Sara und Simón - Erich Hackl - E-Book

Sara und Simón E-Book

Erich Hackl

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Beschreibung

Nach dem Sturz der uruguayischen Militärdiktatur, nach Gefängnis und Folter, macht sich Sara auf die Suche nach ihrem verschwundenen Sohn. Doch als sie ihn nach zehn Jahren endlich gefunden zu haben glaubt, setzt die wirkliche Tragödie ein: Sara gerät in einen Teufelskreis der totalen Verweigerung. Präzises, einfühlsames Protokoll einer Frau im Kampf gegen alle und die bewegende Geschichte eines großen Verlustes.

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Seitenzahl: 190

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Erich Hackl

Sara und Simón

Eine endlose Geschichte

Die Erstausgabe erschien 1995

im Diogenes Verlag

Der hier abgedruckte Text wurde im Dezember 1998

sowie im August 2002

vom Verfasser durchgesehen und aktualisiert

Umschlagillustration:

Pablo Picasso, ›Mère et enfant au fichu‹,

um 1903 (Ausschnitt)

Copyright © 2012 ProLitteris, Zürich

Foto: Scala, Antella (Firenze)

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 22926 4 (8. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60094 0

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Jedesmal gegenwärtiger. Als würde ein reißender Blitz an meine Brust dich tragen. Wie ein langsamer Blitz, langsam.

Jedesmal abwesender.

Als würde ein ferner Zug

[7] 1

Zur Zeit der Militärdiktatur geriet ein Bürger der Stadt Montevideo, Eduardo Cauterucci Pérez, in helle Aufregung. Als er nämlich am 19. August 1976, gegen acht Uhr abends, in die Hauseinfahrt einbog, entdeckte er in einer Nische neben seiner Wohnungstür, in der Straße Manuel Calleros Nummer 4945, eine Plastikschüssel, in der, unter einem leeren Stoffsack, ein wenige Wochen altes Kind lag. Um den Hals trug es ein Schild mit folgender Aufschrift: »Ich bin am 25. Juni geboren mein Name Marcelo Alejandro. Bitte habt ihn sehr lieb. Danke verzweifelte Mutter.«

Ohne lange zu überlegen, packte der Mann die Schüssel und trug sie ins Haus. Im Schlafzimmer nahm er den Knaben, der ihn mit großen Augen ansah, in seine Arme, legte ihn aufs Bett und holte in aller Eile zwei Nachbarinnen zu Hilfe, die Schwestern Walquiria und Argelia D’Amato. Wenig später traf auch Cauteruccis Frau Elaine Lima ein, und nachdem sie sich überzeugt hatten, daß das Kind soweit gesund sei, verständigte Cauterucci einen alten Bekannten, den Wachtmeister Ledesma vom 16. Polizeirevier. In Begleitung von Walquiria D’Amato und Elaine Lima brachte Ledesma den Jungen ins Waisenhaus der Stadt. [8] Dort wurde er vom Kinderarzt Dr. Carlos Queirolo eingehend untersucht. Queirolos Befund zufolge handelte es sich um einen Säugling mit leichter Dystrophie, optimal entwickelt, von unauffälligem Verhalten. Anders als in ähnlich gelagerten Fällen, mit denen er sonst befaßt war (jährlich wurden in Montevideo vier bis fünf Babys ausgesetzt), war der Zustand des Kindes überaus zufriedenstellend. Das überraschte den Arzt; der Junge muß bisher gut gehalten worden sein, meinte er, Spuren körperlicher oder seelischer Verwahrlosung könne er nicht erkennen. Deshalb falle es schwer zu glauben, daß seine Mutter ihn einfach weggelegt habe. Er sei lebhaft und zeige sich an seiner Umgebung stark interessiert, wohingegen Kinder aus einem aggressiven Umfeld fast immer passiv und apathisch wirkten.

Gerührt wohl auch vom Zufall, der es gerade ihnen zugeführt hatte, hätte Elaine Lima das Kind gern behalten. So bekräftigte sie an Ort und Stelle ihre Bereitschaft, den kleinen Marcelo Alejandro an Kindes Statt anzunehmen. Ledesma, der selbst einen Augenblick lang mit dem Gedanken spielte, den auffallend hellhäutigen Jungen seiner Frau mitzubringen, erklärte ihr, sie müsse dieses Ansinnen beim zuständigen Pflegschaftsrichter deponieren. Schon am nächsten Tag wurde Frau Lima in dieser Angelegenheit bei Gericht vorstellig, wo man sie jedoch um etwas Geduld bat. Bei ihrer zweiten Vorsprache, eine Woche später, erfuhr sie, daß der Junge bereits einem anderen Ehepaar [9] zugesprochen worden sei. Auf ihre empörte Frage, weshalb man sie übergangen habe, erhielt sie die Auskunft, gemäß den üblichen Gepflogenheiten sei jenes Paar, da es kinderlos sei, auf natürlichem Weg nie Kinder haben könne und seit langem auf der Warteliste stehe, vorzuziehen gewesen. Sie möge diese Entscheidung nicht als mangelndes Vertrauen in ihre Fähigkeiten deuten; sicher wäre sie als Pflegemutter bestens geeignet, auch sei sie von untadeligem Leumund, doch habe sie ja leibliche Kinder und hindere sie nichts daran, selbst für weiteren Nachwuchs zu sorgen.

Elaine Lima, die in der Vorfreude auf ein neues Mitglied der Familie die Babywäsche ihres jüngsten Kindes hervorgeholt hatte, war enttäuscht, fügte sich aber in den Lauf der Dinge. Deshalb blieb ihr von der Episode nicht mehr als die allmählich verblassende Erinnerung an einen turbulenten Abend, und Cauterucci bedauerte es, daß er nicht daran gedacht hatte, das Findelkind in den Armen seiner Frau zu fotografieren.

In Montevideo, nicht allzu weit vom Fundort entfernt, lebte bis ins Jahr 1973 auch eine junge Frau namens Sara Méndez. Aus bescheidenen Verhältnissen stammend, hatte sie nach der Mittelschule einen Bürokurs absolviert. Zwar verspürte sie wenig Neigung, einen kaufmännischen Beruf auszuüben, war jedoch bemüht, die Eltern, die noch drei weitere Kinder großgezogen hatten, finanziell zu entlasten. So arbeitete sie [10] untertags als Kanzleikraft bei einem Rechtsanwalt, später als Kassiererin in einem Friseurladen, während sie abends den Vorstudienlehrgang für Medizin besuchte. Im ersten Jahr aber brach sie das Medizinstudium ab, um sich zur Volksschullehrerin ausbilden zu lassen. Deshalb wechselte sie auf die Pädagogische Hochschule, wo die Studenten mit einigen Lehrern übereingekommen waren, in mehrwöchigen Praktiken ihre künftigen Arbeitsbedingungen in den Schulen auf dem Land, speziell den entlegenen Gegenden im Norden, und am Rande der Hauptstadt zu erkunden.

Im Zuge dieser soziopädagogischen Missionen, wie die Ausflüge in eine den meisten Studenten unbekannte Welt der Not und Verlassenheit genannt wurden, glaubte Sara zu erkennen, daß es nicht damit getan sei, den Kindern während des Unterrichts mit Vertrauen und Geduld zu begegnen. Das Wissen, das sie ihnen beibringen sollte, ließ sich für ihre spätere Tätigkeit als Tagelöhner oder Lumpensammler kaum nutzbringend verwerten, und die Zuwendung und Güte, mit denen die jungen Aushilfslehrer ein paar Wochen lang ihre Zöglinge verblüfften, erwiesen sich als wirkungslos, solange jenseits der Schulmauern Gesetze galten, nach denen sich die Schwachen nur durch Gewalt gegen ihresgleichen behaupten konnten. Überzeugt, daß dem abzuhelfen sei, kehrte Sara von ihrer ersten Mission nach Montevideo zurück. Sie beteiligte sich an den Streiks und Demonstrationen der Hochschüler, deren [11] Forderungen in jenen Jahren über materielle Vergünstigungen, praxisnahe Ausbildung, Reform der Lehrpläne und Kontrolle der Finanzgebarung hinausgingen. Viele Studenten ihres Jahrgangs hatten konfessionelle Privatschulen besucht, in denen sie gezwungen waren, sich einer scheinbar ewig gültigen Ordnung zu unterwerfen. Aber ihre Lehrer lieferten ihnen, teils ungewollt, auch das Rüstzeug, gegen diese Ordnung aufzubegehren, und weckten in ihnen den Willen, sich nicht mit den Regeln der Habgier abzufinden.

Uruguay, das dank des Elans und der Weitsicht seines Präsidenten José Batlle y Ordóñez seit Anfang des Jahrhunderts als die Schweiz Südamerikas angesehen wurde, stürzte durch die fallenden Weltmarktpreise von Fleisch, Wolle und Leder, die Konkurrenz von Billigproduzenten und das Versäumnis der wirtschaftlichen Elite, eine größere Streuung der Warenproduktion zu erzielen, in eine tiefe Krise. Um ihre Gewinne zu halten, hinterzogen Viehzüchter und Gefrierfleischexporteure Steuern, betrieben organisierten Schmuggel und verwandelten ihre Betriebe in Filialen ausländischer Trusts. Der Geldentwertung, die von der Oligarchie durch Preistreiberei, Kapitalflucht und Unterfakturierung ihrer Exportgüter hervorgerufen wurde, versuchte die Regierung mit einem strikten Sparprogramm, mit Lohnstopp und Rücknahme der für den Kontinent beispiellosen Sozialgesetze Herr zu werden. Dagegen wehrten sich die Gewerkschaften, [12] und zahlreiche linke Gruppierungen erstarkten, von denen die Nationale Befreiungsbewegung der Tupamaros unter Uruguays rebellischer Jugend das höchste Ansehen genoß.

In dieser Zeit war Sara überzeugt, daß nur ein radikaler Wandel, notfalls mit Gewalt, imstande sei, Verhältnisse zu beseitigen, die zu ihrem Fortbestand immer wieder Armut schaffen mußten. Mehr aus Zufall denn aufgrund einer wohlbedachten Entscheidung trat sie der Anarchistischen Föderation Uruguays bei, die 1968, unter der Regierung des Präsidenten Pacheco Areco, verboten wurde.

Saras erste Tätigkeit für die Föderation bestand darin, Material für eine Biographie des legendären Anarchisten Simón Radowitzky zusammenzutragen. Sie machte sich mit Feuereifer an die Arbeit, blätterte in vergilbten Zeitungen, ließ sich Bücher und Broschüren aus Argentinien kommen und befragte Veteranen der Arbeiterbewegung, die sich der ungeheuren Erregung erinnerten, mit der sie Radowitzkys Schicksal verfolgt hatten.

Simón Radowitzky war im Mai 1909 wegen eines Bombenanschlags auf den Polizeichef von Buenos Aires zum Tode verurteilt worden, aber nach Bekanntwerden seines Alters – er war zum Zeitpunkt der Tat noch minderjährig – hatte das Gericht die Todesstrafe in lebenslange Kerkerhaft umgewandelt. Im berüchtigten Zuchthaus von Ushuaia, in Patagonien, hielt [13] Radowitzky an seinen Idealen fest; er ertrug gleichmütig die schlimmsten Qualen und war seinen Mitgefangenen, die ihn beinahe abgöttisch verehrten, ein scheuer Wohltäter. Als er nach zwanzig Jahren begnadigt und auf Lebenszeit aus Argentinien abgeschafft wurde, ging er in Montevideo an Land. Auch hier war er den Nachstellungen der Behörden ausgesetzt. Er stand unter Hausarrest, wurde in Schutzhaft genommen, dann auf eine Insel verbannt. Das Weltgeschehen der versäumten Jahrzehnte nahm er bald verwundert, bald entrüstet zur Kenntnis. Noch einmal entflammte seine Hoffnung auf eine Gemeinschaft von Gleichen, in Spanien, wo sich die Arbeiter gegen die putschenden Militärs zur Wehr setzten. Er kämpfte auf seiten der Republik, erlebte die blutigen Auseinandersetzungen innerhalb der Linken, suchte nach der Niederlage Zuflucht in Frankreich, dann in Mexiko. Dort starb er, unter falschem Namen, den zufälligen Tod eines Anarchisten: an Herzversagen, im Bett. – Die einzige Lebensskizze, die Sara ausfindig machen konnte, schloß mit den Worten, Simón Radowitzky sei eine jener Gestalten, die uns zeigen, wie widersprüchlich das Leben der Menschen verläuft. »Er tötete aus Idealismus. Was für ein Gegensatz! Das Böse und das Gute, das Feige und das Heldenmütige. Die hinterhältige Tat, begangen aus reiner, edler Gesinnung.«

Saras Arbeit blieb unvollendet. Es gab, angesichts der Streiks und Aussperrungen, Dringlicheres zu tun, [14] als den Spuren eines halb Vergessenen zu folgen. In der Illegalität war aus der Anarchistischen Föderation ein neues Bündnis entstanden, Resistencia Obrero-Estudiantil, das Arbeiter und Studenten im Widerstand gegen die von der Regierung verfügten strengen Sicherheitsgesetze zusammenführen wollte. Ihm gehörte, als führendes Mitglied, der Architekturstudent und Keramiker Mauricio Gatti an.

Mauricio, knapp drei Jahre älter als Sara, war klein und stämmig. El gordito, Dickerchen, nannten ihn seine Freunde, und an der Universität war er Der Rote, nicht nur der Haarfarbe wegen. Mit siebzehn war Mauricio von zu Hause ausgezogen und hatte in einem Keller sein Atelier eingerichtet, in dem sich allabendlich Studenten, Musiker, Weltverbesserer die Köpfe heiß redeten. Mauricio war bekannt für seinen Witz und sein Temperament, wenn er Musik hörte, begann er den Takt zu trommeln, auf einem Buch, einer Keksdose, auf der Tischplatte. Seine Unsicherheit verbarg er hinter großen Gesten. Er stand gern im Mittelpunkt jeder Unterhaltung, ergriff bei Versammlungen als erster das Wort und rief Bekannte mit Fingerschnalzen an seinen Tisch. Man sagte ihm viele Liebschaften nach; aber zu einer dauerhaften Beziehung war er, wie er oft erklärte, nicht geschaffen. Deshalb wurde die Nachricht von seiner Vermählung mit Überraschung aufgenommen. Der Kolumnist einer Tageszeitung schrieb, daß in Uruguay eben alles seine Ordnung [15] habe. Selbst ein ausgewiesener Revoluzzer wie Mauricio Gatti würde auf Freiersfüßen zum Standesamt wandeln. Doch bald nach der Geburt einer Tochter trennte sich Mauricio von seiner Frau. Um das Kind war er rührend besorgt. Sobald Paula laufen konnte, holte er sie einmal pro Woche ab, zu Ausflügen, die sie fast immer in den Zoo führten.

Anfang der siebziger Jahre wurde Mauricio verhaftet. Im Marinegefängnis schrieb und zeichnete er für Paula die Geschichte von der Eule, vom Elefanten und vom Tiger, von den Seehunden, Vögeln und Schnecken, die vom Jäger eingefangen, auf ein Schiff verladen und in den Zoo geschafft werden. Dort fristen sie, hinter Gitterstäben, ein jämmerliches Dasein. Nur ein Mädchen, das sie jeden Sonntag besuchen kommt, und eine Taube, eine schwarze Taube mit rotem Schnabel, die einen Brief von daheim, aus dem Urwald, in ihren Käfig fallen läßt, macht sie für einen Augenblick glücklich. In dem Brief steht, daß die Kinder wachsen, groß und schön wie die Blumen werden. Und daß sich die Tiere im Zoo keine Sorgen machen sollen, denn ihre Arbeit hätten die anderen Tiere unter sich aufgeteilt. Außerdem, heißt es, seien viele Jäger in den Urwald gekommen, und um sie zu täuschen, hätten sich die Anführer der Tiere verkleiden müssen, die Schlange als Küchenschabe, das Reh als Ratte, die Fische als Kettenhunde, da die Jäger nur hinter wilden Tieren her seien; doch Küchenschaben, Ratten und [16] Kettenhunde gebe es auch in der Stadt. Zuletzt steht in dem Brief, bei einer Versammlung hätten die Tiere im Urwald beschlossen, dieTiere im Zoo zu befreien. Und wirklich, gemeinsam gehen sie ans Werk. Der Vogel steckt seinen Schnabel wie einen Dietrich ins Schloß. Der Elefant verbiegt Gitterstäbe. Die Schildkröte steht Schmiere. Der Seehund schlüpft in die Montur eines Jägers. Das Mädchen aber zeigt ihnen den Weg zum Hafen, wo ein Schiff wartet, das die Tiere zurück in den Urwald bringen wird. Ciao, sagt das Mädchen, und es weint ein bißchen, als das Schiff ablegt und mit Tuten den Urwald ansteuert. Ciao, rufen auch die Tiere an Deck, und der Elefant steckt seinen Rüssel ins Wasser, schwenkt ihn und spritzt das Mädchen zum Abschied naß.

Durch Zufall war Mauricio Gatti mitten in einem Klima politischen Aufruhrs freigekommen. Schon vorher hatten Freunde seine Tiergeschichte in einer kleinen Druckerei in der Altstadt vervielfältigen lassen. Auf Versammlungen und bei Demonstrationen, in Cafés und an Bücherständen, die fliegende Händler in der Avenida Dieciocho de Julio, Montevideos Hauptstraße, betrieben, wurde das Bilderbuch, geheftet und mit einem steifen Deckblatt versehen, zum Verkauf angeboten. Der Erlös sollte den politischen Gefangenen zugute kommen, deren Zahl sich mit jedem Tag erhöhte.

Sara las das Buch in Las Piedras, einer Vorstadt [17] Montevideos, wo sie ihre erste Lehrerstelle, in Vertretung einer werdenden Mutter, angetreten hatte. Als sie sich vorstellen kam, erklärte ihr der Schuldirektor, sie müsse von Anfang an mit harter Hand vorgehen. Sie sei schon die vierte Karenzvertretung in diesem Jahr. Die letzte habe es gerade drei Tage ausgehalten. Die Kinder seien faul und ungezogen. Ihre Eltern, sagte er, stecken sie nur deshalb in die Schule, weil ihnen sonst das Kindergeld gestrichen wird. Sie werden übrigens in der zweiten Klasse unterrichten. Das heißt nicht, daß die Fratzen schon lesen und schreiben können.

Während Sara Mauricios Geschichte vorlas, hörten die Kinder aufmerksam zu. Aber sie waren nicht einverstanden damit, daß der Jäger glimpflich davonkam. Die Tiere hätten ihn ein für allemal verjagen müssen, sagte ein Mädchen. Ein anderes meinte, wenigstens das Gewehr hätten sie ihm wegnehmen müssen. Kaputtmachen, rief ein Junge. Den Lauf verbiegen, so wie der Elefant die Gitterstäbe verbogen hat. Und das Netz zerreißen, mit dem der Jäger die Tiere gefangen hat. Kaputtmachen ist gut, sagte einer, der schon vierzehn Jahre alt war. Nicht das Gewehr: den Jäger! Aber dann wären die Tiere ja ebenso schlimm wie er, erwiderte Sara. Die Señora hat recht, sagte das Mädchen, das sich als erstes gemeldet hatte. Also ich finde die Geschichte nicht so gut, sagte ihr Nachbar. Und warum nicht, fragte Sara. Weil Tiere anders sind. Die schreiben keine Briefe. Die fahren auch nicht mit einem Schiff. Woher [18] willst du das wissen! schrie einer. Du bist selbst noch nie mit einem Schiff gefahren. Bin ich schon. Bist du nicht. Und ob ich gefahren bin. Ruhe! sagte Sara. Dann meldete sich ein Mädchen in der ersten Reihe. Es sprach leise, mit langen Pausen. Mir hat die Geschichte gut gefallen, sagte es. Den Tieren ergeht es wie den Kindern. Sie tun nichts Unrechtes und werden trotzdem bestraft. Aber sie halten fest zusammen. Weil sie schlau sind, kommen sie frei. Und wenn sie auf der Hut sind, wird sie der Jäger nicht wieder einfangen. Nur eins finde ich schlecht. Daß das Mädchen im Hafen allein zurückbleibt. Es wäre sicher gern mitgefahren. Warum haben es die Tiere bloß nicht mitgenommen.

Du mußt einen neuen Schluß schreiben, sagte Sara zu Mauricio, im August 1972, bei einer Veranstaltung zum 45. Todestag der Märtyrer von Chicago. Das Teatro Artigas war überfüllt. Auf der Bühne Bilder von Sacco und Vanzetti. Darüber ein Spruchband, Freiheit für alle politischen Gefangenen. Luchar hasta vencer. Rote und rot-schwarze Fahnen. Gerardo Gatti sprach, Mauricios älterer Bruder. Das Opfer der Anarchisten sei nicht sinnlos gewesen. Sie würden weiterleben, in denen, die ihrem Vorbild gefolgt seien. Das Kräfteverhältnis habe sich gewandelt, die Bourgeoisie sitze nicht mehr fest im Sattel. Da ist Kuba, und Vietnam, und China, und Algerien. Da sind die Massen in der Dritten Welt, die Neue Menschheit, die sich gegen ihre [19] Unterdrücker erhebt, die aufsteht, kämpft, in den Städten und auf dem Land, in den Fabriken, auf den Straßen, in den Bergen. Deshalb ist heute alles anders. Deshalb kann uns der Feind nicht ängstigen, nicht unterkriegen, nicht besiegen. Niemals!

Stürmischer, lang anhaltender Beifall. Aber draußen, eine Straße hinter dem Teatro Artigas, sammelten sich die Rollkommandos der Streitkräfte. Unter dem Vorwand, die letzten Zellen der Stadtguerilla zu zerschlagen, gingen Armee und Polizei gegen alle Oppositionellen vor. Präsident Bordaberry, der seit November des Vorjahres im Amt war, regierte mit Notstandsdekreten. Unter dem wachsenden Druck der Militärs hatte er die Verhandlungen mit dem Linksbündnis Frente Amplio, mit den Gewerkschaften und den Hochschulen abgebrochen.

Und jetzt, sagte Gerardo Gatti, stehen wir am Beginn einer neuen Etappe. Einer Etappe des Widerstands. Wir glauben nicht, daß es statthaft ist, Hoffnungen auf einen raschen Sieg zu nähren. Wir wissen, daß uns ein grausamer und langer Krieg bevorsteht, und deshalb, Genossen, müssen wir uns auf allen Ebenen wappnen. Wir brauchen eine klare Politik, eine feste Ideologie, eine starke Organisation, vor allem aber brauchen wir Mut – und die Einheit der Werktätigen.

Wieder Applaus, Sprechchöre, geballte Fäuste. Und in der sekundenlangen Stille, ehe der nächste Redner [20] zu sprechen begann, Saras helle Stimme: Du mußt unbedingt einen neuen Schluß schreiben, Compañero.

Sie sahen sich fast jeden Tag. Mauricio lebte seit seiner Haftentlassung im Untergrund, das Atelier hatte er aufgegeben, die Beziehung zu seiner Frau blieb ungeklärt. Jeder Aussöhnung folgte neuer Streit, jedem festen Vorsatz die Einsicht, er würde die, die ihm am nächsten stehen, nur unglücklich machen. Sara spürte, wie verletzlich er im Grunde war. Das gefiel ihr. Einmal küßte er sie. Am nächsten Tag bat er sie, den Vorfall zu vergessen, es ist nichts passiert, abgemacht. Sara nahm es ihm nicht übel. Auch sie wollte sich nicht binden. Sie erinnerte sich: Als sie sechzehn war, hatte ihr ein Mitschüler seine Liebe gestanden. Daß es ihm ernst sei und daß er sich noch heute ihren Eltern vorstellen wolle. Da war Sara, von panischem Schrecken ergriffen, davongelaufen. Verliebt, verlobt, verheiratet. Kinderkriegen, Einkäufen, Abwaschen! Sie erinnerte sich auch an ihre Mutter, die immer über ihr Hausfrauendasein geklagt hatte und die zuletzt, im Jahr vor ihrem Tod, vollends unleidlich geworden war. Überdies war nicht die Zeit, ans eigene Glück zu denken. Keiner wußte, was der nächste Tag bringen würde.

Ihre Absicht, als Lehrerin aufs Land zu gehen, hatte Sara vorläufig aufgegeben. In Las Piedras war ihr klargeworden, daß sie nur dann etwas bewirken würde, wenn sie sich ausschließlich einer Sache widmete. Die [21] Kinder hatten keine Schulbücher, der Lehrplan nahm nicht Rücksicht auf die Lebensumstände der Armen. Sie müßte ihr Lehrmaterial selbst erstellen, auch nachmittags für die Schüler dasein, sich der Schwächeren annehmen, die Eltern überzeugen, wie wichtig es sei, die Kinder regelmäßig in die Schule zu schicken. Jedenfalls hätte sie dann keine Zeit mehr für Politik. Sara kannte viele Lehrer, die ihre Auffassung teilten. Trotzdem war ihnen das Unterrichten nur Broterwerb. Daß ihnen der Beruf zur Routine wurde, entschuldigten sie unter Hinweis auf die Erfordernisse der Stunde. Im übrigen würden sie sich allein durch ihre Nachsicht von den autoritären Kollegen unterscheiden. Das war Sara zu wenig. Man ist entweder mit ganzem Herzen Lehrer oder gar nicht. Ihre Gefährten von der Föderation, die sie wegen ihrer Ausdauer und Verläßlichkeit schätzten, wollten sie fürs Herstellen von Flugblättern und Broschüren gewinnen. Sara nahm das Angebot an. Zu Hause erzählte sie, sie würde als Sekretärin in einer Druckerei arbeiten. Ihr Vater ahnte, daß sie ihn belog, drängte sie aber nicht, ihm Genaueres zu sagen. Sie war alt genug, eine eigene Entscheidung zu treffen. Und je weniger er wußte, desto besser war es.

Als die Mutter noch lebte, hatte es oft Streit gegeben. Sie war in ständiger Sorge um ihre Tochter. Lag wach, wenn Sara eine Nacht wegblieb, und empfing sie mit Vorwürfen.

[22] Schämst du dich denn nicht für das, was du deinem Vater und mir antust.

Aber Mama, du mußt doch auch an die andern denken.

An die andern, immer an die andern. Und wir, dein Vater und ich. Wir gehören wohl nicht zu den andern.

Du verstehst mich nicht. Natürlich kämpfe ich auch für euch.

Ich will nicht, daß meine Tochter für mich kämpft. Ich will, daß sie sich aus allem raushält. Und daß sie vor Mitternacht zu Hause ist!

Eines Morgens im Februar 1973 erhielt Sara einen Telefonanruf, wonach Angehörige der Armee im Elternhaus nach ihr gesucht hätten. Wenig später stürmte ein Trupp auch die Wohnung ihrer älteren Schwester, ohne der Gesuchten, die die Nacht bei einer Freundin verbracht hatte, habhaft zu werden. Noch ehe ihr Steckbrief mit der Warnung, sie sei als Mitglied einer terroristischen Vereinigung zum Äußersten entschlossen, den Grenzbeamten vorlag, floh Sara nach Argentinien. Zehn Tage später wurden Mauricio und sein Bruder Gerardo zur Fahndung ausgeschrieben. Anfang März trafen auch sie in Buenos Aires ein.

Am 27. Juni, kurz nach Mitternacht, löste Präsident Bordaberry in Anbetracht der herrschenden Subversion und Gesetzlosigkeit beide Kammern des Parlaments mit sofortiger Wirkung auf. Alle Bürger der [23] Republik waren aufgerufen, in Ruhe ihren Obliegenheiten nachzugehen und jede Art von Mißfallenskundgebungen zu unterlassen. In stummer Wut zogen Zehntausende durch die Straßen von Montevideo. Als Prügelkommandos mit Schlagstöcken, Tränengasbomben und Pistolen über sie herfielen, stimmten sie die Nationalhymne an. Heldenhaft werden wir bestehen. Tyrannen, erzittert. Doch der Generalstreik der Gewerkschaften brach nach fünfzehn Tagen zusammen. Die Armee hatte die Macht übernommen.

[24] 2

In den drei Jahren, die der Geburt Simóns vorangingen, bezog Sara dreizehn Wohnungen, wechselte fünfmal den Arbeitsplatz und änderte einmal ihren Namen. Vorerst aber trachtete sie, ihren Aufenthalt in Buenos Aires zu legalisieren, was ihr nicht weiter schwerfiel, weil Präsident Héctor Cámpora sofort nach Amtsantritt eine Amnestie für alle Ausländer erlassen hatte, die sich wegen politischer Verfolgung oder aus wirtschaftlicher Not im Lande aufhielten. Der Beamte im Einwanderungsbüro, dem sie ihren Paß vorlegte, warf nur einen kurzen Blick auf Saras Foto, dann hieb er zwei gewaltige Stempel auf die Formulare, mit denen sie die argentinische Identitätskarte beantragte.

Auch Mauricio hatte wenig Mühe, die Aufenthaltsgenehmigung einzuholen. Er lebte allein, ohne Paula und seine Frau, die in Montevideo inzwischen eine neue Partnerschaft eingegangen war. Sie hätten sich endgültig getrennt, für ihn gebe es nur noch Sara. Er liebe sie, aber er habe Angst, ihr wehzutun. Er lehnte es ab, bei ihr zu wohnen. Aus Sicherheitsgründen, und weil er mit sich selbst ins reine kommen müsse. Sara schwankte zwischen Trotz und Sehnsucht. Immer war [25] er es, der Zeit und Dauer ihres Zusammenseins bestimmte. Manchmal setzte sie ihn vor die Tür, dann wieder glaubte sie, keine Minute lang ohne ihn auszukommen. Sie hatte Angst, ihn zu verlieren, und noch größere Angst hatte sie, sich ihre Angst auch einzugestehen.

Als einer der Führer der Föderation, die sich zwei Jahre später in eine Partei, Partido por la Victoria del Pueblo, verwandeln sollte, brauchte Mauricio für seinen Unterhalt nicht selbst aufzukommen. Sara jedoch war angewiesen, für ihr eigenes Fortkommen Sorge zu tragen. Sie arbeitete, für zwei Wochen, einen Monat, drei Monate, als Kindermädchen, Putzfrau, Hilfsarbeiterin in einer Fabrik, in der sie im Akkord Transistorradios zusammenschraubte. Die längste Zeit, fast anderthalb Jahre lang, behielt man sie in einem Kindergarten. Für besser bezahlte Arbeiten kam sie nicht in Frage, ihr fehlten Ortskenntnisse, sie hatte keine Referenzen vorzuweisen, ohne Diplom fand sie keine Stelle als Lehrerin. Auch lehnte sie es ab, Tätigkeiten auszuüben, bei denen sie viel unterwegs gewesen wäre. Buenos Aires war ihr fremd und vertraut zugleich. Es trug die Schwermut Montevideos in sich, besaß aber die geschmeidige Kälte der Großstadt. Die Menschen bewegten sich schnell, unterschieden streng zwischen Pflicht und Hingabe. Immer hatten sie ein Ziel vor Augen, das sich klar benennen ließ. In Montevideo konnte es geschehen, daß jemand außer Haus ging, nur [26] um an der nächsten Ecke zu halten, Mate zu trinken, das Treiben auf der Straße zu verfolgen, oder um in einer Kneipe einzukehren und, mit neuen Bekannten, stundenlang zu schwatzen. In Buenos Aires grüßten sich die Leute nicht einmal im Treppenhaus. Manchmal behauptete Sara, sie wären erst nach Aufforderung zu Hilfe bereit. Dann wieder leistete sie stumm Abbitte, wegen Nachbarinnen, Dienstherren, Arbeitskolleginnen, die ihr ohne Argwohn beistanden. In der verrückten Stunde zwischen Sonnenuntergang und Einbruch der Nacht stand Sara oft am Fenster und versuchte am Gehabe der Passanten deren Geheimnisse zu entschlüsseln. Sie ließ es bleiben, als das Verhalten der andern kein Geheimnis mehr, nur Furcht zu bergen schien.

Im Juli 1973 wurde Präsident Cámpora zum Rücktritt gezwungen. Bis zu den Neuwahlen, aus denen General Perón als Sieger hervorging, führte Raúl Lastiri die Amtsgeschäfte. Lastiris Schwiegervater hieß López Rega; er war Peróns Privatsekretär und galt als Gründer der Antikommunistischen Allianz Argentiniens, die nachts zu Fememorden ausrückte. Im neuen Kabinett stand López Rega dem Ministerium für Öffentliche Wohlfahrt vor. Nun wurde von der Regierung nicht länger bestritten, daß die Sicherheitskräfte Uruguays und Argentiniens in der Bekämpfung subversiver Elemente eng zusammenarbeiteten. Unter dem Vorwand, sie habe Kenntnis erhalten, daß ein [27]