Die Hochzeit von Auschwitz - Erich Hackl - E-Book

Die Hochzeit von Auschwitz E-Book

Erich Hackl

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Beschreibung

Die Geschichte von zweien, die sich lieben, durch die politischen Ereignisse immer wieder getrennt werden und dann diese Liebe endlich legalisieren dürfen ­ unter den denkbar widrigsten Umständen: Für einen Tag und eine Nacht darf die Spanierin Marga Ferrer das KZ Auschwitz betreten, um mit dem Häftling Rudi Friemel den Bund fürs Leben einzugehen. Ein Buch in Stimmen erzählt, über Hoffnung und Verzweiflung, über die Niederlagen eines halben Jahrhunderts.

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Seitenzahl: 199

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Erich Hackl

Die Hochzeit von Auschwitz

Eine Begebenheit

Die Erstausgabe erschien 2002

im Diogenes Verlag

Umschlagillustration:

René Magritte, ›Die Liebenden‹, 1928

Copyright © 2012 ProLitteris, Zürich

Foto: Copyright © G. Westermann/Artothek

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23377 3 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60240 1

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Ich kenne die Wahrheit nicht – sofern es sie überhaupt gibt. Vielleicht hat jemand von den Erzählern gelogen. Auch das Gegenteil ist möglich: daß alle nur das gesagt haben, was sie für wahr hielten. Oder vielleicht haben sie im angeborenen Bedürfnis, eine Geschichte auszuschmücken, hin und wieder etwas dazuerfunden. Oder es gilt die Vermutung, daß sich der Schleier des Erinnerns über die Tatsachen legt und die Berichte der Augenzeugen allmählich ebenso verzerrt, verwandelt, verdichtet wie die Schlußfolgerungen der Historiker.

[7] 1

Das Gewitter

Heute nacht werde ich von Rudi Friemel träumen. Er wird ein weißes Gesicht haben, wie aus Wachs, und weit aufgerissene Augen, als sei er zu Tode erschrocken. Er wird eine dünne gestreifte Häftlingshose tragen, die seine Frostbeulen verbirgt, und ein weißes Hemd, das mit Rosen bestickt ist. Ein Geschenk, von wem? Er wird lächeln, wie er immer gelächelt hat. Ich werde das Grübchen an seinem Kinn sehen. Er wird sagen: Alle haben mich vergessen, die Frauen, die Freunde, die Genossen.

Blödsinn, werde ich sagen.

Ach Marina, kleine forsche Schwägerin. Kennst du mich noch, wird Rudi antworten.

Er war ein lieber Junge. Automechaniker, Motorradnarr. Ein überzeugter Sozialist. Ein bißchen verrückt. Ein Draufgänger, verwegen, abenteuerlustig. Im Februar vierunddreißig soll er sich in Wien tapfer geschlagen haben. Er ist dann nach Brünn geflohen. Später hat er bei uns in Spanien gekämpft. Was wohl aus ihm geworden wäre?

Seltsam, daß ich gerade von ihm träumen werde. Nach so vielen Jahren. Von Toten zu träumen bedeutet nichts Schlechtes. Aber wieso ist er mir nicht früher erschienen?

Soll ich seine Geschichte erzählen? Willst du sie hören? Ich warne dich: Da sind nur Bruchstücke seines Lebens, und in meinem Kopf ergeben sie kein klares Bild. Die Jahre [8] vergehen wie im Flug, und wenn man Rückschau hält, ist es zu spät, Einbildung und Wirklichkeit auseinanderzuhalten. Besser, du fragst andere nach ihm. Obwohl, viel werden sie dir auch nicht sagen können. Lebt überhaupt noch einer von denen, die ihn gekannt haben? Es sind so viele umgekommen. Und die nicht umgekommen sind, sind im Bett gestorben, wie es sich für Menschen gehört. Und die weder umgekommen noch im Bett gestorben sind, können sich nicht erinnern, weil sie sich nicht erinnern wollen. Aber auch unter denen, die sich nicht erinnern wollen, wirst du keinen mehr finden, der ihn gekannt hat.

Friemel. Friemel Edeltrude. Trude. Ich bin mit keinem Rudolf Friemel verwandt. Aber hier im Haus, auf Stiege 7, wohnt einer, der so heißt. Wie alt mag er sein, zweiunddreißig, fünfunddreißig? Eher zweiunddreißig, und sein Vater geht auf die Sechzig zu. Soviel ich weiß, haben sie kein Telefon.

– In unserer Verwandtschaft gibt es keinen Rudolf. Schon seit hundertfünfzig Jahren nicht. Achtundzwanzig Friemel, und kein einziger Rudolf. Ich betreibe Ahnenforschung, deshalb. Mich würde interessieren, ob er in Wien geboren ist. Alle meine Friemel stammen nämlich aus Schlesien.

– Friemel, Maria. Hat ihren Anschluß per 30. Juni abgemeldet.

– Nein, Therese. Therese Friemel. Ein Rudolf Friemel ist mir nicht bekannt. Ich kann ja nicht jeden Friemel kennen. Haben Sie es schon in Graz versucht? Dort soll noch eine Familie Friemel wohnen.

[9] – Friemel oder Frieml. Oder mit kurzem i, Frimmel. Spanien, Frankreich, Polen? Hören Sie, ich bin kein Reisebüro.

– Ich kann mich dunkel an einen Friemel erinnern. Nicht, daß ich ihm persönlich begegnet wäre. Aber sein Name ist mehrmals gefallen, bei konspirativen Zusammenkünften mit Jugendführern der Revolutionären Sozialisten. Wir haben uns auf der Straße getroffen, um gemeinsame Kampagnen abzusprechen, eine illegale Kundgebung zum Ersten Mai oder eine Streuzettelaktion am Jahrestag des Februaraufstandes. In diesem Zusammenhang ist der Name Friemel immer wieder aufgetaucht. Man hat gewußt, der existiert. Der treibt sich irgendwo in Favoriten herum. Vor sechsundsechzig Jahren.

– Ein Griff, und ich hab ihn. Freytag, Friedmann, Friedrich, Friemel. In der Archivbox ist alles enthalten, was ich über ihn in Erfahrung bringen konnte. In Spanien war er bei der Transmission, Kabel verlegen für die Nachrichtenverbindungen. Strippenträger hat das geheißen. Kennengelernt habe ich ihn aber erst in Frankreich, im Lager. Er ist mir nie unangenehm aufgefallen. Im Gegenteil, er war ein patenter Kerl, und dazu noch ein fescher Bursch.

– Ein Frauenheld, würde ich sagen. An jedem Finger eine. Ich weiß nicht, was sie an ihm gefunden haben. Vielleicht war es seine Entschlossenheit, der Mut gepaart mit Unschuld, die Hingabe für eine Sache, die er als richtig erkannt hat. Oder sie haben auf seiner Stirn oder zwischen seinen Augen ein Zeichen eingebrannt gesehen, das uns Männern entgangen ist. Jedenfalls haben sie ihn umschwärmt wie die Motten das Licht.

[10] – Der Name ist für mich noch heute ein rotes Tuch. Friemel hat mich schlaflose Nächte gekostet. Stundenlang habe ich seine Wohnung beschattet, die Wohnung seines Vaters und die Wohnung seiner Schwester, die mit einem gewissen Korvas verheiratet war, auch so ein radikales Element. Nichts. Am nächsten Tag habe ich erfahren, er ist da und dort gesehen worden. Also war er doch in der Wohnung! Er hat mit mir Katz und Maus gespielt. Aber früher oder später geht jeder in die Falle. Der Arm des Gesetzes ist lang.

– Er war mein Vater. Ich habe ihn kaum gekannt. Die wenigen Erinnerungen sind verblaßt. Aber irgendwo muß noch eine Schuhschachtel herumstehen, die ist von meinem Großvater auf mich übergegangen. Darin sind Briefe und Fotos. Nicht viele, nach dem, was ich in der Eile sehen konnte. Die zweite Frau meines Großvaters war gestorben, die Wohnung mußte geräumt werden, die Hausverwaltung hat gedrängt. Ehrlich gesagt, ich habe mich bis heute nicht durchringen können, die Schachtel zu öffnen.

Heute werde ich auch von meiner Schwester träumen. Jahrelang träume ich nicht, oder mir träumt nur dummes Zeug, das ich beim Aufwachen bereits vergessen habe. Aber meistens komme ich gar nicht zum Träumen, weil der Mann neben mir Nacht für Nacht schnattert. Im Schlaf schwingt er gewaltige Reden. Fernando, sage ich dann, wirst du wohl still sein! Wenn endlich Ruhe ist, kriege ich mit Sicherheit einen Stoß in die Rippen, Marina, du schnarchst, sagt Fernando und wälzt sich auf die andere Seite, aber ich liege wach und kann bis zum Morgen nicht einschlafen. Und [11] jetzt will ich, daß folgendes geschieht: kein Gequatsche und kein Rippenstoß in zwei aufeinanderfolgenden Nächten, und in der einen Nacht zeigt sich Rudi, in der anderen Margarita. Ich glaube, sie wird mir im Traum erscheinen, weil sie eifersüchtig ist. Ich doch nicht, du bist eifersüchtig, wird sie sagen. Red keinen Unsinn, werde ich antworten.

Arme Marga.

Die Geburtsurkunde, ausgestellt von der Pfarre zur Heiligen Familie in Neu-Ottakring. Demnach ist er am 11. Mai 1907 in Wien, Habichergasse 9, geboren und tags darauf auf den Namen Rudolf Adolf getauft worden. Vater, steht da: Clemens Friemel, römisch-katholisch, Zimmerputzer, geboren am 21. 12. 1881 in Prag. Mutter: Stefanie, geborene Spitzer, römisch-katholisch, Dienstmädchen, geboren am 20. 12. 1882 in Wien.

Sein Abgangszeugnis, ausgestellt von der dreiklassigen fachlichen Fortbildungsschule für Mechaniker in Wien VI., Mollardgasse 87.

Das Zeugnis, wonach er die Gesellenprüfung am 4. Juli 1925 mit gutem Erfolg bestanden hat.

Sein Zulassungsschein zum Lenken von Kraftwagen mit Explosionsmotor und von mehrspurigen Motorrädern.

Zeugnisse der Firmen Steyrermühl, Vereins-Molkerei, OEWA, Neues Wiener Tagblatt und Productiv-Gesellschaft der Wiener Fleischselcher. Ihnen zufolge hat er alle Arbeiten gewissenhaft erfüllt, muß aber in Anbetracht der schlechten Auftragslage leider entlassen werden.

Die Fotos. Als erstes ein Mädchen im Sommerkleid, mit [12] Armreifen und Stirnband. Meine Tante. Sie hat dunkle Augen. Lächelt sie? Eher nicht. In ihrem Schoß liegen Blütenzweige. Forsythien oder Rittersporn. Viel kann ich nicht erkennen. Das Foto ist etwas unterbelichtet. Auf der Rückseite steht: »Deine Schwester Steferl. 17/XI.1923. 1. Schönheitspreis.«

Dann drei Bilder meines Vaters, aufgenommen in einem Fotoatelier. Ich finde schon, daß ich ihm ähnlich sehe. Abgesehen davon, daß ich größer und stämmiger bin und viel älter, als er damals war; auch abgesehen davon, daß ich das runde Kinn meiner Mutter habe – die hohe Stirn, der dichte Haaransatz, die gewellten Haare sind von ihm. Nur sein Blick ist anders. Nicht arrogant, aber irgendwie herausfordernd, trotzig, renitent. Ein kräftiger junger Mann in Anzug und Krawatte, einmal sitzt er, einmal steht er, einmal ist er barhäuptig, einmal trägt er Hut und Spazierstock. Im Mai 1927 war das, an seinem zwanzigsten Geburtstag. Ich weiß nicht, was mich an den Fotos stört. Ist es die elegante Kleidung oder die künstliche Beleuchtung oder die orientalische Kulisse? Die Art, wie er gleichsam erstarrt, oder die Gewißheit, daß ich ihn nie einholen werde. Auf dem dritten Foto trägt er eine Strickjacke. Da gefällt er mir besser, auch wenn er ein ernstes Gesicht macht. Er wirkt nicht so abweisend. Er könnte mich annehmen, so wie ich bin.

Meine Mutter. Schnappschuß. Sie schaut ziemlich erschöpft aus. In ihrer Jugend ist sie schon lustig gewesen. Sie hat gern gelacht, ist viel ausgegangen, hat auch in einem Mandolinenorchester gespielt. Nachher ist ihr das Lachen eher vergangen.

Zehn oder zwölf Gedichte, teils handgeschrieben, teils [13] auf Maschine getippt. Ich wußte nicht, daß er auch gedichtet hat. Sonst lese ich keine Gedichte. Aber die da gefallen mir. Sie sind gereimt und humorvoll. Nicht alle, es gibt auch ernste. Eins über die Vergänglichkeit der Jahreszeiten, eins über ein armes Waisenkind, das als Hure endet, eins über eine ferne Geliebte, zwei über die Sehnsucht nach mir: »Mein Söhnchen«, »An Norbert!«. Die hat er offenbar in der Emigration geschrieben. Also hat er doch an mich gedacht. »Ich höre im Traum und im Wachen kristallklar Dein kindliches Lachen.« Dann gibt es auch politische Gedichte, die handeln vom Volk in Ketten und vom Kampf um Freiheit und vom siegreichen Entfalten der purpurnen Fahne.

Rot ist immer noch meine Lieblingsfarbe, werde ich zu ihm sagen. Denn als Rote bin ich geboren, zur Zeit der großen Oktoberrevolution, und als Rote werde ich in die Grube fahren. Ich rechne mir das nicht als Verdienst an, es hat sich einfach ergeben, ich hab mir meine Eltern und meine Umstände nicht ausgesucht.

Meine Mutter stammt aus Madrid. Ihr Vater war José Rey, ein wichtiger Mann bei den Sozialisten, die Nummer zwei hinter Pablo Iglesias. Er ist früh gestorben. Meine Großmutter auch. Mit fünf war meine Mutter Vollwaise. Sie war Hemdennäherin. Ihr Handwerk hat sie bei einer Tante gelernt.

Mein Vater ist in Menorca aufgewachsen. Die Ferrer hatten jüdische Vorfahren. Irgendwann waren sie also Verfolgte. Das hinderte sie nicht daran, jeder Kutte hinterherzulaufen und mit den Geldsäcken auf der Insel gemeinsame [14] Sache zu machen. Erst mein Vater ist aus der Reihe getanzt. Mit siebzehn ist er nach Madrid gekommen, zum Studieren. Aber bevor er sich an der Universität eingeschrieben hat, ist eine Stelle beim Zoll frei geworden. Er hat die Ausschreibung gewonnen und den Posten angetreten. Damit hat er sich das Studium finanziert. Denn seine Eltern, die sich mit ihrer Apotheke dumm und dämlich verdient haben, waren nachtragend. Sie haben ihm nie auch nur einen Duro zugesteckt, weil er revolutionär gesinnt war, anders als sie, und weil er um jede Kirche einen großen Bogen gemacht hat. Während des Studiums hat er in der Calle Montera gewohnt, wo jetzt die Huren herumstehen, in einer Pension, in der meine Mutter Geschirr gespült hat. So haben sie sich kennengelernt. Meine Mutter war damals acht Jahre alt.

Neun oder zehn Jahre später klopfte er an eine Ladentür in der Calle Encomienda, Ecke Mesón de Paredes. Auch keine gute Gegend, bis heute nicht. Dort hielten die Anarchisten ihre Versammlungen ab. Meine Mutter war mit der Schwester eines Anarchisten befreundet. Und zufällig war sie an jenem Abend zu Besuch, als sich die Anarchisten trafen, darunter auch mein Vater, und sofort hat es zwischen ihnen gefunkt. Wie zwischen dir und Margarita, werde ich zu Rudi sagen. Mein Vater war neun Jahre älter als meine Mutter. Rudi war auch um einiges älter als Margarita.

Wie heißt du, fragte mein Vater.

Rosario.

Ach wirklich? Ich hab einmal eine Rosario gekannt.

Das war ich.

So hat alles angefangen.

[15] Es hat damit angefangen, daß sich meine Eltern nach dem Maiaufmarsch der Sozialdemokraten kennengelernt haben. Das war 1930, im Prater. Meine Mutter hat Pauline geheißen, Pauline Fucka, aber alle haben Paula gesagt. Sie hat mit der Partei sympathisiert, nur war sie nicht so engagiert wie er. Er war Monusfahrer, er hat Zeitungen ausgeliefert. Monus war ein Motorrad mit drei Rädern, vorne zwei, hinten eins, vorne war eine Kiste, für die Zeitungen. Er ist nur tageweise eingestellt worden. Dazwischen war er immer wieder arbeitslos. Meine Mutter hat als Verkäuferin bei den Hammerbrotwerken gearbeitet. Dann ist auch sie abgebaut worden. Ich kann mich erinnern, einmal haben wir die Arbeitslose abgeholt, das waren zwölf Schilling. Beim Nachhausefahren mit der Tramway haben wir das Geld verloren. Meine Mutter war verzweifelt. Ihre Schwester, sie war alleinstehend, hat uns dann ausgeholfen. Sie hat auch sonst immer geholfen. Er war ja nie da. Wenn er doch einmal da war, brauchte ich mich nicht zu fürchten. Zu mir war er immer nett. Manchmal hat er zwar einen scharfen Ton angeschlagen, aber ich habe von ihm nie eine Ohrfeige gekriegt. Bemüht hat er sich allerdings nicht um mich. Die ganze Last hat meine Mutter getragen, er hat sie finanziell nie unterstützt. Sie hat auch keinen Wert darauf gelegt.

Die Mutter Tochter eines führenden Sozialisten, der Vater Anarchist, dann Kommunist. Wir sind also aus gutem Holz geschnitzt. Ich war gerade vierzehn geworden, als ich zu meiner ersten Versammlung ging. Das war 1931 oder 1932. Eher zweiunddreißig, Januar 1932. Damals hatten die [16] Arbeiterführer noch eine andere Art, einem den Klassenkampf zu erklären. Drastisch, und vielleicht auch ein wenig naiv. Sie zogen über die Bourgeoisie her, die es auszurotten gilt. Sie sagten, den Bourgeois erkennt man am Hut (und ich erschrak, denn mein Vater trug einen Hut), man erkennt ihn am Stock (und ich erschrak wieder, denn mein Vater trug einen Stock), man erkennt ihn an der Krawatte (und ach!, mein Vater trug auch eine Krawatte). Sie sagten, der Bourgeois würde den Arbeitern das Blut aussaugen. Ich war wie gelähmt, richtiggehend gelähmt war ich. Ich habe kein Wort herausgekriegt. Ich wagte keinen anzusehen, ich zitterte vor Angst, daß einer sagt, seht mal, da sitzt die Tochter eines Blutsaugers, schlagt sie tot.

In der Schuhschachtel meines Großvaters habe ich einen Bericht der Bundespolizeidirektion Wien gefunden, wo eine ganze Reihe von Vorstrafen angeführt sind: Jugendgericht Wien, 19. 5. 1924, nach § 460 STG. 5 Tage strengen Arrest bedingt; Bezirksgericht I, 16. 7. 1926, nach § 431 STG. 48 Stunden Arrest; Landesgericht I, 6. 4. 1933, nach § 197, 199d STG. 14 Tage strengen Arrest, bedingt bis 6. April 1935 samt Rechtsfolgen; Bezirksgericht X, 2. 1. 1934, nach § 411 STG. 16 Schilling, im Nichteinbringungsfall 24 Stunden Arrest. Es ist auch vermerkt, daß mein Vater am 21. November 1932 wegen Verletzung des öffentlichen Anstandes durch Beschimpfung eines Passanten, der ein nationalsozialistisches Plakat las, über Aufforderung festgenommen und nach Anzeigeverständigung vom Wachzimmer entlassen wurde. Friemel, steht da, trug das Abzeichen der [17] sozialdemokratischen Partei, während der Aufforderer kein Parteiabzeichen trug.

Davon wußte ich nichts. Mir persönlich war nur eine Vorstrafe bekannt: Mein Vater hatte sich ein Motorrad gebaut und wollte es bei einer Probefahrt testen. Zu diesem Zweck bastelte er aus einem Stück Pappe ein Nummernschild. Ein Polizist hielt ihn an und erstattete Anzeige. Ich glaube, das war schon nach meiner Geburt, während der Unfall vorher passiert ist, dreißig oder einunddreißig. Da sind meine Eltern mit dem Motorrad weggefahren. In der Steiermark hat er eine unbeleuchtete Baustelle übersehen. Sie sind schwer gestürzt, meine Mutter hat einen Schädelbasisbruch erlitten und sich alle Schneidezähne ausgeschlagen. Sie hat also schon mit vierundzwanzig Jahren eine Brücke bekommen, die hat sie getragen, bis sie sechzig wurde, dann erst hat ihr der Dentist eine Prothese angepaßt.

Als sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, hat der Arzt gesagt: Jetzt fahren Sie aber nicht mehr auf einem Motorrad mit, und sie hat geantwortet: Schauen Sie aus dem Fenster, da steht er schon. Also ist sie wieder zu ihm aufs Motorrad gestiegen, und sie sind davongebraust, heim nach Favoriten.

Favoriten war ein hartes Pflaster für jeden, der auf Recht und Ordnung achten mußte. Entweder es wurde gerauft und gesoffen, oder es wurde politisiert und geschossen. Das Ergebnis war dasselbe: raus aus der Wachstube, hin zum Ort des Geschehens, Protokoll aufnehmen, Zeugen einvernehmen, Verhaftungen vornehmen. Das ging nie ohne Schimpf [18] und Spott vor sich. Die Zeugen hatten nichts gesehen, die Delinquenten leisteten Widerstand oder entzogen sich der Festnahme durch Flucht. Tätlichkeiten waren an der Tagesordnung. Mistelbacher, schleich dich, oder ich stech dich ab. Mehr als einmal haben sie mir die Kappe vom Kopf geschlagen. Wenn ich mich nach ihr gebückt habe, haben sie den Fuß draufgestellt. Und gegrinst. Sie waren zwanzig und wir zu zweit. Schon die Kinder waren verhetzt. Und die Weiber. Die Alten. Die Arbeitslosen. Die Ziegeleiarbeiter von Oberlaa. Rotes Gesindel, über das die Parteibonzen drinnen im Rathaus ihre schützende Hand gehalten haben. Am Wochenende ist der Schutzbund aufmarschiert, hat am Laaerberg seine Manöver abgehalten, in voller Montur, mit Waffen, und wir haben zuschauen dürfen. Aber dreiunddreißig hat sich das Blatt gewendet. Dollfuß hat das Parlament ausgeschaltet, die Todesstrafe eingeführt, den Schutzbund verboten. Wir haben gewußt, jetzt gilt es, hart durchzugreifen. Sie sind in die Enge getrieben. Wir müssen sie zermürben. Dann erhielten wir den Befehl, ihre Waffenverstecke ausfindig zu machen. In den Sektionslokalen haben wir Kohlen umgeschaufelt, wieder und wieder. Natürlich haben wir nichts gefunden. Schwarz von oben bis unten, so sind wir nach Stunden abgezogen, ausgelacht und verhöhnt. Na, Mistelbacher, hast den Rauchfang geputzt. Dann, wie es ihnen an den Kragen gegangen ist, haben sie losgeschlagen. Aber die Exekutive war auf der Hut. Da ist ihnen das Lachen vergangen.

Friemel war einer der Rädelsführer. Ein besonders aufrührerisches Individuum, aber eines, darauf lege ich Wert, das mit offenem Visier gekämpft hat. Es gab andere, die es [19] sich gerichtet haben. Die das Maul weit aufgerissen und den Schwanz eingezogen haben. Das kann ihm keiner nachsagen. Allerdings hätte er rechtens gehenkt werden müssen. Er hat nämlich im Zuge der Kampfhandlungen am 12. Februar 1934 als Führer einer Alarmabteilung des Schutzbundes meinen Kollegen, den Rayonsinspektor Schuster, angeschossen. In der Kudlichgasse war das, gegen siebzehn Uhr, vor dem Friseurgeschäft Sobotka. Ein Bauchschuß aus nächster Nähe. Ein zweites Sicherheitsorgan, Oberwachmann Reimer, glaube ich, ist mit zwei Steckschüssen im Oberschenkel davongekommen. Aber Schuster ist am nächsten Tag verstorben. Daraus ersieht man, daß die Roten vor nichts zurückgeschreckt sind. Friemel hat sich seiner Verhaftung durch Flucht entzogen. Er ist hinüber in die Tschechoslowakei und hat von dort aus eine rege Korrespondenz unterhalten, die teils abgefangen, teils von den Adressaten an uns übergeben wurde. Angeblich soll auch seine Frau ein Schreiben den Behörden zugänglich gemacht haben. Ob das stimmt, entzieht sich meiner Kenntnis. Mir war allerdings bekannt, daß das Ehepaar Friemel nicht im besten Einvernehmen lebte. Es gab da auch eine junge Frau im Bezirk, von der es hieß, sie sei Friemels Geliebte. Ob sie es war, weiß ich nicht. Jedenfalls fanden wir bei ihr illegales Propagandamaterial.

Friemel ging uns erst Ende August in die Falle. Das war sein Glück. Da hatte sich die politische Lage verändert, die Exempel waren statuiert, die Hauptsorge galt nicht mehr den Sozialisten, sondern den Nazis, die immer stärker wurden. Außerdem verteidigte sich Friemel vor Gericht äußerst geschickt. Selbstbewußt war er ja, das muß man ihm lassen, [20] und das gefiel offenbar auch dem Richter. Die Anklage wegen Mordes wurde fallengelassen, und so kam er wegen des Verbrechens des Aufruhrs und der öffentlichen Gewalttätigkeit mit einer Gefängnisstrafe davon. Der Prozeß erregte relativ großes Aufsehen. Ich erinnere mich, daß wir in der Nacht davor mehrerer Kommunisten habhaft wurden, die in Favoriten Flugzettel gestreut hatten: »Rettet den Schutzbundführer Rudolf Friemel vor lebenslangem Kerker!«, »Nieder mit dem italienischen Faschismus!«

Ich glaube, Friemel wurde nach der Urteilsverkündung in das Zuchthaus Stein eingeliefert, von dort nach Wöllersdorf überstellt. Was weiter mit ihm geschah, entzieht sich meiner Kenntnis. Ob er später mit den Nazis oder gegen sie… Jud war er ja keiner. Ich persönlich bin mit den Nazis gut ausgekommen. Ich hab ja selbst mitgemacht.

Als wir noch Kinder waren, meine Schwester und ich, hat sich mein Vater jeden Mittag mit ein paar Arbeitern in unsere Küche zurückgezogen. Dort haben sie abwechselnd ›Das Kapital‹ und die Bibel gelesen. Und an den geraden Tagen hat er Marx und an den ungeraden Gott interpretiert.

Mein Vater war Biologe und Mediziner. Er hatte beides studiert, und dann war er dabei, auch das Studium der Astronomie abzuschließen. Als Arzt hat er nur während des Krieges praktiziert, nachmittags von zwei bis sechs. Sein eigentliches Fach war die Biologie. Er war auf Einzeller spezialisiert. Weiß der Teufel, was er an ihnen gefunden hat. Mehrzeller haben ihn gelangweilt. Aber eine Zelle allein, [21] dafür ließ er alles andere liegen und stehen. Er ist viel gereist, nach England, nach Deutschland, ans Rote Meer. Sogar nach Indien. Alles nur wegen seinen geliebten Einzellern. Er hat auch viele Bücher geschrieben. Das Institut für Meereskunde hat ihm einen Lehrstuhl angeboten, deshalb sind wir nach Barcelona übersiedelt.

Als Biologe besaß er Weltruf. Jahre nach seinem Tod hat Hitler ein Foto von ihm angefordert, und mein Großvater hat es nach Berlin geschickt. Ein spanischer Anarchist und Kommunist, und dazu noch mit jüdischen Vorfahren, hängt im Naturhistorischen Museum der Nazis! Ich will mir besser nicht vorstellen, was er dazu gesagt hätte.

Meine Mutter ist nie zur Schule gegangen. Sie war sehr fleißig, sie war eine gute Arbeiterin, aber kein großes Licht, ehrlich gesagt. Einfältig war sie, bei allem Respekt. Ich erinnere mich, daß ihr mein Vater eines Tages den Sternenhimmel erklärt hat. Er versuchte ihr beizubringen, daß sich der Mond um die Erde dreht, daß er weit entfernt ist und daß er sehr groß ist. Und sie sagt, wie groß, wie dieser Waschtrog? Eine erwachsene Frau! Sie war sehr schüchtern, sehr verschreckt, weil sie es als Kind schwer hatte. Später nicht.

Meine Schwester ist nach ihr geraten. Margarita war scheu, unsicher, sehr feminin. Sie hat jede Entscheidung anderen überlassen. Obwohl, sie konnte ziemlich stur sein. Was sie sich in den Kopf gesetzt hat, hat sie erreicht. Wenn auch auf Umwegen.

[22] Ich glaube, mein Vater hat die Politik noch vor die Familie gestellt. Meine Mutter hat da nicht mitgemacht. So haben sie sich auseinandergelebt. Angeblich ist mein Vater auch ziemlich locker im Umgang mit Frauen gewesen, er soll nebenher immer wieder ein Verhältnis gehabt haben, und dadurch ist die Feindschaft zwischen meiner Mutter und meinem Großvater entstanden. Sie haben nicht mehr miteinander geredet. Sie hat ihm die Schuld gegeben, daß mein Vater fremdgegangen ist, angeblich hat er ihm andere Frauen zugeführt. Ich weiß nicht, inwieweit das stimmt.

Mein Großvater hat vis-à-vis von uns in der Ernst-Ludwig-Gasse gewohnt. Wir haben von unserer Wohnung hinübergesehen. Und da haben mein Vater und mein Großvater vereinbart, im Fall einer Hausdurchsuchung oder Festnahme stellt der Großvater irgendwas ins Fenster. Was, weiß ich nicht mehr. Und ich kann mich erinnern, da ist mein Vater einmal aufgestanden, er hat sich gerade die Hose angezogen, schaut hinüber und schreit: Verdammt, sie sind da! Er hat den Gürtel genommen und ihn aufs Bett geschlagen. Das hat sich bei mir eingeprägt.

Sonst fallen mir nur Bruchstücke ein. In der Früh, wenn ich aufgestanden bin, hat er als erstes gefragt: Wo ist dein Taschentuch? Es war sozusagen meine Pflicht, die Etikette zu wahren. Ich hatte einen Pyjama mit einer Brusttasche, und in der Brusttasche hat das Taschentuch stecken müssen. Ich hab einen Brief von ihm, da schreibt er an meine Mutter, sie soll mich nicht überfüttern, sie soll mich zweckmäßig ernähren, und er gibt ihr verschiedene Anleitungen, wie ich mich zu verhalten habe, daß ich fleißig turnen, laut grüßen, aufrecht gehen soll.

[23] Noch einmal ist mein Vater nach Hause gekommen, da haben sie gestritten, immer heftiger gestritten, bis er zu meiner Mutter gesagt hat, ich erschieß dich! Und sie hat gespottet, ja, mit einer Knackwurst.

Zwei Tage ist er damals bei uns gewesen, dann ist er für immer weg. Ich glaube, das war Anfang achtunddreißig, ein paar Wochen vor dem deutschen Einmarsch.

Mein Bruder Paco und ich waren stark politisiert. Margarita nicht; sie war mehr wie unsere Mutter, zurückhaltend und ein wenig ängstlich. Paco hatte Geologie studiert. Und ich wollte Lehrerin werden. Dann begann der Bürgerkrieg. Paco war schwer asthmakrank. Das hielt ihn nicht davon ab, mit einer Miliz an die Front zu ziehen. Später wurde er von der sowjetischen Nachrichtenagentur angestellt. Er las alle spanischen Zeitungen und wählte die Artikel aus, die in Rußland nachgedruckt werden sollten. Margarita hatte eine Handelsschule besucht. Sie konnte sehr schnell auf der Schreibmaschine schreiben. Sonst war es mit ihrem Können nicht weit her. Mit den Zahlen stand sie auf Kriegsfuß. Sie war ganz verzagt, ich tauge nichts, ich bin dumm, aber nein, Marga, dafür liegen dir andere Gebiete, jeder nach seinen Fähigkeiten.

Ich wollte für den Widerstand arbeiten. Deshalb habe ich nach Kriegsausbruch eine Stelle als Lehrerin im Orfelinato Rivas angenommen, in Barcelona. Das Rivas war vor dem Krieg ein Waisenhaus gewesen, dann wurde es in ein Lazarett umgewandelt, das für Milizsoldaten mit Kopfverletzungen bestimmt war. Dort habe ich jeden Tag [24]