema, dem Sohn eines hochrangigen Offiziers, entwickelt. Der junge arabische Mann hatte ihr versprochen, nächstes Jahr um ihre Hand anzuhalten. Zöge sie nach Kurdistan, würden ihre Träume vom Winde verweht, und sie müsste ihre Liebe aufgeben. Das einzige Kind, das Fikrat gesagt hatte, es würde ihn überallhin begleiten, bis zum Tode bei ihm bleiben und sich niemals von ihm trennen, war seine jüngste Tochter Sausan. Als Einzige hatte sie ein enges Verhältnis zu ihrem Vater. Nach Qamars Tod schenkte Fikrat ihr besonders viel Aufmerksamkeit. Viele meinten, dass ein Büchernarr wie Fikrat nicht in der Lage sein würde, sich um ein kleines Mädchen zu kümmern. Seine Tochter litt von Geburt an unter Blutmangel, ihr Knochenbau war fragil. Deshalb war er ständig in Sorge. Erst nach dem Tod ihrer Mutter lernte sie zu sprechen und zu gehen. Sie sprach ein gepflegteres Kurdisch als ihre Geschwister, da ihr Vater auf seine Worte achtete, wenn er mit ihr sprach. Fikrat Guldantschi war es auch gelungen, dem Mädchen ein märchenhaftes Bild von Kurdistan und dessen Städten und Urlaubsorten zu vermitteln. In einem Album aus seiner Jugendzeit zeigte er ihr Fotos von schneebedeckten Bergen, verschlafenen Dörfern in grünen Wäldern und von Seen mit glücklichen Fischen, verschwieg ihr aber, was in Kurdistan vor sich ging. So wuchs sie auf, und die Namen kurdischer Städte wie Erbil, Halabja, Amedi oder Urlaubsorte wie Solav und Sarsang klangen in ihren Ohren fantastisch. Fikrat Guldantschi wagte vor den Kindern nicht, laut auszusprechen, dass er einen entsetzlichen Krieg heraufziehen sah. Nur Sausan wisperte er etwas von einer blutigen Zukunft ins Ohr.

Prusche heiratete im ersten Semester ihres Studiums. Ihr Vater war nicht einverstanden. Er murmelte: »Ich weiß, dass sie in dieser Ehe nicht glücklich wird.«

Sausan gingen des Vaters Worte über den Krieg im Kopf herum. Er musste ihr erklären, was Kriege seien, warum sie geführt werden und wohin sie führen. Er zeigte ihr Fotos von verwüsteten Städten, erschöpfte Soldaten auf Märschen, geduckte, verängstigte Männer mit Helmen in Schützengräben, Furcht einflößende Rohre der Artilleriegeschütze, auf Schlachtfeldern explodierte Minen, zerfetzte Soldaten, Berge aufeinandergestapelter Leichen, Bilder von verletzten jungen Männern im Schlamm, im Schnee stecken gebliebene Bataillone, lange Reihen von Kriegsgefangenen sowie übermüdete Generäle in zerfetzten Mänteln, die ratlos, in Rauch und Pulverdampf gehüllt, ins Leere blickten.

Es ist schwer zu verstehen, warum Fikrat bemüht war, seine Tochter auf diese Weise über den Krieg aufzuklären. Von Anfang an übertrug er seine Ängste auf Sausan, was dazu führte, dass seine Tochter früh begriff, dass sie in einem Furcht einflößenden Land lebten. Einige Monate vor dem iranischen Luftangriff auf Bagdad hatte sie sich angewöhnt, Kriegsbücher zu durchstöbern auf der Suche nach Fotos von Gefallenen der beiden Weltkriege. Sie versank in Depression, knabberte an ihren Nägeln, ging ständig im Kreis und litt unter Schlaflosigkeit. Mit der Zeit lernte sie, ihre Seele durch die Fotos, die sie betrachtete, fliegen zu lassen. Sie konnte die Gefühle, die darin steckten, durchleben. Sie sah sich Kriegsbilder an und versank darin, dann wieder betrachtete sie die Bilder der Natur und versank auch in diesen Welten. Was sie schmerzte, war, dass sie weder den Geruch noch die Stimmen wahrnehmen konnte. Je leichter ihr die Bilder zugänglich wurden, desto mehr spürte sie die Stille und Geruchlosigkeit der Bilder, die vor ihren Augen ansonsten so echt und lebendig wirkten. Es entstand in ihr der geheime Wunsch, den Geruch der Toten in diesen Bildern wahrzunehmen.

Ihr Vater ließ die Tür seiner Bibliothek immer unabgeschlossen, damit sie die Handbücher seltener Blumen, Fische und Vögel studieren konnte. Der Anblick schöner Bilder besänftigte Sausan, aber nur bis zu der Nacht, in der die Flugzeuge Bagdad bombardierten. Mit dem Ausbruch des Kriegs entgleiste das Leben der Guldantschi-Familie. Ein Leben voller Chaos, Kummer und Schmerz lag vor ihnen.

5

Die Nachricht von dem jungen Studenten, der von Kameran Selma und Mangur Babagaura schwer verletzt worden war, verbreitete sich am Morgen danach. Seit zwei Jahren war Mangur in keine Messerstecherei mehr verwickelt gewesen, deshalb ging die Nachricht von dem Angriff wie ein Lauffeuer durch die engen Bazar-Gassen und die Teehäuser und erreichte jeden einzelnen Straßenverkäufer und Ladenbesitzer. Bereits kurz vor Mitternacht hatte die Geschichte über einen Kampf zwischen zwei jungen Männern um ein Bagdadi-Mädchen Khalid Amun in drei unterschiedlichen Versionen erreicht. Er lebte seit seiner Kindheit mit den Lästereien und Lügen der Bazar-Verkäufer und wusste nur zu gut, wie die sensationshungrigen Männer Geschichten mit ihren Fantasien und Wunschvorstellungen schmückten und weitererzählten. Der Umstand, dass in der Geschichte der Name einer fremden Frau aus Bagdad vorkam, machte ihm Angst. Er kannte die meisten Frauen und wusste, dass es außer Sausan Fikrat und ihrer Schwester keine fremden Frauen aus Bagdad in der Stadt gab, die Anlass zu einer Messerstecherei hätten geben können. Mittags führte er ein paar Telefonate, um die Wahrheit zu erfahren. Jemand, der Mangur nahestand und an diesem Tag sogar mit ihm gefrühstückt hatte, erzählte Khalid, dass die Sache mit der Tochter eines Mannes zu tun habe, der Fikrat Guldantschi hieß und vor Kurzem aus Bagdad zurückgekehrt war und sich ein Haus gekauft hatte. Er hatte zwei schöne Töchter, und da und dort waren ein paar Verehrer aufgetaucht. Der Mann, dem Mangur die Geschichte detailliert erzählt hatte, übermittelte sie wortgetreu an Khalid. Der ließ den Mann immer aufs Neue wiederholen, dass Fikrats Tochter keineswegs an der Sache beteiligt sei oder etwas davon wisse und auch keine Liebesbeziehung mit einem der Streithähne habe. Als der Erzähler bemerkte, wie wichtig Khalid dieser Umstand war, fügte er eigenmächtig hinzu: »Ich konnte auch noch in Erfahrung bringen, dass das arme Mädchen den Namen Kameran Selma nie zuvor gehört hatte.«

Nun war sich Khalid sicher, dass Sausan nichts von dieser Auseinandersetzung zweier nichtsnutziger Raufbolde wusste. Trotzdem zitterte er. Nach dem Telefonat sperrte er seinen Laden vorzeitig zu und fuhr mit seinem kleinen Fiat nach Hause. Eine innere Kälte ließ seine Zähne klappern. Um sich zu beruhigen, wiederholte er: »Frauen verlieben sich nicht auf diese Weise. Niemals macht die Liebe sie so verrückt.« In diesem Moment hätte er gern den verletzten Jungen und den Angreifer Kameran aus der Nähe gesehen.