Entwurf einer Liebe auf den ersten Blick - Erich Hackl - E-Book

Entwurf einer Liebe auf den ersten Blick E-Book

Erich Hackl

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Beschreibung

1937, der Spanische Bürgerkrieg tobt. Der junge österreichische Brigadier Karl wird nach Valencia ins Krankenhaus gebracht. Da sein Bett für ihn zu kurz ist, liegen seine Beine über das Bett hinaus auf einem Stuhl. Ein lustiger Anblick, und mit einem Lachen im Gesicht schaut Herminia Karl zum ersten Mal in die Augen. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Eine wahre Liebe zur falschen Zeit.

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Seitenzahl: 58

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Erich Hackl

Entwurf

einer Liebe

auf den

ersten Blick

Die Erstausgabe

erschien 1999 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration:

Pablo Picasso, ›Frau mit Fächer‹, 1905

National Gallery of Art, Washington, D.C.

Schenkung der W. Averell Harriman Foundation

in memory of Marie N. Harriman

Copyright © 2012 ProLitteris, Zürich;

Picasso Administration, Paris

Foto: Copyright © Board of Trustees,

National Gallery of Art,

Washington, D.C.

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23242 4 (2. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60239 5

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Meinem Herzen ist es gleich

ob die Glocken schießen

[7] 1

Im Jänner siebenunddreißig wurde der Österreicher Karl Sequens mit einem Oberschenkeldurchschuß in ein Krankenhaus der Stadt Valencia eingeliefert. Es läßt sich kaum noch feststellen, wo, an welchem Tag und unter welchen Umständen Karl verletzt worden war. Tatsache ist, daß er mit einem Verwundetentransport internationaler Freiwilliger eintraf, und Tatsache ist auch, daß Herminia Roudière Perpiñá gemeinsam mit ihrer Schwester Emilia dem Aufruf des örtlichen Frauenkomitees nachkam, die Kämpfer für Spaniens Freiheit zu besuchen und ihnen den Spitalaufenthalt möglichst kurzweilig zu gestalten. Sie brachten Obst und Tabak mit und erboten sich, bei Bedarf die Leibwäsche zu waschen, Briefe an Freunde und Angehörige zur Post zu tragen und ausländische Zeitungen zu beschaffen.

Als Herminia den Saal betrat, in dem die minder Verletzten untergebracht waren, erregte die Lage des besonders groß gewachsenen Patienten – Karl maß einssechsundachtzig oder gar [8] einseinundneunzig – ihre Heiterkeit: Da die Krankenbetten (wie die meisten Betten in Spanien) recht kurz waren, hatte der junge Mann seine Beine zwischen den Gitterstäben am Fußende hindurchgeschoben und die Füße auf einen dahinterstehenden Stuhl gestützt. Vielleicht hatte Herminia noch ein Lachen im Gesicht, als sie einander zum ersten Mal in die Augen schauten.

Es war, sagt ihre Tochter, Liebe auf den ersten Blick.

2

Karls ungewöhnlicher Nachname läßt sich bis ins vierzehnte Jahrhundert zurückverfolgen. Der Luxemburger Kaiser Karl iv. hatte um 1360 deutsche Handwerker dazu aufgerufen, Böhmen zu besiedeln. Die Einwanderer, die diesem Wunsch entsprachen, trugen ihren Gehorsam fortan im lateinischen Namen Sequens (von sequi »folgen, nachfolgen«) zur Schau. Karls Vorfahren ließen sich in Choteˇborˇ nieder, wo sie über Generationen das Tuchmachergewerbe ausübten und zu einigem Wohlstand kamen. Aber Mitte des vergangenen [9] Jahrhunderts verarmte die Familie infolge der übermächtigen Konkurrenz britischer und niederländischer Manufakturen. Karls Großvater mußte sich bereits als Spengler in einer Brünner Fabrik verdingen. Auch sein Sohn, Karls Vater, ergriff diesen Beruf. Er leistete den dreijährigen Militärdienst als Artillerist in Bosnien ab, übersiedelte nach Wien und trat in den handwerklichen Dienst der k. u. k. Staatsbahnen, wo er es zum Adjunkt brachte. 1904 ehelichte er Rosa Maria Kolibal, Tochter eines Berufskollegen im mährischen Tischnowitz. Im Jahr darauf kam Karl zur Welt, 1906 Rosemarie. Die beiden Geschwister wuchsen in Wien-Floridsdorf auf, in einem Wohnhaus für Eisenbahnerfamilien in der Angererstraße 18, Zimmer Kabinett, Wasser und Klo auf dem Gang.

3

Herminias Vater stammte aus Le Mas d’Azil, einer Ortschaft im Département Ariège, rund sechzig Kilometer südlich von Toulouse. Als junger Mann versuchte er sein Glück in Valencia, wo er eine Fabrik gründete, in der Horn zu Kämmen, Knöpfen [10] und Gürtelschnallen verarbeitet wurde. Victor Roudière war tüchtig, das Geschäft florierte, bald eröffnete er eine Zweigstelle in Barcelona, pendelte zwischen der katalanischen Metropole und Valencia hin und her. Erst als seine materielle Existenz gesichert schien, hielt er um die Hand einer gewissen Francisca Perpiñá an, aber deren Vater, Gutsbesitzer in Massanassa, wünschte sich einen rechtgläubigen Katholiken zum Schwiegersohn, und Roudière war Protestant. Also büffelte er den Katechismus, ließ sich taufen und heiratete Francisca mit dem Segen des Pfarrers. 1906 wurde Herminia geboren, 1908 Luis, der schon als Kleinkind seinen Taufnamen verwarf und immer nur Emilio genannt werden wollte. Im Februar 1911, nach der Geburt der zweiten Tochter Emilia, starb Francisca an Kindbettfieber. Überzeugt, daß seine Kinder weiblicher Zuwendung bedurften, wollte Roudière eine neue Ehe eingehen. Aber alle unverheirateten Frauen der Stadt, die seinem Stand angemessen waren und die ihm auch gefielen, schreckten vor der Aufgabe zurück, drei kleinen Kindern die Mutter zu ersetzen. Nach langer vergeblicher Suche heiratete er schließlich María B΄aguena, eine junge Frau aus ärmlichen Verhältnissen. Herminias Stiefmutter konnte kaum lesen und schreiben, und es dauerte nicht lange, bis die [11] unterschiedlichen Erfahrungen und der kulturelle Abgrund zwischen den Eheleuten zu Zwistigkeiten führten, an denen weniger die mangelnde Bildung der Frau als die Ungeduld ihres Gatten schuld war. Nach wenigen Jahren trennten sie sich, aber dann wurde ihr gemeinsamer Sohn Víctor, Herminias Stiefbruder, von einer schweren Krankheit befallen. Die Sorge um ihn, gepaart mit schlechtem Gewissen, bewog sie, ihre Ehe wiederaufzunehmen.

Victor Roudière entsprach nicht dem Bild des skrupellosen, auf den eigenen Vorteil bedachten Unternehmers. Trotz der Arroganz, mit der er seiner zweiten Frau begegnete, war er sozial empfindsam und von der Notwendigkeit politischer Reformen überzeugt. Seine Kinder schickte er in eine konfessionslose Schule der Institución Libre de Enseñanza, wo sie zum Glauben an die menschliche Vernunft erzogen wurden, und nahm sie, ungeachtet ihres Geschlechts, als Gesprächspartner ernst. Ihm verdankte Herminia nicht nur ihre perfekten Französischkenntnisse, sondern auch den Drang, sich Wissen anzueignen, zu helfen, wo Hilfe not tat, auf eigenen Füßen zu stehen und die Welt draußen als Teil der eigenen Welt zu begreifen. Mit siebzehn begann sie Medizin zu studieren, aber 1924 starb der Vater, und schon vorher war [12] ihm durch Betrug die Leitung des Unternehmens entzogen worden, und so sahen sich die Kinder nach wenigen Jahren gezwungen, ihr Studium abzubrechen, um Geld für den eigenen Unterhalt zu verdienen. Die beiden Söhne kamen als Chauffeure unter, Emilia erlernte das Schneiderhandwerk, Herminia arbeitete als Verkäuferin in einem Schallplattenladen, dann in einem Schuhgeschäft. Als sie Karl Sequens kennenlernte, war sie Buchhalterin in einer Möbelfabrik. Sie war dreißig Jahre alt und noch ledig. An Verehrern hatte es nicht gefehlt; mehrere Ärzte waren um sie bemüht gewesen, auch ein Stierkämpfer, aber keinem hatte sie sich so nahe gefühlt wie jetzt diesem Fremden.

Es war, sagt ihre Tochter, der tiefe Ernst, der Herminia sofort nach den ersten, auf französisch gewechselten Worten für ihn eingenommen hat. Die einzigen Menschen, die sich heute noch an Karl Sequens erinnern, bestätigen diesen Wesenszug. So spricht Hans Landauer, der mit sechzehn Jahren in den Spanischen Bürgerkrieg gezogen war, von Karl als von einem »unheimlich netten, ruhigen, überlegten« Kameraden. Ein zweiter ehemaliger Freiwilliger, Alois Peter, nennt ihn »aufrecht, tüchtig, intelligent«, und dem dritten, Bruno Furch, ist er als »ernst, nachdenklich und auch gescheit« im Gedächtnis geblieben. Sequens habe [13] nie herumgeblödelt, sagt Furch, sich nie danebenbenommen, sagt Landauer.

4

Schwer zu sagen, wie und wann einer Tugenden erwirbt, die ihm nicht in die Wiege gelegt sind. Karls Vater, der 1919, nach dem Zerfall der Donaumonarchie, für Österreich optiert hatte und als Betriebsspengler bei der Österreichischen Bundesbahn arbeitete, war sozialdemokratisch gesinnt, das färbt ab, bestimmt aber nicht unbedingt den Charakter. Meine Vorstellung muß sich an kollektiven Erfahrungen entzünden, den Hungerjahren während des Ersten Weltkrieges und nach Ausrufung der Republik, an den kulturellen und sozialen Errungenschaften des Roten Wien, an der Zukunftsgewißheit junger Arbeiter. Vielleicht war für Karl der 15. Juli 1927, als der Wiener Polizeipräsident Hunderte Demonstranten niederschießen ließ, der Tag, an dem seine Reise nach Spanien begann: Bruch des Vertrauens in Recht und Gesetz. Einsicht in die Vergeblichkeit reinen Hoffens. Wunsch, in den Lauf der Ereignisse einzugreifen.

[14]