Die Stadt der weißen Musiker - Bachtyar Ali - E-Book

Die Stadt der weißen Musiker E-Book

Bachtyar Ali

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Beschreibung

Als man dem kleinen Dschaladat die Flöte zum ersten Mal in die Hand drückt, entlockt er ihr sofort Klänge, die alle verzaubern. Der alte Sufi Ishaki Lewzerin nimmt ihn und seinen Freund in die Berge mit, um sein geheimes Wissen weiterzugeben. Als der Krieg und die Bombardements beginnen, wandern die drei Flötisten von Dorf zu Dorf. In einer riesigen, namenlosen Stadt der Bordelle muss Dschaladat in einer Tanzkapelle seine ganze Kunst des Flötenspiels wieder verlernen, um nicht aufzufallen. Das rätselhafte Mädchen Dalia beschützt ihn, weiht ihn ein in ihre Geheimnisse und führt ihn auf einen Weg in die Tiefen seines Landes, der unsere Vorstellungskraft übersteigt. Der monumentale Roman einer Welt, in der der Tod allgegenwärtig ist und die Künste ungeahnte Rettung bringen.

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Seitenzahl: 674

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Über dieses Buch

Als man dem kleinen Dschaladat die Flöte zum ersten Mal in die Hand drückt, entlockt er ihr Klänge, die alle verzaubern. Im Krieg muss er in einer namenlosen Stadt der Bordelle all seine Kunst wieder verlernen. Ein rätselhaftes Mädchen beschützt ihn und führt ihn auf einen Weg in die Tiefen seines Landes, der unsere Vorstellungskraft übersteigt.

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Bachtyar Ali, geboren 1966 in Sulaimaniya (Nordirak), ist der bekannteste zeitgenössische Schriftsteller des autonomen irakischen Kurdistan. Sein Werk umfasst Romane, Gedichte und Essays. Er lebt seit Mitte der Neunzigerjahre in Deutschland und wurde 2017 mit dem Nelly-Sachs-Preis ausgezeichnet.

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Peschawa Fatah (*1983) besuchte die Primarschule in Sulaimaniya und die Mittelschule in Luzern. Er arbeitet als Übersetzer für Deutsch, Englisch, Französisch und Kurdisch. Ins Kurdische (Sorani) übertrug er Werke von Franz Kafka, Bernard Schlink, Pascal Mercier, Sherko Fatah, Le Clézio.

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Hans-Ulrich Müller-Schwefe, Lektor, arbeitet seit 1975 im Suhrkamp Verlag und nun auch für andere Verlage. Er lebt in Berlin.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Bachtyar Ali

Die Stadt der weißen Musiker

Roman

Aus dem Kurdischen (Sorani) von Peschawa Fatah und Hans-Ulrich Müller-Schwefe

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 1 Dokument

Die Originalausgabe erschien 2005.

Deutsche Erstausgabe

Peschawa Fatah übertrug diesen Roman aus dem Kurdischen (Sorani) in einen ersten deutschen Text. Er wurde von Hans-Ulrich Müller-Schwefe in Zusammenarbeit mit dem Autor in die vorliegende, autorisierte Fassung gebracht.

Originaltitel: Schar i Moseqare Speakan

© by Bachtyar Ali 2005

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Lukman Ahmad (Ausschnitt)

Umschlaggestaltung: Heike Ossenkop und Sven Schrape

ISBN 978-3-293-30986-9

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 03.06.2022, 17:39h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

DIE STADT DER WEISSEN MUSIKER

Scharochi Scharochs letzte ErscheinungErstes Buch — Erzählt von Ali SharafiarVerloren im SüdenZweites Buch — Erzählt von Dschaladati KotrDie Musik verlernenSamirs Reise zwischen Krieg und ReueDrittes Buch — Erzählt von Ali SharafiarDie weißen PferdeViertes Buch — Erzählt von Ali Sharafiar und Dschaladati KotrHotel Weiße KirscheSamir von Babylon und der Weg zur ErlösungErste Person: Schanas Salims Vorliebe für den Schlaf im Schoß des TodesZweite Person: Scharochi Scharochs zweites ErscheinenDritte Person: Mustafa Schaunm, der die Vögel sahDas GerichtDie Wahrheit über Mustafa SchaunmEine Reise durch Samirs SeeleNacht der AbrechnungFünftes Buch — Erzählt von Ali SharafiarAbschied von Qaqnas

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Über Peschawa Fatah

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Scharochi Scharochs letzte Erscheinung

Diese Geschichte beginnt 1998 im Flughafen von Amsterdam, als ich zum zweiten Mal nach Kurdistan zurückkehrte. In jenen Tagen fühlte ich mich niedergeschlagen, hoffnungslos und gekränkt. Wenige Tage zuvor hatte ich von einem Gericht in Kurdistan die Scheidungsklage meiner Frau zugeschickt bekommen – aus heiterem Himmel. Es war vorbei mit uns. Um der Sache nachzugehen und mich um meine Kinder zu kümmern, musste ich über Syrien in die Heimat zurück. Vor den Schaltern standen die Menschen in drei Schlangen mit ihrem Gepäck, ich in der rechten. Plötzlich hörte ich eine Stimme: »Sie, ja, ich meine Sie, Sie sind doch Kurde? Ich kenne Sie. Nein, ich irre mich nicht … Sie sind doch der Schriftsteller Ali Sharafiar, nicht wahr?«

Es war ein junger Mann, ganz in Weiß gekleidet; er trug ein weißes Polohemd, weiße Hosen und makellos weiße Schuhe. Er stand am Schalter, um sein Gepäck aufzugeben, aber offensichtlich wog es zu viel, denn die Dame am Schalter ließ ihn nicht passieren. Ich dagegen hatte nichts Nennenswertes dabei, bloß eine kleine Tasche, die Schlafanzug, Zahnpasta und mein Rasierzeug enthielt.

»Ja, ich bin Ali Sharafiar«, sagte ich. »Bitte, was kann ich für Sie tun?« Auch das noch, dachte ich missmutig. Die Welt schien etwas gegen mich zu haben. Seit meiner Kindheit reiste ich am liebsten allein. Reisebekanntschaften hatten mir immer nur Ärger eingebrockt.

Der junge Mann hatte vier kleine rote Muttermale am Hals, wie Spuren verblasster Blutstropfen. Er sah gut aus mit seinen blauen Augen. Mich zu entdecken, schien ihn aus der Fassung gebracht zu haben. Er trat aus der Reihe, kam zu mir und fragte: »Sie gehen nach Kurdistan zurück, richtig?«

»Ja, ich gehe nach Kurdistan zurück.«

»Ich bitte Sie …« Er drückte mir eine weiße Tüte in die Hand. »Ich hoffe, es macht Ihnen keine Umstände. Wenn Sie für mich diese Tüte mitnehmen könnten? Denn ich gehe in eine andere Stadt, weit weg, so weit, dass niemand mich erreichen kann. Jemand muss diese Tüte für mich nach Kurdistan bringen und einem Mädchen namens Rauschani Mustafa Saqzi aushändigen. Die Adresse steht drauf, die Telefonnummer ebenso.«

»Sind es Medikamente?«, fragte ich ärgerlich, da Kurden aus Europa meistens Arznei oder Kosmetika heimschickten. »Ist es Haaröl? Rasierwasser oder so was?«

»Nein, mein Herr.« Er schüttelte den Kopf. »Das ist Musik. Rauschani Mustafa Saqzi ist Musikerin, sie studiert an der Kunstakademie. Ich schicke ihr Musik aus allen Epochen.«

Er öffnete die Tüte, ich sah Notenhefte und CDs. »Hier, aus dem Barock Palästrina. Auch Vivaldi, sie liebt ihn. Und Henry Purcell. Aus der Klassik schicke ich ihr Haydn und Mozart, von den Romantikern Rossini, ja, den großen Rossini, den auch ich sehr bewundere. Da ist Mendelssohn und John Stainer. Aber auch die Modernen, Benjamin Britten, Markus Stockhausen. Herr Sharafiar, Sie sind meine letzte Hoffnung.«

»Wenn die Telefonnummer draufsteht, mit Vergnügen«, sagte ich. »Das Wichtigste ist die Telefonnummer.«

»Nein, das Wichtigste ist, dass Sie es ihr selbst aushändigen«, beharrte er. »Sie müssen völlig sicher sein, dass sie wirklich Rauschani Mustafa Saqzi ist. Sie dürfen das niemand anderem übergeben, denn sie hat Ihnen Dinge zu berichten, die sehr wichtig sind. Es geht nicht nur um diese Noten und CDs, es geht um mehr. Sie wird es Ihnen erzählen.«

»Soll sie mir etwas Privates für Sie übergeben, das ich zurückbringen soll? Meinen Sie das?«, fragte ich verwundert. »Aber wie soll ich Sie erreichen?«

»Nein, wir beide werden uns nie wiedersehen«, gab er zurück. »Ich gehe in eine andere Stadt. Sie werden mich nie wiedersehen.«

»Aber was soll ich ihr denn sagen«, fragte ich verwirrt und etwas verärgert, »wenn sie fragt, wer ihr diese Sachen geschickt hat?«

»Sagen Sie: Scharochi Scharoch … der traurigste Flötist der Welt.«

Ich wollte ihm weitere Fragen stellen, doch er nahm meine Hand und sagte: »Tut mir leid, dass ich keine Zeit habe. Ich muss los. Sie wissen nicht, wie wenig Zeit mir blieb. Sie wissen nicht, wie wichtig es war, Sie zu treffen. Unsere Begegnung wird bedeutende Konsequenzen haben. Denken Sie jetzt nicht weiter darüber nach, es ist nicht leicht zu verstehen, aber Dschaladati Kotr wird Ihnen alles erklären. Alle Fragen, die Sie haben, können Sie ihm stellen. Auf mich kommt es nicht an. Wenn ich weg bin, sehen Sie mich nicht wieder.«

»Was sagen Sie da«, fragte ich ungehalten. »Wer ist Dschaladati Kotr? Ich kenne niemanden, der so heißt.«

»Dschaladati Kotr«, sagte er geheimnisvoll lächelnd, »ist der Junge, der aus der Stadt der weißen Musiker zurückgekehrt ist.«

»Stadt der … was?«, fragte ich.

»Stadt der weißen Musiker«, wiederholte er ruhig.

Unversehens fand ich mich direkt vor dem Schalter, mit der weißen Tüte des unbekannten Weißgekleideten in der Hand. Die Dame prüfte meinen Pass und mein Ticket, wog meine Tasche und ließ sie auf dem Förderband entschwinden. Als ich die Bordkarte bekam, drehte ich mich um und wollte mein Gespräch mit dem Unbekannten, der mir leicht irr vorkam, zu Ende bringen. Aber er war verschwunden.

Bis zum Abflug blieb wenig Zeit. Ich suchte den Mann an allen Gates, in den Cafés und Flughafenshops, aber vergebens. Bevor ich an mein Gate ging, leerte ich die Tüte aus und überprüfte den Inhalt. Nein, da war nichts Verdächtiges. Ich packte alles wieder ein, schrieb mir die Telefonnummer in mein Adressbüchlein und notierte daneben: Rauschan Mustafa.

Ich war mir fast sicher: Dieser Herr Scharoch gehörte zu jenen unglückseligen Kurden, die durch endloses Herumreisen mit keinerlei Aussicht auf Asyl vor lauter Heimweh den Verstand verloren haben. Aber hatte ich selbst nicht Kummer genug? Ohne weiter darüber nachzugrübeln, stieg ich ins Flugzeug nach Damaskus.

So also begann diese Geschichte. Ihr Ende wird sie an ganz anderem Ort, jenseits der uns vertrauten Welt und Zeit finden.

Eine Woche nach meiner Rückkehr wählte ich im Laden eines Freundes die Telefonnummer, die auf der weißen Tüte stand. Eine außergewöhnlich ruhige und sanfte Mädchenstimme meldete sich. Sie kam wie aus einer anderen Welt, wie aus den Tiefen eines Traums. Als sei eine überirdische Musik in ihrer Stimme, als wollte sie einen damit verführen.

»Mein Name ist Ali Sharafiar«, begann ich. »Ich lebe in Deutschland. Ich habe Frau Rauschan Mustafa etwas Persönliches zu übergeben und würde gern mit ihr sprechen, wenn es passt.«

»Ja, Herr Sharafiar«, erwiderte die feine Stimme am anderen Ende der Leitung. »Ich habe auf Sie gewartet. Wir alle warten auf Sie.«

»Verzeihung, ich wusste nicht, dass es so dringlich ist«, sagte ich verblüfft. »Glauben Sie mir, ich wusste es nicht. Ich habe gerade selber Probleme. Wenn es Ihnen passt, kann ich Ihnen die Sachen gleich bringen lassen. Wenn Sie mir die Adresse geben, schicke ich sofort ein Taxi.«

»Nein, mein Herr«, sagte sie. »Wir warten auf Sie persönlich, besonders Dschaladati Kotr.«

»Um Himmels willen, wer ist denn Dschaladati Kotr?«, fragte ich irritiert. »Ich habe eine Tüte für Sie, das ist alles. Ich bin in Eile, muss zum Gericht, zum Grundbuchamt und hab noch tausend andere Dinge zu erledigen. Es tut mir leid. Aber sagen Sie, was will Herr Dschaladati Kotr von mir?«

»Wir wissen doch, wie beschäftigt Sie sind«, beteuerte die feine Stimme mit unerschütterlicher Gefasstheit und Sanftmut. »Aber es geht um etwas überaus Wichtiges, eine Geschichte voller Geheimnisse, verstehen Sie, mein Herr. Wir haben Ihre Bücher gelesen, wir alle. Das war ein gemeinsamer Entschluss. Sie sind der Einzige, der es schreiben kann … Der Einzige …«

Ich war damals die Ungeduld in Person. Viele hielten mich für den besten Schriftsteller jener Zeit, aber ich muss sagen: Damals hatte ich nicht mehr die Kraft, ans Schreiben auch nur zu denken. Das Schreiben hatte mir nichts als Kummer und Qual eingebracht. Ja, ich weiß, viele Schriftsteller behaupten das, aber niemand hat so viel Unheil durch das Schreiben erfahren wie ich. Seit über sechs Monaten hatte ich keine Zeile mehr geschrieben. Kaum nahm ich den Stift in die Hand, brach ein neues Drama über mich herein. Nein, die Beleidigungen und Lügen waren mir egal, die die Zeitungen damals über mich publizierten. Schließlich hat jeder große Text seine schwachsinnigen Feinde. Ich gehörte nie zu diesen zartbesaiteten Dichtern, die vor dummdreisten Kritikern in die Knie gehen. Nein, ich lachte über sie, es gab mir Kraft und trieb mich an. Und doch, in jenen Tagen war mein Schreiben erlahmt, langsam, aber sicher kam es mir wie ein Pfad in den Tod vor.

»Ich fürchte«, sagte ich erschöpft, aber nicht ohne Spott, »Sie sind auch eine von denen, die mir ihr Leben auf ein paar Seiten notieren und sagen: ›Schreiben Sie einen Roman über mich.‹ Warum eigentlich will heutzutage jeder ein Romanheld werden? Was sind denn das für Zeiten? Ich schreibe nicht mehr. Es ist besser, Sie suchen sich einen anderen Autor.«

»Nur mit der Ruhe, mein Herr«, lachte das Mädchen geduldig, »wir wissen alle, dass es nicht einfach ist, jemanden zu überreden, ein Buch zu schreiben, wir wissen es alle, aber …«

Dieses Gespräch konnte endlos dauern. Also nahm ich mich, innerlich seufzend, zusammen. »Reden wir weiter, wenn ich Ihnen die Sachen bringe … Sie können mir dann alles erklären. Keine Angst, ich bin eigentlich ein guter Zuhörer und nicht immer so ungeduldig.«

Zwei Tage nach diesem Gespräch traf ich Dschaladati Kotr. Es dürfte zu früh sein, euch von unserem ersten Treffen zu erzählen, das irgendwie in die Mitte der Geschichte gehört, aber ich muss jetzt, gleich zu Beginn, erwähnen, dass dieser Roman das Produkt der seltsamen Begegnung ist, die ich mit diesem Mann hatte, der damals zwischen verschiedenen Welten pendelte. Ich, unter Zeitdruck und in einer Lebenskrise, musste tatsächlich ein weiteres Buch schreiben. Zum ersten Mal akzeptierte ich einen derartigen Auftrag: die Geschichte eines Helden zu schreiben, den ich selber kennengelernt hatte. Mich also als Schriftsteller diesmal weniger wichtig zu nehmen und einem der Helden das Feld zu überlassen.

Wir haben dann verabredet, dass teilweise ich die Geschichte erzählen und dass ich die Sprache des ganzen Buchs bestimmen darf. Ich sollte das Recht haben, ihm die Rolle des Erzählers abzunehmen, wann immer ich wollte, wie in einem Theaterstück, in dem der Autor selbst mitspielt. Wir haben gewissermaßen das Buch unter uns aufgeteilt.

Sicher fragt ihr mich jetzt: Wer ist Dschaladati Kotr? Was für ein Mensch war er? Was für ein Leben hat er gelebt, das es verdient, zum Gegenstand eines Romans zu werden?

Am besten erzähle ich alles von Anfang an.

Erstes Buch

Erzählt von Ali Sharafiar

Verloren im Süden

Mitte 1970, sechs Monate nach der Geburt von Dschaladati Kotr, starb Mriam Faizi an einer unbekannten Krankheit. Vielleicht war es der Kummer, der sie nach der Trennung von ihren beiden Söhnen überfallen hatte. Nach einem langen und sinnlosen Streit mit seinen Verwandten hatte nämlich der Vater von Dschaladati Kotr geschworen, Mriam werde ihre Söhne nie wieder zu Gesicht bekommen. Ein erbarmungsloser Schwur, der zum Tod einer Frau führte, die einen solchen Tod nicht verdient hatte. In einem fernen Dorf an der Grenze wurde sie begraben, und bald hatte die Welt sie vergessen. Dschaladat bekam seine Mutter nie zu Gesicht. Und doch, vielleicht hatte diese Frau, die ein kurzes, bedrücktes Leben lebte, ihrem kleinen Kind eine geheime Macht hinterlassen: die Fähigkeit, den Tücken, Fallstricken und Verführungen des Todes zu entgehen, die Mauern des Todes zu sprengen und zu überleben. Eine Kraft, die in diesem Roman nach und nach offenbar werden wird. Eine Fähigkeit, deren Mysterium unsere Vorstellungskraft übersteigt.

Doch hatte Dschaladat, der ungefähr zehn Jahre jünger war als sein Bruder Dschaudat, keine unglückliche Kindheit. Unter der Obhut seines Vaters und seines älteren Bruders, der mit siebzehn heiratete und lernte, des Vaters große Mehlhandlung zu führen, wuchs Dschaladati Kotr ohne Sorgen auf. Ein seltsamer und furchtbarer Autounfall war die einzige Tragödie in seinem Leben. Jedoch, als er zehn war, starb sein Vater, und seine Schwägerin Suheyla offenbarte ihren bis dahin verborgenen, teuflischen Charakter.

Alles begann mit einer kleinen, weißen Flöte, die ein Toter dem Achtjährigen auf seltsame Weise hinterließ. Es war die Flöte von Meister Sarmad Tahir, einem schlanken Mann mit langem Bart, der im Hof des Nachbarhauses unter einem gigantischen Maulbeerbaum saß und tagaus, tagein Flöte spielte. Ständig saß er unter diesem Baum und spielte, hingebungsvoll. Schon mit sechs stieg Dschaladat über eine Leiter auf die Mauer zwischen den Höfen, saß dort rittlings und lauschte. Wann immer Meister Sarmad die Flöte weglegte, warf er Dschaladat ein kleines Lächeln zu, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schloss die Augen. Niemand kann sich daran erinnern, dass der Meister je mit dem kleinen Dschaladat gesprochen hätte. Ein Lächeln – mehr war nicht zwischen den beiden. Und keiner wusste zu sagen, ob dieser Mann, außer einer alten Tante, irgendwelche Angehörigen hatte.

Eines Morgens wurde das ganze Viertel von den Schreien dieser alten Tante aus dem Schlaf gerissen, die laut heulend den Tod des Meisters Sarmad verkündete. Die Nachbarn fanden ihn in seinem weißen Schlafanzug vom Maulbeerbaum hängend. Aus freiem Entschluss hatte er Selbstmord begangen.

Meister Sarmad hinterließ nichts als die weiße Flöte. Vor seinem Tod hatte er sie ordentlich in eine Tüte gepackt, auf der in Schönschrift stand: »Meine Lieben, wer meine Leiche runterholt, soll bitte diese Flöte dem kleinen Dschaladat übergeben, dem Jungen unseres Nachbarn Ismaili Kotr.«

Man drückte also dem kleinen Dschaladat die Flöte in die Hand, und schon beim ersten Mal konnte er ihr berückende Töne entlocken. Sobald er die Lippen an das Instrument drückte, kam eine Musik heraus, die jedermann verblüffte. Das Talent des Kindes war so erstaunlich, dass sein Vater ihn vorzeitig in einen der privaten Musikkurse steckte, die damals neu in unserer Stadt angeboten wurden. Der Ruf seiner Begabung verbreitete sich, und als er mit seiner Musikkapelle in jenen schrecklichen Unfall geriet und als Einziger überlebte, wurde er zum Helden und Liebling der Stadt.

Der Tod seiner Freunde hatte dem kleinen Dschaladat Ruhm beschert. Er als Einziger war aus dem Totenreich zurückgekehrt. Aber in furchterregendem Ausmaß war er einsam und ungesellig geworden. In seinem Leben gab es nur noch die Musik. Er lernte viele Instrumente, hörte Tag und Nacht Symphonien und Sonaten auf seinem Rekorder.

In Dschaladats Leben gab es allerlei Besonderheiten. Die merkwürdigste: seine Freundschaft mit dem Jungen Sarhang Qasm. Eines Tages, im Alter von elf, saß Dschaladat vor der Mehlhandlung seines Vaters und lernte ein kurdisches Gedicht auswendig. Er war so tief in die Poesie eingetaucht, dass er die Welt vergaß, das Lärmen des Basars erlosch in seinem Kopf wie eine Kerze. In dieser Stille hörte Dschaladat eine ferne Flöte. Der Junge klappte sein Buch zu, wie schlafwandelnd folgte er der Musik, Straße um Straße, durch Stadtviertel, die er noch nie gesehen hatte. In einer engen Gasse blieb er vor der Ruine eines Hauses stehen. Da spielte jemand, hoch auf einem Dach, nur der Kopf war zu sehen. Ein kleiner blonder Junge, ein wenig jünger als er selbst. Bis zum Aufgang des Mondes stand Dschaladat dort und lauschte mit pochendem Herzen der Musik des Jungen. Am folgenden Tag kam er wieder, nun aber mit seiner Flöte. Sobald der blonde Junge anfing, spielte sich Dschaladat in seine Melodie hinein. Nach einer Weile hielt der blonde Junge inne, lugte aus seinem Versteck und sagte lächelnd: »Freund, schön spielst du Flöte. Mein Name ist Sarhang Qasm. Komm doch rauf, und wir spielen zusammen.«

»Gerne. Mein Name ist Dschaladati Kotr.«

So begann eine Freundschaft, deren Band die Musik war.

Danach wechselte Dschaladat an die Schule, die Sarhang Qasm besuchte. Auf den Schulfesten gab es viel Beifall und Lob für die beiden, auch von Leuten, die wenig Ahnung von Musik hatten. Die beiden konnten sich rein durch ihre Musik verständigen. Auch wenn sie in den Straßen der Stadt unterwegs waren, ja sogar im Regen flöteten sie.

In dieser Zeit starb Dschaladats Vater. Nun zeigte seine Schwägerin Suheyla ihre Krallen und schmiss ihn des Öfteren über Nacht aus dem Haus. Es waren die gefährlichen Nächte, in denen die Sondereinheiten des Regimes patrouillierten und auf alles schossen, was sich bewegte. Dschaladat bummelte dann bis zum Morgen durch die Gassen und spielte Flöte. Manchmal machten ihm die Eltern von Sarhang die Tür auf, und er schlief bei ihm.

Sarhangs Vater war ein glatzköpfiger, kleiner Mann, der im Krankenhaus arbeitete. Seine Mutter war jünger als er und hübsch, sie hatte einen liebevollen Blick. In ihren Augen stand aber auch eine unerklärliche Angst, man wusste nicht, woher sie kam.

In der Schule ging es mit den Jungen bergab. Mit ihren Instrumenten jedoch erlebten sie Einzigartiges. Sie waren verrückt nach Mozart. Mit geschlossenen Augen liefen sie zusammen die Straße hinunter und spielten zum Takt der Schritte seine Melodien. Auch die erfahrensten Musiker bewunderten die beiden.

Dabei sahen sie aus wie Strolche. Abgemagert, in zerfetzten Kleidern liefen sie herum. Die Lehrer hielten Dschaladat für einen hoffnungslosen Fall. Sarhangs Eltern begannen, sich Sorgen um ihren Sohn zu machen. Sie versuchten, die Freundschaft, von der sie glaubten, sie führe ihren Sohn ins Verderben, irgendwie zu beenden. Der einzige Mensch, der den beiden half, war ein dicker alter Lehrer. Er händigte ihnen die Schlüssel für den Musikraum der Schule aus, sodass sie notfalls dort übernachten konnten. Wenn er sie abends mit den Instrumenten allein ließ, sagte er: »Meine Söhne, übt, habt keine Angst, spielt. Um alles andere kümmert euch nicht.«

So spielten sie ganze Nächte durch, hörten Musik, redeten und redeten – wie in Erwartung eines Boten aus einer anderen Welt, der sie in die letzten Geheimnisse der Musik einweihen würde. Doch dann wurde der freundliche, dicke Musiklehrer für seine guten Taten bestraft und in eine abgelegene Kleinstadt versetzt. Man stellte einen dürren Mann mit Wolfsgesicht ein, dessen erste Aufgabe darin bestand, Dschaladat und Sarhang rauszuschmeißen.

Nun hatte Dschaladat keine Bleibe mehr. Nicht immer ließ ihn sein Bruder Dschaudat bei sich zu Hause schlafen. Manche Nacht ging er in die Wälder am Stadtrand, spielte Flöte unter einem der Bäume. Manchmal räumten ihm die Wächter in Gebäuden, die gerade gebaut wurden, einen Schlafplatz ein.

Sarhang musste jeden Abend nach Hause zurück, aber an seiner Freundschaft mit Dschaladat hielt er fest. Die Lage seines Freundes beunruhigte ihn. Oft stahl er für ihn Essen von zu Hause, und dann und wann halfen auch andere Musiker. Ohne dass Dschaladat es mitbekommen hätte, eilte ihm der Ruf eines verrückten Genies voraus.

Bis zu dem Abend, an dem Ishaki Lewzerin auftauchte, war sein Leben ohne Hoffnung. Aber mit Ishaks Auftauchen veränderte sich alles.

Es war einer der seltenen Abende, an denen Dschaladat unbesorgt, die Hände in den Taschen, in den Marktpassagen spazieren ging. Vor einer Parfümerie, an der Dschaladat fast täglich vorbeiging, trat Ishaki Lewzerin auf ihn zu und stellte sich als Musiker vor.

Ishak hatte schon viel von Dschaladat, dem jungen verrückten Genie, gehört. Doch als er Dschaladat zu Gesicht bekam, wirkte er auf Ishak zart und ruhig. Ishaki Lewzerin erzählte, er komme aus den Grenzgebieten und suche zwei Musikschüler, um sie zu unterweisen. Schon in mehreren Städten hatte er gesucht, war jedoch nirgends fündig geworden.

Ishaki Lewzerins Begegnung mit Dschaladat ging in einen langen Spaziergang über, der die ganze Nacht und den Morgen des nächsten Tages in Anspruch nahm. Wie gebannt hing Dschaladat an Ishaks Lippen. Dessen Worte drangen tief, tiefer sogar als die Musik, in ihn ein. Er konnte gar nicht anders, als ihm zu folgen, immer weiter, landaus, landein.

An diesem Tag beschloss Dschaladat, Ishaki Lewzerin zu folgen, doch für Sarhang war es nicht so einfach. Er war das Einzelkind sorgender Eltern und ein besserer Schüler als Dschaladat, aber auch er war besessen von der Musik.

Anfangs war Dschaladat sogar dagegen, dass Sarhang Schule und Zuhause aufgab. Er meinte, ihre Lebensumstände seien so unterschiedlich, dass sie nun auseinandergehen müssten, um jeweils dem eigenen Weg zu folgen.

Nein, es gehörte sich nicht, dass ein ordentlicher Schüler wie Sarhang die Schule hinschmiss, um einem Musiker hinterherzulaufen. Aber Sarhang hatte sich in all den Jahren oft genug widerspenstig gezeigt. Sein Ungehorsam hatte dazu geführt, dass der Vater seine Instrumente zerbrach, ihn nicht ausgehen ließ, ihn stundenlang einsperrte. Er verbot ihm, Dschaladat zu treffen, aufs Dach zu steigen, Musik zu spielen. Lauter Gründe, die Sarhang zwangen, sein Zuhause und die Schule zu verlassen und sich auf eine Reise ins Unbekannte zu begeben, obwohl er nur noch ein Jahr bis zur Uni hatte.

In der Nacht bereitete er alles vor. Am Morgen ließ er seine Schulbücher unter dem Fernseher liegen. Unbemerkt, in traditioneller Kleidung, trat er auf die Straße, um nie wieder zurückzukehren.

Mit diesem Augenblick, in dem Sarhang Qasm die Haustür schließt und losgeht, fängt unsere Geschichte erst richtig an. Die Geschichte zweier Jungen, die alles verlassen und einem alten Musiker folgen. Das ist der wahre Beginn unserer Geschichte. Wenn ihr Geduld habt, werde ich euch auf die lange Spur eines Musikers führen, der in Zeiten von Tod und Vernichtung an das Unsterbliche denkt.

Aber zuerst einmal begleiten wir Dschaladat und Sarhang, die jetzt mit Ishaki Lewzerin unterwegs sind an einen Ort, an dem sie ihr Leben der Musik widmen können. Ja, hören wir, was auf die beiden Jungen nun zukommt.

Nach stundenlangem Marsch kamen Dschaladati Kotr und Sarhang Qasm mit Ishaki Lewzerin zu einem großen Haus, weiß wie das Gestein eines fernen Sterns, davor ein Zugangsweg, der von Bäumen vollständig beschattet wurde. Ein Haus inmitten eines großen Gartens, umhüllt von magischer Stille, vom Duft der Natur und der Erhabenheit uralter Bäume. Weite Fenster öffneten sich ins Freie, alle Zimmer waren weiß gestrichen, es gab nur wenig Möbel und ein paar riesige Feuerstellen. Der Vorrat an Lebensmitteln hätte für eine mehrjährige Einsiedelei ausgereicht.

Gleich zu Beginn nannte ihnen Ishaki Lewzerin einige Regeln. Alle drei sollten sich täglich mit kaltem Wasser waschen und gemeinsam frühstücken. Stets sollten die beiden sich bereit für ihn halten.

In den ersten paar Tagen unternahm Ishaki Lewzerin nichts. Wenn die Sonne schien, stellte er sich in die Sonne und sagte nur: »Lasst das Sonnenlicht in eure Seele ein.« Wenn der Regen fiel, stellte er sich in den strömenden Frühlingsregen und sagte: »Lasst den Regen euer Inneres durchtränken. Das größte Unheil für Leib und Seele sind Düsterkeit und Trockenheit, sie sind die Erzfeinde der Musik.«

»Jeder Regentropfen hat seinen eigenen Klang, jedes Geräusch berührt einen auf seine Art«, sagte Ishak. »Die erste Musik ist die Melodie dieser Geräusche, ihr müsst zu hören lernen, dass Regen überall anders klingt. Den Unterschied der Geräusche hören und die Ungleichheiten schmecken. Musik ist, die Ungleichheiten zu schmecken.«

Diese ersten Tage waren schwierig. Die zwei Jungen mussten stundenlang ausharren, um den Regen Tropfen für Tropfen zu spüren. Um alles Licht der Welt in sich aufzunehmen. Ishak schaute sie an und sagte: »Noch ist es zu früh, über Musik zu reden. Die Musik kommt später … Nach allem anderen. Denn was bedeutet Musik, wenn ihr die Bedeutung von allem anderen nicht versteht?«

»Die Musik ist ein Teil einer ewigen Suche«, sagte er in der ersten Nacht, als sie gemeinsam aßen, »Teil einer göttlichen Reise hinüber, ans Ende von allem, auf die unvergängliche Seite des Lebens.

Drei lange Reisen sind dem Menschen aufgegeben. Die Reise in die Natur, die Reise zum Himmel und die Reise zu sich selbst. Um Mensch zu werden, muss man wenigstens einen dieser Wege beschreiten. Und dabei ist der Mensch allein, niemand kann ihm bei der Reise zu sich selbst, in die Natur oder zu Gott helfen. Nur mit unseren eigenen Augen können wir den Menschen sehen, der sich in uns verborgen hält. Ganz allein muss jeder die Natur zum Reden bringen und sie hören lernen. Allein müssen wir Gott finden, nicht den Gott der Frommen und Einsiedler, sondern unseren Gott … Einen musischen Gott, den ihr erkennen werdet, wenn eure Suche gelingt.«

Morgens wirkte Ishak strahlender, jünger als am Abend oder in der Nacht. Mit dem Untergang der Sonne schien er zu altern, und kurz vor dem Schlafen wirkte er wie ein kränkelnder Greis. Morgens stand er sehr früh auf. Wenn Dschaladat und Sarhang die Augen aufschlugen, kam er schon von einem Ausflug zurück. Manche Tage ging er in ein nah gelegenes Städtchen und kehrte bei Sonnenuntergang heim. Hin und wieder brachte er seinen Schülern die Neuigkeiten der Gassen und Basare mit. Sarhang und Dschaladat hörten gebannt die Nachrichten vom Krieg, der sich allmählich näherte. Ishaki Lewzerin sagte, der Krieg sei fern. Die Nachrichten seien nur dazu da, um über den Stand der Dinge zu informieren. »Aber für die Seele zählt das alles nicht. Musiker dürfen nicht zu Gefangenen von Geschehnissen, Zeitläuften und zufälligen Dingen werden. Die Musik lebt in ihrer eigenen, unvergänglichen Welt und spricht ihre eigene Sprache. Kein Krieg kann sie zerstören. Die Musik ist eine Dimension des Seins, die alle anderen Dimensionen nicht berührt.«

Schüchtern baten Sarhang und Dschaladat ihren Lehrer, einfacher zu ihnen zu sprechen. Viele seiner Wörter kannten sie nicht. Hinter jedem Satz spürten sie die Schatten weiterer Gedanken. Am Ende der ersten Woche sagte Dschaladat: »Meister, jedes Gespräch, das du mit uns führst, erfordert weitere Gespräche. Jede Sache, von der du sprichst, muss weiter erklärt werden. Wir verstehen die Dinge oft nicht.«

»Ich bin Wasser«, sagte Ishak und sah seinen Schülern ruhig in die Augen, »eines Tages werdet ihr auch zu Wasser. Anders als durch sein Plätschern kann das Wasser nicht sprechen. Ich bin Wind, auch ihr werdet eines Tages zu Wind. Auch der Wind kann nur seine eigene Sprache sprechen. Ihr seid hier, um die Stimmen des Windes, der Nacht, der Steine und der Insekten zu lernen. Kein Insekt, keine Nachtigall spricht mit einer anderen als der eigenen Stimme. Ihr müsst Schwere und Leichtigkeit ablegen, ihr müsst jede Stimme, jede Melodie und jedes Wort so nehmen, wie es ist. Alles, was eine Bedeutung hat, hat seine eigene Musik, und alles, was keine Bedeutung hat, hat seine eigene Musik … Keine Nachtigall ändert ihre Stimme unseretwegen, und kein Verstand verbirgt euretwegen, was er weiß. Wer Musiker werden will, muss die Sprache der Welt verstehen. Musik heißt nicht nur die Dinge verstehen, die reden und schreien. Musik heißt auch die Dinge hören, die keine Stimme haben, sie ist eine Reise ins Jenseits der Stimmen, durch die Stille.«

Nach dem Frühstück gingen sie jeweils in den Garten. Ishaki Lewzerin ließ dann eine Weile den Blick schweifen und beschloss nach kurzer Überlegung, was sie tun sollten. Heute schien die Sonne, also sollten sie die Augen schließen und den Sonnenschein langsam durch den Körper in die Seele eindringen lassen. Die beiden waren ratlos, sie schlossen die Augen und standen fremd da, zwei einsame Körper.

»Meine lieben Schüler, es gibt Tausende versteckte Augen im Inneren des Menschen. Der Mensch steckt voller Augen, aber diese Augen schlafen. Wir müssen versuchen, sie zu wecken. Jedes dieser Augen sieht eine Welt, die mit gewöhnlichen Augen nicht zu sehen ist … Ihr müsst eure Seelen erhellen. Tage und Nächte der Seele sind nicht wie Tage und Nächte des Leibes. Zuweilen sinkt die Seele in einen tiefen Schlaf, aus dem sie nicht erwacht. Sie geht in eine lange Nacht, aus der sie nicht herauskommt. Bisweilen kommt ein Mensch auf die Welt und geht dahin, ohne dass seine Seele auf die Welt gekommen wäre. Um die Seele zu wecken, die Augen zu wecken, die im Dunkeln schlafen, die Ohren wachzurufen, die lange nichts gehört haben, müssen wir wieder bei der Natur anfangen, der Alter und Tod fremd sind … Wir müssen unsere Verbindung zu Wind, Regen und Sonne wiederherstellen. Unser Leib ist ein Rinnsal, in dem alles fließt. Wenn ihr Geduld habt, wenn ihr euch sammelt und öffnet, wird der Sonnenschein Tag für Tag tiefer in euch eindringen, der Regen wird euch durchtränken und von innen heraus zu euch reden. Der Wind wird in euch hineinwehen und Türen öffnen … Meine Lieben, uns selbst müssen wir durch die Musik erhellen, eine andere Sprache sprechen, andere Tore öffnen. Wenn der Mensch die Türen in sich selbst nicht öffnet, wie kann er Türen nach draußen öffnen? Wer seine eigene Stimme nicht hört, wie kann er andere Stimmen hören?«

Anfangs zweifelten sie an sich. Die Welt, von der Ishak sprach, schien unerreichbar. Sarhang war gereizt und aufgewühlt. In den ersten Tagen weinte er oft. Ishak wischte ihm die Tränen vom Gesicht, nahm seine Hand, führte ihn zu seinem Zimmer und bat ihn zu schlafen. Die endlosen Stunden in Regen, Sonne und Wind, dieses pausenlose Lauschen auf die Natur entkräftete sie.

Tag für Tag standen sie da. Wenn es windete, öffneten sie sich dem Wind, wenn es Nacht war, öffneten sie sich dem Mondlicht, wenn es regnete, boten sie ihren Leib dem Regen dar. Die beiden standen auf zwei kleinen Erhöhungen, schlossen die Augen und lernten, Helligkeit, Mondlicht und Stimmen zu sich heranzuziehen. Von Tag zu Tag wurden sie ruhiger, sie verstanden besser, was der Sonnenschein bedeutete, wie der Regen sprach, wie die Nacht hereinbrach, und wurden vertraut mit dem Woher und Wohin der Wolken. Sie begannen, die Stimmen zu hören.

Ishak lehrte sie schließlich, auch das, was jenseits der Stimmen ist, in Musik zu übersetzen. Kamen sie zu einem Gewässer, sagte er zu ihnen: »Es ist nicht wichtig, aus den Geräuschen des Wassers Musik zu machen, sondern aus seiner Färbung.« Gerieten sie in einen Sturm, sagte er: »Es kommt nicht darauf an, aus Windgeräuschen Musik zu machen, sondern aus der Wärme und der Kälte des Windes.« Wenn sie Grasland erreichten, sagte er: »Es kommt nicht darauf an, das Grün in Melodie zu verwandeln, sondern darauf, aus Schlaf und Erwachen des Grases Musik zu erschaffen.« Wenn sie es blitzen sahen, sagte er: »Es kommt nicht darauf an, aus dem Zischen der Blitze ein Lied zu machen, sondern man muss ihrem Licht einen Körper geben.«

Sarhang wurde ruhiger und ausdauernder. Er wachte früher auf, ging früher hinaus in den Garten, war bei der Arbeit bald schneller und beständiger als sein Meister. Dschaladat aber war von Anfang an wie verzaubert. Von solch einem Leben hatte er nicht zu träumen gewagt. Im Vergleich zu Ishak waren seine bisherigen Lehrer nur ahnungslose Clowns gewesen.

Allmählich leuchtete ihm Ishaki Lewzerins Satz ein: »Musiker zu erschaffen, ist wichtiger, als Musik zu komponieren.«

Ishak, der bei Eremiten und Philosophen gelernt hatte, war bescheiden wie ein Bauer. Dschaladat kam ihm näher als Sarhang. Er stellte ihm mehr Fragen, ließ ihn weniger in Ruhe. Ishak war eigentlich kein gesprächiger Mann. Abends, wenn die Welt ihren ruhigsten und harmonischsten Zustand erreichte, unterhielten sich Ishak und Dschaladat auf einem kleinen, schattigen, mit Blumen bedeckten Podest, während Sarhang kochte und sang.

In dem großen Haus war auch die Spur eines anderen Lebens sichtbar. Irgendeinmal hatte eine tüchtige Frau in diesem Reich geherrscht. Die Betten, die Farben der Vorhänge, die Einrichtung der Zimmer, der Geruch mancher Winkel, aus alldem stieg der Schatten einer verlorenen Frau auf. Die beiden ahnten, dass Ishak den Schatten, die Gerüche und Dünste stärker als sie wahrnahm und in sich einsaugte.

»Einmal lebten in diesem Haus eine Frau und ein Mädchen«, begann Ishak eines Nachts, als sie zu dritt um eine große Teekanne saßen, »eine betrügerische Frau und eine treulose Tochter, die die Musik, die Natur und die Ruhe nicht mochten. Eine Frau und ein Mädchen aus ganz anderem Holz. Aber nicht ich war der, der sich getrennt hat. Viele Jahre ertrug ich diese Frau, ihre Schönheit ebenso wie den Schmerz, den sie zufügte. Manchmal ist das Ertragen von Schönheit drückender als das Ertragen von Schmerz. Viele Jahre habe ich gewartet. Meine Tochter sollte heranwachsen und Musikerin werden, aber alles verlief anders … Ich war dieser Frau nicht gewachsen. Eines Tages haben mich beide verlassen, mit einem Politiker und dessen Sohn. Als ich meine Tochter verlor, war alles zu Ende … Seitdem denke ich jede Nacht an den Tod. Ich beschloss dann, nach zwei Schülern zu suchen, um ihnen das, was meine Seele bewegt, beizubringen.«

Die beiden wussten, dass er sich vom Tod bedroht sah, aber er redete selten darüber. Dennoch erkannten sie in ihm die Angst vor dem Tod. Besonders bei den Morgengebeten zitterte er, wie in den Klauen des Teufels. Er schwitzte, lag auf seinem Gebetsteppich wie von Sinnen und rechnete mit dem Tod. Als Dschaladat ihn zum ersten Mal so sah, wollte er seine Hand nehmen und ihn von seinem Gebetsteppich fortziehen. Aber er schüttelte Dschaladat ab und fiel zurück in dieses andauernde Lamentieren und Klagen. Seine Stimme klang dann wie eine magische Flöte, die von Vergänglichkeit, Finsternis, Furcht und Enttäuschungen sprach.

Und doch erzählte er den beiden immer von Schönheit, Leben und Friedfertigkeit.

»Meister, weshalb wirkst du so traurig, sprichst aber zuversichtlich?«, fragte ihn Sarhang eines Abends.

»Wer Musiker werden will«, erwiderte er ruhig, »muss davon ausgehen, dass er nicht stirbt. Unsterblichkeit ist eine Eigenschaft jedes Musikers … Aber ich bin gezwungen, an den Tod zu denken. Ich denke an den Tod, weil es mir so vorkommt, als finge meine Musik erst hinter dem Tod an.«

Ratlos und nachdenklich verstummten sie. Was sie heute nicht verstünden, hatte Ishak gesagt, sollten sie im Gedächtnis bewahren, um es später, an einem anderen Tag, zu verstehen.

Ishak hatte einen weiten Lebensweg hinter sich. Er hatte an allen Hochschulen des Nahen Ostens Musik studiert. Was er dort nicht gelernt hatte, hatte er sich durch Selbststudium und durch den Umgang mit berühmten Lehrern angeeignet. Er hatte Persien und die Türkei nach großen Musikern abgesucht. Nie aber fand er Gelegenheit, mit seiner Kunst selbst aufzutreten. Das Fehlen guter Musikgruppen und ernsthafter Musikhörer sowie Ishaks restlose Verschwendung des väterlichen Vermögens sorgten dafür, dass er mit fast dreißig Jahren, nach seiner langen Suche, zurückkehrte und ein neues Leben anfing. Damit vertat er viel Zeit, als Stoffhändler, später Viehhändler und Bauunternehmer. Ein großes Vermögen sammelte sich an, aber je größer sein Vermögen, desto unglücklicher wurde er. All dies nahm er auf sich, weil seine Tochter heranwachsen und Musikerin werden würde. Als ihm dämmerte, dass sie keine Neigung zur Musik empfand, machte die Enttäuschung sein Leben zur Hölle. Wenn er nun durch die Gassen der Stadt ging, ging er durch die Gassen seines vergeudeten Lebens. Er konnte die Stadt nicht mehr ausstehen. Wege, Ecken und Mauern, alles roch nach diesen finsteren Tagen, die ohne Schönheit und Musik waren. Das war nicht das Reich, von dem er geträumt hatte.

»Die Stadt ist ein Feind der Musik«, klärte er seine Schüler auf, »kein Ort dieser Welt ist der Musik so feindlich gesinnt.«

Als er erfuhr, dass seine Frau ihn betrog, griff er nicht wie andere Männer zum Messer oder einer anderen Waffe, sondern zu seiner alten Flöte. Viele Jahre lang hatte er seine Musikinstrumente nicht angerührt und nur im Geist das Leben eines Musikers gelebt. Die Liebe zu seiner Frau hatte ihn dazu gebracht, den Musiker in sich zu opfern. Was in ihm längst tot war, versuchte er, seiner Tochter einzupflanzen, aber der Traum erfüllte sich nicht. In der Nacht des Verrats zeigten sich ihm all die falschen und steinigen Wege, auf denen er sein Leben verloren hatte. Er merkte, dass er in seinem Inneren ein anderes Wesen war. Warum hatte er das so viele Jahre nicht eingesehen? Er spürte, dass ein anderer in ihm erwachte, der weit über sein geordnetes Leben hinaussah. Die Musik brachte den verlorenen Mann, jenen Ishak zum Vorschein, den eine trügerische Liebe überrollt hatte. Es kam ihm so vor, als hätte die Schönheit einer Frau ihn jahrelang von anderer Schönheit ferngehalten. Er merkte, dass Frauen für sein Leben eine große Gefahr bedeuteten.

Jedoch tat er alles, um die beiden Jungen nicht anzustecken mit dieser Furcht.

Die drei waren eines Tages im Städtchen unterwegs. Wo auch immer Ishak eine schöne Frau sah, machte er seine Schüler auf sie aufmerksam. Er wollte nichts Böses. Im Gegenteil, er wollte, dass sie Schönheit erkannten.

»Eine Brücke verbindet alle Schönheiten der Welt mit der Musik«, sagte er. »Künstler müssen nach reiner Schönheit streben. Die Schönheit aber ist durch tausend Fäden mit dem Ungeheuerlichen, mit Hässlichkeit, Qual und Unheil verbunden. Manchmal führt uns diese Verbindung auf den Irrweg. Ihr müsst die Schönheit von ihrer dunklen Seite reinigen, sie erleben, abtasten, befühlen. Ihr müsst unter den Schein ihrer Oberfläche in ihr Inneres vordringen. Die Bäume, die ihr seht, die Vögel, die in der Ferne fliegen, die Gewässer, die neben euch strömen … Alles auf dieser Welt müsst ihr als Schönheit sehen. Der Baum ist für euch kein Baum. Er ist Musik, die eine besondere Gestalt angenommen hat. Die Gesänge der Vögel sind nicht bloß Töne, sie sind kunstvolle Klänge und Harmonien.«

Geradezu beflissen unterwarfen sich die beiden Ishak und seinen rätselhaften Äußerungen. Dschaladat wunderte sich darüber, dass die Leute die Schönheit, die er selbst in Ishak sah, nicht sehen konnten. Er sah ihn als einen höheren Menschen. Er konnte es nicht fassen, dass dieser Mann so lange ein gewöhnliches Leben mit seiner Familie geführt hatte. Seine Worte kamen wie aus einer anderen Welt. In seinem Inneren schien er etwas Befremdliches zu bergen, das größer war als er selbst.

Schließlich kam die Nacht der ersten Flötenlektion. Es war eine dunkle Nacht, der stürmische Frühlingswind spielte mit einer unruhig gewordenen Welt. Je älter die Nacht wurde, desto seltsamer und vielschichtiger erschien Ishak. Als er zum ersten Mal die Flöte in die Hand nahm, war es, als hätte er den Blitz gefunden, oder als hätte ein jähes Licht seinen Körper entflammt.

»Wir müssen das Universum verdichten«, erklärte er, »etwas spielen, das weder Himmel noch Meer je gehört hat. Durch eine Melodie müssen wir Gott dazu bringen, uns unsere Sünden zu verzeihen, nicht allein unsere eigenen, sondern die aller Menschen, selbst die der Steine, Bäume und Sterne … Mit einem Lied müssen wir Gott überreden, uns alle Türen zu öffnen. Nichts kann Türen öffnen wie die Musik … Musik ist der Schlüssel … Das Problem ist nur, dass wir nicht wissen, was für Türen sie uns öffnet … Aber folgt der Musik, egal wohin sie euch führt. Zögert nicht, wenn sie ins Wasser führt oder ins Feuer, in Licht oder Nebel, ins Ersticken oder ins Atmen. Sobald sie euch sagt, ihr sollt stehen bleiben, bleibt stehen. Wenn sie euch sagt, ihr sollt sterben, dann sterbt! Musik ist Gottes Stimme, Seine Stimme in Seinen reinsten Atemzügen.«

Als Ishak die erste Melodie spielte, änderte sich die Erscheinung der Nacht. Es war, als tauchte die Welt erneut auf aus ruhendem Wasser, als würde die Seele mit einem Zaubertrank belebt, oder als würde das Herz nach langer Trauer wiederauferstehen. Dschaladat schloss die Augen, und die Klänge trugen ihn hinweg, jenseits von Leben, Zeit und Raum. Zum ersten Mal fühlte er, was Musik und Flug verbindet. Zum ersten Mal hoben seine Füße vom Boden ab. Er sah, dass sich eine Kluft zwischen seiner Seele und dem Leib auftat … Dschaladat flog. Er schloss die Augen und hatte das Gefühl, im Himmel zu schweben … Er fühlte, dass sein Körper bereit war, sich zu vergessen.

Als Sarhang Ishaks erste Melodie hörte, bekam er hohes Fieber. Er hatte nicht gewusst, dass eine solche Musik auf Erden existiert. Die ganze Nacht delirierte er wie im Wahn.

Als hätte er damit gerechnet, legte ihm Ishak einen feuchten Lappen nach dem anderen auf die Stirn und sagte: »Die Musik gehört zur Unterwelt der Seele. Die größte Schwäche unseres Körpers ist, dass er aus solcher Tiefe und Dunkelheit nichts hört. Unser Körper ist es nicht gewohnt, der Seele zuzuhören … Wenn plötzlich eine Stimme aus unserem Innern dringt, ist es, als würden Mauern fallen … Als würden Ketten gesprengt … Musik bringt unsere Seele zum Reden. Wisst ihr, was die Seele ist? Die Seele ist stumm, sie hat keine Zunge … Eine Welt des Schweigens. Sie ist wie ein Dschungel voll schlafender Vögel, voll schlummernder, stiller Melodien. Sie ist ein Raum, den der Mensch mit Schreien angefüllt und dann zugesperrt hat … Manchmal kommt eine Stimme aus der Ferne und weckt den Schlaf auf. Ein stürmischer Wind erhebt sich und wischt die Dinge sauber, auf die sich der Staub der Schweigsamkeit, des Erstickens und der Vergessenheit gelegt hat. Dann ändert sich unser Leben, dann müssen wir auf Teufel komm raus versuchen, diese Tür wieder zu schließen, sonst bleiben wir auf immer in diesem Raum gefangen.«

Mit der Zeit lernten sie mehr und mehr Stücke zu spielen. In endlosen Tagen und Nächten lehrte Ishak sie, in allen Dingen die Melodie zu finden. »Das All ist nichts als Musik ohne Ton. Alles hat von Geburt an seine eigene Melodie. Jeder Ruf des Lebens ist ein besonderes Stück Musik, jeder Schrei des Todes hat seine eigene Melodie. Es gibt kein Laub an den Bäumen, das nicht musiziert, keinen Flügelschlag eines Vogels, der nicht hoch in den Lüften eine Melodie entstehen lässt.«

In manchen Nächten ging Ishaki Lewzerin mit ihnen hinaus. Sie schlossen die Augen und musizierten. Sie gingen unter Bäumen durch Gärten und über die sattgrünen Frühlingswiesen und spielten Flöte. Sie schufen Musik aus der Stille der Nacht, den Stimmen der Sterne, dem Schlaf der Spatzen und den Fantasien der Blumen. Sie machten den Wind zu Musik und schöpften die Melodien aus ihren sämtlichen Vorstellungen. Die ganze Nacht hindurch spielten sie. Mit geschlossenen Augen gingen sie ohne einen Fehltritt über Stock und Stein und wussten, dass die Klänge sie nie in die Irre führten.

Bisweilen ging die Sonne auf, und sie waren noch immer am Musizieren. Die Nacht brach herein, und sie spielten immer noch.

Eines Nachts gingen sie über einen See, als liefen sie über festes Land. Am anderen Ufer kam Dschaladat zu sich und sagte, als hätte man ihn aus dem Schlaf gerissen: »Großer Gott, wir gingen auf dem Wasser wie auf Erde.«

Sarhang erschrak. Wie Dschaladat schaute er auf den kleinen See, über den sie gegangen waren. Unvermittelt legte er Dschaladat die Hand auf den Mund und sagte: »Schweig … schweig und spiel deine Flöte.«

Die beiden brachen in Tränen aus und umarmten sich. Es war ein Wunder, eine Offenbarung, ein Himmelszauber. Sie pressten einander die Hände auf den Mund und griffen nacheinander, wie um sich gegenseitig festzuhalten, weil ihnen schien, sie würden sich in Luft auflösen. Sie waren nicht mehr Menschen in trägen Körpern, sie hatten sich in Seelen verwandelt.

Der Krieg rückte immer näher. Es hatten sich in diesem Land mehrere Kriege ineinander verhakt, Kriege von Staaten und Nationen und Kriege von Religionen und Parteien. Eines Nachts erreichte der Krieg den Stadtrand. Stundenlang hörten sie Schüsse und Explosionen. Am Morgen brachte ein Reisender die Nachricht, dass die Menschen in die umliegenden Dörfer flöhen. Das ständige Bombardement hatte Hunderte Opfer gefordert.

Ishak unternahm einen kurzen Ausflug ohne seine Schüler. Als er zurückkam, war sein Blick verschattet. Der Tod war überall. Regierungstruppen strömten in die Straßen und Gassen. Tausende Soldaten, die unter ihren Stahlhelmen aussahen wie panische Mäuse, bewaffnete kurdische Kollaborateure, von der Regierung für diesen Krieg ausstaffiert.

Ishak sagte zu seinen Schülern: »Nehmt eure Instrumente, wir gehen.«

Ohne ihre Angst zu beachten, ging er vor seinen Schülern her. Als sie den Garten hinter sich ließen, sagte er: »Ihr werdet nichts tun, nur hören.«

Sie bestiegen einen hohen Gipfel. Auf dem ganzen Weg blies er Töne, die ihre Gefühle veränderten. Er stimmte Lieder an, die die Welt in ein anderes Licht tauchten. Im Morgengrauen erreichten sie die Spitze des Berges. Von dort ging der Blick ringsum in die Weite. Sie saßen auf einem Felsen. Die Morgenbrise ließ Haar, Kleidung und ihre Atemzüge erzittern. Sie spürten, dass der Flötenklang dieser langen Nacht die Schrecken des Vortags gebannt hatte.

»Die Musik ist schwarzes Haschisch«, sagte Ishak. »Sie ist süß wie Opium.« Er stand auf dem Felsen und empfing den Morgenwind mit offenen Armen. »Sobald ihr Furcht fühlt, den nahenden Tod und das Ende, müsst ihr Musik machen. Sie dämpft die Schläge des Schicksals. Sie macht den Tod leichter.«

»Aber was kann denn die Musik in diesem Krieg für uns tun«, fragte Sarhang mit zitternder Stimme. »Was kann sie für die Toten tun?«

Ishak stand auf. Nichts an ihm erinnerte an den gebrochenen Mann von gestern. Es war, als hätte die Nachtwanderung magische Kräfte in ihm geweckt. Seine Stimme bebte im Wind, er streckte die Hand aus, griff eine Handvoll Gras und streute es in die Luft. Der Zauber des Frühlingsmorgens rührte das Leben in ihm auf.

»Mit dem Nutzen der Musik«, entgegnete er in einem Ton, dem weder Trauer noch Anstrengung anzumerken war, »ist es genau wie mit dem Nutzen des Menschen. Niemand weiß, wozu er gut ist. Wenn uns aber die Bestimmung des Menschen verborgen bleibt, warum nicht auch die der Musik? Du fragst: ›Was kann die Musik für uns tun?‹ Du fragst: ›Warum sollten wir im Krieg Musik studieren?‹ Du fragst: ›Was sind wir schon, drei kleine Flötisten, was können wir gegen die gesammelte Gewalt schon ausrichten?‹ Ich hatte einen Lehrer, der glaubte, Musik könne die Toten wieder zum Leben erwecken. Er glaubte, die Musik sei die einzige Stimme, die bis ins Jenseits dringe. Er sagte, das Einzige, was die Toten hören könnten, sei Musik. Er hatte einen toten Sohn. Jeden Tag stand er an seinem Grab und musizierte für ihn. Jede Nacht träumte er von seinem toten Sohn, der ihn zu spielen bat. Er glaubte, sein Sohn könne ihn hören. Eines Nachts fragte ich ihn: ›Nicht wahr, du weißt, dass manchmal selbst die Lebenden deine Musik nicht verstehen. Warum denkst du jetzt, den Toten erginge es besser damit?‹ Er sagte: ›Die Musik sucht nicht … Sie hat keinen Weg … Sie hat keine Richtung … Sie kennt weder Mund noch Ohr … Wir sind es, die sie suchen müssen. Wer auf Musik hört, findet sie. Sie hat nichts mit Lebendem, nichts mit Totem zu tun … Alles kann Musik machen und Musik hören.‹ Er sah den beiden in die Augen. ›Die Toten können besser zuhören. Wenn du nur für die Lebenden spielst, wirf deine Flöte weg und geh nach Hause … Die meisten Lebenden wissen gar nicht, was Musik ist … Spiel deine Musik für alle Zeit, für das Gestern, das vergangen ist, und für den Morgen, der kommen wird …Vielleicht ist der wahre Zuhörer ein Vogel oder ein Schmetterling … Oder eine Blume, auf die du trittst.‹« Ishaki Lewzerin sah zum Himmel auf. »Ich habe mir die Frage oft selbst gestellt. Was hat die Musik auf dieser Welt und in einem Land wie dem unseren, in dem ständig Krieg herrscht, verloren? Musik und Krieg liegen so weit auseinander wie das Meer und dieser Gipfel. Aber ihr sollt eure innere Stimme nicht zum Schweigen bringen. Musik gibt es, aber den Krieg gibt es auch; es gibt Tod und Musik, Grausamkeit und Musik … Oft gehen sie nebeneinanderher, ohne sich zu verstehen, und entfernen sich wieder. Musik gehört zu einer anderen Welt, sie kommt von einem anderen Stern. Aber es ist ihre Aufgabe, in Schrecken und Angst mit dabei zu sein. Sie soll nicht nur zwitschern und tirilieren, sie soll auch heilen. Einmal spielte ich für Peschmergas. Einer von ihnen näherte sich und sagte: ›Du hast gemacht, dass ich das Leben liebe … nicht mein eigenes, sondern das Leben der anderen, meiner Feinde.‹«

Der Morgenwind war kalt. Schauer der Einsamkeit. »Musik ist das Überdauernde«, fuhr er über ihren Köpfen fort. »Ein Menschentod bedeutet ihr wenig. Aber vielleicht führt sie uns zu den Quellen der Unsterblichkeit.«

Wie gewöhnlich verstanden seine beiden Schüler den tieferen Sinn dieser Worte nicht, aber das Echo hallte in ihren Seelen wider.

Auf ihrem Weg ernährten sich die Musiker von regennassem Gras. Sie tranken die Milch friedlicher Schafherden. Sie wussten nicht, wohin sie gingen. Wenn jemand sie fragte, sagten sie, sie seien unterwegs in den Norden. Viele vom Krieg gezeichnete Landstriche passierten sie, drei Fremdlinge, die von Dorf zu Dorf zogen und mit ihrer Musik Wunder vollbrachten. Überall wurden sie freundlich aufgenommen: von Menschen, Wäldern, Sternen, Wind und vom Licht der Sonne.

Eine Kraft lag in ihrer Musik, die alle Menschen heiter stimmte. Häufig rasteten sie unter Bäumen, in der Laube eines Bauern, im Schatten von Moscheen. Wenn sie rasteten, sprach Ishak mit einer unermesslichen Angst über den Tod, wie über ein Feuer, das eine Stadt verschlingt, das aber mit einem Baum, einem Haus, einer Einkaufsarkade oder einem kleinen Basar anfängt … Anfangs ist da bloß eine dünne schwarze Rauchwolke, langsam wird sie größer, langsam wird sie zu einem großen Brand, der nur langsam verglüht.

Je weiter nach Norden sie vorrückten, umso abwesender wirkte Sarhang. Er nahm die Gestalt einer weißen Seele an, einer Erscheinung, die keine Fußspuren im Gras hinterlässt. Im Morgennebel war er kaum zu sehen. Er sonderte sich mehr und mehr ab und spielte für die winzigen, traurigen Blümchen am Wegrand. Er wusste, dass die Blumen ihn hörten. Je weiter sie kamen, desto durchscheinender wurde er. Er spürte, dass er mit Leib und Seele zu einer anderen Welt unterwegs war.

Dschaladat machte sich Sorgen um Sarhang, denn der sagte kaum noch ein Wort. Aber auch er selbst war aufgewühlt. Je intensiver er das Glück des Lernens und Entdeckens fühlte, desto heftiger regten sich die Gespenster des Kummers und der Bitterkeit in ihm. Je näher er der Vollkommenheit kam, desto stärker wurde das Gefühl, etwas verloren zu haben.

Eines Nachts musizierten sie so leidenschaftlich wie noch nie. Der Mond stand über ihnen wie ein berauschter Wilder. In der Finsternis des Universums folgte ihnen ein Licht, das vielleicht zu einem Bündnis der Vergangenheit gehörte. Als wären sie in eine Welt geraten, die weder zu Tag noch zu Nacht gehörte, wo die Blumen so üppig und groß wie nur in den Sagen blühten. Die Wassergeräusche waren wie die Stimmen der Engel über den Bächen des Paradieses. Als hätten sie durch die Musik Neuland gefunden. Man wusste nicht, ob der Dunst des Entstehens darüber schwebte oder der alte Rauch des Erlöschens, ob es die Staubwolke der Ankunft des ersten Geschöpfs war oder der Untergangsnebel des letzten Menschen. Die Blumen dufteten nach Schießpulver und feuchter Erde. Wie seine Schüler nahm auch Ishak dies wahr. Die Musik hatte sie hergeführt, in ein Land, das noch niemand betreten hatte. Das nur für Musiker zu erreichen war. Er war es, der als Erster den kleinen See sah, dessen Wellen tanzten, als würden Tausende Mondstrahlen zugleich sie berühren und wieder von ihnen ablassen.

»Wir befinden uns jetzt in einem Land«, sagte Ishak, »in dem vor uns kein gewöhnlicher Mensch gewesen ist. Der, dessen Seele Musik hervorbringt, entdeckt hier eine Seite des Lebens, die anderen nicht zugänglich ist.« Wie in einem Rausch gingen sie, und Ishak fuhr fort: »Dieses Stück Erde ist Gestalt gewordene Musik. Sichtbar, farbig gewordene Musik. Ein Zaubergarten der Klänge.«

Ishak sagte: »Wie jeder Zauberer verändert die Musik ihre Gestalt. Sie kann schmelzen und sich in Schönheit, Farben, Formen verwandeln. Sie kann in Farben zu leuchten beginnen, zu einem Ort werden, zu einem Garten. In der Welt, in der die Musik herrscht, herrschen ganz andere Regeln. Alles ist dort anders.«

Doch trotz dieser Worte stand Ishak genauso verblüfft da wie seine kleinen Lehrlinge. War dies ein Rausch? Ein göttlicher Plan? Ein Trugbild, das ihnen Melodien vorgaukelte? Oder verführerisches Teufelswerk? Sie setzten sich auf eine Wiese. Ishak merkte, dass der über ihnen stehende Mond ihnen etwas sagen wollte. Bevor er seine Aufmerksamkeit auf die Ufer des Sees richtete, der von einem silbern glitzernden Nebel bedeckt war, sah er zum Mond auf, der aussah, als setzte er zur Landung auf der Erde an.

»Irgendwann überschreiten die Melodien ihre Grenzen, werden sichtbar als Wiesen, Vögel und Mond. Die Grenze zwischen dem Zauber der Musik und dem Zauber der Blumen ist nicht anders als die Grenze, die den See vom Nebel trennt.«

Verwundert hörte Dschaladat zu, während seine Augen auf die silbernen Wellen gerichtet waren, die ein sanfter Nordwind hervorrief. Es war, als stießen ihn der Mond, die Bäume, der gespenstische Hauch des Windes zu diesem See hin. Ishak sprach, aber Dschaladat merkte, wie sinnlos es war, in diesem Zauberland einer menschlichen Stimme zuzuhören. Er vergaß seine Freunde, lebte nur noch in dem Zauber um ihn herum. Er stieg ins Wasser, und als er sich mit ihm vereinigte, wurde alles um ihn herum hell. Sobald er eintauchte, wurde der Mond im See zu tausend Monden, jeder Stern wurde zu tausend Sternen. Der ganze See wurde Licht. Wenn Dschaladat tauchte, sah er aus wie ein großer Fisch, der alles zum Tanzen brachte. Dschaladat sah zwei Bereiche, einen über dem See und einen in der Tiefe, einen ganz im Licht und den anderen im Dunkeln. Er wusste nicht, wo stehen, wo schwimmen. Oben, wo sich Licht und Wasser mischten, oder unten, wo sich die Finsternis als riesiges Netz aus zahllosen Labyrinthen ausbreitete. Plötzlich, als antworteten ihm die Finsternis und das Licht, fühlte er sich friedlich zwischen Licht und Dunkel, zwischen Oberfläche und Abgrund, zwischen der reinen Luft oben und den Geheimnissen der Tiefe dahinschwimmen.

Ishak verstummte, als hätte ihn Dschaladats Tanz zwischen Ufer und Tiefe zum Schweigen gebracht. Lange war er selber nicht mehr geschwommen. Er zog sich aus und stieg in den See. In der Tiefe sah er Dschaladat mit offenen Augen das Spiel der Fische betrachten, die um ihn herumtanzten.

Die beiden hatten das Gefühl, die Wellen, die Nacht und der warme Atem der Wesen, die dort unten seit Tausenden von Jahren kamen und vergingen, zeigten ihnen etwas Unbekanntes, noch nie Erfahrenes. Ishak hörte, dass aus dem Körper des Jungen eine Stimme trat, lauter und klangvoller als die aller anderen Geschöpfe im Wasser. Dass Dschaladats Leib Worte außerhalb jeder Sprachlogik artikulierte. Er verwandelte den See in reine Zuneigung. Liebevoll spielte das Wasser mit den feinen Ketten an Ishaks Handgelenk.

»O Gott«, schrie Ishak aus tiefstem Herzen, »das Kind hat den See in einen Sturm der Leidenschaft verwandelt.«

Ishak beneidete das Leben, das in diesem Jungen steckte. Wie er den See zum glitzernden Leben aufweckte.

Als ertrüge er die Energie nicht, die den See aufwühlte, verglich er seinen erschöpften und kränkelnden mit dem jungen, verrückten Leib Dschaladats. Er verglich die Flamme des Todes in ihm, Ishak, mit den Flammen des Lebens in Dschaladat. Eilig verließ er das Wasser und stand staunend und stumm da. Als hätte er in der Tiefe ein mystisches Wesen gesehen.

»Es ist etwas Seltsames in deinem Freund«, sagte Ishak zu Sarhang, »ein Schrei, lauter als jeder andere, aber auch ein Schweigen, tiefer als jedes andere … Sieh dir den See an. Was für ein jähes Licht … Gott, was für ein Geschöpf ist dieses Kind … Dein Freund ist aus etwas Unsterblichem gemacht.«

In dieser Nacht war Dschaladats Verbindung zur Welt unbeeinträchtigt von den Wunden der Vergangenheit, von den kalten Tagen der Furcht. In diesen Wellen, die sich wie ein Lied, wie ein Tanz zu den Rhythmen eines Singvogels bewegten, erfuhr er etwas Neues. In dieser Nacht gab sich Dschaladat furchtlos, ohne nachzudenken, den Wellen hin. Er sprang in mondschimmerndes Glitzerwasser, als ob dort das Tor zum Königreich wartete. Er schien durchs Wasser zu fliegen. In der Tiefe wirbelte er schwerelos um sich selbst. Als er die Augen öffnete, sah er den Mond zum Greifen nah. Als er sich dann zu ihm emporschwang, war es, als würden Tausende Lichtgranaten im See explodieren. Die Strahlen verwundeten ihn. Das Licht bohrte sich durch ihn hindurch.