Perwanas Abend - Bachtyar Ali - E-Book

Perwanas Abend E-Book

Bachtyar Ali

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Beschreibung

Für Perwana und ihre Freundinnen hat das tägliche Leben unüberwindbare Grenzen. Die Väter, die Brüder, aber auch die tyrannischen Hüterinnen von Sitte und Glauben sitzen ihnen im Nacken. Hier ist kein Platz für ihre Talente und schon gar nicht für die Liebe. Eine nach der anderen verschwindet aus der Stadt – zusammen mit ihrem Geliebten. Wo ziehen sie hin? Als auch Perwana verschwindet, bricht für ihre Schwester Khandan eine Welt zusammen. Sie sucht Perwanas Spuren bei Freunden und Weggefährten. Sie erfährt vom verborgenen »Tal der Liebe« hoch in den Bergen, in dem die Paare ihre Hoffnungen erfüllen wollten. Was ist geschehen, dass jene, die überlebt haben, keine Worte finden?

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Seitenzahl: 399

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Über dieses Buch

Für Perwana und ihre Freundinnen hat das tägliche Leben unüberwindbare Grenzen. Die Väter, die Brüder, aber auch die tyrannischen Hüterinnen von Sitte und Glauben sitzen ihnen im Nacken. Eine nach der anderen verschwindet aus der Stadt – zusammen mit ihrem Geliebten. Wo ziehen sie hin?

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Bachtyar Ali, geboren 1966 in Sulaimaniya (Nordirak), ist der bekannteste zeitgenössische Schriftsteller des autonomen irakischen Kurdistan. Sein Werk umfasst Romane, Gedichte und Essays. Er lebt seit Mitte der Neunzigerjahre in Deutschland und wurde 2017 mit dem Nelly-Sachs-Preis ausgezeichnet.

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Ute Cantera-Lang, geboren 1974 in Erlangen, lebt seit vielen Jahren in Österreich. Sie studierte Musik an der Kunstuniversität in Graz. Zahlreiche Auslandsaufenthalte führten zu Dolmetschtätigkeiten in Spanisch und Englisch. Gemeinsam mit Rawezh Salim übersetzt sie aus dem Kurdischen (Sorani).

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Rawezh Salim, geboren 1973 in Sulaymaniyah (Nordirak), floh während des kurdischen Bürgerkrieges nach Österreich, wo er Translationswissenschaften studierte. Er arbeitet unter anderem als Übersetzer und Dolmetscher für die Sprachen Deutsch, Kurdisch und Arabisch.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Hardcover, Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Bachtyar Ali

Perwanas Abend

Roman

Aus dem Kurdischen (Sorani) von Ute Cantera-Lang und Rawezh Salim

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 1 Dokument

Die Originalausgabe erschien 1998.

Die Übersetzung aus dem Kurdischen (Sorani) wurde vom SüdKulturFonds in Zusammenarbeit mit Litprom e. V. - Literaturen der Welt unterstützt.

Lektorat: Hans-Ulrich Müller-Schwefe

Originaltitel: Ewaray Parwana

© by Bachtyar Ali 1998

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Lukman Ahmad, Fragrant, Acryl auf Leinwand (Ausschnitt)

Umschlaggestaltung: Sven Schrape

ISBN 978-3-293-31070-4

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Version vom 22.09.2022, 00:52h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

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Inhaltsverzeichnis

PERWANAS ABEND

1 – Ich, Klein Khandan, habe all dies vor einigen …2 – Nach dem Tod meiner Tante, der Verwüstung des …3 – Als Perwana den ersten Brief von Fareydun Malak …4 – In einer lauen Frühlingsnacht wurde Perwanas Traum vom …5 – Die Städte in dieser Region sind wie belagerte …6 – Nach dieser Nacht war es mit dem ruhigen …7 – Ich bin nicht verantwortlich für diesen Sturm …8 – Die Stadt quoll über von Geschichten unerfüllter und …9 – Nach Nasradins Verschwinden gab Gowand alle Projekte auf …10 – Die Zeit der Fantasie ging zu Ende …11 – Als Fareydun die tausend Sprossen der Leiter hinunterstieg …12 – In der Stadt wuchs die Unruhe. Die Flut …13 – Die Zeit, in der die Paare ihre Lauben …14 – Nachdem die Gründung der Gemeinschaft der Reumütigen Schwestern …15 – Nein, nicht alles war von Anfang an trüb …16 – Um Buße tun zu können, müssen wir den …17 – Noch nachdem Maasuma das Tal hinter sich gelassen …18 – Nachdem Siyamand und Maasuma gegangen waren, erlebte der …19 – Jeden Morgen mussten wir Seyneb Kwestani erzählen …20 – Nasradin erreichte die Nachricht vom Marsch des Glaubens …21 – Dein Lächeln ist nicht deshalb verschwunden, weil sich …22 – Auf unserer Fahrt passierten wir unwirtliche Steinwüsten …23 – Eine Woche nach »Perwanas Abend« kam die vogelscheue …

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1

Ich, Klein Khandan, habe all dies vor einigen Jahren erlebt. Damals war es schwierig für mich, denn ich war noch nicht reif genug, um die Ereignisse zu begreifen und niederzuschreiben. Inzwischen sehe ich, wie sie alle zusammenhängen. Und ich weiß nun auch, wie alle Beteiligten miteinander verbunden waren.

»Keine vorschnellen Schlüsse«, warnte mich Süßduftender Nasradin immer wieder. Auch meine Freundin Fatana ist überzeugt, dass wir noch nicht in der Lage sind, die Wahrheit jener Tage zu erfassen. Beide meinen, vieles sei ungeklärt und nie zu klären, weil die Beteiligten tot oder ausgewandert oder in irgendeinem Winkel dieses ausgebluteten Landes verschwunden seien. Und die meisten Orte, an denen Perwana und ich jene Tage getrennt voneinander verbrachten, sind vom Erdboden verschwunden. Dennoch spürte ich einen Drang in mir, die Geschichte zu erzählen. Möglicherweise ist es der Drang, nachzudenken über die Welt, in der man gelebt hat, ohne sie zu verstehen. Die vergangenen Tage durch das Erzählen von Geschichten zurückzuholen. Der Drang, dem, was wir nur als Fata Morgana, als verschwommenen Nebel wahrgenommen haben, eine Form zu geben.

Und doch sind meine Erinnerungen ganz deutlich. In den langen Nächten, die ich mit Maasuma in der Schule der Reumütigen Schwestern verbrachte, klärten sich viele der Geheimnisse auf, die Perwanas letzte Tage umgaben. Maasuma ist bereits tot. Vor ihrem letzten Atemzug sagte sie mir, dass sie gesehen habe, was ein Mensch sehen muss, und schließlich habe es nichts mehr gegeben, was sich noch zu sehen gelohnt hätte. Aber sie hätte nicht so früh gehen dürfen, denn nun kann sie diese Geschichte nicht mehr bezeugen. Die Hefte der Traurigen Midiya, die sie in der hoffnungslosen Wildnis vollgeschrieben hatte, gaben mir weiteren Aufschluss. Als ich sie, eingewickelt in einen weißen Schal, in die Hände bekam, begann ich, darüber nachzudenken, in welcher Weise von unserem Schicksal zu berichten wäre, diesem gnadenlosen Schicksal, das uns vor sich hertrieb bis zu jenem kalten, verschneiten Abend, den wir heute in Trauer »Perwanas Abend« nennen.

Doch so weit sind wir noch nicht, denn der Ursprung der Geschehnisse liegt ein paar Jahre zurück. Alles begann an einem kühlen Frühlingsabend. Perwana und ich trugen auf großen Tabletts Fleisch aus, das mein Vater wie jedes Jahr zum Opferfest verschenkte. Ich weiß noch genau: Die grünen Tage kündigten sich an und erfüllten uns alle mit dem Glücksgefühl des Neubeginns. In jeder Ecke dieser Stadt schlachteten die Menschen Opfertiere. Es schien uns, als wären noch nie so viele Tiere geopfert worden. Die Vögel kehrten in Schwärmen aus dem Süden zurück und torkelten trunken über diesem Blut-Karneval, der in der Stadt tobte. Aus allen Gassen stieg der Blutgeruch empor und verhieß ihnen Beute.

Perwana war fasziniert. So hatte ich sie noch nie erlebt. Stundenlang stand sie am Fenster und starrte ohne einen Wimpernschlag auf den Marktplatz, auf den hünenhafte Männer pechschwarze Stiere zerrten. Wir sahen zu, wie die Käufer sich ins Getümmel warfen, bis schließlich ein jeder seinen Stier durch das hölzerne Markttor und dann durch die staubige Stadt bis zum eigenen Haus hinter sich herzog.

Seit vielen Jahren lebten wir nun schon in diesem Haus gegenüber dem Marktplatz, wo Viehhändler und Metzger ihre Tiere kauften und verkauften. Aber noch nie hatte es vor dem Opferfest auf dem Markt so einen Rummel gegeben. Die Stadt schwamm in Blut. Erwachsene wie Kinder, alle rochen nach Blut. Für Perwana und mich war der Schulweg eine Qual. Eine Blutlache nach der anderen, von der Haustür bis ins Klassenzimmer.

»Puh, das ist eklig«, beschwerte ich mich.

Perwana reagierte nicht, aber als ich den Satz mehrmals wiederholte, zischte sie: »Sei still und pass auf, dass du dich nicht schmutzig machst!«

Als der Tag der Fleischverteilung kam, schien kein einziger Stier verschont geblieben, alle waren geopfert worden. Es war ein einziges Blutbad. Man würde Straßen, Wände und Bäume nie wieder sauber bekommen.

»Das geht vorbei. Für die meisten Menschen ist solches bald wieder vergessen und vorbei. Nur für ganz wenige haben gewisse Dinge Dauer und Beständigkeit«, sagte Perwana. Sie balancierte das Tablett mit dem Opferfleisch auf dem Kopf und versuchte, über die Blutlachen hinwegzuspringen. Perwana und mich machte es wütend, mit anzusehen, wie die Kinder ihre Hände in das Blut tauchten und damit Wände, Bäume, ihre Körper, die eigenen und die Gesichter ihrer Freunde beschmierten. Die Menschen wirkten wie blutrote Dämonen.

Perwana achtete darauf, keinen Tropfen dieses ekligen Bluts abzubekommen. Es beschämte sie schon genug, dass sie auf Geheiß des Vaters und gegen ihren Willen mit dem Tablett auf dem Kopf unterwegs sein musste, um das Fleisch Haus für Haus zu verteilen. Achtlos stapften die Leute durch das Blut, es klebte an Schuhen und Kleidern. Sie trugen es in die Häuser, in die sauberen Parks, die kleinen Teehäuser, zu den Ausflugsorten und in die Kinos der Stadt.

Es wehte eine angenehme Frühlingsbrise. Dem Fleisch entstieg noch der Dunst des Lebens, wie ein letzter Atemzug nach dem Tod. Das Bild der Männer, die mitten auf der Wiese unseres Vorhofs den mächtigen Ochsen häuteten, hat sich in meine Erinnerung eingebrannt. Das abgebrochene Horn, die heraushängende, lange schwarze Zunge, die Qual in den hervorquellenden Augen, all das war beängstigend. Mein Vater war in Blut getaucht, meine Brüder von Kopf bis Fuß blutverschmiert. Auch die Kleidung des kleinen Metzgers, der lächelte wie ein Kind, war blutgetränkt. In dem Moment, als das Messer die Kehle des Tiers durchtrennte, begann meine Mutter, die taubstumm, gebückt und krank dabeisaß, zu kreischen. Es war die Stimme eines kranken, wütenden Geschöpfs, das nicht mehr in der Lage war, Worte zu artikulieren. Auch Perwana wurde unruhig, lief ins Schlafzimmer, kehrte zum Fenster zurück, eilte auf die klagenden Laute meiner Mutter zu ihr hin, hastete dann wieder zum Fenster zurück, wie um ja nichts zu verpassen.

»Klein Khandan, weißt du, dass ich beim nächsten Opferfest nicht mehr da sein werde?«, fragte sie in einem plötzlichen Gefühlsausbruch.

Mein Vater verteilte das Opferfleisch. Perwana und ich hoben die Tabletts mit den Almosen auf unsere Köpfe und verließen das Haus. Bei unserer dritten Runde betraten wir eine abgelegene Gasse, die wir noch nie gesehen hatten. Eine stille, saubere Sackgasse, die nach Frühling roch und in der unverhofft, wie auf einer Insel mitten im Blutmeer, unzählige Schmetterlinge flatterten. Wir klopften an ein großes, beschlagenes Tor, das über und über mit Ameisen bedeckt war. Wiederholt mussten wir den alten Türklopfer betätigen und die Klingel neben dem Tor drücken, bis uns nach einer Weile ein schmaler, junger Mann öffnete.

»Ich habe euch erwartet. Willkommen, willkommen! Ach, es ist schon wieder Opferfest. Ich hatte es ganz vergessen.« Er schüttelte den Kopf.

Dieser junge Mann war Fareydun Malak. Ich würde ihm wieder begegnen, aber immer nur nachts, im Morgengrauen oder in weißem Nebel.

2

Nach dem Tod meiner Tante, der Verwüstung des Kriegs und den Umwälzungen, die unser Leben und die Heimat erschütterten, verließen Fatana, Maasuma und ich die Schule der »Reumütigen Schwestern« ein letztes Mal durch das eiserne Tor und kehrten nicht zurück. Maasuma, mit ihrer übergroßen Angst vor Gott und vor den Vögeln, trieb es in eine Nähfabrik. Meine Brüder waren nicht im Lande und meine Eltern längst tot. Ich musste allein in dem Haus mit seinem großen Wohnzimmer leben und dort wieder zusammenfügen, was die Jahre der Angst im Leben der Leute auseinandergerissen hatten.

Nicht anders als ich, träumte auch Fatana davon, diese Geschichte festzuhalten. Maasuma, die jahrelang das Geheimnis mit mir geteilt hatte, meinte, Fatana sei die bessere Geschichtenerzählerin, sie könne aber nicht so gut schreiben. Ich sagte: »Geschichten müssen aufgeschrieben werden, sonst sterben sie. Es geht nicht um eine Geschichte für mich, sondern darum, dass Perwana in die Welt zurückgeholt wird.« Beide wussten wir, dass Perwana erst dann wirklich sterben würde, wenn jene, die sie liebten und die sie liebte, sie vergaßen. Ich zeigte Maasuma die Fotos, die Perwana ihren unzähligen Liebhabern zugedacht hatte. Auf der Rückseite stand immer geschrieben: »Dir gewidmet. Aber Du musst mir versprechen, mich auch nach meinem Tod nicht zu vergessen.«

Ich wusste, dass ich nur durch meine Aufzeichnungen Perwana wieder zum Leben erwecken konnte. Aber Fatana zischte wütend: »Du bringst sie noch einmal um! Die Heldinnen in den Geschichten sind nichts als dunkle Schatten, nur Trugbilder.«

Tag für Tag bedrängte ich Maasuma. Nur sie konnte mich zu dem Mann führen, den ich suchte. Man kannte ihn unter dem Namen »Süßduftender Nasradin«. Schließlich stellte sie ihn mir vor. Er war nach »Perwanas Abend« und nach seiner Zeit als Kämpfer in die Stadt zurückgekehrt. Nasradin, der Mann mit dem schüchternen, mädchenhaften Lächeln, lebte inmitten von Fotos schöner Mädchen, die ausgelassen zum schnellen Rhythmus der Musik im Reigen tanzten. Die Hälfte seines Lebens verbrachte er betrunken im Blitzlichtgewitter seiner Kamera und die andere Hälfte im schummrig roten Laborlicht, in dem er seine Filme entwickelte.

»Es ist wie eine Reise zur Wahrheit. Am Anfang ist das Nichts. Dann wird es wie nebliges Milchglas. Am Ende ist es ein Bild in leuchtenden Farben«, beschrieb er den Entwicklungsprozess seiner Fotos.

Seine skurrile Einstellung zum Leben, zu Liebe und Tod konnte ich kaum ertragen. Für ihn war alles wie Filme entwickeln. Besessen suchte er in allem einen dunklen Beginn und wollte ein Ende, das wie seine Fotos klar, glatt und leuchtend sein sollte. Darum sträubte er sich, über Perwana und Fareydun Malak nachzudenken, und gar ihr beängstigendes Ende.

»Wahrheit, die nicht klar, makellos und schön ist, ist keine Wahrheit«, deklamierte er.

Ich las Nasradin aus Midiyas Tagebuch vor, was Perwana gesagt hatte: »Das Leben ist ein Nebel. Die Wahrheit entsteht aus dem Zusammenfügen von Nebelfetzen.« Und ich sagte: »So ist es. Es gibt keine Gewissheit. Keine Wahrheit, die uns Seelenfrieden schenkt. Und deine Fotos helfen auch nicht weiter. Man kann sich nicht auf sie verlassen.«

Wenn er unter die Leute ging, hielt er sich immer in der Nähe der Frauen auf. Mit seinem langen Mantel und seinem mädchenhaft schüchternen Blick wirkte er tatsächlich irgendwie weiblich.

Zum ersten Mal unterhielt ich mich mit ihm auf der Hochzeit einer meiner Freundinnen. Maasuma wollte sich nicht umdrehen und direkt auf ihn zeigen. Sie hatte den Bäumen im Garten den Rücken zugekehrt, weil der Anblick von Vögeln sie immer mit Angst erfüllte. Also beschrieb sie ihn mir: »Schau, dort steht er, der Mann mit einer alten Kamera, der in einer blauen kurdischen Tracht steckt.« Ich schaute mich um. Er stand mitten unter den Tänzerinnen und Tänzern des Reigens, umringt von schlanken Frauen, plauderte und scherzte und gab einer nach der anderen einen Bon zum Abholen ihrer Fotos. So wie er lachte, in die Runde schaute und locker mit allen umging, wirkte er glücklich. Der Duft seines Parfums berauschte die Frauen und Mädchen, die ihn im Kreis umstanden. Ich fragte mich: Wie hatte sich dieser Mann in den zurückliegenden Jahren in den Bergen einen Namen als tapferer Kämpfer machen können?

Das Keyboard hatte die Stimmung im Garten so angeheizt, dass man sein eigenes Wort nicht verstand. Als ich zu ihm hinging, rief Maasuma mir hinterher: »Er wird dich nicht verstehen in dem ganzen Lärm, in diesem Wirrwarr der Lust!«

Ich murmelte nur vor mich hin: »Wirrwarr der Lust … Wirrwarr der Lust …« Es waren die Worte der strengen Seyneb Kwestani, die sich jahrelang bemüht hatte, uns vom »Wirrwarr der Lust« fernzuhalten.

Sobald Nasradin mich sah, streckte er mir die Hand entgegen und sagte: »Sehr erfreut, Verehrte!« Ich stellte mich vor und sagte ihm, ich sei das Mädchen, von dem behauptet wurde, es könne Wirbelwinde herbeizaubern. Da wurde er bleich und tat, als hätte er noch nie von mir gehört. Aber ich wusste, dass Maasuma ihm von mir erzählt hatte. Als eine Welle der Tanzenden uns voneinander trennte, sah er aus dem Abstand ungläubig zu mir herüber. Am anderen Ende des Gartens, weit entfernt vom Lärm des Keyboards und den neugierigen Augen der Zuschauer, trafen wir uns schließlich.

»Ich bin die Schwester von Perwana«, sagte ich.

Er blickte erstaunt, schien erschrocken. »Und bist auch du ein Unglückskind?«, fragte er.

»Hör zu: Ich bin kein Unglückskind, aber ich brauche deine Hilfe.«

Er antwortete nicht. Stumm drehte er sich um und verschwand in der Menge. In dieser Nacht ging er mir aus dem Weg.

Am nächsten Tag stellte ich ihn vor seinem Studio zur Rede. Es regnete in Strömen. Der Wind hatte plötzlich gedreht. Er duckte sich unter einem großen Regenschirm, wie um zu verhindern, dass Sturm und Regen ihm die Duftwolke seines Parfums raubten. Als er mich sah, wurde er wieder unruhig und wollte sich wortlos an mir vorbeidrücken. Ich stellte mich ihm in den Weg.

»Klein Khandan, lass mich! Ich will nicht mehr über die Vergangenheit nachdenken.«

Die Vergangenheit war für ihn fremd geworden. Das Leben, das er in den Bergen, im Schnee, an unzugänglichen Orten verbracht hatte, fand an Perwanas Abend ein Ende. Nun lebte er ein anderes Leben. Lachend fotografierte er Mädchen und Fußballer, und abends in den kleinen, dunklen Teehäusern tratschte er mit den Mannschaftskapitänen über das Leben und Treiben in Stadien und Schlafzimmern. Erst später erlebte ich, wie sehr ihn sein schlechtes Gewissen quälte. Er lebte unter dem Druck des Gefühls, für Perwanas Tod verantwortlich zu sein. Dass es seine Schuld war, dass Fareydun in der Schlucht blieb. Seine Schuld, dass die Liebe verging. Als ich ihn näher kennenlernte, konnte ich den Kummer förmlich sehen, vor dem er auf die Feste und ins Getümmel der Stadien floh. Sein ganzes Leben war nun ein Versuch, diesen Kummer zu verdrängen.

»Immer stand ich am falschen Ort. Nirgends gehöre ich hin«, gestand er einmal.

Sein Studio war reich bestückt mit Lampen, Strahlern und bunten Glühbirnen. Im hinteren Teil bedeckten Fotos von Frauen und Fußballern die Wände. Alles hier leuchtete und oszillierte in so ungewöhnlichen Farben, dass mir schwindlig wurde. Das also war die künstliche Welt, die er sich erschaffen hatte! Ich wollte meine Tasche nehmen, das Studio verlassen und die ganze Geschichte aufgeben. Aber Nasradin schaltete, mit seinen langen, schlanken Fingern, die wie die Finger eines satanischen Pianisten aussahen, eilig alle Lampen und Strahler an.

»Klein Khandan, was willst du?«, fragte er wütend.

»Das Tagebuch der Traurigen Midiya«, antwortete ich ohne Umschweife.

Offensichtlich wusste Nasradin nicht viel von mir. Er behandelte mich wie eine Fremde. Zunächst weigerte er sich rundheraus, mir das Tagebuch zu überlassen. Es sei ein Meer gefährlicher Geheimnisse! Nasradin hatte diese Tagebücher nach hartnäckigen Bemühungen von einem alten Mann namens Mussa Khasnnas ausgehändigt bekommen.

So ging ich nun Tag für Tag bei ihm vorbei. Oft stand ich schon bei Sonnenaufgang vor seinem Studio und offenbarte ihm alles über meine Schicksalsgemeinschaft mit Perwana. »Die Reumütigen Schwestern haben auch mein Leben zerstört. Die Fäden meines Schicksals sind verwoben sogar mit Perwanas Liebesbeziehungen. Ihre und meine Geschichte sind ein und dieselbe. In all den Jahren meiner Isolation habe ich ständig nur über sie nachgedacht. Ich büße für ihre unerfüllte Liebessehnsucht. An ihrer Stelle leide ich jetzt Höllenqualen. Die Windungen und Wendungen unseres Lebens waren die gleichen, auch wenn ich ein paar Jahre nach ihr auf die Welt gekommen bin. Ich war kleiner und nicht so hübsch wie sie. Aber meine Neugier und Lebenslust waren immer größer als ihre, nur dass sich bei mir alles, was sie wirklich tat, bloß in der Fantasie abspielte. Wenn die Laune des Schicksals anders entschieden hätte, hätte man Perwana in die Schule der Reumütigen Schwestern gesteckt, und ich wäre an ihrer Stelle in diese Schlucht gegangen.«

Nasradin schüttelte den Kopf: »Das ist alles vorbei. Perwana ist tot. Sie ist von uns gegangen.«

Er wusste nun, dass mein Leben nichts anderes war als ein Schatten ihres Lebens. Dass sie die Grenzen überschritten hatte und nicht ich. Dass ich nicht getan hatte, was sie getan hatte, und dennoch an ihrer Stelle stehen wollte. Er wusste, dass ich, wie so viele andere traurige Mädchen, Perwanas Lebensweg nur zu gern gegen mein wohlanständiges Leben eingetauscht hätte.

Schließlich zeigte er mir die in einen weißen Schal gewickelten Tagebücher. Er hatte begriffen, dass ich fest entschlossen war, in die Geheimnisse der versehrten Heldinnen und Helden einzudringen und ihre Schicksale einzufangen. Und er wusste, dass ohne ihn, ohne die Tagebücher und ohne Maasumas bittere Erzählungen niemals eine Geschichte daraus werden würde.

»Vergiss nicht, dass auch mein sonderbares Leben in diese Geschichte gehört. Ich will vor meinem Tod verstehen, was dieses Leben war, das wir führten. Es gibt in diesem leeren Haus sonst nichts, wofür zu leben sich lohnte.« Er händigte mir die Tagebücher aus und sagte: »Ein Teil der Geschichte, die du erzählen willst, ist in diesen Heften begraben. Der andere hat mit meinem Versagen und meiner Enttäuschung zu tun. Vergiss nicht, auch ich habe mein Leben und meine Zukunft verloren. Alles, woran ich glaubte, ist mir abhandengekommen.«

Ich legte meine Hand auf die Tagebücher und spürte, dass sie die Geschichte unserer weit auseinanderlaufenden und doch verschlungenen Lebenswege erzählten. Mein zerbrochenes Leben, das mit dem Schicksal der Frauen verknüpft ist, die wie ich büßen mussten für alles, was damals geschah. Verknüpft auch mit dem Leben der Verlorenen, die in jener Schneenacht den Wald der Liebenden verließen und sich über die Welt verstreuten, ohne Spuren zu hinterlassen.

Wichtig ist aber, dass ich diese Geschichte zu Papier bringe und nicht Fatana. Ich bin mir sicher, Fatana hätte diese Geschichte auf beeindruckende Weise erzählt, aber jahrelang habe ich Maasuma daran gehindert, ihr die Adresse von Nasradin zu verraten. Er war der einzige Schlüssel zu den Quellen dieser so verwickelten Ereignisse.

Fatana versuchte mit allerlei Tricks und Listen, zu den Quellen dieser Geschichte vorzudringen. Ich fühlte mich ihr gegenüber schuldig. Hatte sie mir nicht in der Schule der Reumütigen Schwestern mit größter Ausdauer jene wundersamen Märchen erzählt, um die Mauern aus Angst und Barbarei zum Einsturz zu bringen? Als wir endlich der Schule entkommen waren, suchte sie mit großem Eifer nach Spuren ihrer Schwester Maasuma, von der sie erzählte:

»Eines Nachts folgte sie wie eine Mondsüchtige dem Mond, ging aus dem Haus, aber anstelle des Mondes fand sie ein Buch, das ihr den Kopf verdrehte.«

3

Als Perwana den ersten Brief von Fareydun Malak erhielt, begann eine Zeit der Fantasien und Wunschträume. Aber damit senkten sich auch die Flügel einer tiefen Traurigkeit auf unser beider Leben. Perwana weinte ständig. Sie sagte: »Ich gehe weg.«

Ich wusste nicht, wohin sie wollte, aber ich wusste seit Langem, dass der Kreis ihrer Beziehungen sich bedenklich ausweitete. Nach der Schule ging sie selten mit mir nach Hause. In ihrer blauen Schuluniform und der weißen Bluse mit Rüschenkragen setzte sie sich im Bus weit von mir weg, sah ständig aus dem Fenster und war in Gedanken woanders. Selten schaute sie her zu mir. Sie bat mich, nicht neben ihr zu gehen, wollte allein sein, meinen Blicken entzogen. Ich wusste, wohin sie ging: in die Gassen des Bazars, zu den Schneidern, die sie kannte, oder mit einem ihrer Liebhaber vor die Tore der Stadt. All dies geschah aus Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung und zerstörte allmählich ihr Leben. An manchen Tagen kleidete sie sich so, dass sie geradezu Ehrfurcht gebietend aussah, wie eine Königin. Kein Mann wagte es, sich ihr zu nähern. Sie strahlte eine Würde aus, die sogar die Lehrer verstummen ließ. Sie war so gut in der Schule, dass die Lehrer über ihre Unbotmäßigkeiten hinwegsahen.

An dem Tag, an dem sie mit dem Brief eines Liebhabers ertappt wurde, der ein Freund meines Vaters, aber auch eines reichen, hochrangigen Politikers war, stellte ihr niemand Fragen oder beleidigte sie auch nur mit einem Wort. Wenn ich nun daran denke, begreife ich, dass Perwana nach einem Licht in ihrem Leben suchte. Aus den schwarzen Tunnels der Zimmer und Gänge unseres Hauses machte sie sich auf die Suche nach einem geheimen, unbekannten Licht. Die regennassen, matschigen Straßen, die anhaltenden Stürme, die nie abflauten, die zerstörerische Hitze des Sommers, der Schleim, den meine Brüder in ihren Betten hinterließen, das Geschrei und Gekreische unserer Mutter – all das war so hoffnungslos, dass Perwanas Seele nicht damit zurechtkam.

Seit sie in den Wirbel ihrer Beziehungen geraten war, tat sie meist so, als würden wir uns gar nicht kennen. Nur, wenn wir das Licht ausgeschaltet hatten und unter der Bettdecke noch tuschelten, spürte ich wieder unsere warme, schwesterliche Verbindung. Doch wenn morgens die Sonne wieder aufging, sprangen wir aus den Betten, zogen uns ohne ein einziges Wort an. In der Schule umgab sie sich mit einem Rudel der schönsten, arrogantesten und bestgekleideten Mädchen der Stadt. Mit einer Mischung aus mädchenhafter Zartheit und Hochnäsigkeit, Hartherzigkeit und Lebenshunger folgten sie dem Drang, alles in vollen Zügen zu genießen, im Mittelpunkt zu stehen, in ihren Liebhabern brennendes Verlangen zu entfachen, Eifersucht zu schüren und Aufregung unter ihnen auszulösen. Jede war in Intrigen verwickelt. Es ging um Politik, Liebe und Geld. Ich wusste, dass diese Mädchen Perwana zu ihren Beziehungen verhalfen. Selbst gnadenlose Jägerinnen, hatte jede von ihnen ihre eigene Art und Weise, Männer Perwana zuzutreiben. Und Perwana erlag jeder Versuchung und trank jedes Gift. Sie ließ sich gleichzeitig auf Dutzende von Beziehungen ein und war nicht mehr Herrin der Lage. Sie wusste, dass keiner von denen, die sie auf diesem Wege kennenlernte, der Mann ihrer Träume war oder ihr eine Zukunft bieten konnte. Aber jeden von ihnen bat sie, sie zu retten, sie in ein fernes Land zu entführen. Es waren junge, unreife Schüler, die sich durch solche Flirts beweisen wollten, aber auch reiche Männer, die Perwana auf die Liste ihrer Geliebten setzten, um sie Freund und Feind stolz zu präsentieren. Sie selbst wusste genau, in welch sinnlosem Kreis sie sich drehte. Spätnachts im Bett erzählte sie mir davon. Ich durchlebte mit ihr all ihre Ängste, ihre Zweifel und Niedergeschlagenheit.

»Sie werden dich töten, sie bringen dich um. Wieso machst du das, du bist doch keine Hure«, versuchte ich, sie zu warnen.

»Ich weiß es nicht. Aber die Vorstellung, in dieser Stadt, in diesem zerstörten Leben lebendig begraben zu werden, bringt mich um«, antwortete sie.

»Wieso kannst du nicht nur einen lieben? Warum so viele? Wieso begibst du dich in so einen Teufelskreis?«, fragte ich sie.

Sie wischte sich die Tränen ab und sagte mit einem Lächeln, das ihr das Aussehen eines unschuldigen Schmetterlings verlieh: »Vergiss nicht, Schwesterchen, ich bin nicht wie du. Ich bin anders.«

In manchen Nächten packte sie ihren Koffer und sagte: »Es dauert nicht mehr lang, bis ich weggehe. Ich gehe.«

Ich setzte mich auf die Kante meines Bettes und beobachtete sie, wie sie alles einpackte: die Fotos, ihren Schminkkoffer, ihre Haarbänder, die Erinnerungen an die Männer, deren Untreue ihr Leben überschattete, ihr Tagebuch, einige kleine Schmuckstücke aus Gold und Kinkerlitzchen, an denen lauter Geschichten hingen. Kleine Ansteckblumen, feine, durchsichtige Büstenhalter, ein paar weiße Taubenfedern, Haarsträhnen junger Männer …

Manchmal flehte ich sie weinend an: »Perwana, du musst mich mitnehmen. Was soll ich hier?«

Oft antwortete sie gar nicht, strich mir nur mit der Hand über den Kopf. Manchmal fand sie Worte: »Mit mir bist du verloren. Du bist glücklich so. Du bist nicht wie ich. Aber du musst mir schwören: Wenn ich in ein fernes Land gehe oder sterbe, darfst du mich nicht vergessen.«

Jeden beschwor sie: »Wenn ich sterbe, vergesst mich nicht!« Wie ein Windstoß fuhr sie durch das Leben Dutzender Menschen, und die einzigen Worte, die sie hinterließ, waren: »Vergesst mich nicht, wenn ich gestorben bin!«

»Ich vergesse dich niemals«, versprach ich und umarmte sie. Aber sie hatte Angst und zweifelte. Sie warf sich auf das alte Sofa, legte ihren Kopf auf den kleinen Tisch, der auf dem farbigen Perserteppich stand, und sagte: »Wie sehr ich die Kälte des Todes fürchte.«

»Wer sagt, dass der Tod kalt ist, wer sagt das?«

Sie hob ihren Kopf. »Es kommt darauf an, wo man begraben wird.«

Jedes Mal, wenn sie ihre Sachen zusammengesammelt hatte, verharrte sie in Stille und Warten. Wortlos blickte sie ins Leere. In manchen Nächten aber zog sie vorsichtig ein Buch aus ihrer Tasche und las darin bis in die frühen Morgenstunden. Ich bewunderte sie, wie sie dasaß und, ohne vom Schlaf übermannt zu werden, las und immer weiterlas. Sie war auf der Suche nach einer lebendigeren Welt, wollte vergessen, ließ sich mitreißen. Und manchmal dachte sie nach. Ich war mir nicht sicher, ob sie über das Buch nachdachte oder über etwas ganz anderes. Immer sah ich ihren Argwohn, ihr ungeduldiges Warten, ihre tiefe Enttäuschung.

Spät erst erkannte sie, dass alle Männer mit ihr gespielt hatten. Anfangs setzte sie darauf, mit einem wohlhabenden Uhrmacher wegzugehen und nicht zurückzukehren. Dieser Mann hatte ihr geschworen, er sei in der Lage, die Zeit vor- und zurückzudrehen und sie in die Zeit der alten Emirate zu entführen, wo sie glücklich zusammenleben würden.

»Ich gehe an einen Ort, wo es keine Spuren und Zeichen der jetzigen Welt gibt. In ein kleines Städtchen unter ewiger Sonne, wo die Menschen im Freien leben.« Perwana erzählte das wie ein Zaubermärchen. Der magische Klang dieser Worte machte sie trunken. In dieser einen Nacht war sie glücklich. Sie umarmte mich. »Glaub mir, Khandan, der Uhrmacher kann mit der Zeit spielen.«

»Perwana, nimm mich mit«, bat ich sie leise.

»Nein, nein, nein. Ich weiß ja nicht, was passieren wird. Ich weiß es nicht.«

Mehrere Nächte wartete sie auf ihn, tat kein Auge zu, beobachtete vom Balkon aus den Platz und die umliegenden Gassen. Aber außer den Viehhändlern, den Straßenverkäufern und diesen gebückten, alten, zerknitterten Männern, die vom Morgengebet kamen, war niemand zu sehen. Eine Woche später kam Perwana zu mir, am ganzen Leib zitternd: »Khandan, Khandan, er hat sich umgebracht, er ist tot.« Der Uhrmacher hatte sich um Mitternacht unter dem Maulbeerbaum im Vorgarten seines Hauses mit einer einzigen Kugel das Leben genommen.

Am nächsten Tag zogen Perwana und ich uns um und gingen zur Trauerfeier der Frauen in sein Haus. Dutzende Uhren hingen an den Wänden, sie waren in dem Augenblick stehen geblieben, als er sich das Leben genommen hatte. Perwana musterte sie mit kindlichem Blick. Das Zimmer roch nach dem Blut des Mannes. Der Geruch war ihr unerträglich. Perwana weinte nicht, aber in ihrem Gesicht zeigten sich Einsamkeit und Angst.

Nach dem Selbstmord des Uhrmachers tauchten in Perwanas Leben noch mehr ungewöhnliche Männer auf. Unter ihnen einer, dessen Foto sie mir eines Nachts zeigte. Perwana war davon überzeugt, dass seinen Kopf eine Aura umgab und dass er mit den Propheten sprechen und mit den Seelen der Verstorbenen kommunizieren konnte. Danach kam jener schüchterne Jüngling, der die Fähigkeit besaß, Stürme zu bändigen und die Welt um sich herum stillstehen zu lassen. Ihm folgte ein Händler, der so oft nach Asien gereist war, dass er aussah wie ein buddhistischer Mönch. Der Nächste war ein junger Mann, der eine Woche, nachdem sie sich kennengelernt hatten, mitten im Bazar von einer Kugel, einem Querschläger, getroffen wurde und tot umfiel.

»Vergiss diesen Koffer. Wirf ihn weg! Du wirst nie weggehen«, beschwor ich sie.

»Meine Seele sagt mir etwas anderes«, flüsterte sie. »Ich bin sicher, dass ich fortgehe und niemals zurückkehre.«

Mit der Zeit verkleinerte sich Perwanas Lebenskreis. Ihre Freundinnen gingen eine nach der anderen weg. Eines Abends kam sie erschrocken nach Hause und flüsterte: »Die blauäugige Nesaket ist gegangen. Mandana ist bereits auf einem anderen Kontinent. Purhan ist weg. Frishta hat uns auch verlassen. Ach, Schwester!«

Die Kette der Mädchen, welche aus der Schule verschwanden, die Stadt verließen und nie mehr gesehen wurden, riss nicht ab. Nur für Perwana zeigte sich noch kein Abschied. Wenn ich heute zurückblicke, vermute ich: Hätte Perwana in Fareydun Malak nicht den Mann gesehen, der ihr den Traum vom Weggehen endlich würde erfüllen können, wäre er wahrscheinlich auch nur einer von denen gewesen, die ihr Leben flüchtig streiften.

4

In einer lauen Frühlingsnacht wurde Perwanas Traum vom Fliehen endlich wahr. Schon seit einer Woche schlief sie nachts nicht mehr. Angstattacken überfielen sie. Ein paar Tage davor hatte sie mir angeboten: »Schwesterchen, komm mit! Wir machen Schluss mit all dem Elend.«

Ich hatte Fareydun Malak bereits einige Male nachts oder im Morgennebel gesehen, aber ich hatte nie mit ihm gesprochen. Zu jener Zeit arbeitete er in einer großen Bäckerei.

Perwana und ich klopften in einer engen Gasse ans Tor, gingen dann durch einen schmalen, dunklen Gang und einen Hof voller Truthähne und schnatternder Gänse und nahmen schließlich in einem Vorraum auf einer alten, klapprigen Bank Platz. Fareydun kam heraus, wie in eine Wolke aus Mehlstaub gehüllt. Er umarmte Perwana, doch er wirkte bedrückt. Ein einfacher Mann, ich sah in ihm nichts, das ihn vor anderen ausgezeichnet hätte. Nur in seinen Augen lag ein Zauber, aber an jenem Tag entdeckte ich hinter den mehlbestäubten Wimpern eine merkwürdige Angst in seinem Blick.

Es war zu Beginn der Massaker, die das Regime anrichtete. Wenn wir morgens aus dem Haus gingen, sahen wir überall Spuren von Blutvergießen, Glassplitter und Zeichen von Bränden. Am Tag davor waren zwei Freunde Fareyduns von einem Erschießungskommando hingerichtet worden. Unsichere Zeiten. Alle hatten Angst, ob mit oder ohne Grund. Sogar ich, obwohl ich nichts zu befürchten hatte.

Noch heute sagt Nasradin, dass er diese Angst von Fareydun nicht verstand. Denn noch nie hatte er ein Wort über Politik oder den Freiheitskampf verloren. Seine einzige Sehnsucht war zu reisen und über die Steppe zu wandern.

Ich weiß noch, wie er in seinem staubigen Gewand verzweifelt in dem Vorraum auf und ab ging und mit erhobenen Händen klagte: »Meine beiden Freunde waren völlig harmlos; wenn sie betrunken waren, haben sie gern gesungen.«

Ich sank auf der Bank zusammen und schaute schüchtern zu den beiden Liebenden hoch, die meine Anwesenheit vergessen hatten. Perwana flehte ihn an, fortzugehen: »Bald werden sie kommen, um auch dich abzuholen und zu töten. Das sagt mir mein Herz. Fareydun, ich gehe mit dir bis ans Ende der Welt.«

Fareydun hob seinen Kopf und erwiderte: »Niemand kann mich begleiten. Ich sehe alles voraus. Am Ende sehe ich mich allein dastehen.« Er sagte es wieder und wieder. Perwana sah ihn nur sprachlos an. Sie war am Boden zerstört. Aber ich kannte das bereits. Eine wirkliche Bedrohung sah ich nicht auf uns zukommen.

In derselben Woche überbrachte ein alter Fahrer einen Brief von Nasradin. Dieser Brief stellte unser gesamtes Leben auf den Kopf. Heute bezeichnet Nasradin diesen Brief als seinen größten Fehler. Damals wollte er einen Freund aus einer misslichen Lage und eine Liebe aus ihren Fesseln befreien. Neulich haben wir diesen Brief in einem Stapel alter Papiere gefunden, und er gestand reumütig: »Alles hat mit diesem Brief begonnen. Ich habe ihn im Gebirge in einem Zelt der Peshmerga geschrieben, weil ich glaubte, damit zwei Liebende zu retten.«

Daraufhin beschlossen Perwana und Fareydun wegzugehen. Dieses Mädchen, das nur noch wie ein Schatten durchs Haus lief, hatte ihren Koffer längst gepackt. Das Leben in diesen Wänden war ihr unerträglich. Selbst der Geruch der Mahlzeiten, die sie dem Vater und ihren Brüdern täglich auf der Essmatte am Boden servierte, war ihr verhasst. Seit einer Ewigkeit schon hatte sie sich nicht mehr dazugesetzt. In großem Abstand von uns verharrte sie in ihrer Ecke, weit weg auch von unserer Mutter, die wie eine Ausgestoßene in ihrem Winkel mit dem Essen um sich schmiss, hasserfüllt zu uns hersah und schrie.

»Dieses Mal gehe ich endgültig«, kündigte Perwana an.

Die Nacht war heller und ruhiger als die vergangenen Nächte. Das Haus und der Vorgarten schienen tief in Schlaf versunken. Außer dem Schnarchen der Brüder und des Vaters, das sich in kurzen Wellen in der stickigen Luft des Hauses ausbreitete, war nichts zu hören.

»Schmetterlinge haben keinen Ort«, sagte Perwana, während sie ihre letzten Sachen zusammensuchte. Wie eine Fremde streifte sie unbemerkt durchs Haus. Nicht einmal die Mutter erwachte. Perwana trat auf den Balkon und sah auf die schlafende Straße. Im Morgengrauen sollte Fareydun mit dem Auto eines Freundes auftauchen, um sie abzuholen und mit ihr ins Ungewisse zu ziehen.

Die Nacht war totenstill. Hin und wieder schrak die Umgebung zusammen, beim Vorbeifahren eines Militärfahrzeugs, dem Bellen eines streunenden Hundes oder dem Verglühen einer Sternschnuppe. Aber alles war in tiefen Schlaf versunken, die kleinen Dinge, der Himmel und sogar Gott. Für einen Augenblick wusste ich nicht, ob ich wachte oder schlief. Ich saß im dunklen Zimmer auf einem Stuhl und beobachtete Perwana draußen auf dem Balkon. Obwohl die Nacht lau war, verspürte ich eine tödliche Kälte. Etwas in meiner Seele flüsterte mir zu: »So glatt wird sie nicht davonkommen.« Am meisten Sorge machte mir, dass sie all die Gefahren nicht wahrnahm, die draußen lauerten. Immer wieder sah sie auf die Uhr, und ein bitteres und zugleich zauberhaftes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Ich bemerkte, dass auch sie fröstelte.

Ich war mir sicher, dass alles sich so fügen würde, dass sie losziehen konnte. Der Vater würde beide Augen zudrücken, die Sterne würden unverrückbar für sie strahlen, und der Garten würde sich schlafend stellen. Alles wollte Perwana freigeben wie einen Schmetterling, dessen Flug den Frieden des Universums nicht stört. Doch dann dachte ich: Ein Mensch ist kein Schmetterling! Das geht nicht. Das darf nicht sein! Und dann wurde die Stille des Universums, die Ruhe der Pflanzen und der sorglose Schlaf der Rosen im Garten furchterregend, weckten in mir eine unerklärliche Angst.

Hin und wieder betrat sie das Zimmer und umarmte mich sanft. Sie trug eine schwarze Bluse und einen aschgrauen Rock und hatte die Haare mit einem schmalen weißen Band zusammengebunden. »Er kommt bestimmt, es ist noch zu früh, nicht wahr? Versprich mir, artig zu sein! Versprich, dass du auf meine Briefe antwortest! Du musst mir alles über meine Freunde berichten! Versprich mir, mich nicht zu vergessen, wenn ich gestorben bin!«

Die Hoffnungslosigkeit stand mir wohl ins Gesicht geschrieben. Sie lächelte geheimnisvoll und sagte: »Khandan, vergiss mich nicht, vergiss Perwana nicht! Denk daran: Ich bin Perwana.« Diesen rätselhaften Satz habe ich von ihr immer wieder gehört. Auch im Augenblick ihres Todes sprach sie diese Worte, als ich mehr denn je fühlte, dass hier ein Mensch zu einem Schmetterling wurde.

»Worüber denkst du nach?«, fragte sie.

»Über die vielen Male, als wir in Eile gemeinsam einen Tee tranken und in die Schule hasteten. Wie wir Seite an Seite lebten. Über das Gelächter mit deinen Freundinnen in der Schule, über deinen Schatten in den Zimmern unseres Hauses«, antwortete ich schluchzend.

»Khandan, sei nicht kindisch!« Sie legte die Hände an den Kopf und lachte mich aus.

Der Morgen brach an, und plötzlich tauchte Fareydun am Rand des Marktplatzes auf. Als Perwana ihn mit der kleinen Tasche in der Hand sah, hätte sie vor lauter Aufregung beinahe vergessen, sich von mir zu verabschieden. Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie überglücklich war, darum ging es ja auch nicht. Es ging auch nicht um Freiheit, sondern darum, in einen Traum einzutauchen. Im Dämmerlicht wirkte Fareydun wie ein Fremder, ein Reisender. Ich trug Perwanas Koffer neben ihr her zur Tür. Es war verwunderlich, dass niemand aufwachte und sagte: Perwana, geh nicht fort!

Als sie mir vor dem Tor einen Abschiedskuss gab, brach ich in Tränen aus. Schließlich sagte sie: »Es muss so sein.« Mit ausgestrecktem Arm deutete sie auf unser Haus: »Das ist die Hölle.«

Sicher wollte sie noch mehr sagen, wollte noch mehr von dem, was sie erstickte, loswerden, aber die Zeit war um. Stumm ging sie, ohne ein weiteres Wort.

5

Die Städte in dieser Region sind wie belagerte Orte. Es ist nicht einfach, sie zu verlassen. Als ich am nächsten Abend Perwanas Brief erhielt, wusste ich, bevor ich ihn geöffnet hatte, dass sie noch in der Stadt war und den Belagerungsring nicht hatte durchbrechen können. Auf einen kleinen Zettel hatte sie geschrieben: »Schwesterchen, mach dir keine Sorgen, ich bin noch hier. Wir versuchen, in den nächsten Tagen herauszukommen.«

Schon in den frühen Morgenstunden hatte ich das Gefühl gehabt, sie sei noch da. Ich spürte sie unter den Blumen. Wenn ich mich vor das Fenster stellte und eine Brise aufkam, konnte ich sie in der Luft, im Himmel, in den Sonnenstrahlen sehen. Sie in meiner Nähe zu spüren, hat mir immer Kraft für mein eigenes Leben gegeben. Nach ihrem Tod lebte ich viele Monate lang gebrochen und gebeugt. Ich hatte keinen Antrieb mehr, Widerstand zu leisten. Wenn ich heute die Geschehnisse wieder aufleben lasse, dann, um Perwana zurückzuholen, um für mein Leben neue Kraft zu erhalten.

Zu Hause bemerkte zunächst niemand, dass sie fort war. Der Vater war wie immer im Bazar der Goldschmiede mit Armbändern, Ringen und anderem Frauenschmuck beschäftigt. Meine Brüder zogen sich am Morgen an und gingen. Erst als er am Abend zurückkehrte, fragte mein Vater: »Wo ist Perwana?«

»Ich habe sie nicht gesehen. Als ich am Morgen aufwachte, war sie nicht in ihrem Bett.«

Da begann der Vater zu weinen und schlug weinend auf die Türen, Fenster und die Einrichtung des Hauses ein. Meine Brüder zerrten mich an den Haaren in den Keller und fingen an, wie verrückt auf mich einzuprügeln. Noch Jahre danach klebte mein Blut an den Wänden, mit dem Abdruck meiner Hände, die Halt zu finden versuchten. Der Schwall von Blut aus meinem Mund ergoss sich zwischen die Kisten, über Vorratssäcke und altes Bettzeug, das unordentlich aufgestapelt dalag. Noch jetzt höre ich meine Schreie, wenn ich in den Keller gehe.

Der Vater klagte, während die Brüder auf mich einprügelten und schrien: »Wo ist sie hingegangen?«

In schwierigen Zeiten konnte Vater nichts anderes als weinen, sich auf den Kopf schlagen und alles zertrümmern, was ihm in die Hände fiel. Auch jetzt ging er mit seiner bunt verzierten Kappe im Kreis, schlug sich auf den Kopf und klagte. Es stachelte die Wut der Brüder an. Sie begannen, gegen Tisch und Stühle zu treten und mit Fäusten auf die Wände einzuschlagen. Nichts konnte den Vater beruhigen. Seine Wut und Verzweiflung ließ er vor allem an sich selbst aus. Manchmal ging er morgens in seinem gestreiften Pyjama und mit der Kappe auf dem Kopf auf den Vorhof und schlug mit seinen Fäusten auf Brust und Kopf ein. Ich hatte nicht das Gefühl, dass er auch nur einen von uns wirklich liebte. Mir blutete das Herz, wenn ich seine Einsamkeit sah. Sein Leben lang hatte er nie einen wahren Freund. Die Jacke hing ihm aus dem Stoffgürtel seiner kurdischen Tracht, wenn er auf dem Rückweg vom Bazar durch die Gassen ging, wo ihn keiner grüßte. Bis ihn meine Tante, seine Sufi-Schwester, die geheime Herrscherin über die gläubigen Frauen der Stadt, unter die Männer der Moschee schob. Von da an hatte er ein paar Freunde im verschwitzten Gewimmel der Moschee. Mit scheu gesenktem Kopf hörten sie einander zu und nickten zustimmend. Nachts stand er stundenlang in seinen Gummipantoffeln vor dem Tor – im Mondschein, im Regen, in den Stürmen – und unterhielt sich mit seinen unscheinbaren Freunden. Wenn er danach hereinkam, war er manchmal von Kopf bis Fuß durchnässt oder schlotterte vor Kälte, aber es war ihm gleichgültig.

Perwanas Verschwinden war nun die Schande, vor der er sich schon immer gefürchtet hatte. Eine Entehrung, die ihn in seine frühere Einsamkeit zurückzuwerfen drohte.

Jahrelang hatte niemand auf Perwanas Leben geachtet, jahrelang war sie ein stiller Schatten gewesen. Ihre einzigen Aufgaben hatten darin bestanden, die Wände, den Hof und die Teppiche sauber zu halten, die Maden zu entfernen, die unter Mutter hervorkrochen, die Essmatte herzurichten, an der sie selbst nie aß, und in den Zimmern Duft zu versprühen, den der Verwesungsgeruch der Mutter sogleich verschluckte. Niemand sah, dass Perwanas Leben zu Schmetterlingsstaub zerfiel. Jenem Staub, den ich seit Jahren wahrnahm: auf ihrem Bett, in ihren Fußspuren, auf den Blättern der Rosen, die sie goss. Aber ich verlor nie ein Wort darüber. Ich fragte nie: »Was ist mit diesem Schmetterlingsstaub, der dich umhüllt?« Und auch sie verlor niemals ein Wort darüber, aber sie wusste, dass er vom Zerfall ihres Lebens herrührte. Die verlorenen Lebensjahre wurden zu Staub. Deshalb suchte sie nach einer anderen Art Leben. Ihrem Traum folgend, wollte sie die eiserne Umklammerung der Stadt durchbrechen, die sie die Stadt des Blutvergießens, der Bigotterie und des Nebels nannte.

Am Abend der Entdeckung der Flucht von Perwana und Fareydun änderte sich mein Leben. Als meine Brüder frustriert von mir abließen, lag ich halb ohnmächtig im eigenen Blut, unter alten Bettgestellen und zerbrochenen Stühlen. In meinen Albträumen sah ich immer wieder Perwanas Bild, das auf unzähligen geschlossenen schwarzen Türen auftauchte und wieder verschwand. Ich sah sie auf einem blutigen Pferd, das durch einen eisernen Himmel flog. Sie tauchte schlafend in einem niedergebrannten Garten auf, aber Rauch und Flammen entrissen sie meinen Blicken. Wenn ich zu mir kam, wusste ich, dass diese Bilder meiner Angst entsprangen.

Um Mitternacht erfuhr ich, dass mein Vater seine fromme Schwester gebeten hatte, Perwana ausfindig zu machen. Er warf sich, die Hände flehend erhoben, vor ihrem Tor auf die Knie und beschwor sie: »Hilf mir, Schwester! Ob du bei Gott oder bei Satan Erbarmen suchst, hilf mir!«

Als meine Tante flüsternd antwortete, lag etwas Furchteinflößendes in ihrer Stimme: »Ich wusste schon immer, dass eines Nachts der Satan in deinem Haus losschlagen würde. Ich wusste, dass alles entgleisen und dass deine Tochter uns in die Hölle stürzen würde.«

Noch in derselben Nacht versammelten sich die Tamburin-Frauen, die meine Tante auch in den dunkelsten und gefährlichsten Nächten zusammenrufen konnte. Der Schwarm stummer, schwarz verhüllter Gestalten konnte leise aus der Nacht auftauchen, durch die Gassen der Stadt schweben, an eine Tür nach der anderen klopfen und sich, ausgerüstet mit großen Trommeln, versammeln. Es waren hochgewachsene, dunkelhäutige Frauen, aber auch kleine und kranke, schwache und blasse, füllige mit herabhängendem Fleisch. Sie alle stiegen hinunter in unseren Keller und bildeten einen Kreis um mich. Noch nie hatte ich solches gesehen oder erlebt. Ihre Gesichter schienen verzerrt und in die Länge gezogen, die Stimmen leise und fern, die Farben bleich, aschgrau.

Zuerst beteten sie und rezitierten verschiedene Suren, dann sah ich meine große Tante mit ihrem lockigen schwarzen Haar und dem kühlen, scharfen Blick auf mich zukommen. »Wo ist Perwana? Wohin ist sie gegangen? Wo ist diese sündige Satansbraut?«, fragte sie drohend.