Familie Salzmann - Erich Hackl - E-Book

Familie Salzmann E-Book

Erich Hackl

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Beschreibung

Die Geschichte der Familie Salzmann, die quer durch beide deutschen Staaten, durch Österreich, Frankreich, die Schweiz verläuft, über drei Generationen und ein Jahrhundert. Zugleich eine kollektive Geschichte »aus unserer Mitte«, die uns vor Augen führt, was schützens- und liebenswert ist, gerade dann, wenn die Umstände die Menschen zu überfordern scheinen.

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Seitenzahl: 183

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Erich Hackl

Familie Salzmann

Erzählung aus unserer Mitte

Die Erstausgabe erschien 2010 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration: Werner Berg, ›Sommernacht‹, 1958 (Ausschnitt)

Copyright © Werner Berg Museum Bleiburg/ www.wernerberg.museum

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24093 1 (1. Auflage)

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Mancher sucht etwas, das

[7] Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts, das der Historiker Eric Hobsbawm zum Zeitalter der Extreme ernannt hat, trat der damals vierundzwanzigjährige Hanno Salzmann eine Stelle als Kanzleikraft der Steiermärkischen Gebietskrankenkasse in Graz an. Die ihm zugewiesene Arbeit in der Beitragsabteilung verrichtete er nach bestem Wissen und Gewissen, wenn auch in der ständigen Anspannung, ob er den in ihn gesetzten Erwartungen genügen würde. Er war bescheiden, dabei hilfsbereit, von angenehmen Umgangsformen, bemüht, seine Aufgaben rasch und zur Zufriedenheit aller Kollegen und Vorgesetzten zu erledigen. In der ersten Dienstbeschreibung vom 10. November 1994 wurde er jedenfalls als initiativ und fleißig, anhaltend belastbar, aufgeschlossen, kollegial, zur Zusammenarbeit gut geeignet und im Verhalten gegenüber anderen Mit-arbeitern als sachlich, höflich und korrekt beurteilt. Von den lärmenden, bisweilen alkoholfeuchten Geselligkeiten in und nach den Amtsstunden hielt er sich fern.

Hannos Unglück begann, als er sich mit Jochen Koraus, einem gleichaltrigen Kollegen, anfreundete. Die beiden gingen gemeinsam weg, ins Kino, auf den Fußballplatz und zum Schachspielen in ein Café, nachdem Koraus eines Tages unvermutet, ohne vorherige Aufforderung oder [8] Nachricht, vor der Tür gestanden war, mit einem gewinnenden Lächeln und einem blühenden Weihnachtsstern als Gastgeschenk für Hannos Mutter. Sie und der Vater waren erleichtert darüber, daß ihr jüngerer Sohn an seinem Arbeitsplatz schnell Anschluß gefunden hatte, weil sie seit ihrer Pensionierung wenig Kontakt zur Außenwelt hielten und mit Sorge beobachtet hatten, daß er dazu neigte, ihre zurückgezogene Lebensweise nachzuahmen. Der ältere, Peter, war von Geburt an schwer behindert, brauchte ständige Pflege und einen möglichst geregelten Tagesablauf im vertrauten Umfeld der Familie, allein deshalb wäre es den Eltern schwergefallen, ein geselliges Leben zu führen. Sie waren hellhörig gegenüber unbedachten Einwürfen, in denen sich die Überzeugung der Sprechenden offenbarte, daß Gesundheit das höchste Gut sei, das es zu wahren und zu vermehren gelte, höher als Herzensbildung, und daß physische wie psychische Gebrechen in den meisten Fällen den davon Betroffenen oder deren Angehörigen anzulasten wären. Außerdem wurden sie den Verdacht nicht los, von Personen umgeben zu sein, die sich ihren Bekanntenkreis nach eigennützigen Motiven aussuchten: Nützt mir der Umgang mit diesem oder jener beim Vorwärtskommen. Entspricht er meinem Status. Gewinne ich durch ihn an Einfluß und Ansehen, oder schadet er mir auf meinem Weg nach oben. Muß ich Gefühle investieren, und wenn ja, lohnt sich der Einsatz. Sie waren und blieben Fremde in Graz, auch wenn sie schon seit Jahrzehnten hier gelebt und gearbeitet hatten, das [9] sagte ihnen ihr Instinkt, aber es war gerade das unklare Empfinden, nirgendwo dazuzugehören, das sie besonders wehrlos machte, als Hanno vom Strudel der Ereignisse erfaßt wurde.

Später, als sie zu grübeln anfingen, wie alles gekommen war, konnten sie nicht umhin, Koraus zu verdächtigen, sein durch die Freundschaft mit ihrem Sohn erworbenes Wissen im Büro ausgeplaudert zu haben, denn die Attakken auf Hanno verrieten eine intime Kenntnis der Familienverhältnisse, auch wenn sie im entscheidenden Punkt von einer falschen Voraussetzung ausgingen. Es war vor allem dieser eine beiläufig geäußerte Satz, der Hanno nachhaltig schaden sollte: Meine Oma ist in einem KZ umgekommen.

Hannos Großmutter wurde am 5. Februar 1909 in Kothvogl, einem Dorf nahe der Ortschaft Stainz im Bezirk Deutschlandsberg, als vorletztes von dreizehn Kindern des Ehepaares Josef und Elisabeth Sternad geboren und eine Woche später unter dem Namen Juliana im Taufregister der Pfarre eingetragen. Vier Geschwister waren noch im Kleinkindalter an der Seuche, die Armut heißt, verstorben. Josef Sternad, der aus Cilli im heutigen Slowenien stammte, war Schuhmacher und Brandmeister der Freiwilligen Feuerwehr, seine Frau hatte in einer Ziegelei geschuftet, ehe sie von der Gemeinde Stainz als Badewärterin angestellt wurde. Den drückenden Sorgen, wie sie und ihre Kinder durchzubringen wären, begegnete der [10] Mann mit einer Mischung aus Gleichmut und Frohsinn, die Frau mit unerschütterlichem Gottesglauben. Dreimal die Woche lief sie in die Kirche, um zu beten und sich von ihren eingebildeten Sünden freisprechen zu lassen. Dort sagte der Dechant gelegentlich, als Antwort auf ihr Klagen, daß sie schon wieder schwanger sei, dabei außerstande, die hungrigen Mäuler zu Hause zu stopfen, Frau Sternad, Kinder bringen Segen. Als sie mit siebenundvierzig Jahren an Herzversagen starb, kümmerte sich ihre Tochter Ernestine um die beiden jüngsten Schwestern, Juliana und Anna, die damals noch zur Schule gingen. Ernestine hatte seit langem als Bedienerin gearbeitet, im Kaufhaus Kollmann, nun übernahm sie den schlecht entlohnten Wärterposten im gemeindeeigenen Frei- und Wannenbad, so daß die Familie weiterhin im ebenerdigen Haus gleich neben dem Schwimmbecken wohnen durfte, das Josef Sternad von Zeit zu Zeit verließ, einen leeren Rucksack umgeschnallt, um sich in Graz mit Leder, Stoßplatten und Schuhzwecken zu versorgen. Den Weg, zweimal fünfundzwanzig Kilometer, legte er, in Ermangelung des Fahrgeldes für den seit 1926 verkehrenden Linienbus, zu Fuß zurück.

Von der Mutter hatte Ernestine unverdrossenen Fleiß, vom Vater ein heiteres, unbefangenes Wesen geerbt, auch die Freude daran, sich in turbulente Verwechslungskomödien zu versetzen, die ein gutes Ende fanden, wenigstens in den Theaterstücken, die in Gaststuben und auf Tanzböden zur Aufführung kamen. Die [11] Laienschauspieler der Stainzer Volksbühne, bei der sie mitwirkte, wurden mit ihren Bauernschwänken in die Nachbardörfer und Bezirksstädte eingeladen, bis weit in die Oststeiermark hinein, wo ein evangelischer Pfarrer, noch zu Lebzeiten von Elisabeth Sternad, Gefallen an der heftig akklamierten Hauptdarstellerin gefunden hatte. Verwirrt von den zaghaften, bald schon deutlichen Zeichen seiner Zuneigung, im Grunde ihres Herzens auch bereit, seine Gefühle zu erwidern, und schließlich in heißer Liebe entflammt, hatte sich Ernestine der Mutter anvertraut, die ihr auseinandersetzte, daß einer solchen Affäre keine Zukunft beschieden wäre. Ernestine verbat sich jeden weiteren Gedanken an eine Verbindung, die sowohl die sozialen als auch die konfessionellen Grenzen gesprengt hätte, und gab erst etliche Jahre später dem Werben eines tüchtigen Tischlers namens Peter Fuchs nach, mit dem sie eine lange und einigermaßen glückliche Ehe geführt hätte, wenn nicht der Krieg gekommen wäre.

Juliana war ebenso pflichtbewußt wie die Schwester, die an ihr Mutterstelle vertrat. Wenn sie und Anna sonntags ins Hochamt geschickt wurden, betrat sie auch tatsächlich das Gotteshaus, während die Jüngere nach dem Zusammenläuten draußen stehenblieb, ungeduldig zusah, wie die Kirchgänger mit kurzen Schritten durch das Tor rückten, sich dann davonstahl, den Schloßplatz hinauf zur Alten Schule, neben der ein Fußweg aus der Ortschaft führte, in die Obstgärten, wo sie sich mit ihren Freundinnen, vielleicht auch dem einen oder anderen [12] Burschen vergnügte. Nach der Volksschule bemühte sich Juliana vergeblich um eine Lehrstelle. Ein paar Jahre lang übernahm sie Näharbeiten, von denen sie aber nicht leben, nur das schmale Familieneinkommen aufbessern konnte. Sie war schon Anfang zwanzig, als sie beschloß, ihrer älteren Schwester und ihrem Vater nicht länger auf der Tasche zu liegen. Eines Tages schnürte sie ein Bündel, für das ihr Josef Sternad eine Speckseite, einen halben Laib Brot und ein paar Äpfel bereitgelegt hatte, und wanderte zum Markt hinaus. Am Ende der Kastanienallee drehte sie sich ein letztes Mal um, sah Ernestine winken, wischte sich mit der Schürze die Tränen vom Gesicht und schritt in ihren genagelten Schuhen weit aus.

Das Stainz von damals, eine sich unter das mächtige Schloß duckende Ortschaft, in der ein paar Gewerbetreibende, Gastwirte und Gendarmen, dazu der Pfarrer, der Gemeindearzt, der Bezirksrichter und der Notar neben dem Betriebsleiter der Zündwarenfabrik dafür sorgten, daß die aufrührerischen Ideen, die sich bei Ausrufung der Republik bis hierher verbreitet hatten, allmählich verödeten. Die Fabrik mußte, der Ortschronik zufolge, 1928 stillgelegt werden, im Jahr darauf feierte man das siebenhundertfünfzigjährige Bestehen des Augustiner-Chorherrenstifts, und am 12. Juli 1931 war das Luftschiff Graf Zeppelin während seines Österreich-Rundflugs auch über Stainz zu sehen. Umgehend wurde im Gemeinderat der Beschluß gefaßt, dem Luftschiffer Hugo Eckener in Anerkennung seiner Pioniertat ein Fäßchen Schilcherwein [13] nach Friedrichshafen zu schicken. Anzunehmen, daß Juliana zur gleichen Zeit irgendwo zwischen Frankfurt und Mainz einer launenhaften Herrschaft die Betten aufschüttelte, den Boden wischte, Geschirr spülte und Auslagenfenster putzte, gegen Kost und Quartier, ehe sie sich wieder auf den Weg machte, von der Hoffnung getrieben, in der nächsten Stadt eine dauernde Bleibe und eine feste Stelle zu finden.

Im Kurort Bad Kreuznach, rund sechshundert Kilometer nordwestlich von Stainz, sollte sie kurz darauf den Metalldreher Hugo Salzmann kennenlernen. Am 4. Februar 1903 geboren, als zweites von fünf Kindern des Ehepaares Peter und Auguste, geborene Rose, Glasmacher und Näherin, war er von den Entbehrungen der Kriegsjahre nachhaltig geprägt worden. Noch Jahrzehnte später, während seiner Haft im Zuchthaus Butzbach, kam ihm seine Mutter in den Sinn, wie sie im Winter 1917/18, als der Vater an der Westfront stand, erschöpft, lungenkrank bereits, durch tiefen Schnee zu Bauerngehöften stapfte, wo sie Flicken setzte, Schürzen nähte, Jacken und Röcke wendete, für einen Liter Milch, zwei oder drei Eier, eine Speckschwarte, die sie zu Hause, zwei engen Kammern unter dem Dach, unter den Kindern aufteilte. Ein paar hundert Meter weiter hatten die Generale Hindenburg und Ludendorff ihr Hauptquartier aufgeschlagen, im Kurhaus und im noblen Hotel Oranienhof, wo Hindenburg an seinem siebzigsten Geburtstag einem Reporter auf die [14] Frage nach seinem Befinden zur Antwort gab: Der Krieg bekommt mir, wie eine Badekur! Die Mutter, ehe sie im Jahr darauf an Schwindsucht verstarb, schimpfte auf die Kreuznacher Geschäftsleute und Honoratioren, die sich in der Etappe herumtrieben, weil sie dem örtlichen Militärkommandanten Pakete zukommen ließen mit Leckereien, Drogeriewaren, modischen Stoffen für die Frau Gemahlin oder das Fräulein Braut. Mein Mann muß für die an die Front, und haben keine fünf Kinder.

Das herrschende Unrecht. Es erkennen und zu deuten wissen. Für Hugo Salzmann gab es, scheint’s, nie einen Moment des Zögerns oder Zweifelns, auch nicht der Versuchung, die gesellschaftlichen Verhältnisse als naturgegeben hinzunehmen. Schon im ersten Lehrjahr, 1918, war er dem Deutschen Metallarbeiter-Verband beigetreten, leitete später dessen Jugendgruppe, dann die Kreuznacher Sektion des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes. Mit siebzehn wurde er zum Organisationsleiter des Kommunistischen Jugendverbandes, mit zweiundzwanzig zu dem der Kommunistischen Partei gewählt, war Vorsitzender der Roten Hilfe und des Roten Frontkämpferbundes, dazu noch Schriftleiter der Ortszeitung ›Leuchtrakete‹. Seit 1924 war er Betriebsratsvorsitzender der Firma Ost und Scherer, die Badeöfen, Gießkannen, Lögel, Aktenschränke und Transportbehälter herstellte. 1929 zog er als jüngster Stadtverordneter in den Stadtrat ein, wo ihm das Sozialreferat für Erwerbslose und Ausgesteuerte übertragen wurde.

[15] Salzmann galt als integer und verläßlich, nicht nur bei den Wählern und Sympathisanten seiner Partei, die Bedürftigen der Stadt vertrauten darauf, daß er nichts unversucht ließ, ihre Lage zu verbessern, und sich bis spät in die Nacht hinein um ihre Anliegen kümmerte, er lebte bescheiden, trank nicht, machte keine großen Worte, zog aber als Redner, der die Nutznießer der Wirtschaftskrise beim Namen nannte, die Zuhörer in seinen Bann. Früher als seine Parteigenossen erkannte er die Gefahr des heraufkommenden Nationalsozialismus, anders als sie bemühte er sich um Verständigung mit der Sozialdemokratie, wenigstens ein Zweckbündnis, meinte er, sollten die beiden Parteien schließen, um den Zulauf zur Hitlerbewegung zu stoppen. Den Nazis in Kreuznach und Umgebung war er besonders verhaßt, als ein Rädelsführer der Kommune, der in Auftreten und Charakter noch dazu dem kolportierten Idealbild des Nationalen Sozialisten glich, furchtlos, selbstlos, ohne Laster.

Unbekannt, wie er und Juliana zueinander fanden. Vermutlich hatte die junge Frau, auf ihrer geduldigen Suche nach einer Anstellung, in Erfahrung gebracht, daß Arbeitsuchende in Bad Kreuznach nicht gleich in die nächste Gemeinde abgeschoben, sondern für ein paar Tage mit Kost und Quartier versorgt wurden. So bescheiden sie auch war, die Wochen und Monate auf der Walz hatten ihr beigebracht, jede Gelegenheit zu nutzen, um in einer Herberge zu einem Dach über dem Kopf und einem billigen Armenessen zu kommen. Anzunehmen, [16] daß ihr dort geraten wurde, sich im Rathaus zum Stadtverordneten Salzmann durchzufragen. Anzunehmen auch, daß bei ihrer ersten Begegnung – nachdem sie lange in der Schlange der Hilfesuchenden angestanden war, die sich durch den Flur des Amtsgebäudes über die Treppe bis zur Straße wand – noch kein Funke gegenseitigen Erkennens übersprang; möglich, daß Juliana, vom Warten geschwächt, gegen eine Ohnmacht ankämpfte, als sie endlich an der Reihe war, und Hugo Salzmann aufsprang, ihr einen Stuhl unterschob, dann um ein Glas Wasser lief. Als er es ihr reichte, berührten sich ihre Hände einen Moment lang. Die seinen waren schmal, die Finger fein und zart, was Juliana verwunderte, weil sie aufgrund der Gespräche in der Warteschlange erwartet hatte, einen gedrungenen oder stämmigen Mann mit Schiffermütze und Händen breit wie Schaufelblätter vorzufinden. Hugo war etwas kleiner als Juliana, eins achtundsechzig vielleicht, drahtig und schlank, mit vollem, nach hinten gekämmtem Haar. Er hatte helle braune Augen unter dichten Brauen, die oberhalb der Nasenwurzel an zwei Längsfalten endeten. Zusammen mit den hohen Backenknochen und den hohlen Wangen ließen sie ihn gegenwärtig und abwesend zugleich aussehen, lebhaft, aber wie verzehrt von innerer Glut. Er könnte ihr, während sie ihm noch aufzählte, welche Tätigkeiten sie bisher ausgeübt habe und auf welche sie sich außerdem verstehe, die Adresse einer Firma aufgeschrieben haben, von der er wußte, daß sie manchmal, tageweise, Hilfsarbeiterinnen aufnahm, dazu den [17] Namen des Personalleiters, sagen Sie ihm, Hugo hat Sie geschickt. Dann könnte er sie gefragt haben, ob der Schwächeanfall vorbei sei, und ein Nicken zur Antwort bekommen haben, worauf er die Hand ausgestreckt und die ihre gedrückt hätte. Fest und kurz, ohne Absicht, sich bei ihr in Erinnerung zu halten.

Vielleicht liefen sie einander Tage oder Wochen später auf der Nahebrücke über den Weg. An einem ungewöhnlich milden Abend Ende Oktober einunddreißig, an dem Hugo Salzmann im Städtischen Saalbau auf einer Parteiversammlung sprechen sollte, und er nahm sie kurzerhand mit. Kann sein, ihm gefiel, daß sie sich nicht plusterte wie andere Frauen, die er kennengelernt hatte, daß ihr nicht in den Sinn kam, sich hervorzutun, daß sie weder abweisend noch ausgelassen war, zurückhaltend, das schon, aber nicht verschüchtert. Dazu die für seine Ohren fremdartig burleske Mundart, Wörter, die er nicht verstand, langgezogene Zwielaute wie bei einem Kurgast aus Übersee, der ihn vor Jahren einmal nach dem Weg gefragt hatte, schon bei ihrer Begegnung im Amtshaus hatte er einen Moment lang geglaubt, sie stamme wie dieser aus den Vereinigten Staaten von Amerika. Juliana war schmal, sie trug das Haar kurz, mit einem Seitenscheitel, weniger der Mode wegen, sondern weil es praktisch und zeitsparend war, die langen Zöpfe hatte sie sich bald nach ihrem Aufbruch aus Stainz abgeschnitten. Ihr Blick war arglos und froh, dabei voll Sehnsucht, nach Frieden und Geborgenheit oder auch nur nach dem Glück, einen [18] Menschen zu treffen, der sich für diese Sehnsucht erregt, selbst auf die Gefahr hin, die eigene Existenz zu verwirken.

Mehr als tausend Menschen waren gekommen, um den Ausführungen der beiden Redner – zuerst sprach ein Genosse aus Frankfurt am Main, der Reichstagsabgeordnete Otto Brenzel – zu folgen. Das Thema, Nationalsozialismus und Kommunismus. Der kahlköpfige Brenzel, ein gelernter Schreiner, der durch einen Arbeitsunfall den Daumen der rechten Hand eingebüßt hatte und bei politischen Veranstaltungen immer in Anzug und Krawatte auftrat, nahm als erstes die Bannerweihe des Kreuznacher Kampfbundes gegen den Faschismus vor. Er wies darauf hin, daß die rote Fahne ihren Ursprung im Aufstand der Sklaven im alten Rom genommen habe, mit dem roten Lendentuch, das Spartakus als Banner auf einen Stab gesteckt habe. Dann kam er auf die Erfordernisse und Perspektiven der Gegenwart zu sprechen. Eiserne Disziplin, steter Vormarsch der Partei, Zeitenwende, so erlebnisreich, daß uns die Enkel noch darum beneiden werden. Eine neue, höhere Gesellschaftsordnung sei im Werden, die von Marx, dem größten Nationalökonomen, und Lenin, dem größten Revolutionär aller Zeiten, eingeläutet worden sei. Brenzel übte scharfe Kritik an der deutschen Sozialdemokratie, weil sie in historischen Augenblicken stets dem Nationalen den Vorzug gegeben und das Proletariat verraten habe, zum Beispiel bei Ausbruch des Weltkriegs, mit ihrer Zustimmung zu den [19] Kriegskrediten, in dessen Folge die Arbeiterbrüder an den Fronten verblutet seien.

Wir sagen: Proletarier aller Länder, vereinigt euch! Die Sozialdemokraten sagen: Proletarier aller Länder, beruhigt euch.

Warnung vor den Nationalsozialisten, die den Boden bestellten, den die Sozialdemokraten für sie bereitet hätten. Ihr nationales Gebrüll könne nicht darüber hin-wegtäuschen, daß sie bereits auf viele ihrer Grundsätze verzichteten und in der Kruppschen Methode der Automatisierung, Massenentlassung und Lohnkürzung den positiven Weg aus der Krise sähen. Die Nationalsozialisten wollen die Arbeiter in tiefere Knechtschaft führen, rief Brenzel, wir wollen sie erlösen, wie wir in Rußland den Arbeiter und die Frau erlöst haben. An dieser Stelle, so vermerkte der ›Öffentliche Anzeiger für den Kreis Kreuznach‹ in seinem ausführlichen Veranstaltungsbericht, brandete lebhafter und lang anhaltender Beifall auf.

Hugo Salzmann ging in seinem Beitrag auf eine Massenkundgebung der NSDAP ein, die wenige Tage zuvor im Evangelischen Gemeindehaus stattgefunden hatte. Dort war Felix Neumann, ein Mitbegründer der KPD, als Redner aufgetreten. Die Kommunistische Partei Deutschlands hatte ihm nach dem Scheitern der für Oktober 1923 geplanten Revolution Aufbau und Leitung einer Geheimgruppe übertragen, die sie vor Spitzeln schützen sollte. In Durchführung seines Auftrags hatte er in Berlin einen Schutzmann angeschossen, der nach zehn Wochen an [20] den Folgen der Verletzungen gestorben war. Neumann wurde im April 1925 zum Tode, später zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Im Gefangenenhaus Sonneberg, das ihm, nach eigenen Worten, zur Universität wurde, wandelte er sich zum fanatischen Nationalsozialisten und wurde nach seiner Begnadigung als Propagandist überall dort eingesetzt, wo – wie in Kreuznach – KPD und NSDAP um die Vormacht innerhalb der änderungswilligen Arbeiterschaft rangen. Erstens, weil sein Auftreten als Kronzeuge im sogenannten Tscheka-Prozeß, dann die Flucht aus dem Gefängnis und der öffentlich inszenierte Übertritt zur Nazipartei großes Aufsehen erregt hatte; zweitens, weil er in Auftreten und Rhetorik seine politische Herkunft nicht verleugnen konnte; drittens, weil er von früher her intime Kenntnisse über Vorgänge innerhalb der KPD und über Zustände in der Sowjetunion besaß oder zu besitzen vorgab. Das Argument, daß er kraft oder trotz seiner kommunistischen Vergangenheit zum Nationalsozialismus gefunden habe, machte den Abtrünnigen für seine ehemalige Partei zu einem besonders unangenehmen Kontrahenten.

Als er an jenem Abend seine Brandrede gegen Kommunismus, Sozialdemokratie und die Weimarer Republik beendet hatte, war Salzmann aufgestanden und hatte sich, ungeachtet der aufgeheizten Stimmung im Saal, zu Wort gemeldet. Fünfzehn Minuten lang bemühte er sich, die Argumente und Behauptungen seines Vorredners zu zerpflücken. Plötzlich stürzten, in der Absicht, ihn von der [21] Bühne zu stoßen, die Männer der eigens aus Koblenz bestellten Schutzstaffel von hinten auf ihn zu. Seine Geistesgegenwart sowie die Tatsache, daß er die warnenden Zurufe aus dem Publikum richtig zu deuten wußte, vereitelten das Vorhaben. Wie durch ein Wunder kam er in der nun beginnenden Saalschlacht, bei der zwei Nazis, ein Kommunist und ein Polizist erheblich verletzt wurden, mit ein paar blauen Flecken davon.

Davon berichtete er, in knappen Worten, ohne viel Aufhebens zu machen. Er erwähnte auch, daß er die NSDAP zur heutigen Veranstaltung eingeladen und ihr volle Redefreiheit versprochen habe, daß aber ihr Ortsleiter, der Weingutsbesitzer Pies aus Langenlonsheim, die Einladung ausgeschlagen habe, weil die körperliche Unversehrtheit der Personen nicht gewährleistet sei. Pies hatte in seinem Antwortschreiben darauf verwiesen, daß die Fensterscheiben des Parteilokals eingeschlagen und ortsbekannte Nazis auf der Straße schwer mißhandelt worden seien. Er machte Kommunisten für diese Aktionen verantwortlich. Salzmann wies die Anschuldigungen zurück: Wir haben es nicht nötig, mit Steinwürfen zu kämpfen, es hätte ja auch keinen Sinn, denn die Fensterscheiben bezahlt die Versicherung und nicht die Partei. Wir haben es auch nicht nötig, uns auf Straßenkampf einzulassen. Wir wahren eiserne Disziplin, wir brauchen in unseren Versammlungen nicht hundert Mann Saalschutz auf die Bühne zu stellen. Das einige Arbeitervolk läßt sich nicht auf Schlägerei ein.

[22] Kann sein, daß Salzmann es sich nach der Veranstaltung nicht nehmen ließ, Juliana bis zur Herberge zu begleiten. Oder daß sie vorher noch, mit Brenzel und einigen anderen Genossen, in einer Wirtschaft einkehrten und weiterdiskutierten, bis Mitternacht, und dann bot er ihr an, bei ihm zu übernachten, denn die Schlafstelle war schon geschlossen. Oder auch, daß sie sich still davonmachte, während er noch, umringt von seinen Genos-sen, eine Menge Fragen beantworten oder Gemüter beschwichtigen mußte, weil Pies, wie bekanntgeworden war, nach den Vorfällen im Evangelischen Gemeindehaus bei der Staatsanwaltschaft Koblenz gegen ihn und seine Genossen Anzeige wegen Landfriedensbruch erstattet hatte. Wie Juliana und er wirklich zueinander fanden, bleibt ungewiß, es gibt keine Aufzeichnungen, keine Erinnerungen, die mündlich weitergegeben worden wären, keine Briefe oder Mitteilungen an Dritte, die Rückschlüsse ermöglichen würden, das erste Bild, auf dem die beiden gemeinsam zu sehen sind, oval im vergilbten Weiß, ist mit 8.9.1932 datiert. Da waren sie schon verheiratet und Juliana im siebten Monat schwanger.

Der mir die Geschichte erzählt hat, in der Hoffnung, daß ich sie mir zu Herzen nehme, ist am 2. November 1932 im Krankenhaus St. Marienwörth zur Welt gekommen. Per Kaiserschnitt, auf Anraten des als außergewöhnlich gewissenhaft beschriebenen Arztes Dr. Böhm, der Komplikationen befürchtet hatte. Das Kind wurde, wie sein [23] Vater, unter dem Namen Hugo Salzmann im Geburtenregister der Stadt Bad Kreuznach eingetragen. Das Foto, von der Straße oder vom Hof aus aufgenommen, zeigt seine Eltern auf der Holzveranda ihrer Wohnung, In der Beinde 22, erster Stock, links Hugo, rechts Juliana, die sich auf die Brüstung lehnt, hinter ihren Köpfen, im schwarzen Rechteck der Tür, das Blattwerk einer Pflanze, unter ihnen, an der Außenseite der Veranda, ein weißgestrichener, aus schmalen Holzleisten gezimmerter Blumenkasten mit vier Geranienstöcken. Der Bildausschnitt verrät weder Wohlstand noch Armut, nur die feste, unverrückbare Ordnung der Dinge. Hugos wachsam gespannter, Julianas träumerischer Blick lassen an nahes Glück denken. Zwei junge Menschen, in Erwartung eines dritten, der in geregelten und harmonischen Verhältnissen aufwachsen soll.

Aber zur gleichen Zeit, ein paar Tage früher oder wenig später, entkam Salzmann einem Anschlag, mit dem die Nazis sich seiner für immer entledigen wollten, mittels eines nächtens über die Fahrbahn gespannten Stahlseils, kurz bevor er auf seiner Triumph 200 die Stelle passieren würde, der Zufall wollte es, daß sie dabei von einem beobachtet wurden, der ihn rechtzeitig warnen konnte. Und ebenfalls um diese Zeit, Spätherbst zweiunddreißig, kaufte er einem Hausierer eine Pistole ab, nicht um für weitere Mordanschläge gerüstet zu sein, sondern weil ihm schwante, was passieren würde, wenn Hitler an die Macht käme. Tyrannenmord, ehe der Ermordete noch zum [24] Tyrannen erstünde, denn danach wäre keine Gelegenheit mehr. Er vertraute seine Absicht einem Genossen der Landesleitung Hessen an, der ihn beschwichtigte, gerade erst, bei den vorgezogenen Reichstagswahlen Anfang November, hatte die KPD tüchtig zugelegt und die Nazipartei gegenüber Juli zwei Millionen Wähler verloren.

Die bröckeln, Hugo, und denkst du, die sechs Millionen, die für uns sind, gehen im Ernstfall nicht auf die Straße. Der Hitler wird gegen uns nicht ankönnen, glaub mir. Aber wenn du das wirklich machst, was du vorhast, bist du geliefert. Und wir dazu.

Angenommen, der Mann befürchtete, der starrköpfige Salzmann werde sich von seinem Vorhaben trotzdem nicht abhalten lassen, und gab den Behörden einen Wink, das würde erklären, weshalb die Polizei in der Beinde völlig überraschend eine Hausdurchsuchung vornahm. Das Amtsgericht Bad Kreuznach verurteilte Hugo Salzmann wegen illegalen Waffenbesitzes zu drei Monaten Haft, die ihm im Zuge des Straffreiheitsgesetzes vom 20. Dezember 1932 allerdings erlassen wurden. Er blieb auf freiem Fuß.

Es war das Ehepaar Baruch, das ihn rettete. Und als erster Heinrich Kreuz, sein sozialdemokratischer Arbeitskollege, weil er mutig genug war, Salzmann bei sich zu Hause, in der Nachbargemeinde Planig, zu verstecken. In der Nacht auf den 28. Februar 1933 war in Berlin das Reichstagsgebäude in Flammen aufgegangen, was die [25] regierenden Nationalsozialisten zum Anlaß nahmen, mit einer Notverordnung die Grundrechte außer Kraft zu setzen. Ihre Maßnahmen richteten sich in erster Linie gegen die Kommunistische Partei, die sie für die Brandschatzung verantwortlich machten. Sofort wurden ihre Zeitungen verboten, ihre Lokale geschlossen und ihre Funktionäre in Schutzhaft, wie es hieß, genommen. Auch in Bad Kreuznach verhaftete die Polizei, verstärkt durch Formationen der SA und des Stahlhelm, alle führenden Kommunisten, dazu noch drei einfache Parteimitglieder, »wegen Ruhestörung und Singen von KPD