Mein Onkel, den der Wind mitnahm - Bachtyar Ali - E-Book

Mein Onkel, den der Wind mitnahm E-Book

Bachtyar Ali

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Beschreibung

Djamschid Khan ist hinter dicken Gefängnismauern dünn geworden. Leicht wie Papier, sodass ihn eines Tages ein Windstoß erfasst und ihn fortträgt, über die Mauern des Gefängnisses hinweg und hinaus in die weite Welt. Immer wieder weht er davon, und immer wieder beginnt er ein neues Leben. Bei der Armee, als Geist, als Prophet, als Geliebter, als fliegende Attraktion – zahllose Wirbel ziehen den Mann mit sich fort, bis er selbst nicht mehr weiß, wer er einmal war und wohin er gehört. Einzig sein Neffe ist auf der Suche nach ihm und nach etwas, das seinem Onkel seine Wurzeln zurückgibt. Eine schwerelose, berührende, auch tragische Geschichte vom sich Verlaufen, vom neu Beginnen und der Frage, wohin wir eigentlich unterwegs sind.

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Seitenzahl: 183

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Über dieses Buch

Djamschid Khan ist hinter dicken Gefängnismauern dünn geworden. Leicht wie Papier, sodass ihn eines Tages ein Windstoß erfasst und fortträgt. Immer wieder fliegt er davon, bis er selbst nicht mehr weiß, wer er ist und wohin er gehört. Einzig sein Neffe ist auf der Suche nach ihm und nach etwas, das ihm seine Wurzeln zurückgibt.

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Bachtyar Ali, geboren 1966 in Sulaimaniya (Nordirak), ist der bekannteste zeitgenössische Schriftsteller des autonomen irakischen Kurdistan. Sein Werk umfasst Romane, Gedichte und Essays. Er lebt seit Mitte der Neunzigerjahre in Deutschland und wurde 2017 mit dem Nelly-Sachs-Preis ausgezeichnet.

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Ute Cantera-Lang, geboren 1974 in Erlangen, lebt seit vielen Jahren in Österreich. Sie studierte Musik an der Kunstuniversität in Graz. Zahlreiche Auslandsaufenthalte führten zu Dolmetschtätigkeiten in Spanisch und Englisch. Gemeinsam mit Rawezh Salim übersetzt sie aus dem Kurdischen (Sorani).

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Rawezh Salim, geboren 1973 in Sulaymaniyah (Nordirak), floh während des kurdischen Bürgerkrieges nach Österreich, wo er Translationswissenschaften studierte. Er arbeitet unter anderem als Übersetzer und Dolmetscher für die Sprachen Deutsch, Kurdisch und Arabisch.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Hardcover, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Bachtyar Ali

Mein Onkel, den der Wind mitnahm

Roman

Aus dem Kurdischen (Sorani) von Ute Cantera-Lang und Rawezh Salim

E-Book-Ausgabe

Mit einem Bonus-Dokument im Anhang

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 2 Dokumente

Die Originalausgabe erschien 2010.

Die Übersetzung aus dem Kurdischen (Sorani) wurde vom SüdKulturFonds in Zusammenarbeit mit Litprom e. V. - Literaturen der Welt unterstützt.

Lektorat: Hans-Ulrich Müller-Schwefe

Originaltitel: Cemşîd Xany Mamim: Ke Hemîşe Ba Legel Xoyda Deybird

© by Bachtyar Ali 2010

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Lukman Ahmad, Alawis’ Women series (waiting for spring), Acryl auf Leinwand (Ausschnitt)

Umschlaggestaltung: Sven Schrape

ISBN 978-3-293-31137-4

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 22.09.2022, 01:08h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

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Inhaltsverzeichnis

MEIN ONKEL, DEN DER WIND MITNAHM

Erster FlugAuf den SchlachtfeldernVersteckt in BaranokRückkehr in die StadtMein Onkel und GottDie FluchtDie NachrichtenagenturLetzte Verwandlung

Mehr über dieses Buch

Bachtyar Ali: »Jeder von uns trägt in sich einen Teil Djamschid und einen Teil Salar.«

Über Bachtyar Ali

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Über Rawezh Salim

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Erster Flug

Als Djamschid 1979 verhaftet wurde, war er siebzehn. Die Baath-Partei hatte sofort nach Machtübernahme des neu ernannten Präsidenten damit begonnen, die Kommunisten, soeben noch ihre Hauptverbündeten, zu jagen, zu verhaften und zu foltern.

Keiner in unserer Sippe wollte damals wahrhaben, dass Djamschid Kommunist geworden war, Kommunisten hatte es bei uns noch nie gegeben. Man erzählt, er habe heldenmütig die Folterungen ertragen und sich nicht brechen lassen. Sein eisernes Schweigen zwang die Schergen, immer neue Folterkünste für ihn zu ersinnen. Immer präziser, immer grausamer wurden die Methoden, ihm Schmerz zuzufügen. Als alles ohne Erfolg blieb, wurde er von einem Kerker zum nächsten weitergereicht.

Dass seine Kräfte schwanden und er bald nur noch ein Schatten seiner selbst war, mag sehr wohl auf die Misshandlung und den Hunger in den Gefängnissen zurückzuführen sein. Einige seiner Mithäftlinge berichteten von einem plötzlich einsetzenden, drastischen Gewichtsverlust.

Ich erinnere mich nur undeutlich, wie er vor seiner Verhaftung aussah. Die wenigen Fotos des Fünfzehn- und Sechzehnjährigen zeigen einen pummeligen, pausbäckigen Jungen. Sein Lächeln zeugt von einer gesunden und unbeschwerten Kindheit. Einige, die ihn schon zu dieser Zeit kannten, neigen zur Ansicht, dass ihn nicht der Freiheitsdrang oder der Glaube an soziale Gerechtigkeit dazu bewegte, Kommunist zu werden, sondern eher die Sehnsucht nach einer Gesellschaft, in der es freie Liebe gibt, in der das Verhältnis zwischen Männern und Frauen nicht tabuisiert und streng kontrolliert wird. Wie dem auch sei, im Gefängnis schwanden Djamschids Kräfte, und er verlor dramatisch an Gewicht. Die Baathisten, für die ein Menschenleben keinen Pfifferling wert ist, ließen sich davon nicht beeindrucken. Sie sahen darin vielmehr einen Erfolgsbeweis der ausgeklügelten Methoden, mit denen sie, unterstützt von ausländischen Spezialisten, ihr Folterprogramm perfektioniert hatten.

Niemand weiß genau, an welchem Tag der Wind Djamschid zum ersten Mal verwehte. Fest steht aber, dass sein erster Flug in einem Sondergefängnis in Kirkuk begann.

In einer kalten Winternacht holte ihn ein Wärter aus der Zelle, um ihn den Ermittlern vorzuführen. Er wusste: Bei jedem dieser Verhöre, mit den üblichen Prügeln und Quälereien, konnte sein letztes Stündchen schlagen. Um zum Folterraum zu gelangen, musste er einen großen Hof überqueren. Auf diesem Weg nun geschah, woran er sich auch später noch glasklar erinnerte und wovon er gern in leuchtenden Farben erzählte. Er war in Begleitung des arabischen Sicherheitsbeamten. Ein hochrangiger Offizier, der in einem langen Militärmantel am anderen Ende des Hofs vor einer Tür stand, verlangte den großen Schlüsselbund, den der Wärter bei sich trug. Der Offizier befahl ihm, herüberzukommen und ihm die Tür aufzusperren. Der Wärter, nach Djamschids Beschreibung ein Typ mit Locken und Aknenarben, befahl: »Bleib stehen, ich bin gleich zurück!« Djamschid gehorchte.

Keiner weiß, was dann passierte, aber offensichtlich erhob sich unerwartet ein starker Wind, der Djamschid Khan zum ersten Mal vom Boden hob. Er erinnerte sich genau: Ein Schwindelgefühl und eine unsagbare Angst befielen ihn. Wie ein trockener Grashalm kam er sich vor, federleicht vom Wind entführt und emporgerissen, hoch über die Gefängnismauern hinaus. Unter sich sah er die Dächer des Sicherheitszentrums Nord, der Wind wirbelte ihn herum, drehte den frei Schwebenden auf den Bauch, sodass die Arme herabbaumelten, und spielte mit ihm wie mit einem abgebrochenen Ast. Starke Kopfschmerzen befielen ihn, er konnte sich das alles nicht erklären und hatte keinerlei Vorstellung davon, was als Nächstes passieren würde. Er hörte, dass vom Boden aus Schüsse abgegeben wurden, und drückte die Augen fest zu. Die Angst, abzustürzen, ließ ihn am ganzen Leibe zittern.

Aber der Wind trug ihn weiter und weiter. Von oben sah er die ganze Stadt, die Lichter der Straßenbeleuchtung, die Scheinwerfer der Autos auf den breiten und langen Straßen, aber seine Angst erlaubte es ihm nicht, den Anblick zu genießen. Ein heftiger Windstoß torpedierte ihn in die Weiten des Himmels, und er verlor die Besinnung.

Niemand weiß, welche Strecken er in seiner luftigen Höhe zurücklegte, wie lange er dort oben schwebte und wie viele Flugrunden der Wind den bewusstlosen Djamschid Khan am Himmel drehen ließ. Jedenfalls führte er ihn unserer Stadt zu, auf die bekanntlich jedes Unwetter und jeder Orkan aus allen vier Himmelsrichtungen zusteuert, und ließ ihn da fallen. Verbürgt ist, dass er nach seinem langen Flug, der im Gefängnishof begonnen hatte, auf das Dach einer Autowerkstatt in unserer Stadt fiel, wo er bei Tagesanbruch von einem Lehrling gefunden wurde.

Solange er schwebte, war Djamschid noch Kommunist. Kaum aber war er auf dem Dach gelandet, konnte er sich daran nicht mehr erinnern. Der Wind, der ihn nordwärts trug, hatte ihn sein früheres Leben vergessen lassen.

Wundersame Wandlungen geschahen, wenn der Wind ihn verwehte. Neue Leidenschaften und Träume erwachten in ihm, sobald er am Boden aufschlug. Mit jedem Sturz schwand oder verblasste ein Teil seiner Erinnerungen. So kommt es, dass ich mich zwischendurch frage: Wie soll ich es schaffen, das Leben eines Mannes zu erzählen, der ständig von Neuem sein Gedächtnis verlor?

Am Nachmittag gelangte Djamschid zum Haus meines Großvaters Hissam Khan. Der war bestürzt über den abgemagerten Jungen, der nur noch aus einer pergamentfeinen Haut bestand, die um ein paar dünne Knochen hing. Doch welch ein Glück, dass der monatelang verschollene Sohn zurück war! Angesichts der wachsenden Brutalität der Baathisten hegte niemand die leiseste Hoffnung, dass aus ihren Gefängnissen jemand je wieder lebend auftauchen würde. Schon gar nicht, wenn es sich um einen Kommunisten handelte. Hissam meinte zunächst, die Baathisten hätten sich von der Schuldlosigkeit seines Jüngsten überzeugt und ihn deshalb laufen lassen. Als ihm Djamschid aber die Geschichte seiner Reise durch die Lüfte bis ins kleinste Detail erzählte, und wie der Wind ihn hergetragen hatte, befiel meinen misstrauischen Großvater der Verdacht, sein Sohn könnte entweder ausgebrochen und geflohen oder aber verrückt geworden sein.

Mein Cousin Smail und ich wurden zu seinen Begleitern bestimmt. Unsere Aufgabe war es zu verhindern, dass er vom Wind verweht würde.

Er war drei Jahre älter als wir beide, aber wir waren viel größer und kräftiger. Beim ersten Treffen trat mir eine ausgemergelte Klappergestalt entgegen, ein Geschöpf aus gilbigem Papier, ein schmächtiger Mann, der seitlich betrachtet nicht mehr war als eine Linie. Wie ein Stück Nähseide, das im Wind flattert, oder eine Wäscheleine, die in einer leichten Brise erzittert.

Smail und ich waren Cousins, beide fünfzehn Jahre alt, aber schon zum zweiten Mal in der ersten Klasse der Mittelschule sitzen geblieben, und wir schafften es nicht in die zweite. Als sich die Verwandten versammelten, um über Djamschids Situation zu beraten, hatte man uns längst als hoffnungslose und nichtsnutzige Fälle abgestempelt. Mein Onkel Adib, der älteste Sohn von Hissam, meldete sich als Erster und schlug vor, seinen Sohn Smail zum Dauerbegleiter des erbarmungswürdigen Bruders Djamschid zu ernennen. Mein Vater Sarfraz wollte der Verwandtschaft ebenfalls brüderliche Fürsorglichkeit demonstrieren, er schloss sich unverzüglich an und stellte auch mich, seinen Sohn Salar, zur Verfügung. Weil auf Djamschid mehr als einer aufpassen müsse.

Um ihn vor den Häschern der Baathisten und den allgegenwärtigen Spionen in Sicherheit zu bringen, hatte man ihn sofort in die von Kurden kontrollierten Berggebiete gebracht. Unser Heimatdorf, aus dem wir ursprünglich stammten, lag in einer dieser kalten, kaum zugänglichen Regionen. Eine Woche nach Djamschids Rückkehr ließ mein Vater mich auf den Beifahrersitz seines Pick-ups klettern und sagte: »Wir fahren nach Baranok.« Unterwegs erklärte er mir: »Von heute an seid ihr, du und dein Cousin Smail, die Wächter eures Onkels. Er wird euch brauchen und auf euch angewiesen sein. Ihr müsst ihm dienen und ihm helfen. Ihr dürft ihn niemals aus den Augen verlieren, denn aus ihm ist ein kraftloser Schwächling geworden, den jeder Windstoß mit sich zu reißen droht.« Ich traute mich nicht, Fragen zu stellen, aber den letzten Satz meines Vaters hatte ich nicht verstanden.

In den Zeiten vor seiner Verhaftung hatte ich kaum je ein Wort mit Djamschid gewechselt. Wenn wir Großvater besuchten, kam er selten aus seinem Zimmer, meistens begrüßte er uns nicht einmal. Sein Zimmer in der obersten Etage hatte etwas von einer Festung, die außer ihm selbst und seinen engsten Freunden niemand betreten durfte. Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung war er Schüler an einer landwirtschaftlichen Berufsschule. Ich muss gestehen, dass ich damals meinen Onkel nicht sonderlich mochte. Nicht, weil er kaum mit uns sprach, sondern weil er streng und ernst blickte. Er fand stets einen Grund, uns von oben herab zu behandeln. Wahrscheinlich dachte er sich nichts dabei. Vielleicht hing es aber auch damit zusammen, dass er Kommunist geworden war. Die Brüder, Vater Hissam und die adligen, einflussreichen Verwandten hielt er nun allesamt für Unterdrücker und Blutsauger. Außerdem erlaubte er niemandem, ihn mit seinem Adelstitel »Khan« anzusprechen, man musste ihn »Kamerad Djamschid« nennen. Die Wände seines Zimmers hatte er mit großen Porträts von Karl Marx und Friedrich Engels geschmückt. So war mir an jenem Tag, als ich mit meinem Vater in unser altes Dorf Baranok fuhr, noch das alte Bild von Djamschid in Erinnerung: ein Kommunist, der uns, die adlige Khan-Sippe, verachtet.

Als wir das Dorf erreichten, erwarteten uns Smail und mein Onkel Adib bereits. Djamschid saß mitten im großen Wohnzimmer auf einem bunten persischen Teppich neben meinem Großvater. Ich hatte ihn seit eineinhalb Jahren nicht mehr gesehen und hätte ihn nicht wiedererkannt. Aber Smail und ich bemerkten sogleich, dass die Folter, die ihn zu einem Schatten seiner selbst gemacht hatte, an seiner Überheblichkeit nichts geändert hatte. Die Gefangenschaft hatte ihn nicht gebrochen, sondern eher noch hochmütiger gemacht.

Hissam Khan, der das Oberhaupt der Sippe war, wandte sich an Smail und mich und sagte: »Die Baathisten haben meinem Sohn so viel Schmerz zugefügt, dass von ihm kaum mehr als eine körperlose Seele geblieben ist. Ihr müsst an seiner Seite bleiben, bis er ein wenig zugenommen hat und wieder fest auf beiden Beinen steht. Wenn er hinausgehen will, bindet ihn an euch fest, und an Tagen mit starkem Wind dürft ihr ihn keinesfalls losbinden. Besser wäre, wenn ihr ihn an solchen Tagen gar nicht hinauslasst. Zu euren Aufgaben gehört auch, seine Mahlzeiten und seine Gesundheit zu überwachen. Morgen werden wir Doktor Nagib Khan herbestellen, damit er ihn gründlich untersucht. Und du, Djamschid: Welche Nahrung auch immer dir Doktor Nagib verschreibt, du musst gehorchen und sie zu dir nehmen. Hier im Dorf habe ich die Familie Salih Hindi damit beauftragt, täglich für euch zu kochen und das Essen vorbeizubringen. Ihr dürft Djamschid auf keinen Fall in die Nähe von irakischen Armeeposten lassen. Wir müssen warten, bis die Regierung wieder eine Amnestie erlässt. Dann könnt ihr in die Stadt zurückkehren. Bis dahin dürft ihr euren Onkel nicht aus den Augen lassen.«

Er wies auf ein paar kurze, dicke Seile: »Im Freien müsst ihr in der Nähe eures Onkels bleiben, und ihr müsst beide, oder zumindest einer von euch, das um Djamschids Hüfte gebundene Seil fest in der Hand halten. Wenn erforderlich, müsst ihr das Seil zusätzlich um die eigene Hüfte schlingen, damit der Wind ihn nicht mitnimmt. Bei sehr starkem Wind müsst ihr ihn beide an zwei Seilen festhalten, damit er am Boden bleibt. Denn wer weiß, was passiert und wo er herunterfällt, wenn der Wind ihn noch einmal mitnimmt.«

Erst schwieg Djamschid verdrossen. Doch dann begann er, verächtlich den Kopf zu schütteln, und äffte halblaut einige Sätze und Worte von Hissam Khan nach.

Unsere Väter übergaben uns zwei lange Aufgabenlisten. Wir sollten nicht vergessen, wie sehr sie Djamschid liebten, schärften sie uns ein. Wenn ihm etwas zustieße, würden sie uns verstoßen, und Großvater würde uns mit Sicherheit unser Erbteil verweigern.

Als Smail und ich danach allein blieben, meinte Smail, diese Aufgabe sei viel reizvoller als der Schulbesuch. Für ihn, der Fremdsprachen lernen und in Ruhe zu Hause lesen wollte, war das gewiss so. Beide hassten wir die Schule. Ich aber flanierte lieber und war hinter Frauen her. Die Stadt zu verlassen, fand ich schrecklich, denn nun war ich weit weg von all den Mädchen. Auch war ich oft ohne die Erlaubnis meines Vaters und meiner Verwandten heimlich ins Kino gegangen, um indische Filme anzusehen. Sie waren zu einem wichtigen Teil meines Lebens geworden. All dies musste ich aufgeben, um einer Person zu dienen, die ich nicht einmal leiden konnte. Für mich war diese Aufgabe kein bisschen reizvoll. Aber ich antwortete Smail nur mit einem Achselzucken. Ich konnte sowieso nichts daran ändern …

Beim ersten Beisammensein mit Djamschid Khan saß ich ratlos da und starrte diesen spindeldürren Schwächling an. Er erzählte von seiner Gefangenschaft und was für Foltern er erduldet hatte, aber niemand auf der Welt könne aus ihm mit Gewalt etwas herausprügeln. Wir waren mitten im Gespräch, als ein Schneider hereinkam, um Maß an seinem ausgemergelten Körper zu nehmen. Von da an bis zu dem Tag der Rückkehr in die Stadt hatte er neben uns, seinen persönlichen Wächtern, auch einen Arzt und diesen Schneider zu seiner Verfügung. Herrisch teilte er uns mit, dass wir ihm alles, was er wolle und was sein Herz begehre, herbeischaffen müssten. Wir hätten ihm zu gehorchen, und seine privaten Geschichten dürften wir nicht in die Öffentlichkeit tragen. Ich dachte zunächst, er habe vielleicht im Sinn, hinter dem Rücken meines Großvaters seinen Kampf für den Kommunismus fortzusetzen, erkannte dann aber, dass er gar nicht daran dachte, sondern mit größtem Vergnügen den Kommunismus und alle Kommunisten verspottete.

Baranok war ein kleines Dörfchen, in dem etwa zehn Familien lebten. Als Smail und ich am ersten Abend Djamschid das Seil um die Hüfte schlangen und wir zu dritt den Weg zur Dorfmoschee einschlugen, um Wasser zu holen, hatte ich das Gefühl, dass es ihm sehr gefiel, im Dorf und in der freien Natur spazieren zu gehen. Nach seinem Abschied vom Kommunismus wünschte er, sich in die Natur zu vertiefen und sie zu begreifen. An jenem Tag wehte ein schwacher Wind, nicht stark genug, um ihn vom Boden abheben zu lassen. Er schritt freudig vor uns dahin: ein kleiner, fadendünner Mann, den zu bestaunen sich das ganze Dorf, Erwachsene und Kinder, versammelten. Die wenigen Alten, die sich sogar noch an die Geburt von Djamschids Vater erinnerten, kamen auf uns zu, um Djamschid willkommen zu heißen und um nach dem rätselhaften Seil zu fragen, dessen Ende ständig entweder in Smails oder in meiner Hand lag.

Von oben herab sagte er zu ihnen: »Dieses Seil dient dazu, uns während eines starken Windes am Davonfliegen zu hindern, denn sollte ein Wirbelsturm losbrechen, gedenken wir nicht, vom Wind verweht zu werden.«

Er mochte es nicht, sich unter einfache Leute zu mischen, deshalb durften wir erst in der folgenden Nacht wieder ins Freie. Im Schein des Mondes mussten wir einen kleinen Berg erklimmen. Ich merkte, dass ihm nach Fliegen zumute war. Still verharrte er auf der Kuppe, und ich war mir sicher, dass er auf Wind wartete. Aber außer einer sanften Brise rührte sich nichts. Bis spät in die Nacht mussten wir dort oben stehen. Er sagte kein Wort, sog nur die frische Luft tief in die Lunge, schaute in den Sternenhimmel und schien über etwas uns Unbekanntes nachzudenken.

Am nächsten Tag kam Doktor Nagib, um ihn zu untersuchen. Beim Eintreten blieb er wie vom Donner gerührt stehen. Was er sah, war für ihn unfassbar. Später nahm er Smail und mich beiseite und flüsterte uns zu, dass wir äußerst achtsam mit ihm umgehen müssten. Es sei gut möglich, dass er plötzlich Wutanfälle bekomme. Vielleicht neige er hin und wieder zu depressiven Stimmungen oder versuche, sich umzubringen. Der Doktor meinte auch, Djamschids Körpergewicht komme allein vom Schädel, der Rest sei so leicht, dass es medizinisch nicht erklärbar und gegen jede Logik sei. Er solle ausreichend fette Nahrung zu sich nehmen und sich wenig bewegen, bis er wieder zugelegt habe. Jedoch in den vielen Jahren, die ich dann an seiner Seite zubrachte, erwies sich, dass weder reichliches Essen noch irgendwelche Vergnügungen sein Gewicht normalisieren konnten.

Nachdem der Doktor gegangen war, machte sich Djamschid über ihn lustig und sagte, dass er gar nicht zunehmen wolle. Ihm sei nicht danach, auf Dauer am Boden zu bleiben. Die verschriebenen Medikamente nahm er nicht ein, sondern ließ sie jedes Mal, wenn er in die Dorfmoschee ging, in der Kanalisation verschwinden. Als wir dahinterkamen, befahl er uns, niemandem davon zu erzählen und ihn auch bei Großvater Hissam nicht zu verpetzen.

Smail und ich hatten vom ersten Tag an Respekt vor ihm. Obwohl wir größer und stärker waren, brachte uns ein einziger Blick von ihm dazu, in Windeseile zu gehorchen. Von Anfang an sagte er, wenn wir uns folgsam verhielten, würden wir es gut bei ihm haben.

Dass der Wind ihn wegwehen könnte, wollte ich zunächst nicht glauben. Ich sagte zu Smail, das sei nur eine Finte, um uns beide aus der Stadt zu schaffen. Unser ständiges Sitzenbleiben in der Schule drohte den Ruf der Familie zu gefährden. Smail widersprach: »Möglich ist höchstens, dass sie uns zwei für die nutzlosesten Mitglieder der Familie halten und uns darum diese Arbeit zugeteilt haben, weil sie einerseits wichtig und andererseits einfach ist.« Dann schaute er mich ein wenig betrübt an. »Es stört mich nicht, bis zum Tod für diesen halben Mann zu arbeiten, was nichts anderes von uns verlangt, als ihn am Seil zu halten. Aber ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache. Irgendwie schwant mir, dass seinetwegen eines Tages eine Katastrophe über uns hereinbricht.« Auch ich war mir sicher, dass unser Leben so einfach und leicht nicht bleiben würde. Doch konnte ich zu jenem Zeitpunkt nicht wissen, was alles uns noch bevorstand.