Die Himmelfahrt des Lojzek aus Schlesisch Ostrau - Ota Filip - E-Book

Die Himmelfahrt des Lojzek aus Schlesisch Ostrau E-Book

Ota Filip

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Beschreibung

Ota Filips dritter Roman schildert ungemein farbig Siege und Niederlagen der Fußball- und Eishockeymannschaft des F. C. Schlesisch Ostrau, die im Wandel der Zeiten zwischen 1928 und 1945 mit sich ändernden Mannschaften zum Spiegel einer bewegten Epoche wird. Zwar ist der Fußball auch in Ostrau rund wie anderswo, er scheint aber mit den verschiedensten ihm wesensfremden Interessensphären zu kollidieren. Auf eine grotesk-komische Weise, die ihre eigene verblüffende Logik hat, verquickt er sich mit Geschäft, Politik und privaten Rankünen, wobei die Ehemaligen, Ausrangierten eigene Spielzüge von gefährlicher Wirkung inszenieren. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 542

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Ota Filip

Die Himmelfahrt des Lojzek aus Schlesisch Ostrau

Roman

Aus dem Tschechischen von Josefine Spitzer

FISCHER E-Books

Inhalt

Personenverzeichnis1234567891011121314151617181920212223242526272829

Personenverzeichnis

Ludva Kocifaj: Torwart; Schauspieler in der religiösen Gruppe seines Vaters; später Plakatkleber

Emerich Cach: Verteidiger; Metzger

Václav Jurzena: 2. Verteidiger; Plakatkleber; Jurastudent; später Ankläger

Karel Pastrňák: Läufer; Sodawasser-Erzeugung; später Speditionsunternehmen; Dispatcher des Staatlichen Transportunternehmens

Herbert Gozco: Mittelläufer; Hauer auf der Dreifaltigkeit

David Wiesenthal: Läufer; Inhaber der Branntweinschenke »Zur Eiche«

Jan Krajiczek: Stürmer; gilt als Intellektueller

Vlasta Plevka: Stürmer; Hauer

Karel Hyneš: Mittelstürmer; Langstreckenläufer; Geldfälscher; Funktionär des Städtischen Nationalausschusses; Gründer der Gesellschaft »Obroda«

Hubert Mušial: Innenstürmer; Erfinder; Leiter des Spiritistenzirkels »Die Jünger«

Áda Lakubec: Stürmer; Linksaußen; »der blonde Blitz«

 

Jaroslav Lapáček: Bäcker; Geschäftsführer des F.C. Schlesisch Ostrau; Soldat; ungesichert, ob Vater von Lojzek

Lojzek Lapáček: »Leichtsinniges Individuum«; zugleich Erzähler

Anna von Zabalski: Großmutter von Lojzek; Witwe des Rittmeisters Georg von Zabalski

Anna Lapáček, geb. Zabalski: Mutter von Lojzek, die einmal bessere Zeiten gekannt hatte

 

Řehoř Kocifaj: Schneider; Ludvas Vater; Gründer der Sekte vom »Heiligen Kreuz«

Hermína Nosálová: Spiritistin und Kartenlegerin aus Radvanice

Emil Votoček: Magister; Apotheker; Schwarzhandel mit Alkohol

Frau Rosa Preis: Witwe des Nathan Preis

Erich Preis: ihr Sohn; Mitschüler und Nachbar von Lojzek

Heinz Hupka: Mitschüler von Lojzek; der mit dem wunden Fuß

Adalbert Kudlatschek, genannt Vojta: Freund und Mitschüler von Lojzek

Anka Kocifaj: Schwester von Ludva; spielt ebenfalls Theater

Karel Motl: späterer Verteidiger beim F.C.; einarmig

Kurt Wagner: Gruppenführer bei der HJ

Wenzel (Václav) Deutscher: Lehrer; früher beim S.C. Mährisch Ostrau

Eva Schubert: Mitschülerin von Lojzek

Josef Tenkler: Lehrer; Klavierspieler; Leiter der Schrammelkapelle

Graf Arpád Medessy: wahrscheinlich Vater von Lojzek; Mittelstürmer der Eishockey-Mannschaft H.C. Budapest

Dr. Henryk Staniolowský: Vorsitzender des F.C. Schlesisch Ostrau

Jakob Hiršl: Lebensmittelerzeugung und Versandfirma

Richard Ryšánek: später Läufer beim F.C.; Profiboxer »Rick Ricky«; Europameister im Halbschwergewicht

Joža Chryzcke: Torwart beim F.C. 1940; Schwarzhändler

Arnošt Kremla: Veranstalter von Boxkämpfen

Hebrle: Polizeiinspektor; später Oberwachtmeister des Korps der Nationalen Sicherheit

Friedrich Tietze: Juwelier

Josef Burian: Tietzes Gehilfe

Dr. Arnošt Wurzel: Gerichtsrat

Freddy Bogner: Kaufhausinhaber

Isaak Nesselroth: Seiden- und Stoffgeschäft

Josef Humpálek: Aktionär des Kaufhauses ASO

Dr. Málek: Steuerberater; Kassierer beim F.C. Schlesisch Ostrau

Jerzy Nowakovský: Abgeordneter der polnischen Minderheit

Hans König: armamputierter, einäugiger Mediziner und Bataillonsarzt

 

 

 

1

Ich kam am ersten Sonntag im September des Jahres 1928 zur Welt, gerade in dem Augenblick, als unten auf dem Fußballplatz im Entscheidungsspiel um den Aufstieg in die erste B-Klasse ein Strafstoß ausgeführt wurde. Der F.C. Schlesisch Ostrau hatte damals auf seinem Platz den S.C. Mährisch Ostrau zu Gast.

Zu diesem wichtigen Match trat der F.C. Schlesisch Ostrau in folgender Aufstellung an: Im Tor stand selbstverständlich Ludva Kocifaj in seinem violetten Sweater. Doch Ludva war nicht in Form, denn er hatte am Vormittag, vor dem Spiel, mit seinem Vater, dem Schneider Řehoř Kocifaj, Streit gehabt, der Ludva nicht an dem Match teilnehmen lassen wollte, denn er, der sich hauptsächlich seiner Sekte vom »Heiligen Kreuz« und den regelmäßigen sonntäglichen Theateraufführungen widmete, hatte für diesen Sonntagnachmittag die Aufführung einer großen Tragödie im Hof geplant; er hatte sie selbst verfaßt und ihr den Titel »Der Weg des Kreuzes« gegeben. Er hatte Ludva die Hauptrolle zugedacht; denn der Torwart des F.C. Schlesisch Ostrau war ein ausgesprochener Märtyrertyp. Řehoř Kocifaj sollte den Judas darstellen, seine Tochter, die zweijährige Anka, ein sündenloses Englein. Mehr Rollen gab es in diesem Stück nicht. Ich will nicht behaupten, der Schneider Kocifaj sei nicht fähig gewesen, ein Stück mit größerer Besetzung zu schreiben. In der Tat lehnte er aber jedes Angebot zur Erweiterung der Schauspielerbesetzung ab.

Ludva Kocifaj war nach dem Mittagessen von daheim verduftet, hatte sich hinter den Waschkörben in der Fußballer-Garderobe versteckt; mein Vater ließ den Schneider Kocifaj nicht in die Garderobe hinein, und so schrie und drohte der Schneider bis zum Spielbeginn, er werde die ganze Tribüne anzünden. Als dann Ludva Kocifaj in seinem violetten Sweater auf dem Platz antrat, mußten fünf Ordner den alten Kocifaj zurückhalten, damit er sich nicht auf seinen Sohn stürzte. Die Verzweiflung des Schneidermeisters war durchaus begreiflich. In diesem Augenblick, da Ludva den Platz betreten hatte, war es bereits absolut klar, daß die Nachmittagsvorstellung für ein paar alte Weiber aus der Siedlung ins Wasser fiel. Kocifaj tobte, schimpfte und fluchte ganz unchristlich, sein Gesicht lief dunkelrot an, so daß man seine Farbe ganz gut mit der des violetten Torwarttrikots vom hiesigen F.C. hätte vergleichen können. Řehoř Kocifaj resignierte erst, als der Schiedsrichter dieses Entscheidungsspiel anpfiff.

In der Verteidigung spielte der Metzgergeselle Emerich Cach. Sein Spiel war stets bedächtig und fußballerisch einwandfrei. Wenn er jemandem einen Tritt versetzte, dann war der Getroffene krankenhausreif. Damit will ich freilich nicht behaupten, daß Emerich Cach ein Rowdy war. Im Gegenteil. Schon auf den ersten Blick verriet seine ganze Persönlichkeit eine friedliche Unsicherheit. Anders läßt sich das nicht ausdrücken. Cach war in seinen Bewegungen und im Denken langsam, wenn man ihm aber im richtigen Augenblick zuflüsterte, was er tun sollte, tat er es sofort, indem er seiner Tat den Stempel gründlicher Vollkommenheit aufdrückte.

Václav Jurzena, der zweite Verteidiger, war wiederum ein ganz anderer Typ; ein unbotmäßiger und zorniger Plakatkleber. Nur zu oft ließ er sich zu einem unsauberen Spiel hinreißen und beging seine Fouls mit großem Vergnügen. Es ist also verständlich, daß Jurzena bei den Begegnungen auf dem eigenen Platz zu den Publikumslieblingen gehörte, zugleich aber der Schrecken aller Schiedsrichter und auf den gegnerischen Plätzen der Blitzableiter war, an dem sich aller aufgestauter Groll der lokalen Fußballfans entlud. Der Unterschied zwischen Cach und Jurzena bestand darin, daß Cach Fouls nur auf Anweisung von außen her ausführte, Jurzena aber sich derlei bei jeder Gelegenheit leistete.

Die stärkste Spielerreihe des F.C. Schlesisch Ostrau in diesem Existenzkampf waren die Läufer.

Karel Pastrňák, ein Mann mit dem Horizont und der Moral eines Gewerbetreibenden, der gerade seine Sodawasser-Erzeugung aufgemacht hatte, spielte im Leben wie auf dem Fußballplatz stets so, als ginge es um die nackte Existenz. Er tat immer das Nötige, doch er verstand es, alles so schlau einzufädeln, daß dabei seine Person und seine Fähigkeiten, von denen er eine hohe Meinung hatte, in den Vordergrund traten.

Der Mittelläufer, Herbert Gozco, Hauer auf der Dreifaltigkeit, war sehr schwach. Er raste über das ganze Spielfeld, kein Ball ging bei ihm verloren, aber in den kritischen Augenblicken, wenn es um die Entscheidung ging, klappte Herbert nervlich zusammen und verwandelte sich in einen verzweifelten Halbverrückten, der gerne alle Verantwortung für das Ergebnis allein auf sich genommen hätte. Das Schlimmste aber war, daß diese wütende Aktivität bei ihm mit Momenten totaler Depression rasch abwechselte, und dabei war er sogar imstande, sich zu Fouls zu bekennen, die er gar nicht begangen hatte. Herbert Gozco war von besessener Redlichkeit, ein Mann jenes Schlages, der seine menschliche Unzulänglichkeit durch übersteigerte Gewissenhaftigkeit zu kompensieren suchte.

Der dritte Läufer war David Wiesenthal, der jüdische Inhaber der Branntweinschenke »Zur Eiche«, in der der Ausschuß des F. C. Schlesisch Ostrau seine Sitzungen abhielt.

David war ein Player, wie man sich einen richtigen Fußballspieler vorstellt. Ich würde sagen, daß er als Fußballer seiner Zeit um gute dreißig Jahre voraus war. Ich habe mir dieses Urteil aus den Legenden gebildet, die noch heute über Wiesenthal kursieren. David war schnell, hart, schoß links und rechts, er konnte Bombenschüsse abgeben, die Verteidigung unterstützen, Steilpässe waren seine Spezialität, er vermochte das Spiel in die Breite zu ziehen oder wiederum rasch anzugreifen und Torchancen für die Stürmer herauszuholen. Als Schankwirt »Zur Eiche« taugte David Wiesenthal nicht viel, er hielt sich in seinem Geschäft gerade über Wasser, er schenkte auf Ankreiden aus und verlieh Geld ohne Zinsen; ich nehme an, die gewerbliche Existenz bot Wiesenthal sozusagen nur den für ihn notwendigen stillen Winkel, in dem er seine Kräfte für die Spiele am Sonntag sammeln konnte.

Der Sturm spielte in folgender Aufstellung: Jan Krajiczek, Vlasta Plevka, Karel Hyneš, Hubert Mušial und Áda Lakubec.

Jan Krajiczek galt in der Mannschaft als der Typ eines Intellektuellen. Tatsächlich war Krajiczek ein Mann, der an zahlreichen Komplexen litt, von denen der wichtigste und gravierendste darin bestand, daß er nicht wußte, welcher Nationalität er angehörte. Es gab Tage, an denen sich Krajiczek stolz zur polnischen Nationalität bekannte, aber in Depressionsphasen gestand er reumütig, er fühle sich eigentlich von seiner Mutter her als Deutscher. Zu jedem Übertrittstermin hefteten sich die Abwerber des polnischen F.C. Karvin an seine Fersen, steckten Jan die Übertrittserklärung zu und appellierten unter Berufung auf seinen polnischen Vater an seinen polnischen Nationalstolz. An diesen Tagen aber besuchten Krajiczek auch die Funktionäre des deutschen S.C. Mährisch Ostrau und bedrängten ihn, sich doch auf seine deutsche Mutter zu besinnen, dem Ruf seines Blutes zu folgen und die Übertrittserklärung zu ihrem Verein zu unterschreiben. Mein Vater Jaroslav Lapáček, der Geschäftsführer des F.C. Schlesisch Ostrau, hatte aber bereits seine Vorkehrungen getroffen; er hatte Krajiczek ein paar Hunderter zugesteckt und sein Zugehörigkeitsgefühl zu den gelben Farben unseres Clubs auf diese Weise gestärkt. So konnte dann Jan Krajiczek weder den Polen noch den Deutschen die Übertrittserklärung unterschreiben und litt dann gewöhnlich eine Zeitlang unter dem quälenden Gefühl, daß er sich habe kaufen lassen. Daher ist es verständlich, daß Krajiczek ein nervöser, launenhafter Spieler war, daß es eine Ewigkeit dauerte, bis er sich richtig eingespielt hatte; aber wenn ihm dies einmal auf dem Spielfeld gelungen war, hatten alle Torhüter einen heillosen Respekt vor ihm.

Vlasta Plevka war ebenfalls Hauer auf der Dreifaltigkeit. Er und Gozco bildeten ein unzertrennliches Paar. Ihr Zusammenspiel auf dem Platz zu beobachten, war ein Genuß für jeden Fachmann, aber leider war Vlasta auch ein Weichling. Wenn Gozco seinen schwachen Moment hatte und zu spinnen begann, wurde auch Vlasta nervös, die Mitte des Spielfeldes wies gähnende Leere auf, der Gegner beherrschte das Feld rings um die Mittellinie, und dort nimmt immer, wie alle Experten wissen, das Unheil für den Torwart seinen Anfang.

Ein weiterer Fehler Vlasta Plevkas war dessen Furcht vor dem direkten Zweikampf. Wenn der Gegner ihn scharf anging, wich Vlasta bis zur Flanke aus, schnitt dadurch Gozco, der sich hinter Vlasta zurückziehen mußte, vollkommen ab, und das Ergebnis war das gleiche: Die Mitte des Spielfeldes beherrschte der Gegner. Sonst war Vlasta Plevka ein ziemlich rechtschaffener Bursche. Er war als erster auf dem Platz, half meinem Vater beim Befestigen der Netze an den Toren und beim Nachkalken der Linien. Wenn er für ein gewonnenes Spiel zwanzig Kronen bekam, faltete er die Banknote sorgfältig zusammen und steckte sie ein, bedankte sich mit artiger Verbeugung, wartete auf Gozco und ging dann gemeinsam mit ihm heim.

Karel Hyneš, der Mittelstürmer, spielte in der Mannschaft den großen Herrn.

Mein Vater hatte Hyneš irgendwo in Brünn eingekauft, wo er in der Division gespielt hatte; aber da er nun schon auf die Dreißig zuging, begann sein Nimbus langsam zu verblassen. Für den F.C. Schlesisch Ostrau aber war er immer noch eine Stütze, auch wenn er manchmal ganz deutlich herumtrödelte und auf das Zuspielen des Balls wartete, um ihn abfeuern zu können. Wenn er nicht seinen idealen Flankenball bekam, machte er innerhalb von fünf Minuten die ganze Mannschaft durch seine Reden sauer. Hyneš wurmte es, daß er es im Sport zu nichts gebracht hatte. Als Nachwuchsspieler hatte man ihm eine große Fußballkarriere prophezeit. Dann hatte er im Divisionsclub gespielt und auf seine große Chance gewartet, die sich aber nie einstellen wollte. Er war ein routinierter Fußballprofi; doch konnte jedermann sehen, wie er Vlasta Plevka auf dem Spielfeld ausnützte, der sich zusammen mit dem Halbstürmer Hubert Mušial für Hyneš zerfranste.

Hubert Mušial war der Typ eines mitdenkenden Spielers. Er tat auf dem Platz keinen überflüssigen Schritt, war aber stets da, wo sich gerade der Ball befand. Er verteilte die Bälle geradezu ideal, nur dann, wenn Hyneš zu trödeln begann, wurde Mušial nervös, seine Präzision ließ nach, er schnitt Áda Lakubecs linken Flügel ab, und das Spiel zerflatterte. Wenn Mušial nicht die Katastrophe mit seinem unversenkbaren Tauchboot widerfahren wäre, hätte er bestimmt nicht ein so unrühmliches Ende gefunden.

Áda Lakubec spielte am Flügel. Es hieß von ihm, er sei der beste Linksaußen gewesen, der jemals in den Farben des F.C. Schlesisch Ostrau angetreten war. Áda Lakubecs ganzes Leben war damals von einem zweifachen Glauben ausgefüllt: Er glaubte, daß der F.C. bald in die Division aufsteigen würde und ihm, Áda, konnte ferner niemand ausreden, daß die beste Gesellschaftsordnung in der Sowjetunion verwirklicht sei. Für diese Überzeugungen war Áda Lakubec alles zu tun bereit. Auf dem Fußballplatz kämpfte er um den Aufstieg in die höhere Klasse, in der kommunistischen Jugendorganisation für eine bessere Gesellschaftsordnung. Es stimmt, Áda war etwas jähzornig. Ich habe seinen Jähzorn am eigenen Leibe verspürt, als er mir am 14. März 1939 in dem Augenblick eine Ohrfeige verpaßte, während ich mir gerade eine Kremrolle, die ich von einem deutschen Soldaten geschenkt bekommen hatte, in den Mund stopfte.

Áda Lakubec führte in der Mannschaft das große Wort. Alle respektierten ihn als Autorität, auch wenn dies allen in bestimmten Situationen ziemlich unbequem, ja zuweilen sogar unerträglich lästig war. So, wenn zum Beispiel Áda nach einem verlorenen Spiel theoretisch und praktisch völlig überzeugend nachwies, aus welchem Grunde man es verloren hatte. Bei seiner Argumentation lief es stets darauf hinaus, daß er selbst aus dem Debakel auf dem Fußballplatz mit reinem Schild hervorging, wogegen die anderen den ihren befleckt hatten.

Doch niemand wagte es, Áda einen Vorwurf zu machen, Vorwürfe durfte allein Áda machen. Wahr ist jedoch, daß Lakubec während der ganzen neunzig Minuten wie ein Motor auf vollen Touren lief, er spielte noch, wenn die anderen bereits längst resignierten. Aber in seinem Spiel machte sich stets eine gewisse Verzweiflung bemerkbar.

Ich glaube, Áda spielte nicht aus Freude am Spiel, sondern um des Sieges willen. Zu gewinnen und zu triumphieren, darin sah Áda den Sinn des Spiels. Verlieren konnte er nicht. Aber selbst wenn ein Spiel verloren wurde, war er imstande, noch aus der schlimmsten Niederlage einen theoretischen Sieg, selbstverständlich nur für sich, herauszuschlagen.

Schade, daß ich das berühmte Match am ersten Sonntag im September des Jahres 1928 noch nicht selbst sehen konnte. Aber später habe ich von dieser Begegnung und allen, die daran teilnahmen, so viel erzählen gehört, daß ich wohl jede Minute des Spiels rekapitulieren könnte.

Ich kam in der sechzigsten Minute dieses grandiosen Matchs zur Welt, als nach einer herrlichen Flanke Hubert Mušials Áda Lakubec das Führungstor schoß. Es stand 3:2 für den F.C. Schlesisch Ostrau. Eintausendneunhundertdreizehn zahlende Zuschauer, darunter mein Vater als nichtzahlender Zuschauer, denn er war ja der Geschäftsführer des Clubs und hatte das Privileg, seine Brezeln in den Halbzeiten verkaufen zu dürfen, brüllten: Tor!

Das erste, was ich vermutlich vernahm, als ich mich auf die Welt herausschälte, war das Gebrüll vom Platz unter unseren Fenstern.

Es war ein warmer Sonntag, die Fenster unserer Wohnung standen weit offen, und sowie unten das Gebrüll der eintausendneunhundertdreizehn Zuschauer verstummte, begann ich zu schreien.

Mein Vater stand in diesem Augenblick beim Südtor, das Ludva Kocifaj verteidigte. Der Vater hörte mein Schreien und konnte sich wohl gleich denken, daß er einen Sprößling bekommen hatte. Er konnte jedoch seinen Standort hinter dem Tor des F.C. nicht verlassen, denn er mußte den Verteidiger Emerich Cach im Auge behalten, der, weil von etwas langsamer Denkart, von Zeit zu Zeit einen Rat nötig hatte. Wahrscheinlich trieb es meinen Vater in die Wohnung hinauf, um nachzusehen, was ihm da eigentlich geboren worden war, aber gerade, als er daran dachte, wenigstens auf einen Sprung sich davonzumachen, wälzte sich ein hervorragender Angriff des deutschen S.C. Mährisch Ostrau gegen das Tor unseres F.C. Der Vater ließ Cach nicht aus den Augen und hielt sich bereit, den Metzger zu beraten. In einer so kritischen Situation war nicht mehr daran zu denken, vom Platz wegzugehen und den langsamen Cach sich selbst zu überlassen.

Der rechte Innenstürmer des S.C. Mährisch Ostrau, Václav Deutscher, drang mit einem unaufhaltsamen Dribbling durch die Mitte des Spielfeldes, wo Karel Hyneš wieder einmal herumtrödelte, spielte den Ball seinem Verbindungsmann zu, bekam ihn wieder, und da war Václav Deutscher – damals nannte er sich noch Václav, später nur noch Wenzel – auch schon vor dem Tor des F.C. Schlesisch Ostrau, und im Wege stand ihm lediglich der unentschlossene, langsam denkende Emerich Cach. Emerich sah sich verzweifelt nach dem eigenen Tor um, hinter dem mein Vater stand, und in seinen Augen stand die Frage: ›Was soll ich jetzt tun, Herr Geschäftsführer?‹

Mein Vater trat hinter dem Tor von einem Fuß auf den anderen, der Korb mit den Brezeln stand zu seinen Füßen, in seinem Rücken vernahm er mein Schreien, denn eintausendneunhundertdreizehn zahlende Zuschauer erstarrten und hielten den Atem an. Vor sich sah der Vater den verzweifelten Emerich Cach mit seiner Frage in den Augen und sah auch, wie Václav Deutscher sich bereit machte, das Leder in das Tor des F.C. hineinzupfeffern, in dem Ludva Kocifaj stand; und Ludva war nicht in Form.

Jedermann wird begreifen, daß sich mein Vater in einem solchen Augenblick unmöglich vom Tor wegstehlen konnte.

»Jesus Maria«, hauchte mein Vater, »Jesus Maria!«

Dann aber raffte er sich doch auf und rief: »Emerich, leg diesen Intelligenzler um, leg ihn um!«

Den Deutscher nannte mein Vater nur »Intelligenzler«, denn Deutscher studierte zu dieser Zeit bereits an der deutschen Lehrerbildungsanstalt und widmete sich auch dem Operngesang auf einer Laienbühne.

»Aus dem wird nie ein Fußballer werden«, pflegte angeblich mein Vater zu sagen, »diese Intelligenzler sind als Fußballer überhaupt nichts wert.«

Emerich Cach, Metzger und Verteidiger, von schwerfälliger Denkart, handelte augenblicklich, aber dennoch zu spät. Deutscher wurde zwar von ihm niedergestoßen, aber bereits hinter der Strafraumgrenze und noch dazu in einer ausgesprochenen Torschußposition, so daß der Schiedsrichter gar nicht anders konnte, als gegen die Platzherren einen Elfmeter zu verhängen, auch wenn er zu dieser Entscheidung offensichtlich den letzten Rest seiner Standhaftigkeit mobilisieren mußte.

In einer solchen Situation konnte mein Vater unmöglich den Platz verlassen.

Ludva Kocifaj im Tor fühlte sich wahrscheinlich auch nicht sehr wohl. Offenbar begann er aufrichtig zu bedauern, jetzt nicht lieber in der Rolle eines Märtyrers auf der Bühne zu stehen.

Lieber Gott, betete er vermutlich, vergib mir meinen Ungehorsam gegen meinen Vater.

Lieber Gott, betete wohl mein Vater hinter dem Tor, wenn dieser Intelligenzler den Strafstoß in ein Tor verwandelt, wenn er ihn verwandelt, dann weiß ich nicht, was passiert … lieber soll es ein Mädchen sein, Allmächtiger, aber er soll ihn nicht verwandeln!

Deutscher legte sich den Ball auf der Markierung zurecht.

»Ludva«, flüsterte mein Vater dem Tormann zu, »gib auf die linke Ecke acht, die linke Ecke war schon immer deine schwache Seite, bestimmt weiß das dieser Intelligenzler … Jesus Maria, wenn das der Deutscher doch lieber nicht wüßte!«

Eintausendneunhundertdreizehn zahlende Zuschauer schwiegen betroffen. Die Vision eines Aufstiegs zerrann.

»Du hättest ihn dir, Emerich«, flüsterte mein Vater dem Verteidiger zu, »hart hernehmen sollen, damit er nicht mehr aufstehen konnte …«

»Dieser Bastard ist wie eine Katze, wie eine Katze, ich habe ihn mir hergenommen, ganz schön, einen anderen hätten die Sanitäter schon längst weggetragen, aber dieser Bastard wird einen Elfmeter schießen …«

»Mein Gott, lieber soll es ein Mädchen sein, nur soll er den Elfmeter nicht verwandeln«, hauchte mein Vater.

Angeblich schrie ich aus vollem Hals, aber niemand hörte mich.

»Lieber Gott«, flüsterte mein Vater, »sei wenigstens an dem Tag, an dem ich Vater geworden bin, gerecht zu mir. Ich kann doch unmöglich heute eine so große Enttäuschung erleben, soll es also ein Mädchen sein, nur soll er ihn nicht verwandeln!«

Die Sonne verbarg sich bereits hinter dem Rathausturm. Ludva Kocifaj entledigte sich seiner Mütze.

»Achtung auf die linke Ecke, Ludva«, flüsterte mein Vater. »Lieber Gott, ich ergebe mich in deinen Willen, wenn Kocifaj den Ball fängt, habe ich bestimmt einen Jungen, wenn er ihn durchläßt, ist es ein Mädchen … aber dieser Intelligenzler soll den Elfmeter nur nicht verwandeln, dann nehme ich auch ein Mädchen in Kauf.«

Václav Deutscher schoß einen scharfen Flachball ab.

Er ging knapp neben dem rechten Pfosten ins Aus.

Ludva Kocifaj lag beim linken Pfosten und begriff wahrscheinlich überhaupt nicht, was da geschehen war.

Meinem Vater begannen die Knie zu zittern.

»Jesus Maria, wetten, daß es Zwillinge sind«, hauchte er, »bestimmt habe ich Zwillinge.

2

Im Frühjahr des Jahres 1968 empfing unser Haus den tödlichen Stoß. Es empfing ihn und stürzte zusammen. Doch es hielt sich gut.

Erst als die an dem Riesenarm eines Krans befestigte Stahlkugel in seine Zimmerdecken einschlug, wurde es ächzend in die Knie gezwungen.

Den letzten Volltreffer bekam das Haus in den Fußboden unseres Kabinetts, das unser Untermieter, Herr Magister Emil Votoček bewohnt hatte. Der Fußboden des Kabinetts bog sich ganz deutlich durch, schnellte zurück, gab aber dann doch nach; die Mauern stürzten ein, dennoch blieb ein Rest der Zwischenwand stehen, die unsere Wohnung vom Korridor der Frau Rosa Preis getrennt hatte. Frau Preis war Jüdin und kochte daheim für private Mittagsgäste.

An dieser Wand war einst Frau Preis gestanden, gegen den rauhen Verputz gelehnt, als der Herr Magister Votoček einmal durchs Vorzimmer an ihr vorbeigegangen war. Die Jüdin hatte ihren Busen vorgestreckt, so daß der Herr Magister ihre Brustwarzen streifen mußte, denn der Vorraum war ziemlich schmal. Doch nicht einmal das hatte Herrn Votoček dazu bewegen können, ihr zu sagen, er habe sich alles endlich überlegt und wolle sich mit Frau Preis zusammentun, damit beide nicht so allein dahinleben müßten, er, ein alter Junggeselle, und sie, die Witwe von Nathan Preis, dem Alteisen- und Altpapierhändler, der aber auch Lumpen, Knochen und Leder annahm.

Die Decke unseres Kabinetts stürzte direkt in unseren früheren Bäckerladen hinunter. Von der Backstube meines Vaters im Hof war bereits keine Spur mehr zurückgeblieben. Die Planierraupe hatte sie eingeebnet und auch die Sodawasser-Erzeugung des Herrn Karel Pastrňák mitgenommen, des ehemaligen Läufers des F.C. Schlesisch Ostrau, der aber in seiner Branche nicht sehr erfolgreich gewesen war und später dann ein Speditionsunternehmen gegründet und meinen Vater ins Geschäft mit hineingenommen hatte.

Auch unseren Kaninchenstall hatte bereits irgend jemand zerlegt.

Vom Dach dieses Kaninchenstalls aus hatte ich immer als Geist meine Großmutter Zabalski erschreckt; in besseren Tagen nannte sie sich Anna von Zabalski, als sie noch die Gattin des Rittmeisters Georg von Zabalski gewesen war, der angeblich im Jahre 1911 in Krakau die Regimentskasse veruntreut hatte und zusammen mit der unter dem Namen »Rote Nina« bekannten Soubrette aus der Stadt verschwunden war.

Meine Großmutter war eine notorische Alkoholikerin. Allerdings trank sie nur Sherry, der ihrer Ansicht nach gar kein Alkohol war. Sobald sie aber zwei oder drei tüchtige Züge aus der Flasche getan hatte, begann sie mit dem Großvater Gespräche zu führen, zu weinen und zu jammern. In solchen Augenblicken stieg ich auf das Dach unseres Kaninchenstalls, von wo aus ich gut in ihr Kämmerchen hinter der Küche hineinblicken konnte, in das sie mein Vater einquartiert hatte, nachdem wir unser Kabinett an Herrn Votoček, den Magister in der Nebenstraße, vermietet hatten.

Ich freute mich, meine Großmutter klagen und weinen zu sehen.

›Das ist die Vergeltung dafür‹, sagte ich mir mit Genugtuung, ›daß du meinen Kopf immer mit deinem Knochenfinger so traktierst!‹

Die Großmutter unterrichtete mich in Deutsch, und immer, wenn ich die Konjugation der unregelmäßigen Verben nicht beherrschte, gab sie mir mit ihrem Zeigefinger eine Kopfnuß auf den Hinterkopf. Am Hinterkopf war ich sehr empfindlich, und sie, dieses Aas, wußte das ganz genau.

»Georg«, jammerte die Großmutter, »was hast du mir nur angetan, was hast du mir da angerichtet!«

›Recht hat er gehabt‹, sagte ich zu mir, ›sehr gut, daß der Großvater ihr das angetan hat!‹

Ich war von dem Wohlgefühl durchdrungen, daß jemand die Ungerechtigkeit, die meine Großmutter erst später an mir begehen sollte, schon im voraus bestraft hatte.

An der Stelle, an der sich mein Vater die Backstube eingerichtet hatte, waren nur die Bodenfliesen zurückgeblieben. Mein Vater hatte sich auf ihnen Rheuma und chronischen Schnupfen zugezogen; wo er stand und ging, mußte er niesen. Lange Jahre hindurch litt er an Schnupfen. Als unser Haus in die Knie ging, glaubte ich förmlich, meinen Vater niesen zu hören. Die Staubwolke, die sich aus unserem Haus herauswälzte, brachte mir sofort wieder den Duft der Backstube meines Vaters in Erinnerung.

Und gleich neben der Backstube schauten die Überreste verrosteter Rohre heraus. Hier hatte Herr Karel Pastrňák, Läufer des F.C. Schlesisch Ostrau, seine Sodawasser-Erzeugung betrieben. Kurz darauf, als Herr Pastrňák bankrott gemacht und der Exekutor ihm die ganze Einrichtung gepfändet hatte, übernahm Emerich Cach, Verteidiger beim F.C. Schlesisch Ostrau, seine Betriebsanlage und begann hier mit seiner Fleischverarbeitung, indem er Kessel aufstellte und eine Selchkammer einrichtete.

Aber das war bereits zu einer Zeit gewesen, als Herr Emerich Cach an Gewicht zugenommen hatte und für einen Aufstieg in die Division nicht mehr in Frage kam und mein Vater seinen Platz als Verteidiger des F.C. Schlesisch Ostrau mit dem einarmigen Karel Motl besetzte, den er in Friedek eingekauft hatte. Herr Cach war dem Sport gram geworden, kaufte sich einen Blechkessel und begann jeweils während der Halbzeit seine heißen Würstchen zu verkaufen; doch das Geschäft ging nicht sehr gut, und so ließ er es bald wieder sein. Herr Cach hat es meinem Vater nie verziehen, daß er ihn in der Verteidigung des berühmten F.C. durch einen einarmigen Krüppel ersetzte.

Gleich um die Ecke hatte sich die Apotheke befunden, die Herr Magister Votoček leitete. Aus einem Zimmer unserer Wohnung, wo es dem Vater wenigstens zum Teil gelungen war, die Wanzen zu vernichten, hatten wir ein Kabinett abtrennen lassen, das Herr Votoček mietete, um es näher in seine Apotheke zu haben. Sooft ich heute in den Zeitungen lese, daß sich irgendwo wieder einmal ein Regierungskabinett aufgelöst hat, taucht sogleich wieder die Erinnerung an Herrn Votočeks Wanzenburg in mir auf.

Herr Magister Votoček beschäftigte sich nebenbei auch mit der Herstellung von stimulierenden Liebeslikören, was ihm ein schönes Geld einbrachte. Außerdem veranstaltete er auch in seinem Kabinett Orgien. Zweimal mußte die Polizei, das heißt Herr Inspektor Hebrle, einschreiten; denn meine Großmutter hatte Herrn Votoček angezeigt, er bringe minderjährige Mädchen in seine Wohnung mit, mache sie mit seinen Tränklein berauscht und führe sich dann unsittlich auf. Nach zweimaligem Einschreiten des Herrn Inspektor Hebrle ging Herr Votoček in sich; er brachte nicht mehr junge Mädchen aus der Siedlung mit heim, sondern stellte sich auf Buben um.

Mit mir und Vojta, der eigentlich Adalbert Kudlatschek hieß, hat Herr Votoček keine Orgien veranstaltet. Zweimal versuchte er es zwar, aber als ich und Vojta gegen den Herrn Magister unsere Dolche zückten, wie wir sie zur Uniform des deutschen Jungvolks trugen, begnügte er sich damit, uns als Faschistenbälger zu beschimpfen. Aber dann später, als wir Jungens uns mit Anka Kocifaj verabredeten, mit ihr einmal einen richtigen Beischlaf auszuprobieren, stahlen wir dem Herrn Magister eine Flasche seines wunderwirkenden Liebeslikörs. Und er hat auch verläßlich gewirkt.

Neben Herrn Votoček hatte Frau Preis gewohnt. Nach dem tragischen Tod ihres Ehemannes Nathan Preis, der mit seinem Zweitonnen-Laster tödlich verunglückt war, hatte sich Frau Preis einen privaten Mittagstisch für solide Herren und Damen eingerichtet; doch richtige Damen kamen eigentlich nie zu ihr, denn von Frau Preis hieß es, sie sei eine schmuddelige Jüdin.

Frau Preis besaß einen Sohn, Erich, der genauso alt war wie ich.

Kaum daß ich sprechen gelernt hatte, schimpfte ich schon Erich einen Stinkjuden.

Nie schimpfte Erich zurück. Er ertrug die Beleidigungen mit geduldigem Lächeln; und wenn ich ihn mit besonderer Lautstärke beschimpfte, ging er zur Backstube meines Vater, von wo es immer wunderbar nach Brot, Vanille und Mandeln duftete, öffnete die Tür einen Spalt und sagte mit einem Flehen in der Stimme: »Herr Meister, Ihr Lojzek hat mich wieder einen Stinkjuden geheißen …«

Dann spendierte mein Vater dem Erich stets eine frische Semmel oder eine Brezel.

Nachher beachtete mich Erich nicht mehr, setzte sich auf die Treppe und verspeiste langsam den Leckerbissen, den er bekommen hatte.

Aus Beharrlichkeit beschimpfte ich ihn gewöhnlich noch eine Weile, doch konnte ich deutlich beobachten, wie alle meine Schmähungen an dem kleinen Juden abprallten; ich war für ihn nur noch Luft, ich interessierte ihn nicht mehr.

Er genoß ganz einfach seinen hart erkämpften Triumph.

Es war kein Geheimnis, daß es Herr Karel Pastrňák, Läufer und Sodawasser-Erzeuger, auf das Silber der Frau Preis abgesehen hatte.

Frau Preis hatte schon selbst dafür gesorgt, daß man von ihrem Silber in der ganzen Umgebung erzählte. Dann und wann servierte sie den Mittagsgästen ihren sagenhaften Pudding auf wunderschönen Silberschüsseln und prahlte, all das habe ihr der selige Nathan Preis, dieser rechtschaffene Jude, der für seine Familie immer gut gesorgt habe, hinterlassen. In den Jahren, als Frau Preis in unserem Haus für Mittagsgäste kochte, tuschelte man, ihr Silber sei ein Schatz von unvorstellbarem Wert.

An einem Wintermorgen des Jahres 1941 – es war vor Tagesanbruch und noch dunkel – stand Frau Preis mit ihrem Bündel und ihrem Sohn Erich im Hausflur; sie warteten gemeinsam auf Herrn Karel Pastrňák, jetzt bereits Spediteur, der sie mit dem Lastauto, das er vor Jahren von Frau Preis gekauft hatte und zu dessen Bezahlung er immer noch nicht gekommen war, zum Bahnhof bringen sollte. Im Winter 1941 war Herr Pastrňák zu der Überzeugung gelangt, solche alte Schulden zu bezahlen, sei überflüssig, zumal jetzt doch klar war, daß Frau Preis in dem Arbeitslager irgendwo im Osten kein Geld brauchen werde, da von nun an das Großdeutsche Reich für ihren und Erichs ganzen künftigen Unterhalt direkt aufkommen würde. Dennoch hatte sich Herr Karel Pastrňák, ehemaliger Läufer des F.C. Schlesisch Ostrau, verkrachter Sodawasser-Erzeuger und jetziger Spediteur, mutig dazu entschlossen, die Jüdin zum Bahnhof zu bringen, was er jedoch mit einem Wortschwall und einer Geste tat, die eindeutig zum Ausdruck brachte, daß er mit dieser wackeren und patriotischen Tat die ganze Angelegenheit mit dem Lastauto und der Schuld als erledigt betrachtete.

Frau Preis stand unten im Hausflur, meine Mutter fünf bis sechs Treppenstufen über ihr.

»Glauben Sie, Frau Lapáčková«, fragte Frau Preis, »daß man im Lager gute Köchinnen brauchen wird?«

Meine Mutter erwiderte, das sei doch selbstverständlich, wer würde denn sonst für die Leute, die arbeiten müßten und kräftige Kost benötigten, kochen?

Ich erinnere mich noch wie heute an Frau Preisens Augen. Sie waren ganz verschattet gewesen. Schatten stiegen ihr vom Fußboden her ins Gesicht und fielen ihr von den Wänden, von links und rechts, in die einzelnen Furchen; nur das Weiße ihrer wunderschönen Augen leuchtete hervor.

»Geben Sie auf mein Silber acht, Frau Lapáčková«, sagte Frau Preis, »geben Sie gut darauf acht, geben Sie nur gut acht!«

Meine Mutter erwiderte, das sei doch selbstverständlich, Frau Preis möge unbesorgt sein.

Erich hielt sich am Rockzipfel seiner Mutter fest und heulte leise vor sich hin.

Und wir warteten weiter auf Herrn Pastrňák.

 

Mein Mund brannte wie Feuer, meine Lippen waren ganz wund, und vorne fehlten mir zwei Zähne. Am Abend zuvor hatten wir mit einer Gruppe des Jungvolks »Bolschewiken« und »Deutsche Polizei« gespielt. Wie nicht anders zu erwarten war, hatten sie mich zu den »Bolschewiken« eingeteilt, und bei der abschließenden Rauferei auf dem Hühnerring hatte mir dann Kurt Wagner die beiden Vorderzähne eingeschlagen.

Den Einser oben hatte ich gleich auf dem Ring ausgespuckt, den Zweier mir dann daheim selbst herausgezogen. Die ganze Nacht hatte ich Blut gespuckt.

Am Morgen, als wir mit Frau Preis im Treppenhaus auf Herrn Pastrňák warteten, wurde ich mir dessen bewußt, daß es nicht so sehr die wunde Lippe war, die mich brannte, als vielmehr ein neuer Herd der Pein, ein Reißen, Zucken und Bohren, ein schwärender Schmerz. Und ich konnte auch nicht von Kurt Wagners Augen loskommen. Immer noch ruhte sein Blick mit kaltem, prüfendem Interesse auf mir, vor dem ich mich geduckt und zwei Hiebe direkt auf die Zähne kassiert hatte.

Jemand hatte geschrien: »Du tschechisches Schwein!«

Kaum hatte ich dieses Schimpfwort vernommen, wurde mir auch sofort klar, wem diese Faust, die mich traktierte, gehörte. Dann wurde auch der Arm sichtbar, ein schwarzer Arm in dunklem Tuch, ich erblickte auch den Kragen der Uniformbluse und darüber Kurt Wagners Gesicht.

Ich sagte zu ihm: ›Einmal werde ich dich dafür umbringen!‹

Aber höchstwahrscheinlich habe ich das nicht laut gesagt.

Ununterbrochen habe ich diesen Satz für mich wiederholt, ich bemühte mich sehr, mich gehörig in Rage hineinzusteigern, doch Kurt hielt mich mit seinen Augen unten, auf das Pflaster des Hühnerrings hingeduckt.

›Einmal werde ich dich umbringen‹, sagte ich zu mir – und das beruhigte mich.

 

Ich muß etwas über meine wunderbare Fähigkeit sagen. Ich kann fliegen. Wenn ich Lust dazu verspüre, schwebe ich über der Stadt empor, kreise um den Turm des neuen Rathauses, segle gegen den Wind, der aus den Beskiden kommt, oder hinab den Fluß entlang.

Sobald ich mich über unser Haus erhebe, sehe ich schon unter mir die weißen Linien des Fußballplatzes des F.C. Schlesisch Ostrau, auf dem zum Beispiel mein Vater gerade die Netze für das sonntägliche Match in die Tore spannt, ich sehe die Schrammen auf dem Pflaster und im Verputz der Häuser, besonders die Schrammen auf der Mauer des neuen Rathauses.

Wenn ich über der Stadt schwebe, fühle ich mich von einer ungewöhnlichen Kraft getragen, jegliche Schwere, alle Schmerzen und alles Brennen fallen von mir ab, ich sage, was mir beliebt, ich singe, ich brülle, von einem Gefühl berauscht, das sich nicht so recht beschreiben läßt, ich schreie meine Lästerungen, die mir dort unten das Leben kompliziert machen, aus mir heraus.

Meine Fähigkeit zu fliegen ist offenbar eine zusätzliche Begabung, mit der mich die Natur ausgestattet hat.

Als Medium war ich nämlich schon immer Klasse.

Bereits im zarten Alter hatte Frau Hermína Nosálová, eine Spiritistin aus Radvanice, meine außergewöhnlichen medialen Fähigkeiten erkannt. Lange Jahre hindurch benötigte ich Frau Nosálová dazu, mich in Trance zu versetzen. Aber im Laufe der Zeit hatte ich mich selbständig gemacht, und heute kann ich in Trance fallen, wann immer es mir beliebt.

Man sagt von mir, ich sei ein Lügner, das sei alles Erfindung, und was könne man auch anderes von einem notorischen Alkoholiker erwarten.

Es stimmt, ich bin auch Alkoholiker.

Aber daran ist mein Großvater schuld, der Rittmeister Georg von Zabalski vom 19. Dragoner-Regiment in Krakau. Meine Großmutter hatte das Gerücht verbreitet, mein Großvater sei auf tragische Weise ums Leben gekommen, was nicht der Wahrheit entsprach. Das fand ich sofort heraus, als ich meine medialen Fähigkeiten feststellte. Zusammen mit Frau Nosálová versuchten wir, den Großvater herbeizuzitieren, doch nie meldete sich der Herr Rittmeister; er befand sich nicht unter den Toten. Erst im Jahre 1960 zeigte sich mir mein Großvater zum ersten Male – so erkannte ich, daß er das Zeitliche gesegnet hatte – und sagte zu mir, er habe mir 8926 Dollar und 38 Cent vermacht.

Als mir die Dollar-Erbschaft in den Schoß fiel, begann ich zu trinken.

Und sobald ich mir einen antrinke, scheint es mir sogleich, daß ich rascher in Trance fallen und auch leichter fliegen kann.

In nüchternem Zustand dauert es etwa zwanzig Minuten, bis ich in Trance komme. Meine Methode, wie ich sie mir selbst entwickelt habe, ist ganz einfach: Ich muß mich hinlegen, die Arme ausbreiten, meinen Atem zügeln und dann wie ein Vogel, der sich erheben will, aber noch unschlüssig ist, die Arme bewegen. Nach einer Weile muß ich mich in die Unterlippe beißen, aber ganz gehörig, damit es wehtut. Sowie ich mich in die Lippe beiße, beginnt sie zu bluten; an den Lippen bin ich empfindlich. Ich muß also den mit Blut vermischten Speichel hinunterschlucken, dadurch wird mein Brennen angefacht, ich schüre mein inneres Feuer, das mir bis zum Herzen steigt. In dem Augenblick, in dem ich spüre, daß mich der Schmerz betäubt, muß ich meine Armbewegungen beschleunigen, aber ich muß sie rechtzeitig beschleunigen, solange ich noch nicht das Bewußtsein verloren habe. Das ist der kritische Punkt. Wenn ich meine Armbewegungen nicht rechtzeitig beschleunigte, würde mich der Schmerz überwältigen und mich an die Erde festschmieden. Wenn ich aber nicht fliegen, sondern in Trance bleiben und irgendeinen mir bekannten Verstorbenen zitieren will, dann beschleunige ich meine Armbewegungen nicht. In den letzten Jahren ist es mir bereits auf das perfekteste gelungen, den richtigen Augenblick wahrzunehmen, der darüber entscheidet, ob ich mich erheben werde oder liegenbleibe.

Die Bahn, die ich über der Stadt beschreibe, ist keine zufällige.

Sie ist eigentlich eine Acht. Die nördliche Schlinge ist etwas größer und gedehnter als die südliche, auf deren Bahn ich an Höhe gewinne oder sinke. Ich starte stets im Mittelpunkt der Acht, wo sich die Bahnen überschneiden, das ist direkt über unserem Haus. An Höhe gewinnen kann ich nur über dem Platz des F.C. Schlesisch Ostrau, wo genügend Raum ist. Nach anderen Richtungen hin gibt es für mich Hindernisse: den Rathausturm, das Hügelland Bazaly und die Häuser. Ich steige also zuerst über dem Fußballplatz auf, fliege dann über die Tribünen hinweg, da habe ich bereits die genügende Höhe und überblicke die ganze Siedlung Na Kamenci, die Straße Na zámošti, den Fluß Ostravice und die Dreifaltigkeitszeche, wo gleich nebenan Heinz Hupka, der mit dem wunden Fuß, gewohnt hat. Unmittelbar darauf aber biege ich in Richtung Hrušov ab, zu den Teichen hin, wo Hubert Mušial, ehemaliger Innenstürmer des F.C. Schlesisch Ostrau, Erfinder und später dann Leiter des Spiritistenzirkels »Die Jünger« von Radvanice, sein selbstgebasteltes Tauchboot gleich bei der ersten Erprobung versenkte. Dann nehme ich Kurs auf die Oder, überfliege genau die Stelle, wo ich Ende April 1945 das trübe Wasser durchwatet und auf dem anderen Ufer Kurt Wagner mit seiner großen Angst zurückgelassen hatte. Doch dann trete ich bereits den Rückflug zur Stadt an und fliege von hier aus noch über das Haus der Frau Hermína Nosálová, der Spiritistin aus Radvanice.

Schließlich verbleibt nur noch das Landungsmanöver; ich sinke zu unserem Haus hinab, fliege durchs Fenster nach innen, lasse mich aufs Bett fallen und kann schon ruhig schlafen. Bevor ich aber wirklich einschlafe, lausche ich noch auf den Glockenschlag der Turmuhr am neuen Rathaus. Nie weiß ich, welche Stunde es schlägt, aber die Glocken tönen sanft wie Himmelsgeläute; immer noch fühle ich mich leicht, doch schon spüre ich, wie die Schwere in meinen Körper eintritt.

Dann kommt mein Herrgott zu mir und sagt, ich möge doch schon endlich meinen Sinn den Dingen der Ewigkeit zuwenden. Und ich sage darauf, ich sei erfüllt von Liebe zu Ihm, sie breche sogar bisweilen durch das Loch unter dem Hals nach außen durch. Und der Herrgott lächelt und sagt, er habe so seine Absichten mit mir.

Die Glocken des Rathausturmes tönen noch.

Nun kann ich ruhig einschlafen.

 

Es war damals, in jener Winternacht, als mir mein Vater auf der Eisbahn einen Schlag mit dem schweren Ende des Gummischlauchs versetzte.

Er spritzte das Eis nach, und es herrschte Frostwetter.

Ich stand in dem gefrierenden Matsch, konnte mich nicht rühren und spürte, wie ich ins Eis festwuchs und in den Boden darunter, irgend etwas zog mich in die Erde hinein, als wollten sich zwei Feuer miteinander vereinigen: das meine mit dem da unten.

Ich ließ den Kopf zurücksinken, aber ich war mir nicht ganz sicher, ob ich die Sterne oder die Funken ausbrechender Explosionen sah. Bis heute weiß ich nicht, was ich gesehen habe. Doch ich erinnere mich, daß ich ein Zittern an den Fußsohlen verspürte, daß mich dieses aus der Mitte der Erde kommende leise Vibrieren hinunterzog.

Mein Vater schrie mir etwas zu.

Heute kann ich mir erklären, daß der Vater mir zuschrie, ich solle den Gummischlauch in die entgegengesetzte Ecke der Eisbahn hinüberziehen.

Ich hörte ihn aber nicht.

Dann folgte der Schlag mit dem Ende des Gummischlauchs.

Ich weiß auch nicht, wo mich der Schlag meines Vaters hingetroffen hatte. Erst am nächsten Morgen sah ich unter dem Hals, dort, wo der Brustkorb beginnt, von dem Schlag eine ins Violette spielende Spur. Mein Vater hatte ein Loch in mich hineingeschlagen.

 

Genau nach einem Monat, nachdem Herr Pastrňák Frau Preis zum Bahnhof gebracht hatte, zeigte sie sich mir.

Ihre Augen flackerten, und ihr Weißes schimmerte silbern. »Wo befindet sich Erich?« fragte ich sie.

»Mein Erichlein ist nicht hier«, erwiderte Frau Preis, »er ist noch nicht hier. Es hat überhaupt nicht wehgetan, Lojzek, nicht ein bißchen. Gebt nur gut auf mein Silber acht!«

»Wenn Erich ankommen sollte«, sagte ich, »dann richten Sie ihm aus, daß ich seinen gelben Stern aufbewahre.«

»Ich will nicht, daß er mir nachfolgt«, sagte Frau Preis, »das will ich nicht …«

Erichs gelben Stern hatte ich mir unters Kopfkissen gelegt. Ich hatte ihn mir von Erich zwei Tage vor seinem Abtransport ins Lager gegen einen Lebensmittelkarten-Abschnitt auf 200 Gramm Mehl eingetauscht. Wie oft habe ich mir diesen Stern an die Jacke geheftet und mir dabei vorgestellt, was wohl geschehen würde, wenn ich so mit dem gelben Stern der Kinder Israels unsere Schulklasse beträte und mich unserem Herrn Lehrer Wenzel Deutscher präsentierte, jenem, der sich früher Václav genannt hatte und im Entscheidungsspiel um den Aufstieg in die höhere Liga für den deutschen S.C. Mährisch Ostrau gegen F.C. Schlesisch Ostrau angetreten war, gerade an dem Tag, an dem ich zur Welt kam. Damals hatte Herr Deutscher den Strafstoß nicht in ein Tor verwandelt – und war damit für meinen Vater erledigt gewesen.

Später wollte der Ausschuß des F.C. Schlesisch Ostrau Deutscher für die Farben unseres F.C. einkaufen, doch mein Vater war dagegen; denn Deutscher war in seinen Augen ein Intelligenzler und Schwächling, der nicht imstande gewesen war, Ludva Kocifaj, den Torhüter des F.C. Schlesisch Ostrau, zu überspielen.

 

Von dem Zeitpunkt an, da der F.C. Schlesisch Ostrau in die höhere Klasse aufgestiegen war, begann man sich eifrig nach einer Verstärkung der Mannschaft umzusehen, und so kam auch die Rede auf Deutscher. Mein Vater war dagegen und sagte, Deutscher sei ein Schwächling mit einem labilen Nervensystem, was er durch die Tatsache bewiesen habe, daß er den Strafstoß in der entscheidenden Begegnung nicht in ein Tor verwandelt hatte, wo doch ganz deutlich zu sehen gewesen war, daß Ludva Kocifaj, der Torhüter unseres F.C., nicht in Form war, weil er mit seinem Vater, dem Schneider Řehoř Kocifaj, Großpriester der Sekte des »Heiligen Kreuzes«, Streit gehabt hatte, der Ludva nicht auf den Platz lassen wollte, weil ihm sonst in seiner biblischen Tragödie der wichtigste Schauspieler gefehlt hätte.

Der Ausschuß machte sich die Argumentation meines Vaters zu eigen, und so entging Václav Deutscher die Gelegenheit, in der höheren Klasse Tore zu schießen.

Im Jahre 1935 stieg der F.C. Schlesisch Ostrauin die Division auf und benötigte erneut Verstärkung, und wiederum kam der Vorschlag, Wenzel, jetzt bereits Wenzel Deutscher, einzukaufen. Die Argumente meines Vaters galten nicht mehr, und er wurde beauftragt, Deutscher aufzusuchen und bei ihm zu sondieren, welche Ansprüche wohl Wenzel für einen Übertritt stellte.

Zu jener Zeit begann Wenzel Deutscher bereits den Fußballsport zu vernachlässigen, denn er hatte sich entschlossen, sein weiteres Leben nicht mehr dem unnützen Jagen nach dem Leder, sondern sich der großen Sache des Führers des Deutschen Reiches, Adolf Hitler, zu widmen. Deutscher trat in die Sudetendeutsche Partei ein, schaffte sich kurze Hosen und weiße Strümpfe an, was Wenzel übrigens sehr gut stand, denn er hatte vom Fußballsport gut durchtrainierte Beine.

Herrn Wenzel Deutschers Entschluß, den Fußball sein zu lassen, war ein harter Schlag für den Ostrauer Fußballsport an beiden Ufern der Ostravice; denn in den letzten Jahren hatte sich Deutscher zu einem Spieler von hervorragender Qualität hinaufgearbeitet.

Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte Wenzel Deutscher im Jahre 1935 seine Pläne einer politischen Karriere noch zurückgestellt und die Übertrittserklärung zum F.C. Schlesisch Ostrau unterschrieben, doch das Problem bestand darin, daß der F.C. mit ihm als rechtem Innenstürmer rechnete, so daß der Arier Deutscher mit dem jüdischen Läufer David Wiesenthal, dem Inhaber der Branntweinschenke »Zur Eiche«, im Rücken und mit dem Bolschewiken Áda Lakubec am Flügel hätte zusammenspielen müssen.

»Das fehlte mir gerade noch«, erregte sich Wenzel Deutscher, als ihm mein Vater die taktischen Pläne unseres F.C. unterbreitete, »daß ich auf die Vorlage dieses Drecksjuden oder auf den Zuruf des Bolschewiken: ›Zuspielen!‹ warten müßte.«

Gegen dieses Argument war mein Vater mit dem Vorschlag herausgerückt, der Ausschuß des F.C. Schlesisch Ostrau sei bereit, Deutscher für den Übertritt fünf Tausender bar auf die Hand auszuzahlen. In diesem Moment war Deutscher sichtlich schwankend geworden, doch seine Nationalehre gestattete es Wenzel nicht mehr, das Angebot anzunehmen.

Mein Vater, als erfahrener Abwerber, hatte Wenzels Unschlüssigkeit genau durchschaut, den Ausschuß darüber informiert, und der Ausschuß hielt vorläufig die ganze Angelegenheit geheim, denn jedermann konnte sich leicht vorstellen, was Áda Lakubec wohl aufführen würde, wenn er Wind davon bekäme, was sich da zusammenbraute. Mein Vater hatte dann Deutscher noch ein halbes Jahr lang bearbeitet und langsam auch Áda Lakubec auf die unvermeidlichen Veränderungen in der Mannschaft vorbereitet, wobei es sich ja dann herausstellen würde, wer es mit dem Club aufrichtig gut meinte. Dem Wenzel lag mein Vater in den Ohren, beim Sport müßten Nationalität und Rassefragen zurückstehen, er, der Geschäftsführer des F. C. Schlesisch Ostrau müsse stets nur den Aspekt der zukünftigen Entwicklung im Auge behalten und ohne Rücksicht auf kleinliches Gezänk für eine Anhebung der Spielerstärke in der Mannschaft Sorge tragen.

»Es geht doch um die Entwicklung des Sports in unserer Stadt«, hatte mein Vater gesagt, daher müßten Nationalität, Rasse, Religion und politische Überzeugung zurückstehen.

Doch Herr Deutscher blieb hartnäckig dabei, er wolle keinesfalls mit einem Juden und einem Bolschewiken in einer Mannschaft zusammenspielen.

Im geeigneten Augenblick erhöhte mein Vater das Angebot des F.C. Schlesisch Ostrau auf sechstausend Kronen. Deutscher blieb aber diesmal unerschütterlich. Der Vater ging auf siebentausend hinauf, doch Deutscher reagierte nicht, er biß nicht an.

Von diesem Moment an wurde die Frage von Deutschers Übertritt zu unserem F.C. für meinen Vater zur persönlichen Prestigefrage.

»Herr Deutscher«, sagte mein Vater, »ich überschreite die mir vom Ausschuß übertragenen Befugnisse … ich biete Ihnen für Ihre Unterschrift achttausend!«

Ein solches Angebot brachte Deutscher aus der Fassung. Ganz deutlich gaben seine starken Knie nach.

»Also acht Scheine«, flüsterte er.

»Acht Scheine auf die Hand, Herr Deutscher«, bestätigte ihm mein Vater.

»Das ist ganz schön viel Kies, Herr Geschäftsführer«, meinte Deutscher.

Alles wäre jetzt in schönster Ordnung gewesen, hätte der Ausschuß zu den acht Tausendern seine Zustimmung gegeben. Aber der Ausschuß sagte sechs und nicht eine Krone mehr. Die Verhandlungen gerieten ins Stocken, inzwischen hatte Wenzel Deutscher sein Definitivum als Lehrer an der deutschen Volksschule erhalten und war zu irgendeinem Funktionär der Henlein-Partei gewählt worden, so daß er schließlich, als der Vater den Ausschuß endlich überredet hatte und für Deutscher achttausend Kronen bewilligt bekam, bereits finanziell gesichert war und sich die grundsätzliche Erklärung gestatten konnte, er werde mit einem Juden und einem Bolschewiken nicht in einer Mannschaft zusammenspielen.

Deutscher ging es offensichtlich bei seinem Übertritt zum F.C. Schlesisch Ostrau nur mehr um den politischen Beigeschmack der ganzen Angelegenheit, deshalb wollte er eben auch seinen Triumph bis zur Neige auskosten. Ich kann mir gut vorstellen, wie sehr es Deutscher danach verlangte, den Dreß der besten Mannschaft der Stadt anzuziehen, aber es kam nicht dazu. In dem Moment, als er bei der Frage seines Übertritts die Politik mit ins Spiel brachte, scheiterte er. Die Verhandlungen zerschlugen sich.

Wenzel Deutscher hatte nun endlich Gelegenheit, sich mächtig aufzuregen und sich beleidigt zu fühlen, und er begann herumzuschreien, er habe die verbündete jüdisch-bolschewistische Front gegen sich, und er würde es denen schon zeigen.

Und er bewies es auch. Er hängte seine Fußballschuhe an den Nagel und widmete sich von nun an nur noch dem politischen Leben.

Es genügt, daß ich alte Photos der Mannschaft des F.C. Schlesisch Ostrau auf dem Tisch ausbreite – und sofort bin ich wieder mitten drin. Als erstes sticht mir Áda Lakubecs Bild ins Auge, die Zeitungen apostrophierten ihn immer als »Blonden Blitz«.

Auch in mich hat dieser »Blonde Blitz« einmal eingeschlagen.

Áda Lakubec war es gewesen, der mir am Abend des 14. März 1939 vor dem Haupteingang des Stadions des F.C. Schlesisch Ostrau eine Ohrfeige verpaßte, so daß sich mir der Kopf drehte.

Ich glaube, ich habe damals schon eine übers Maul verdient, aber darum geht es gar nicht so sehr.

Das Wesentliche an der Geschichte ist, daß Áda Lakubec dieser Ohrfeige wegen ins Gefängnis kam.

Das letzte Mal, als ich Áda Lakubec sah, da lag er schon tot auf dem Vorstandstisch in einem Saal, in dem im Jahre 1968, irgendwann im Juni, eine öffentliche Sitzung der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei abgehalten wurde.

Bei dieser Sitzung bekam Áda Lakubec, der ehemalige »Blonde Blitz« des F.C. Schlesisch Ostrau, seinen Todesstoß. Es traf ihn mitten ins Herz, und Áda hatte aufgeschrien; wenn ich jetzt nur nicht lügen müßte und mir nur einfiele, was Áda da eigentlich geschrien hatte, doch ich werde mich schon noch erinnern, bestimmt werde ich mich erinnern, er hatte sich auf den Tisch gestützt und war dann zusammengesunken.

Man hatte ihn auf den mit rotem Tuch überzogenen Vorstandstisch gelegt.

Ich will versuchen, zwischen mir und Áda Lakubec eine Verbindungslinie zu ziehen.

Ich möchte wie auf einem Fußballplatz deutliche Grenzlinien erkennen können, die die Angriffs- und die Verteidigungszone markieren. Áda Lakubec spielte ständig am linken Flügel. Seine Methode war stets die gleiche, auf dem Spielfeld wie auch im Leben. Áda mußte gewinnen. Die Folgen seiner Niederlagen, auch wenn er es immer wieder verstand, sie als theoretisch konstruierte Siege und natürlich als seine Siege hinzustellen, haben ihn wahrscheinlich doch mit der Zeit verbraucht.

Von seiner Niederlage im Juni 1968 aber hat sich Áda nicht mehr erholt. Ich möchte gerne lügen und sagen: Áda sei brutal niedergestoßen worden. Oder: Er sei den modernen Methoden des Fußballspiels nicht mehr gewachsen gewesen, bei denen redliche Mühe fast gar nichts mehr bedeutet, da sich die Technik des Fußballsports ja weiterentwickelt hat und heute mit einer Methode voller Finten, Schliche, Kniffe und taktischer Züge gespielt wird. Dieser Art des Spiels war wohl Áda eben nicht mehr gewachsen.

Mit Áda Lakubec spreche ich jetzt ziemlich oft. Sowie ich in Trance falle, erinnere ich mich sogleich an Áda. Es drängt mich manchmal, ihn zu fragen, wie er mit seinem Tod fertig geworden ist. Aber ich mag nicht. Ich weiß, daß er selbst seinen Tod vor mir mit meisterhaft theoretischen Belehrungen als seinen Sieg herausstreichen würde. Und so sprechen wir nicht darüber. Wir unterhalten uns lieber über die ruhmreichen Zeiten des F.C. Schlesisch Ostrau, als dieser mit dem S.C. Mährisch Ostrau um den Aufstieg gekämpft hatte.

Ich neige zu dem Verdacht, daß Ádas Tod die Folge seiner Machtlosigkeit war. Wahrscheinlich hatte er erkannt, daß er und seinesgleichen ausgespielt hatten, daß sie nicht mehr Schritt halten konnten.

Andererseits muß ich auch zugeben, daß Ádas Spiel redlich war, zumindest war er immer davon überzeugt, daß er fair spielte. Ich selbst habe nur ganz selten fair gespielt. Beide spielten wir aber stets nach bestem Vermögen. Bisweilen waren wir einander, ohne voneinander zu wissen, für eine Zeitlang sogar unter denselben Farben begegnet. Aber ich habe bald wieder meinen Übertritt angemeldet, sowie ich erkannt hatte, daß Ádas Mannschaft und sein unerschütterlicher Anspruch auf Autorität für mich gleichermaßen unerträglich und deformierend waren wie meine eigene permanente Freiheitsliebe – oder wenigstens meine Sehnsucht danach.

 

Meine Erinnerungen gleichen einem abgespielten Film, einer schlechten Kopie. Ich erkenne jeden einzelnen Schauspieler wieder und stelle fest, daß wir alle miteinander schlecht spielen, doch wenn ich mir etliche Details wegdenke, dann ist der Film auch wieder nicht so schlecht. Ich bemühe mich sehr, meinen Film von einer besseren Seite zu sehen, sofern es freilich an ihm überhaupt eine solche gibt.

Ich gebe zu, daß dieser Film viele schwache Szenen hat.

Zum Beispiel jene Szene mit meinem Vater, als er im Jahre 1946 vor dem Volksgericht stand und man ihm einige Paragraphen des kleinen Retributionsdekretes an den Kopf warf, da er offenbar ein Hochverräter war.

Das Wort: Hochverräter imponiert mir irgendwie. Es hat Format. Doch mein Vater hatte für dieses Wort nicht das entsprechende Format. Aber wenigstens war er vor dem Gericht bemüht, sich den Anschein zu geben, als wäre er auf eine solche Apostrophierung stolz. Er nahm den Hochverrat wie eine Selbstverständlichkeit hin. Wahrscheinlich fühlte er, daß er in dem Augenblick, als sie ihm den Hochverrat anhängten, zu einer Dimension emporwuchs, in der er sich trotz aller Gefahr, die ihm drohte, gut ausnahm.

Ich hatte den Eindruck, daß mein Vater vor dem Gericht eine undurchdringliche Miene aufgesetzt hatte und entschlossen die Atmosphäre der bombastischen Gerichtsphraseologie in sich einsog; er bemühte sich in seiner ganzen äußeren Haltung, sich seiner Umgebung anzupassen.

Und das gefiel mir auch.

›Er sitzt bis über beide Ohren in der Tinte‹, sagte ich mir, ›doch er beweist Haltung.‹

Selbstverständlich würde ich heute an meinem Vater ohne große Mühe mancherlei Details entdecken die diesen ursprünglichen Eindruck, wie ich ihn aus dem Gerichtssaal mitnahm, zerstören.

Ich bin mir darüber klar, daß die Haltung meines Vaters eine starre Pose war, in die er sich hineingezwungen hatte und von der er nicht um Haaresbreite abweichen wollte. Ich sehe noch ganz deutlich seine Augen vor mir: ihr Blick irrte unruhig umher.

Ich habe auch den Eindruck, daß sich sein Körper nach links neigt, daß er im nächsten Augenblick wie gefällt umsinken wird, seine Stirn ist blaß, seine Kehle zieht sich krampfhaft zusammen, doch das Zusammenziehen der Kehle ließe sich auch durch seinen chronischen Schnupfen und seine Anstrengung erklären, vor dem Gericht nicht zu niesen, um nicht dadurch mit einem Schlage die feierliche Stimmung, die sich ganz bestimmt meines Vaters bemächtigt hatte, zu beeinträchtigen.

Und ich sehe auch Áda Lakubec vor mir.

Selbstsicher betritt er stets den Verhandlungssaal, doch mit jedem Schritt, mit dem er sich dem Richtertisch nähert, büßt er ein Stück seiner Selbstsicherheit ein, so daß er dann vor den Herren im Talar mit gekrümmtem Rücken dasteht, im Flüsterton spricht, sich nervös über das blonde Haar streicht und nicht den Mut hat, meinem Vater in die Augen zu schauen, während mein Vater – seine Augen irren wieder umher – seine ganze innere Energie anspannt, um sein Gesicht Áda zuzukehren; der Kommunist Lakubec legt seine zitternde Hand auf die Bibel und schwört. Vermutlich verflucht er in einem Atemzug seine Schwäche.

Ich kann mir vorstellen, wie er sich noch vor Betreten des Gerichtssaals fest vorgenommen hatte, sich dem Gericht als beherzter Vertreter des Proletariats zu präsentieren, er hatte sich ein paar effektvolle Sätze zurechtgelegt, mit denen er den Schwur auf die Bibel verweigern wollte, aber sobald er die strengen Gesichter der Richter sah, hatte er den Mut verloren, krümmte den Rücken und wiederholte demütig die Eidesformel, innerlich vor Wut über sich selbst schäumend.

Diese Begegnung mit Áda Lakubec, dem ehemaligen Linksaußen des F.C. Schlesisch Ostrau, zählt nicht. Eigentlich sind wir einander damals nicht richtig begegnet; Áda hatte keine Ahnung, daß ich mich im Saale befand, und ich selbst habe lieber die Augen geschlossen, als ich ihn so geduckt vor dem Gericht dastehen sah.

Ich hörte, wie der Richter fragte, ob Herr Lakubec den Brief, den der Angeklagte, also mein Vater, an die Ostrauer Gestapo geschrieben habe, wiedererkenne.

Áda Lakubec erschrak bei dieser Frage, er zuckt immer zusammen, wenn wir auf diesen Brief zu sprechen kommen. Doch sein Erschrecken dauert stets nur einen Moment, das erkenne ich immer an der nervösen Bewegung der linken Hand, mit der er sich über das blonde Haar fährt. Dann stößt Áda, lauter als nötig, hervor, er erkenne diesen Brief wieder.

»Ich erkenne diesen Brief wieder«, sagte Áda vor Gericht.

»Aber ich bitte Sie«, hörte ich die Stimme des Richters sagen, »wie können Sie ihn wiedererkennen, wenn er Ihnen noch nicht vorgelegt worden ist!«

Dann erst ist das Rascheln von Papier zu vernehmen.

Áda Lakubec stößt laut hervor, das sei derselbe Brief, der ihm schon im Jahre 1939, irgendwann im Dezember, vorgelegt worden war, als man ihn damals verurteilt hatte.

Dann tritt mein Vater vor, um den Brief zu besichtigen, und beantwortet die Frage, ob er seine Handschrift wiedererkenne.

»Ja«, sagt mein Vater, »ich erkenne meinen Brief wieder.«

Bei diesen Worten ändert sich nichts an seiner starren Haltung.

Es folgt eine peinliche Szene: Dr. Láska, der Verteidiger meines Vaters, redlich bemüht, wenn ich bedenke, daß er die Verteidigung ex officio übernommen hatte, fährt in die Höhe und ruft pathetisch aus, was sich aber gut in die ganze Atmosphäre fügt, er verlange, daß der Brief in seinem vollen Wortlaut verlesen werde.

Das Gericht stimmt zu, mein Vater richtet sich kerzengrade auf, Lakubec duckt sich vielleicht noch tiefer – und der Brief wird vorgelesen.

Wahrscheinlich schaut Lakubec schon bei den ersten Worten des Briefes schuldbewußt drein, ich brauche Áda gar nicht anzusehen, nur zu gut kenne ich seine Miene, die er immer aufsetzte, wenn der Schiedsrichter bei ihm ein Foul gepfiffen hatte.

Nach dem Verlesen erhebt sich der Prokurator, Herr Dr. Václav Jurzena, ehemaliger Verteidiger des F.C. Schlesisch Ostrau, Plakatkleber und Rohling auf dem Spielfeld, der noch schnell vor dem Jahre 1939 seinen Doktor gemacht hatte. Herr Dr. Jurzena stand also auf und sagte ebenfalls pathetisch, auch er habe die Absicht gehabt, zu beantragen, daß der Brief verlesen werde, denn dieser beinhalte den Tatbestand einer Straftat, und zwar die Anzeige bei der Gestapo; bei der Klage gehe es vor allem um dieses Faktum, und er gebe sich mit der Protokollierung dieser Tatsache zufrieden.

Jetzt hätte ich gerne in die Verhandlung eingegriffen, doch ich kann nicht. Gern hätte ich etwas Näheres über den Tatbestand berichtet, in den ich hineinverwickelt wurde, als mir Áda Lakubec am Abend des 14. März 1939 vor dem Haupteingang des Stadions des F.C. Schlesisch Ostrau eine Ohrfeige versetzte. Ich hatte mir damals gerade eine Kremrolle in den Mund gestopft, die mir ein deutscher Soldat zuvor geschenkt hatte. Bei Ádas Hieb wäre ich an der Kremrolle fast erstickt, sofort floß das Blut von meinen Lippen, aber sie bluten ja immer sehr leicht.

Ich weiß nicht, ob ich meinem Vater jetzt helfen könnte, wenn ich sage, wie das alles wirklich gewesen war. Ich bin mir auch bis heute nicht ganz sicher, ob sich das alles genauso zugetragen hat, wie ich es jetzt erfunden habe.

Es war mir auch klar, daß mein Vater vor Dr. Jurzena Angst hatte, auch das mußte ich berücksichtigen.

Mein Vater hatte nämlich Jurzena im Jahre 1934 aus der Mannschaft genommen, da sein Nervensystem, wie mein Vater vor dem Ausschuß bekundete, nicht in Ordnung war und er mit seinem rohen Spiel in der Division der Mannschaft nur schaden würde.

»Ein solcher Spieler«, argumentierte damals mein Vater, »kann unmöglich in den höheren Klassen spielen. Jetzt brauchen wir geschickte Dribbler und Techniker, die Ära der brutalen Spieler liegt bereits hinter uns!«

Václav Jurzena mußte damals aus der Mannschaft heraus, dadurch verlor er sein regelmäßiges Monatseinkommen von hundert tschechoslowakischen Kronen und mußte sich dann mit einem mageren Stipendium und dem Verdienst eines Plakatklebers durchs Studium durchschlagen. Dieses Unrecht hatte Jurzena nie verdaut, und es stand nun von dem Moment an in seinem Gesicht geschrieben, da er seinen Platz als Ankläger vor dem Gericht einnahm.

Da ich schweigen mußte, rekapitulierte ich wenigstens im stillen, was ich sagen würde, wenn man mich tatsächlich aufrufen würde. Meine Aussage hätte wohl kurz und bündig gelautet: Áda Lakubec hat mir die Kremrolle in den Mund gehauen, und die Schlagsahne hat sich von dem Blut meiner Lippen rosa verfärbt. Dann ist Áda weggelaufen, mein Vater hat ihn wegen Körperverletzung bei der tschechischen Polizei angezeigt, doch der Herr Inspektor Hebrle wollte mit der Sache nichts zu tun haben, und so beschwerte sich mein Vater bei der Polizeidirektion, wo er aber in diesem Chaos des Umsturzes bereits die Kerle von der Gestapo vorfand, denen der Name Áda Lakubec bereits so manches sagte.

Mein Vater hatte seine Anzeige wegen Körperverletzung vor den Herren der Gestapo eigenhändig unterschrieben.

Und dann wird das Urteil verkündet.

Drei Jahre Gefängnis.

Mein Vater hält sich kerzengerade.

Áda Lakubec hat jetzt wohl eine trockene Kehle und schluckt, er ist bleich.

Dr. Václav Jurzenas Gesicht, des Prokurators und ehemaligen Verteidigers des F.C. Schlesisch Ostrau, den der Vater wegen rohen Spiels aus der Mannschaft herausgenommen hatte, drückt Zufriedenheit aus.

›Und die Rechnung ist beglichen‹, lese ich in seinen Zügen.

 

Wenn ich über meinen Vater zu Gericht sitzen müßte, würde die Anklage ganz anders lauten. Ich würde mich wahrscheinlich überhaupt nicht an Paragraphen halten und würde ihn ziemlich belasten. Wenn ich aber meinen Vater verteidigen müßte, so könnte ich das unmöglich, wenngleich ich auch ein ganzes Arsenal von Argumenten zusammentragen könnte, die seine Handlungsweise als Bäcker und Geschäftsführer des F.C. Schlesisch Ostrau und als späteren Wehrmachtssoldaten Jaroslav Lapáček erklären würden.

Besonders das eine könnte ich meinem Vater keinesfalls verzeihen.

Am 1. September 1939 schleiften er und meine Großmutter Zabalski mich in die deutsche Volksschule.

Den ganzen Weg über heulte ich, doch das half nichts.

In der Schule setzte man mich in die letzte Bank, und das erste, was ich dort zur Kenntnis nahm, war Eva Schuberts wunderschönes blondes Haar. Sie saß eine Bank vor mir.

Sooft mir in der Schule schlimm zumute war, und das ist wohl immer der Fall gewesen, denn der Herr Lehrer Wenzel Deutscher, ehemaliger Spieler des S.C. Mährisch Ostrau, hatte es auf mich abgesehen, senkte ich meinen Kopf, doch wieder nicht zu tief, und beobachtete Evas wunderschönes Haar. Sie trug es in Zöpfe geflochten.