Die Humusrevolution - Ute Scheub - E-Book

Die Humusrevolution E-Book

Ute Scheub

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Beschreibung

Dort der rasante Humusschwund, hier die rapide Zunahme von Kohlendioxid. Was nach zwei separaten Problemen aussieht, ist eng mit-einander verbunden: Wir haben zu wenig Kohlenstoff im Boden und zu viel in der Atmosphäre. Die Devise lautet also: »Back to the roots!« Ein globaler Humusaufbau von nur einem Prozent würde genügen, um den CO2-Gehalt der Atmosphäre auf ein ungefährliches Maß zu senken. Was einfach klingt, ist es auch, denn die Methoden sind zum Teil schon seit Jahrhunderten bekannt. Unter Labels wie Permakultur oder Carbon Farming erleben sie gerade ihre Renaissance: Gärtnern mit Terra Preta, Ackern ohne Pflug, das Lenken mikrobieller Prozesse oder die Vitalisierung von Kulturen – all diese Methoden reichern den Boden mit Humus an und ermöglichen damit gesunde Lebensmittel. Global gesehen ist die »Humusrevolution« deshalb der wichtigste Hoffnungsträger für weltweite Ernährungssouveränität – sowie für den Kampf gegen Klimaextreme, Armut und Migration. Und das Gute daran: Jeder kann mithelfen und sofort anfangen.

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Ute Scheub, Stefan Schwarzer
DieHumusrevolution
Wie wir den Boden heilen,das Klima retten unddie Ernährungswende schaffen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
4. Auflage© oekom verlag München 2017Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbH,Waltherstraße 29, 80337 München
Lektorat: Christoph Hirsch, oekom verlagKorrektur: Maike SpechtInnenlayout, Satz: Ines Swoboda, oekom verlag
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-96006-182-3
Wir danken Nature & More für die Förderung dieser Publikation.

Inhalt

Vorwort
Einleitung
Kapitel 1Die Geschichte von David und Goliath – neu erzählt
Wie Goliath so groß werden konnte
Warum Goliath so zerstörerisch ist
Von Giften und Genen
Die grüne Waschmaschine: Wie Agrokonzerne Begriffe kapern
Die planetarischen Grenzen
Klimakrise verstärkt Bodenkrise verstärkt Klimakrise
Eine bodenlose Katastrophe für die Hälfte der Menschheit
Klimakrise ist Bodenkrise ist Wasserkrise
Klima der Ungerechtigkeit
Die Ineffizienz der Großen
Fleischerzeugung als Haupttäter der Zerstörung
Jährlicher Billionenschaden
Kapitel 2Warum es so wichtig ist, dass David gewinnt
Regeneration in Costa Rica
Der Schlüssel zur Regeneration: Dauerhumus
Die Humusaufbauinitiative 4p1000
Im Boden wurzeln die Lösungen – Biovision contra Gates Foundation
Praxistipp: »Schädlinge« fernhalten
Entwicklung ist nur mit Frauen möglich
Bio-Welternährung ist möglich
Was taugt der CO2-Handel für den Humusaufbau?
Lokaler CO2-Handel in der Ökoregion Kaindorf
Kapitel 3Warum David in Gärten und auf Äckern so nützlich ist
Permakultur
Biointensiver Anbau und Marktgärten
Praxistipp: Marktgartenbeet
Bec Hellouin: Am Fluss voller Überfluss
Gesundschrumpfen der Agroindustrie
Konservierende Agrikultur und Direktsaat
Vielfalt statt Einfalt
Der Terra-Preta-Pionier im Schweizer Wallis und in Nepal
Praxistipp: Pflanzenkohle mit Kon-Tiki
Ökologische Intensivierung mit SRI
Keyline und das neue Wasserparadigma
Schloss Tempelhof vereint viele regenerative Ansätze
Praxistipp: Mehrjähriges Gemüse für den Garten
Kapitel 4Wie David den Boden pflegt
Die Modenschau der Bodenlebewesen
Der Boden als Lebensgemeinschaft
Die Pilze und das Wood Wide Web
Lob der Pflanzenintelligenz
Wer bin ich und wieso so viele?
Guter Boden riecht gut
Praxistipp: Terra-Preta-Substrat selbst gemacht
Was machen mit all dem Wissen – FAQs zu regenerativer Agrikultur
Kapitel 5Wie David in Wäldern, Weiden und Wüsten agiert
Sepp Braun – der Philosoph auf dem Waldacker
Praxistipp: Effektive Mikroorganismen
Bäume auf dem Acker: Agroforstsysteme
Praxistipp: Agroforstsysteme in klein und groß
Waldgärten
Holistisches Weidemanagement
Joel Salatin – der Hohepriester der Weiden
Gras ist ein Klimaretter
Soil Carbon Cowboys in den USA und Australien
Symbiotische Landwirtschaft in Herrmannsdorf
Vom Sahel bis nach China – Regeneration in der (Halb)Wüste
Kapitel 6Wie David Stadt und Land vernetzt
Neue Bündnisse
Zinsen in Almkäs: Der Hof Englhorn ist stolz auf seinen »Rück-Schritt«
Bioboden wird Allmende
Gemeingüter wiederherstellen
Ernährungsräte
Essbare Städte
Gartenbauringe
Praxistipp: Mobile Hochbeete mit Komposttee-Ablauf
Urbanisierung ergrünen lassen
Kapitel 7Wie es im Jahr 2050 aussieht – wenn David den Kampf gewonnen hat
Service
Anmerkungen
Über die Autoren und Dank

Vorwort

»Während Sie das lesen, werden 8.879 Quadratmeter Ackerboden durch die industrielle Landwirtschaft vernichtet.« Mit diesem Satz haben wir von Nature & More 2015 im Rahmen unserer Kampagne »Save Our Soils – Rettet unsere Böden« Verbraucherinnen und Verbraucher auf den zunehmenden Bodenabbau aufmerksam gemacht. Denn die Uhr tickt: Jede Sekunde geht wertvoller, fruchtbarer Boden verloren – pro Minute sind es laut UN rund 30 Fußballfelder.
Einer der Hauptverursacher ist die agroindustrielle Produktion: Um immer mehr und immer billiger zu produzieren, hat sie die Zerstörung unserer natürlichen Ressourcen billigend in Kauf genommen. Wobei »in Kauf genommen« hier wahrscheinlich die falsche Bezeichnung ist. Denn tatsächlich kommen die großen Agrokonzerne kaum für die ökosozialen Schäden auf, die sie verursachen. Im Gegenteil: Die Kosten, die durch Bodenerosion, Verschmutzung der Gewässer oder Verlust an Artenvielfalt entstehen, werden einfach privatisiert, in die Zukunft oder in arme Länder verschoben. Sie schlagen sich nicht im Lebensmittelpreis nieder, so bleibt das agroindustrielle Produkt schön billig. Eine Verbrauchertäuschung und Verzerrung des Wettbewerbes, die endlich ein Ende haben muss!
Landwirte, die regenerativ und nachhaltig wirtschaften, tragen zum Gemeinwohl bei und sorgen dafür, dass wir auch in Zukunft gesunde Böden haben. Dafür sollten sie auch entsprechend anerkannt und honoriert werden. Das vorliegende Buch leistet hierzu einen wichtigen Beitrag, indem es die Bedeutung der regenerativen Agrikultur nicht nur für unsere Ernährung, sondern auch für unser Klima hervorhebt. Dabei liefert es konkrete Empfehlungen, wie sich das regenerative Wirtschaften in verschiedenen Gesellschaftsebenen integrieren lässt. Lassen wir die Revolution »von unten« beginnen!
Ihr Volkert Engelsman

Einleitung

Es geht um unser aller Überleben.
Es geht um Billiarden, Trillionen, vielleicht sogar Quintillionen von Lebewesen.
Hey, ihr Buchschreiberlinge, könnt ihr es nicht eine Nummer kleiner machen?
Nein. Können wir nicht. Wollen wir nicht.
Alle Menschen müssen essen und trinken. Doch wenn die planetarischen Ökosysteme an den Rand des Kollaps geraten, dann sind die weltweiten Ernten und Wasserkreisläufe gefährdet. Um ein altes Sprichwort der Creek abzuwandeln: Erst wenn wir die letzte Ackerkrume zerstört, das letzte Grundwasser verbraucht und die letzten Bienen ausgerottet haben, werden wir merken, dass unsere Computer, Smartphones und die ganze chromglitzernde Industrie 4.0 nicht essbar sind.
Endlose Monokulturen beherrschen heute die Weltäcker – zum Schaden von Boden, Klima, Luft, Wasser, Menschen, Tieren, Pflanzen und Pilzen. Und von Quintillionen mikroskopisch kleinen Lebewesen im Boden mit einem geschätzten Gesamtgewicht von 600 Milliarden Tonnen.1 In einer Handvoll gesunder Erde gibt es mehr Lebewesen als Menschen auf dem Planeten, in einer Handvoll agroindustriell behandeltem Boden hingegen nur noch einen Bruchteil davon. Trilliarden Lebewesen sind umgekommen. Je mehr sich die agroindustrielle Produktion global ausweitet, desto gefährdeter sind Bodenleben und Bodenfruchtbarkeit und damit unsere Ernährungssicherheit. Falls in den kommenden Klimakrisen die Ernährungssysteme zusammenbrechen und in der Folge blutige Kriege um letzte Ressourcen geführt und weitere Flüchtlingswellen ausgelöst werden, wird es hochdramatisch. Das ist die schlechte Nachricht.

Die gute Nachricht ist …

Der Klimawandel ist umkehrbar, die Ökosysteme sind heilbar – durch regenerative, aufbauende Methoden der Landbewirtschaftung in Stadt und Land, in Beeten und Äckern. Die Agroindustrie verursacht auf direkte und indirekte Weise ungefähr die Hälfte der Treibhausgase, ist also ein Großteil des Megaproblems Klimakrise. Alte und neue agrarökologische Praktiken in Stadt und Land sind aber auch ein Großteil der Lösung – und die lautet: den Kohlenstoff aus der CO2-überlasteten Atmosphäre zurück in den Boden bringen. Denn dieser Grundstoff allen Lebens fehlt im Erdreich immer dramatischer – aufgrund von Entwaldung, Humusabbau und weltweiter Bodenerosion. Kohlenstoff ist der Hauptbestandteil von Humus. Und von Humus hängt der gesamte Lebenszyklus der Landpflanzen, -tiere und Menschen ab.
Seit Erfindung der Landwirtschaft und beschleunigt seit Einführung der Agroindustrie haben Böden einen Großteil ihres Kohlenstoffs verloren; als CO2 ist er jetzt dort zu finden, wo wir ihn in der derzeitigen Menge nicht brauchen können, nämlich in der Atmosphäre. Doch regeneratives Ackern, Pflanzen und Gärtnern kann ihn dorthin zurückholen, wo er dringend gebraucht wird. Vorausgesetzt, es werden nicht ständig neue Quellen fossiler Energien erschlossen und verbrannt, könnte solch eine globale Regenerativkultur womöglich schon bis 2050 die Klimakatastrophe zur Geschichte machen, das atmosphärische CO2-Niveau auf vorindustrielles Niveau drücken, der Menschheit gesunde Nahrung und Wasser liefern und das Artensterben aufhalten.
Regenerative Agrikultur ist eine ganzheitliche, viele Methoden umfassende Praxis, die Boden aufbaut und aktiv die Regenerationskräfte der Natur unterstützt. Ihr zugrunde liegt ein ökosystemischer Ansatz, der stets verschiedene Faktoren gleichzeitig einbezieht und verbessert: Boden, Luft, Wasser, Artenvielfalt, Ernährung, Gesundheit, aber auch soziale Aspekte wie Gerechtigkeit und vieles mehr. Er fördert die Krisenfestigkeit und das Wohlergehen aller Lebewesen.
Die größten Potenziale einer »Regenerativen Agrikultur« liegen im Bereich der Landwirtschaft mit ihren hohen Flächenanteilen. Aber sie funktioniert auch im Kleinen: in individuellen und gemeinschaftlichen Gärten, in der Stadt und auf dem Land. Agrikultur ist auch »Hortikultur«, Gartenkultur. In vielen Winkeln der Welt erinnert Landwirtschaft in ihrer kleinteiligen Liebe zur Natur noch heute mehr an Gärtnern als an Agroindustrie.

Rekarbonisierung statt Dekarbonisierung

Mit diesem Buch versuchen wir das Potenzial dieser regenerativen Agrikultur aufzuzeigen und zu fragen, wie sie zu etablieren wäre und welche Hindernisse dem entgegenstehen. In der breiten Öffentlichkeit ist sie bisher kaum zur Kenntnis genommen worden. Im Pariser Klimaabkommen wird sie nicht erwähnt; auch Umweltorganisationen kennen sie noch kaum, dennoch verbreitet sie sich in tausend kleinen Blüten weltweit.
Bei der Klimakrise steht stets der Ersatz der Fossilenergien wie Kohle, Öl und Gas im Vordergrund. Zu Recht, denn mindestens 80 Prozent der bekannten fossilen Energievorräte müssen im Gestein bleiben, soll die Erderwärmung allerhöchstens zwei Grad betragen. Aber regenerative Energien können nur dafür sorgen, dass nicht noch mehr CO2 in die Atmosphäre gelangt. Regenerative Agrikultur kann mehr: nämlich den Kohlenstoff aus der Luft zurückholen. Die weltweite Energiewende wäre nur die Hälfte der Lösung – die andere wäre die weltweite Agrarwende.
Eine »Dekarbonisierung der Weltwirtschaft«, wie die Regierungschefs sie auf dem letzten G20-Gipfel angekündigt haben, ist demnach der falsche Begriff. Es geht um die Dekarbonisierung der Atmosphäre mittels Rekarbonisierung des Bodens, um massive Förderung aller gärtnerischen und landwirtschaftlichen Praktiken, die den Kohlenstoff dorthin zurückbringen, wo er ursprünglich herkam und wo er unverzichtbar ist.
Der US-Agrarwissenschaftler Timothy LaSalle, Ex-Direktor des renommierten Rodale Institute in Pennsylvania und Vordenker der regenerativen Agrikultur, formuliert es so: Um die Erde zu retten, brauche man keine teuren und gefährlichen Methoden des Geo-Engineerings. Planetarisches Bio-Engineering sei billig und überall anwendbar – sein Name: Photosynthese. Pflanzen holen Kohlendioxid aus der Luft sowie Wasser und Nährstoffe aus dem Boden, mittels Sonnenenergie produzieren sie daraus lange Kohlenhydratketten: Zucker, Stärke, Zellulose. Einen Teil des Kohlenstoffs verfrachten sie über ihre Wurzeln unter die Erde. Die australische Bodenwissenschaftlerin Christine Jones nennt das den »flüssigen Kohlenstoff-Pfad«2. Sterben die Pflanzen, gelangt im Rahmen des globalen Kohlenstoffkreislaufs ein Anteil wieder als CO2 in die Atmosphäre, ein anderer verbleibt im Boden und wird unter günstigen Bedingungen zu stabilem Humus.
Darum sind Pflanzen und Bäume unsere wichtigsten Verbündeten bei der Heilung der Ökosysteme. Und unsere wichtigsten Hoffnungsträger, die uns helfen, den Kollaps der Ökosysteme, Hunger, Gewalt und Hoffnungslosigkeit zu vermeiden. Kohlenstoff spielt für den Erhalt der Bodenfruchtbarkeit und eines gesunden Bodenlebens eine zentrale Rolle. Mit Humusaufbau kann man nicht nur das Klima positiv beeinflussen, sondern auch bessere Ernten erzielen, Hunger und Mangelernährung bekämpfen, unzählige sinnvolle Jobs schaffen. Man kann damit für gesunde Pflanzen, Tiere und Menschen sorgen, die Artenvielfalt mehren, die Wasserhaltefähigkeit der Böden und die Grundwasservorräte erhöhen sowie ganze Landschaften regenerieren.
Eine Win-win-win-win-win-Situation.
Aber ist das wirklich so? Sind diese Hoffnungen berechtigt? Und wenn ja, welche agrarökologisch-gärtnerischen Praktiken fallen unter den Oberbegriff »regenerative Agrikultur«? Wir möchten die Lesenden zu einer großen Reise einladen, die zu verschiedenen Gesprächspartnern, neuen Erkenntnissen und beispielhaften Projekten im In- und Ausland führt. Zu diesen Projekten und Methoden zählen Permakultur, Waldgärten, Biointensivkulturen, pfluglose Bodenbearbeitung, Untersaaten, Mischkulturen, Agroforstsysteme, Holistisches Weidemanagement, Wassersammelsysteme bis zu Wüstenbegrünung. Wir: Das sind Ute Scheub, die über die Entdeckung von Terra Preta auf dieses inspirierende Thema stieß.3 Und der Geograph und Permakultur-Designer Stefan Schwarzer, der im Ökodorf Schloss Tempelhof zusammen mit Landwirten und Gärtnerinnen eine aufbauende Landwirtschaft entwickelt (siehe Kapitel „Schloss Tempelhof vereint viele regenerative Ansätze“).
Den Anstoß für dieses Buch gab ein Kongress Mitte 2015 in Costa Rica. Unter dem Namen »Regeneration International« gründete sich dort ein neues globales Bündnis zivilgesellschaftlicher Bauern- und Umweltorganisationen sowie renommierter Einzelpersonen. Eine seiner ersten Aktivitäten war die Unterstützung der globalen Humusinitiative »4 Promille« auf dem Pariser Klimagipfel. Der Name soll verdeutlichen, dass ein jährlicher Humusaufbau auf den Äckern der Welt von gerade einmal vier Promille genügen würde, um alle weiteren CO2-Emissionen zu kompensieren. Eine globale Steigerung des Humusgehalts wäre ein Gewinn für alle – außer für die Agrokonzerne. Und hierin liegt das größte Problem für die Realisierung des Win-win-win der regenerativen Agrikultur: Angesichts der globalen Macht der Agromultis ist sie wie ein kleiner David, der gegen einen gigantischen Goliath kämpft.

David gegen Goliath

Goliath: Das ist die weltweit verflochtene Agroindustrie, die milliardenschweren Pestizid-, Düngemittel-, Saatgut- und Gentechnikkonzerne wie Monsanto & Co., dazu die Massentierhalter, Fleischfabrikanten, Großgrundbesitzer und Landmaschinenhersteller. Doch trotz ihrer gigantischen Größe erzeugen sie nur etwa 30 Prozent der globalen Lebensmittel. Es ist der kleine David, der mit rund 70 Prozent den Hauptteil der Welternährung stemmt: bäuerliche Familienbetriebe, Kleinbauern und Gärtnerinnen in Stadt und Land. Viele wirtschaften ökologisch, aus Überzeugung oder auch aus Geldnot, weil sie teuren Kunstdünger nicht kaufen können. Sie beackern kleine und kleinste Subsistenzflächen, ständig bedroht von Wetterextremen, Landraub, korrupten Regierungsbehörden und Agrogiften ihrer Nachbarn.
Goliath gegen David: Agroindustrie mit Monokultur, Pestiziden und Gentechnik versus regenerative Agrikultur mit Vielfalt, Schönheit und Lebendigkeit.
Foto oben: Shutterstock, unten: Luis Franke
Goliath: Das sind auch die Bündnisse mächtiger Agrokonzerne mit westlichen Regierungen, die heute genau den falschen Weg einschlagen: noch mehr Rationalisierungstechnik und Hightech. Internationale Allianzen wollen die Welt mit GPS-gesteuerten Monokulturen, Gentechnik und Ackergiften überziehen. Angeblich um die steigende Weltbevölkerung zu ernähren, aber wohl eher, um Landwirte abhängig zu machen, um die Profitquellen weitersprudeln zu lassen. Noch mehr rücksichtslose Technokratie wird jedoch nur das Bauernsterben, das mit dem Artensterben einhergeht, und die »Entlebung« des Planeten vorantreiben.
David: Das ist die kleinbäuerliche Agrikultur, die weltweit 85 Prozent aller Bauernhöfe als Lebensgrundlage für 2,6 Milliarden Menschen umfasst.4 In Afrika und Asien sind diese im Schnitt nur 1,6 Hektar klein, und Lateinamerika weist nur wegen extrem ungleicher Verteilung zwischen Großgrundbesitzern und Habenichtsen einen höheren Durchschnittswert auf.5 In Deutschland und der EU sind die Höfe erheblich größer, aber das macht sie nicht krisenfester. Unter dem Motto »Wachse oder weiche« sind seit den 1990er Jahren unglaubliche 80 Prozent der Bauernbetriebe in Deutschland bankrottgegangen, Zehntausende verloren ihre Arbeit.6
Allerdings: Allein die Feldgröße ist kein Kriterium für die Unterscheidung zwischen »bäuerlicher Agrikultur« und »Agroindustrie«. Das Wichtigste, darauf weist der Agrarwissenschaftler Felix zu Löwenstein hin, ist der Umgang mit dem Lebendigen.
Wird der Boden als lebloses Substrat behandelt, handelt es sich um agroindustrielle Produktion; wird er als lebendiger Organismus angesehen, um bäuerliche. Werden Nutztiere wie tote Werkstücke und Pflanzen wie reines Material angesehen, ist das industriell; werden sie als Mitgeschöpfe behandelt, ist es bäuerlich. Bleiben die Produzenten der Lebensmittel unsichtbar, ist es industriell; übernehmen sie Verantwortung, ist das bäuerlich. Wird die Landschaft wie Rohstoff ausgebeutet, handelt es sich um Agroindustrie; wird sie bewahrt und gepflegt, handelt es sich um bäuerliche Landwirtschaft. Geht es um schnelles Geld, ist es Industrie; geht es um eine generationenübergreifende Bewahrung und kulturelle Einbettung in eine lokale Gemeinschaft, ist es bäuerliche Agrikultur.7
Die Mehrheit der »Davids« ist übrigens weiblich. Frauen sind in vielen Ländern die Hauptverantwortlichen für Ernährung und Kochen, Haus- und Waldgärten, für Gärtnern, Säen, Hacken, Ernten und Samenbewahren. Aber es gibt kein weibliches Pendant für den männlichen Vornamen, deshalb haben wir ihn behalten.
David gegen Goliath: Für Goliath zählt Natur nur in klingender Münze. Für die »Regenerativen« aber geht es um ihren Erhalt und ihre Heilung, da sie sich nicht getrennt von ihr sehen. Für sie gehört letztlich alles zusammen: Boden, Mikroorganismen, Pilze, Pflanzen, Tiere und Menschen. Sie setzen nicht auf größtmögliche PS-Zahlen ihres Maschinenparks, sondern verwenden angepasste Technik gemäß E. F. Schumachers Slogan »Small is beautiful«. Beispiele für solches »Gesundschrumpfen« finden Sie in mehreren Kapiteln.
Für sie zählt die Vermehrung des Lebendigen, nicht nur in den Böden, sondern in allen Ökosystemen. Ihr Motto könnte das von Albert Schweitzer sein, der »Ehrfurcht vor dem Leben« empfand und für sich selbst definierte: »Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.« Oder der Satz, mit dem der inzwischen verstorbene Alternative Nobelpreisträger Hans-Peter Dürr »Nachhaltigkeit« definierte: »Das Lebende lebendiger werden lassen«.8

Das Dickicht der Begriffe

Der Begriff »regenerative Agrikultur« – in Anlehnung an die Abkürzung SoLaWi für Solidarische Landwirtschaft könnte man auch von ReLaWi sprechen – stammt ursprünglich von Robert Rodale, Sohn des Begründers des erwähnten Rodale Institute. Genauer gesagt sprach er von »regenerativer organischer Agrikultur«, denn eine Landwirtschaft, die mit der Chemiekeule Lebewesen tötet, kann nicht regenerativ sein.
Manche reden auch von regenerativer Landwirtschaft. Für unseren Geschmack kommt hier die Betonung des Menschengemachten, der Kultur etwas zu kurz. Landwirtschaft bezieht sich zudem nur auf rurale Räume, Agrikultur hingegen auch auf städtische. Im Wortstamm der Agrikultur steckt das lateinische Wort für Acker, ager, und colare, bestellen, pflegen. »Cultura« meinte ursprünglich nur die Pflege des Feldes, erst später umfasste »Kultur« noch viel mehr, etwa Kunst. Regenerative Agrikultur fördert im umfassenden Sinne die Genesung der Erde, der Böden und der Natur.
Manche sprechen auch von »restaurativer« oder »nachhaltiger« Landwirtschaft. Ersteres klingt im Deutschen seltsam »reaktionär«, letzteres erfuhr schon so viele Waschgänge des Greenwashing, dass es jede Farbe verloren hat. Für das Adjektiv aufbauend nehmen viele in Anspruch, dass es mehr bedeutet als nur eine Wiederherstellung, nämlich ein Übertreffen der Qualität des Anfangszustands. Denn Menschen sind fähig, die Regenerationsfähigkeit von Ökosystemen zu beschleunigen.
Es gibt, um die Verwirrung komplett zu machen, noch weitere Begriffe. »Agrarökologie« umfasst alle Biomethoden in wissenschaftlicher Theorie und Anbaupraxis. Der vor allem in Amerika und Afrika gebräuchliche Begriff beinhaltet im Gegensatz zur zertifizierten Biolandwirtschaft Europas auch den Anbau ohne regelmäßige Kontrollen und Zertifikate. Bill Mollison und David Holmgren prägten Mitte der 1970er Jahre das Wort Permakultur und meinten damit dauerhafte Agrosysteme in Einklang mit Umweltbedingungen und Bedürfnissen der Nutzenden (siehe Kapitel „Warum David in Gärten und auf Äckern so nützlich ist“). Der Ökopionier Karl Ludwig Schweisfurth nennt seinen Ansatz symbiotische Landwirtschaft, weil sich in seinen »Herrmannsdorfer Landwerkstätten« Mensch, Tiere und Pflanzenanbau symbiotisch ergänzen (siehe Kapitel „Wie David Stadt und Land vernetzt“). Der US-Autor Eric Toensmeier hat in seinem gleichnamigen Buch den Begriff Carbon Farming geprägt, der Terra-Preta-Pionier Hans-Peter Schmidt spricht von Klimafarming (siehe Kapitel „Der Terra-Preta-Pionier im Schweizer Wallis und in Nepal“), wieder andere von klima-freundlicher Landwirtschaft, was keineswegs identisch ist mit der eher industrienahen klimasmarten Agrikultur.
All diese Begriffe sind natürlich nicht identisch. Die einen betonen mehr den Klimaaspekt, die anderen die Symbiose der Lebewesen, die Dritten das ganzheitliche Herangehen. Aber die Richtung ist letztlich dieselbe. Es geht immer um Kreislaufwirtschaft, das Arbeiten mit der Natur und nicht gegen sie. Um die Förderung des Lebendigen, um Humusbildung, Bodenfruchtbarkeit und die Verfrachtung des Kohlenstoff zurück in den Boden. Wer sein Land »regenerativ« bewirtschaftet, sieht den Boden nicht isoliert, auch nicht als pure Kohlenstoffsenke und erst recht nicht als bloße Profitquelle des CO2-Handels. Sondern als lebendiges und schützenswertes Ökosystem, das einen Wert an sich hat.
Und »Regenerative« wollen nicht nur das atmosphärische CO2 reduzieren, sondern alle natürlichen Kreisläufe gesunden lassen, Biodiversität fördern, Dörfer wiederbeleben, Landschaften regenerieren und neue Arbeit schaffen. Es geht schlicht ums Ganze. Um die Heilung der Natur durch eine weitere Verlebendigung aller lebendigen Prozesse, statt sie zunehmend in tote Rohstoffe und totes Kapital zu verwandeln.

Breite Mehrheit für die Agrarwende

Angesichts der Macht der Agrokonzerne erscheint dieses Ziel verwegen. Aber es ist nicht unmöglich, es zu erreichen. In Deutschland gibt es schon jetzt eine erstaunlich große Mehrheit für eine derartige Agrarwende. 93 Prozent der Befragten sind für mehr Tierwohl – laut einer Mitte 2016 veröffentlichten repräsentativen Umfrage im Auftrag des Bundesumweltministeriums. 85 Prozent befürworten regionale Kreisläufe, 84 den Ausbau der Biolandwirtschaft. 91 Prozent der Interviewten glauben, dass Pestizide schaden, 86 lehnen den Anbau von genmanipulierten Pflanzen ab, 79 die Fütterung von Nutztieren mit solchen Pflanzen, und 74 Prozent möchten, dass auf den Einsatz von Kunstdünger verzichtet wird. Und trotz aller PR-Kampagnen der Gegenseite unterstützen weiterhin 90 Prozent den Ausbau der Erneuerbaren Energien.9
Zugegeben: Viele Menschen sind in Worten progressiver als im Handeln – abzulesen etwa am weiterhin hohen Fleischkonsum aus Massentierhaltung. Das gilt es von den Umfrageergebnissen abzuziehen. Dennoch: Eine Mehrheit der Menschen weiß intuitiv, wohin es gehen muss, und unterstützt einen solchen Weg. Das kann man auch an den Empfehlungen der per Losverfahren zusammengesetzten »Bürgerräte« sehen, die das Bundesumweltministerium im Rahmen eines »Bürgerdialogs« zu den UN-Nachhaltigkeitszielen berieten und sich massiv für Tierwohl und Naturerhalt einsetzten.10 Nur die Politik, erpressbar durch Konzerne, hinkt hinterher.
Apropos Fleisch: Wir sind beide »Teilzeitveganer«, essen bevorzugt Gemüse und Obst sowie gelegentlich Biofleisch. Wir begrüßen die vegetarische und vegane Bewegung, weil Tierquälerei gestoppt und der globale Fleischkonsum verringert werden muss. Wir glauben aber, dass das keine Lösung für alle ist. Tierdung hält Böden fruchtbar, und unzählige Nomaden und Hirtinnen leben in Grasländern und sind auf ihre Tiere angewiesen. Der größte moralische Skandal liegt unseres Erachtens nicht darin, dass Menschen Tiere essen. In der Natur verspeist jeder jeden, und auch wir werden zuletzt in der Erde von Bodentierchen gefressen. Sondern darin, dass die Agroindustrie die Tiere unsäglichen Qualen aussetzt.
Wir Stadtmenschen begegnen Tieren heute meist nur noch als abgepacktes Steak in der Tiefkühltruhe. Kaum jemand erlebt noch, wie Äpfel, Weizen und Tomaten wachsen. Zwischen Naturgeschehen und unserem Körper hat sich ein Apparat von Megaställen, Traktoren, Pestizidspritzen, Mähdreschern, Verladesystemen, Lastwagentransporten, Kühlhäusern und Supermärkten geschoben, eine hocheffiziente, kalte Supermaschinerie. Das zwischenmenschliche Maß ging dabei genauso verloren wie das menschlich-tierische und das menschlich-pflanzliche. Der Soziologe Hartmut Rosa spricht hier von »Weltbeziehungsstörung«. Zerschnitten ist das Band zwischen Menschen zur Natur, zur Welt der Tiere und Pflanzen, die wir verzehren, von denen wir leben. Mit denen zusammen wir ein gutes Leben führen könnten, es aber nicht tun.
Und doch geht es in diesem Buch nicht darum, konventionelle Landwirte zu bösen Buben zu stempeln. Die wahren Verantwortlichen sitzen in den Chefetagen der Konzerne, während ihre Kunden eher Opfer als Täter sind. Auch wenn wir klar aufseiten des Biolandbaus stehen: Wir führen hier keinen Kampf »Bio gegen Konventionell«, das wäre zu einfach. Auch Ökohöfe können nichtregenerativ wirtschaften, auch konventionelle Betriebe Humus aufbauen. Es geht uns darum zu zeigen, wie Bauern, Gärtnerinnen, Stadtbewohner und Konsumentinnen gemeinsam Ökosysteme gesunden lassen und dabei richtig gut leben können.
Mutter Erde ist Muttererde, wie es so schön im Deutschen heißt. Sie versorgt Mikroorganismen, Pflanzen, Tiere und Menschen mit Nahrung. »Das Leben aber erblüht aus der ›Mutter Erde‹, und wenn es erlischt, so dort zuerst«, schrieb der Bodenforscher Hans-Peter Rusch.11 Aber Muttererde ist auch Mutter Erde, ein Bild für jene wunderschöne blaue Murmel, die uns alles gratis liefert, was wir zum Leben brauchen – angefangen damit, dass sie uns Halt gibt, damit wir nicht ins Bodenlose stürzen.
Die Erde wird uns retten – indem wir die Erde retten.

Zum Aufbau des Buches

Wie sich die von der Agroindustrie verursachten Krisen der Ökosysteme auswirken und gegenseitig verstärken, schildern wir im ersten Kapitel des Buches – der ganze Rest gehört den Lösungen. Wie regenerative Agrikultur die Naturkreisläufe global wieder in Balance bringen könnte, beschreiben wir im zweiten Kapitel. Das dritte kreist um lebensfördernde Praktiken auf Äckern und in Gärten – mit Beispielen aus Deutschland und anderswo. Im vierten geht es um praktische Bodenpflege. Das fünfte schildert regenerative Agroforst- und Weidesysteme bis hin zur Wüstenbegrünung. Im sechsten schildern wir neue Stadt-Land-Beziehungen. Das siebte zeigt eine Vision aus dem Jahre 2050, in der die Erde tatsächlich gerettet ist. Und im Anhang finden Sie Empfehlungen, wie dieses Ziel zu erreichen wäre und regeneratives Wirtschaften auf allen Ebenen gefördert werden kann. Natürlich ist dieses Buch nicht vollständig: Zugunsten von Bildern und Lesbarkeit mussten wir vieles Wichtige weglassen.
Nun wünschen wir Ihnen und uns, dass Sie bei der Lektüre von Entdeckerfreude ergriffen werden. Lassen Sie sich von weltweiten Initiativen inspirieren, und probieren Sie deren Methoden am besten selbst aus.

Kapitel 1Die Geschichte von David und Goliath – neu erzählt

»Wir sind an den allermeisten Orten dieser Erde nur knapp 15 Zentimeter von der Ödnis entfernt.Denn gerade einmal so viel misst die Schicht Humus, von der das gesamte Leben auf diesem Planeten abhängt.«
NEIL SAMPSON
Über lange Jahre unserer Geschichte – ungefähr 99 Prozent davon – lebten die Menschen als Sammlerinnen und Jäger. In dieser Reihenfolge. Unsere Ahnin »Lucy«, ein Australopithecus afarensis, durchquerte vor gut drei Millionen Jahren bereits im aufrechten Gang die Savannen des ostafrikanischen Rift Valley. Aus Knochen und Gebiss kann man schließen, dass sie sich von Samen, Nüssen, Früchten, Blättern und Wurzeln ernährte – und zum Sammeln zur Not auch noch auf Bäume kletterte. Das Jagen kam wohl erst zwei Millionen Jahre später durch Homo erectus in Mode. Sammeln und Jagen erforderte ein hohes Maß an Kooperation, was bei Homo sapiens, der sich vor ungefähr 200.000 Jahren entwickelte, ein Gehirn entstehen ließ, das soziale Umgangsformen mit dem Ausschütten von Glückshormonen belohnte. Das machte ihn menschlich – im besten Sinne.
Diese Menschen lebten in kleinen, nomadischen Gruppen zusammen – weitestgehend ohne Rangordnung. Kriege gab es kaum, warum auch, es gab kein Eigentum zu verteidigen. Der Anthropologe Robin Dunbar belegte mit Studien, dass eine Einzelperson zu ungefähr 150 Menschen egalitäre Beziehungen unterhalten kann, ein Mehr überfordert noch heute unser steinzeitgeformtes Gehirn und lässt als Konsequenz Hierarchien entstehen.
Auch heute leben Menschen in versteckten Winkeln der Welt immer noch als Sammlerinnen und Jäger – und zwar erstaunlich gut. Richard Lee hat beobachtet, dass ein afrikanischer Dobe-Buschmensch im Schnitt nur gut zwei Stunden täglich arbeitet. »Eine Frau sammelt an einem Tag genug Nahrung, um ihre Familie drei Tage zu ernähren«, schreibt der Anthropologe. Den Rest der Zeit verbringe sie im Dorf oder besuche andere Dörfer oder unterhalte Besucher aus anderen Dörfern. Ein Mann gehe auch mal eine Woche lang jagen, die nächsten zwei bis drei Wochen verbringe er dann aber mit Besuchen, Klatsch und Tratsch, Sex, Tanz und Gesang. Viele traditionell lebende Menschen gehören zu den gesündesten und besternährten der Welt. Ihr Speiseplan ist abwechslungsreich. Mangelernährung, Angst vor Hunger oder Krebs kennen die wenigsten. Landwirtschaft? Uninteressant! »Warum sollen wir pflanzen, wenn es so viele Mongo-Mongo-Nüsse in der Welt gibt?«, fragt ein Dobe-Buschmann.1

Wie Goliath so groß werden konnte

Doch nach der letzten Eiszeit vor etwa 12.000 Jahren begannen Menschen in der neolithischen Revolution mit dem Ackerbau. Sie säten wilde Grassamen; daraus entstanden Urgetreide wie Emmer oder Einkorn. Sie domestizierten Ziegen, später auch Schafe, Schweine und Rinder. Diese Entwicklung verlief zwischen 10.000 und 4.500 Jahren vor unserer Zeitrechnung mehr oder weniger parallel in Nord- und Südamerika, China, Indien, Lateinamerika und dem Vorderen Orient. Das Einlagern der Ernte und ein vom Wasserpegel abhängiges Bewässern erforderten zunehmend Planung und Kontrolle. Also wuchsen an Euphrat, Tigris oder Nil erste hierarchische Stadtstaaten – mit Getreidelagern und Kanälen, verwaltet von ersten Beamten, die eine Schrift benutzten; überwacht von Polizei, Oberhäuptern, Priestern und Göttern. Patriarchat und Erbrecht, Eigentum und Geld entstanden und schnell auch Schuldenknechtschaft und Sklaverei.2
Die herrschende Fortschrittserzählung behauptet, Landwirtschaft sei für die Menschheit unentbehrlich gewesen, um mit dem Agrarüberschuss eine »denkende Schicht« zu ernähren, die Kunst und Kultur entwickelte. Mag sein. Aber Skelettuntersuchungen weisen darauf hin, dass es sesshaften Bauern damals schlechter ging als frei umherschweifenden Sammlerinnen. Bauern hatten brüchigere Knochen, öfter Arthritis, Karies, Eisenmangel, epidemische Krankheiten – Letztere vor allem durch das enge Zusammenleben mit Nutztieren. Ihre Körpergröße schrumpfte, sie lebten kürzer als früher, im Schnitt nur noch 28 statt 37 Jahre.3 Während Sammlerinnen und Jäger wohl ein einfaches, aber entspanntes Leben führten, mussten Bauern sprichwörtlich ackern. Dieses Drama spiegelt sich auch in der Bibel wider: Gott jagte Adam und Eva aus dem Paradiesgarten mit seiner Überfülle: »Verflucht sei der Acker, mit Kummer sollst du dich darauf nähren dein Leben lang.«
Jäger und Sammlerinnen der San in der Kalahariwüste: Sie arbeiten kaum und leben gut.
Foto: Aino Tuominen, Wikimedia
Die Ausbreitung der Landwirtschaft ließ die Bevölkerung schnell ansteigen: Mütter konnten Babys mit Getreidebrei füttern und früher abstillen, was zu mehr Schwangerschaften führte. Mehr Menschen pflanzten dann noch mehr an, rodeten mehr Wald, bauten neue Städte. Peter Farb formulierte daraus das Paradox: »Die Intensivierung der Produktion mit dem Ziel, eine größere Bevölkerung zu ernähren, führt zu einem noch stärkeren Wachstum der Bevölkerung.«4 Auch deshalb nannte der Biologe Jared Diamond die Landwirtschaft »den größten Irrtum der Menschheitsgeschichte«.5
Nun ist für uns eine Rückkehr in die Zeiten der Jägerinnen und Sammler natürlich unmöglich. Aber wir sollten uns dessen bewusst sein, dass der historische »Sinn« von Landwirtschaft weitaus unklarer ist, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Der US-Autor Richard Manning argumentiert sogar, dass es in Agrarsystemen stets weniger um Nahrungs- als vielmehr um Machtproduktion ging.6 Herrscher der antiken Großreiche ließen den nötigen Nahrungsüberschuss mit Sklaven produzieren. Im Mittelalter wurden Bauern zu Leibeigenen. Im Kolonialismus kehrte die Sklaverei zurück, als weiße Europäer die Völker in Amerika, Afrika und Asien blutig unterwarfen, um Zuckerrohr, Baumwolle und »Kolonialwaren« zu produzieren. Das markierte den Beginn der globalisierten Landwirtschaft.
Unsere westliche Zivilisation – aber nicht nur die – hat eine unselige Tradition entwickelt, Geist und Natur als hierarchische Gegensätze zu sehen und Letztere der Ausbeutung preiszugeben. Mutter Erde und die Natur sind weiblich, weil reproduktiv, und befinden sich »unten«. Geist und Kultur sind männlich und stehen »oben«, in der Sphäre des Himmels, der Götter und Genies. Schon Aristoteles glaubte, »das Weib« sei bloß Stoff, nur ein Gefäß für die männliche Kraft des Samens. Die Weltreligionen – genauer gesagt, ihre fundamentalistischen Auslegungen – trugen zur Misere das Ihre bei. Für traditionelle Christen wohnen Vater, Sohn und Heiliger Geist im Himmel, die Mutter aber kam ihnen schmerzlich abhanden. »Macht euch die Erde untertan!«, befahl dieser Wüstengott angeblich. Judentum und Islam kennen ebenfalls jenen männlichen Herrscher der Wüste, der über allem thront, über der Natur, dem Weiblichen und der regenerativen Fruchtbarkeit, die doch die Welt immer wieder aufs Neue hervorbringt.
Auch der britische Naturforscher Francis Bacon sah die Natur als Frau. Er forderte, sie müsse »auf die Folterbank« gespannt werden, um ihr die weiblichen Geheimnisse abzupressen, sie »zu versklaven« und »zu bezwingen«.7 Der französische Philosoph René Descartes vertiefte die Kluft zwischen Geist und Körper, Verstand und Emotion, Männlichem und Weiblichem. Er behauptete, nichtmenschliche Lebewesen seien ohne Geist und somit nur »Automaten«. Das war die Rechtfertigung für ihre Versklavung. Die sogenannte menschliche Zivilisation beruht in ungeheurem Ausmaß auf tierischen Knochen und Knochenarbeit. Ohne Zugochsen, Lastesel und Ackergäule, ohne ihre Felle, Häute und Wolle, ohne ihre Sehnen und Knorpel, ohne Milch und Eier, Fleisch und Blut der Nutztiere hätte sich die Menschheit niemals urbanisieren können. Millionen von Pferden wurden in Kriegen niedergemetzelt, Milliarden Schlachttiere werden heute unter schlimmen Umständen gehalten und getötet. Ein Blutstrom und Opfergang ohnegleichen – für den es nirgendwo ein Denkmal gibt.
In Großbritannien bahnte sich im 16. Jahrhundert eine ökonomische Revolution an – der Kapitalismus. Grundherren verlangten von ihren Subsistenzbauern immer höhere Beträge. Wenn sie nicht zahlen konnten, nahmen ihnen »Landlords« die Äcker weg und vergaben sie an andere. Immer mehr Menschen wurden enteignet, der Rest musste miteinander konkurrieren und versuchen, »profitabel« zu wirtschaften. Zudem begann eine rücksichtslose Einhegung der Allmenden kleiner Leute, die zuvor auf solchen Gemeingütern (engl: Commons) frei sammeln, jagen, weiden und fischen konnten. Ihrer Existenzgrundlage beraubt und bitterarm, mussten sie als Lohnarbeiter anheuern – zuerst auf Äckern, später in Webereien, Kohlebergwerken und Fabriken.
Die stoffliche Seite der agroindustriellen Revolution aber geht auf den Gießener Chemiker Justus von Liebig zurück, der den Kunstdünger erfand. Als Jugendlicher hatte er 1816 ein dunkles »Jahr ohne Sommer« erlebt, bedingt durch Asche- und Schwefelteilchen eines Vulkanausbruchs in Indonesien mit der Folge einer globalen Hungersnot. Eine solche wollte er mit seinen Mineralsalzen für alle Zukunft verhindern helfen. Die Öffentlichkeit war begeistert, ein Patentrezept für die Ernährung der wachsenden Erdbevölkerung schien gefunden. Liebig selbst aber wurde mit zunehmendem Alter immer skeptischer: Er machte sich schwerste Vorwürfe, dass er als »kleiner Erdenwurm« sich angemaßt habe, die Schöpfung zu verbessern. Und entwickelte den »Liebig-Ozean«, ein frühes Öko-Modell der Gemeinschaft von Boden, Wasser, Pflanze und Tier.8
Doch das wollte schon niemand mehr hören. Das Zeitalter des technischen Machbarkeitswahns und mechanischen Reduktionismus hatte begonnen: Wissenschaftler sahen Lebewesen nicht mehr als Ganzheiten, sondern als physikalisch-chemische Fabriken, die auf das Funktionieren ihrer Einzelteile, ihrer Zellen und später ihrer Gene zurückgeführt werden konnten. Auch Ärzte interpretierten Krankheiten zunehmend als mechanische Fehlleistungen, die man mechanisch oder chemisch reparieren konnte – bis heute.
Im 19. Jahrhundert entdeckten Forscher, wie man aus Steinkohlenteer synthetische Farbstoffe gewinnen kann. Daraus entstehende Chemiekonzerne wie BASF und galten als Inbegriff des Fortschritts und wurden, eng verwoben mit den Mächtigen in Staat und Politik, um die Jahrhundertwende immer mächtiger. Ihre Produkte beförderten den Krieg und wurden umgekehrt vom Krieg befördert.9 1910 meldeten Fritz Haber und Carl Bosch das nach ihnen benannte Haber-Bosch-Verfahren zum Patent an. Es ermöglichte die Gewinnung von Salpeter für die Herstellung von Schwarzpulver aus Luft, Kohle und Wasser; später diente es zur Massenproduktion von Stickstoffdünger. Professor Haber trieb die Produktion der Giftgase Chlor und Phosgen als Chemiewaffen voran. Sie seien »eine technisch höhere Form des Tötens«, deren Einsatz er im Ersten Weltkrieg persönlich an der Westfront bei Ypern überwachte.10 Seine Ehefrau Clara Immerwahr, erste Doktorin der Chemie an der Breslauer Universität, erschoss sich aus Verzweiflung über ihren Mann und seine »Perversion der Wissenschaft«.
Was heute Monsanto, Bayer oder Syngenta sind, war in den 1920er und 1930er Jahren die IG Farben – ein monopolistischer Superkonzern, das größte deutsche Unternehmen überhaupt. Unter Hitler wechselten seine Vorstandsmitglieder reihenweise zur NSDAP und SS.11 Die dazugehörende Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung lieferte das Insektizid Zyklon B nach Auschwitz, wo nicht Insekten, sondern Menschen als »Parasiten« und »Volksschädlinge« vergast wurden.
Die Agrochemie war also immer auch zuerst Kriegswirtschaft. Aus Verfahren zur Sprengstoffherstellung wurde Stickstoffdünger, aus Kampfgasen Pestizide und aus Panzern Traktoren. Wo der Krieg gegen Menschen aufhörte, begann der Krieg gegen die Natur und umgekehrt. Monsanto und andere produzierten in den 1960er und 1970ern das dioxinhaltige Entlaubungsmittel Agent Orange, mit dem das US-Militär die halbe Fläche von Vietnam verseuchte. Noch heute leiden etwa eine Million Vietnamesen an den Spätfolgen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte in der Landwirtschaft westlicher Staaten ein exzessiver Gebrauch von Kunstdünger, Pestiziden und immer größeren Maschinen ein. Bauernhöfe gingen entweder bankrott oder entwickelten sich zu Agrarfabriken mit hohem Spezialisierungsgrad, Technikeinsatz, Kapital- und Energiebedarf und standardisierter Massenproduktion. Wo früher ein Dutzend Kühe weideten, standen bald Hunderte im automatisierten Stall. Wo früher 5 Hektar Anbaufläche reichten, mussten es nun 100 oder mehr sein. Einst gaben Bauern und Gärtnerinnen dem Boden in Form von Dung zurück, was sie ihm entnahmen. Nun ersetzte und zersetzte Agrochemie die natürlichen Stoffkreisläufe. Treiber und Profiteure dieser Entwicklung waren Chemiekonzerne im Verein mit Banken, Agrarspekulanten und Großgrundbesitzern. Die Folge war ein bis heute anhaltendes Bauernsterben. Und ein völlig anderes Gesellschaftsmodell.
Um 1800 arbeiteten in den Gebieten des heutigen Deutschland mehr als 60 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft. Um 1950 waren es noch 25, seit 2010 sind es nur noch 2 Prozent. Das war nur möglich, weil sich die Mengenproduktion sprunghaft erhöhte: Vor gut hundert Jahren konnten nur 4 Menschen von den Erzeugnissen eines Bauers leben, um 1950 waren es 10, heute sind es über 130 Personen.12 Die auf dem Land überflüssig Gewordenen wanderten in Städte ab, um im Industrie- und Dienstleistungssektor neue Arbeit zu suchen. Der Bauernstand ist fast völlig verschwunden. Die Verbliebenen werden zu gnadenloser Effizienz gezwungen, um eine ganze Gesellschaft zu ernähren. Ein »Fortschrittsmodell«, das im Zuge der »Grünen Revolution« auch südlichen Ländern oktroyiert wurde – nur dass es dort meist keine Industrie gab und gibt, welche die »Überflüssigen« hätte beschäftigen können. Von ihren Subsistenzäckern vertrieben, vergrößern sie nun die Slums wuchernder Megacitys, wo sie vom Müllsammeln oder Betteln leben müssen.
Die Idee einer »Grünen Revolution« wurde ab den 1940er Jahren in der Rockefeller Foundation ersonnen, um eine »rote Revolution« zu verhindern.13 Chemiegepäppelte Hochleistungssorten von Weizen oder Mais sollten schnell Rekordernten liefern und die Gefahr von Hungerrevolten beseitigen. Hunger und Unterernährung waren in den Augen dieser Agrotechnokraten ein Resultat der Zurückgebliebenheit südlicher Völker. Die willkommene Nebenwirkung ihrer Rezepte war die strukturelle Abhängigkeit des Südens von den Chemiekonzernen des Nordens.
Doch mit der Zeit waren die gigantischen ökosozialen Kosten dieser dauerhaften »Chemo-Therapie« nicht mehr zu übersehen. Sie erfordert ungeheure Mengen Fossilenergien, zerstört ökologische Kreisläufe und sprengt die planetarischen Grenzen. »Energiesklaven« in Form immer größerer Maschinen ersetzen menschliche Arbeitskräfte auf dem Acker und vertreiben sie in die Städte – was ländliche Gebiete vielfach in öde Agrarsteppen mit biologischen und geistigen Monokulturen verwandelt. Zudem schaffen sie gefährliche Abhängigkeiten: Steigt der Ölpreis, steigen die Essenspreise mit – so ein Report des Institute of Science in Society von 2013.14 Die Fossilchemie ist eine Art Viagra des Landbaus: Sie erzeugt eine künstliche Potenz, macht aber süchtig, schädigt Herz und Kreislauf der von ihr lebenden Gesellschaft und ruiniert auf Dauer die Bodengesundheit.

Warum Goliath so zerstörerisch ist

Über Jahrzehnte hat die Goliathisierung der Wirtschaft Riesenkonzerne geschaffen, die heute versuchen, die Welternährung zu beherrschen – angefangen vom Saatgut über Kunstdünger, Pestizide, Gentechnik, patentierte Lebewesen, GPS-gesteuerte Landmaschinen bis zur Verarbeitung und Vermarktung. Dabei geht es gar nicht so sehr um Ernährung – die wäre sonst qualitativ besser –, sondern um das Abhängigmachen ihrer Kunden und damit das Sichern dauerhafter Profite. Zu den »Big Seven« der Agrochemie gehören, der Umsatzgröße nach aufgezählt: ChemChina, Monsanto, Syngenta, BayerCropScience, Du Pont Agriculture, BASF Agricultural Solutions und Dow Agricultural Sciences. Hinzu kommen Düngemittelproduzenten wie Yara, Rohstoffhändler wie Cargill, Landmaschinenhersteller wie John Deer, Lebensmittelverarbeiter wie Nestlé, Handelsketten wie Walmart und weitere.
Den schlechtesten Ruf genießt Monsanto, von vielen auch als »Monsatan« geschmäht. Die investigative Journalistin Marie-Monique Robin hat nachgezeichnet, wie der Chemiekonzern mit PCB, Agent Orange, Glyphosat und anderen Giften einen Großteil unseres Planeten verseuchte, Verleumdungskampagnen gegen seine Kritiker in die Welt setzte und Ergebnisse wissenschaftlicher Studien fälschte.15 Nachdem seine Produkte das Bodenleben zerstört und die Erosion gefördert haben, scheint er nun an der Patentierung von Bodenorganismen zu arbeiten, die Stickstoff und Phosphor leichter für Pflanzen verfügbar machen. Sie seien »die nächste große Plattform der Agrikultur«, jubelt ein Monsanto-Chef.16 Man stelle sich vor, ein Handwerker würde erst die Küche demolieren und dann für die Reparatur bezahlt werden wollen – so ähnlich scheint Monsanto zu kalkulieren.
Kaum weniger schlimm und nur wegen seiner berühmten Kopfschmerztabletten besser beleumundet ist der deutsche Konzern Bayer, der nun Monsanto für 59 Milliarden Euro schlucken will. Auch Dupont und Dow wollen fusionieren, und ChemChina will Syngenta übernehmen. So würden aus den Big Seven die Big Four – mit globaler Erpressungsmacht. Monsanto ist für Bayer auch deshalb interessant, weil der US-Konzern der weltgrößte Saatguthersteller ist und unzählige Patente auf angeblich klimaresistente Pflanzen entwickelt. Bayer-Monsanto würde fast 30 Prozent des globalen Saatgutmarktes beherrschen und versuchen, den Zugang zu biologischer Vielfalt in riesigen Samenbanken zu monopolisieren.
Überhaupt kontrollieren nur zehn Giganten etwa drei Viertel des Saatgutmarktes. Oft nötigen sie Bauern und Gärtnerinnen vor allem im globalen Süden zur Benutzung ganzer Pakete von Samen, Kunstdünger und Pestiziden – und machen sie dauerhaft abhängig. Kleinbauern werden so zum »Sandwich« zwischen den Agrogiganten auf der einen Seite und den Preisdiktaten der Handelsgiganten auf der anderen.17 Konzerne wie Bayer oder Syngenta nutzen auch deutsche »Entwicklungs«hilfe-Projekte wie die Better Rice Initiative Asia oder die Potato Initiative Africa, um Kleinbauern im Rahmen von Schulungen ihre Chemieprodukte aufzudrängen.18
Die kartellähnlich organisierte Düngemittelindustrie ist nach Einschätzung der US-Autoren Martha Rosenberg und Ronnie Cummins der »böse Zwilling von Monsanto«. Zu den weltweit größten Kunstdüngerherstellern und -vermarktern gehören die berüchtigten US-Gebrüder Koch – Angehörige der Tea Party und milliardenschwere Unterstützer von Thinktanks, die den menschengemachten Klimawandel leugnen.19

Von Giften und Genen

Doch es geht nicht nur um Profit und Kontrolle. Um zu zeigen, was Monsanto & Co. herstellen, reisen wir nach Lateinamerika. Kilometer um Kilometer um Kilometer die gleiche Pflanze: Gensoja. Totenstille. Kein Vogel mehr zu hören. Kein Bienengebrumm. Keine Grille. Kein anderes Kraut mehr zu sehen. Kein Baum. Keine Blume. Nichts. In der Erde kein Regenwurm mehr. Kaum mehr Bodenleben. Alles totgespritzt mit Roundup Ready, Monsantos glyphosathaltigem Verkaufsschlager Nummer eins. Die Einzigen, die die Giftdusche überleben, sind genmanipulierte Sojapflanzen. Die Pampa, einst stolzes Weideland für Millionen argentinischer Rinder, ist seit 1996 zur gigantischen Futterfabrik für europäische Rindviecher verkommen. Aber Genpflanzen sind schwache Pflanzen, die sich oft kaum auf dem Stängel halten können. Sie überleben nur, weil außer ihnen nichts mehr wächst.
Argentinien: Kilometer um Kilometer nur glyphosatbesprühtes Gensoja.
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Doch halt, das stimmt nicht ganz: Immer mehr glyphosatresisente Superunkräuter und Superschadinsekten finden sich auf den Feldern. Sie bringen Landwirte zum Wahnsinn, weshalb sie zu noch härteren Ackergiften greifen. Wie die Chemiecocktails in Kombination mit Glyphosat wirken, hat kein Wissenschaftler je getestet. Darf man solch eine Monokultur bis zum Horizont »pflanzlichen Agrofaschismus« nennen, wenn nur Soja überleben darf? Es sei »ein Krieg gegen die Natur«, sagt sogar ein Sojafarmer.20
Und ein Krieg gegen Menschen. Ein stummer Krieg. Manche, etwa die Medizinerin María del Carmen Seveso von der Vereinigung »Ärzte besprühter Dörfer«, reden gar von »Genozid«.21 Die Opfer werden nicht von Bomben getötet oder verstümmelt, sondern von Krebs und Missbildungen, immer öfter schon im Mutterleib. Aus vielen Dörfern des Sojagürtels hört man von Krebskranken, missgebildeten Babys, Kindern mit Leukämie, Lähmungen, Atemproblemen, Stoffwechsel- und Hormonstörungen. Damian Verzeñassi, Medizinprofessor in Rosario, bestätigt: In allen agroindustriellen Bezirken, die sein Team untersuchte, seien die Krebsraten dramatisch in die Höhe geschossen.22