Die Insel des Glücks - Annabelle Benn - E-Book
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Die Insel des Glücks E-Book

Annabelle Benn

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Beschreibung

Eine himmlische Ayurveda-Kur, der Zauber Sri Lankas – und ein Traummann, der leider nicht der eigene ist.

Endlich will Delias Verlobter auch Haus und Kinder. Dem vermeintlichen Glück steht nichts mehr im Weg - außer Delias Gesundheit. Eine Ayurveda-Kur soll da helfen, und so fliegt sie mit ihrer Cousine nach Sri Lanka. Auf der tropischen Insel entwickelt sich bald alles anders als erwartet. Alte Wunden brechen auf und Delia muss sich einigen unliebsamen Wahrheiten stellen, wie zum Beispiel ihrer eigenen Hörigkeit und dem Narzissmus ihres Partners. Außerdem ist da noch der charismatische US-Amerikaner Aurel, der so gar nicht in ihr Weltbild passt und dennoch ihr gesamtes Leben aus den Angeln zu heben droht - falls sie ihn lässt. Das jedoch steht in den Sternen, denn: Fürs Glück braucht es Mut. Und die Bereitschaft, alles zu verlieren. Wie kann man die finden?

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Die Insel des Glücks

 

Annabelle Benn

Anja C. Richter

 

 

 

Impressum

R.O.M logicware, Pettenkoferstr. 16-18,

10247 Berlin, [email protected]

© 2020 Benn, Annabelle; Richter, Anja C.

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand, Norderstedt

ISBN: 9783752688597

 

Alle Rechte vorbehalten.

Cover: Sturmmöwen, Rebecca Wild

Korrektorat: Kapitel 1 -3, Katja Kulin

Rest: Kirsten John und Heidemarie Roitner

 

Die erste und schlimmste aller Betrügereien ist der Selbstbetrug. Daneben wiegen alle anderen Sünden leicht.

Philip James Bailey

 

 

Delia

 

Es war ein Spätsommertag, wie ich ihn nach den vielen kalten Regentagen nicht mehr erwartet hätte. Die Sonne schien heiß von dem beinahe wolkenlosen Himmel, ab und zu streifte ein lauer Windstoß die erhitzte Haut und durch Berlin wehten jene Sorglosigkeit und Lebensfreude, die es nur im Sommer gab. Menschen in luftigen Kleidern und Sandalen schlenderten an einer Tüte Eis schleckend die vollen Gehwege entlang, sonnten sich auf den Grünflächen oder schlemmten Eiskaffees und frühe Aperol Spritz in einem der überfüllten Straßencafés. Niemand blieb unnötig im Haus, alles drängte ins Freie, endlich auch ich.

Es war eine Stimmung, in die ich früher wie in eine zweite Haut geschlüpft wäre. Die Unbeschwertheit und Lebenslust wären mir sofort in Fleisch und Blut übergegangen. Nun aber stand ich als Zuschauer am Spielfeldrand des Lebens, und jeder Luftzug flüsterte mir zu, wie vergänglich alles war.

Derart morbide Gedanken waren mir früher völlig fremd gewesen, doch seit Längerem plagten mich für alle Ärzte unerklärliche Schmerzen, die mir die Lebensfreude stahlen.

Heute allerdings, bei dem herrlichen Sonnenschein und nach der Abgabe eines äußerst fordernden Manuskripts, wollte ich diese Fülle, Lebendigkeit und Hoffnung endlich wieder spüren, wollte jeden Augenblick, jeden Windhauch und jeden Sonnenstrahl genießen, bevor ein weiterer grauer Winter über uns hereinbrach. Also fuhr ich mit dem Rad vom tiefen Osten aus nach Charlottenburg, wo ich mich mit meiner besten Freundin treffen wollte. Früher war ich eine richtige Sportskanone gewesen, doch mittlerweile konnte ich mich kaum noch bewegen, weswegen mir die Stunde im Sattel einiges abverlangte. Ich trat trotzdem tapfer in die Pedale, weil ich wieder fitter werden wollte. Denn wie sagte schon Schopenhauer? Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts. Genau so war es.

Bis zum Treffen mit Tanja hatte ich noch Zeit und so fuhr ich ein paar Schlenker durch Straßen und über Plätze, die ich früher gern gemocht hatte. Vom Ku’damm bog ich in die Kantstraße ein, weil ich mein früheres Wohnzimmer, den Savignyplatz, wiedersehen wollte.

Auch hier drängten sich die Menschen in den Cafés, auf den Parkbänken und den beiden symmetrischen Grasflächen. Es war beinahe unheimlich sauber hier, auf den Hauswänden und Toren prangten keine Graffitis und auf dem Boden lag selten Müll.

Mit gemischten Gefühlen bog ich in die Bleibtreustraße ein und kam zu dem Haus mit den Säulen, Statuen und der Stuckfassade, in dem ich einst gewohnt hatte. Durch die Glasscheiben der doppelflügeligen Holztür erhaschte ich einen Blick auf den mit Mosaiken ausgelegten Eingangsbereich, durch den man in den schattigen Innenhof mit Blumenrabatten, Sitzbänken und einer alten Linde gelangte. Hier war alles ordentlich und gepflegt und wenn einmal etwas kaputt ging, kam jemand, der es umgehend reparierte. Mit anderen Worten: Es war spießig, bonzig und kleinkariert. Es war das Leben, das ich vor drei Jahren hinter mir gelassen hatte und das mir jetzt so unwirklich vorkam, dass es mir fast wie ein anderes Leben erschien. Ich fuhr so langsam, dass ich das Gleichgewicht verlor und abspringen musste. Da öffnete sich die Tür und eine Frau in meinem Alter trat heraus. Sie trug eine dunkelblaue Culotte, ein weißes T-Shirt, eine große gold gerahmte Sonnenbrille und eine knallpinke Birkin Bag. Ihr Yorkshireterrier, dessen Fell genauso glänzte wie ihr Haar, zog sie zur nächsten Platane, um dort sein Bein zu heben.

Ich blieb stehen und betrachtete die Frau von der anderen Straßenseite aus. Sie sah mühelos elegant, vital und sorglos aus. Kein Wunder, dachte ich, denn wer Geld für eine so teure Tasche hatte, kannte keine Sorgen. Das Wissen, dass das nicht stimmte, blitzte scharf in mir auf, verlosch aber sofort wieder.

Die Frau hätte ich sein können. Ich hatte zwar nie eine Birkin besessen und mir auch nie eine gewünscht, aber sie passte perfekt zu ihrem unbekümmerten Erscheinungsbild. So wäre ich gewesen, wenn ich ... Nun, wenn ich nicht ausgezogen wäre, sondern so getan hätte, als wäre nichts passiert. Und wenn ich Vincent nicht kennengelernt hätte. Er hatte mir gezeigt, worauf es im Leben wirklich ankam, nämlich nicht auf Geld, sondern auf Haltung und innere Werte. Folglich war es nicht richtig, dass ich mir in meinem fadenscheinigen Sommerkleidchen schäbig vorkam. Ich seufzte und stieg wieder aufs Rad. War es denn wirklich so schwer, seine Wurzeln vollständig zu kappen?

Schließlich hielt ich vor meinem italienischen Lieblingscafé in der Leonhardtstraße. Mein Magen knurrte, Schweiß strömte aus meinen Poren und die Zunge klebte mir am Gaumen, weil ich mein Wasser längst ausgetrunken hatte. Zwar freute ich mich schon den ganzen Tag auf den cremigsten Cappuccino und saftigsten Kuchen von ganz Berlin, aber die Freude auf das Wiedersehen mit Tanja wog wesentlich stärker. Sie hatte mir während ihrer Kur in Sri Lanka arg gefehlt, seit gestern war sie endlich zurück. Sie kam winkend um die Ecke, und wir fielen einander um den Hals. Fest drückte ich sie an mich und ignorierte dabei das Klingeln meines Handys.

„Da bist du ja! So schön, dass du wieder da bist!“

„Ich freu mich auch, obwohl ich gern noch geblieben wäre. Willst du denn nicht rangehen?“

„Unbekannte Nummer? Eigentlich nicht, aber ich muss wohl.“

„Hier von Lichtenberg. Frau Schweiger, es geht um den Motorradunfall in Agadir.“

Frustriert presste ich die Augen zu und verfluchte mich dafür, dass ich abgehoben hatte.

„Was Sie darüber schreiben, hat null Aussagekraft. Es belegt nichts, es weist keinen Weg. Dabei ist er das Schlüsselereignis für mein spirituelles Wachstum, das kann man gar nicht stark genug betonen“, polterte sie in ihrer schrillen Art, die null Spiritualität vermuten ließ.

Ich sammelte mich. „Guten Tag, Frau von Lichtenberg. Als das Schlüsselerlebnis Ihrer geistigen Entwicklung haben wir doch konstruiert, dass Sie eine Stunde, bevor der Tsunami Balis Küste traf, von dort weggeflogen sind, obwohl Sie ursprünglich viel länger hätten bleiben wollen. Das war Gottes Fingerzeig – Sie von Engeln geleitet hoch oben in der Luft und unten die Hölle auf Erden.“ Ich sagte das ohne hörbare Ironie, denn schließlich war ich ihre Biografin, doch innerlich kochte ich. Es war unglaublich, dass sie mich deswegen anrief! Erst gestern hatten wir in der PR-Agentur beisammengesessen, waren alles zum hundertsten Mal durchgegangen, sie hatte das Manuskript endlich abgesegnet und freigegeben, und ich hatte mich gefreut. Leider zu früh.

„Frau von Lichtenberg, die PR-Agentur und ich stimmen darin überein, dass eine noch stärkere Betonung dieser Themen die Leser in eine Abwehrhaltung bringen könnte. Es könnte zu viel des Guten sein und ins Gegenteil umschlagen.“

„Ach, ich bitte Sie, reden Sie doch keinen solchen Unsinn! Den Publikumsgeschmack werde ich als Deutschlands beliebteste Moderatorin ja wohl besser kennen.“

„Natürlich sind Sie ...

„Korrekt. Also ändern Sie das.“

Ich unterdrückte ein Stöhnen. „Darüber kann ich leider nicht entscheiden. Würden Sie sich bitte an die Agentur wenden?“

Leise zischte sie: „Das hätte ich getan, wenn Ihr Freund mich beim Mittagessen nicht davon überzeugt hätte, dass es für Sie besser sei, wenn ich erst mit Ihnen sprechen würde. Ich will Sie ja nicht bloßstellen. Allerdings frage ich mich bei Ihrer unkooperativen Art, warum eigentlich?“

Ihre Worte wirkten wie ein Schlag. Ich musste mich verhört haben. Beim Mittagessen? Wieso aß sie mit Vincent zu Mittag? Bestimmt waren sie sich zufällig über den Weg gelaufen. „Das ist nett gemeint, aber bitte wenden Sie sich an die Agentur.“

Einen Augenblick lang war es still in der Leitung und ich dachte, sie hätte aufgelegt, da schnaubte sie: „Aber die haben mich doch zu Ihnen geschickt!“

Nun war ich es, der es die Sprache verschlug, bis ein anderes Ich das Kommando übernahm. Ich sprach mit Engelszungen, während mein Verstand scharf wie ein frisch geschliffenes Messer war. „Ach so, natürlich. Mit wem haben Sie denn gesprochen?“

„Na, mit dem Neuen natürlich, Sanders ist ja nie da.“

„Nun, Frau von Lichtenberg, auch in diesem Fall kann ich Ihnen bestätigen, dass wir nichts tun, bis das Lektorat abgeschlossen ist. Seien Sie sicher, dass Ihr Eindruck von gestern richtig ist. Vertrauen Sie Ihrer Intuition. Aber vertrauen Sie auch Ihrem Verstand. Denn schauen Sie, der Lektor ist ein Profi, seit Jahrzehnten im Geschäft, einer der besten des Landes. Er hat ein Gespür für die kleinsten Nuancen und redigiert unerbittlich, jeden Punkt und jedes Komma, alles.“ Sie entspannte sich und in der Atempause schwoll mein Alter Ego weiter an. „Uns allen liegt doch daran, dass Sie und die Leser zufrieden sind. Denn unter uns, Frau von Lichtenberg – die Agentur verspricht sich von einem so großen Namen wie Ihrem doch einen netten Profit, und natürlich will sie weitere renommierte Persönlichkeiten für neue Projekte gewinnen. Da riskiert niemand etwas, im Gegenteil, alle gehen auf Nummer sicher und geben sich extra große Mühe. Aber das wissen Sie nicht von mir, es bleibt bitte unter uns, ja?“

„Ach so. Na gut, in Ordnung“, seufzte sie schließlich geschmeichelt. „Ihr Wort im Ohr des Göttlichen.“

Mein Beruf als Ghostwriterin, den ich seit drei Jahren ausübte, hatte positive, aber auch viele schwierige Seiten, und selbstverliebte Promis wie Frau Ich-mach-mir-die-Welt, wie ich sie heimlich nannte, waren eine davon. Sie war der lebende Beweis dafür, dass Geld den Charakter verdarb. Warum waren solche Personen nur so beliebt? Wenn die Leute wüssten, wie sie wirklich waren. Nun, das würden sie nicht, solange es Schreiberlinge wie mich gab, die ihren Lebensunterhalt damit verdienten, diese Ungeheuer in Lichtgestalten zu verwandeln. Obwohl mir angesichts meiner Rolle in dem Spiel nicht ganz wohl war, legte ich erleichtert auf und hoffte, sie endgültig überzeugt zu haben, denn ich brauchte das Geld der Schlussrechnung dringend.

Tanja saß mittlerweile vergnügt grinsend an einem Tisch und zeigte fragend auf ihr Glas mit einem grünen Wundersaft. Ich schüttelte den Kopf, schließlich freute ich mich auf Kaffee und Kuchen, und machte ein Zeichen, dass ich noch einmal telefonieren müsste. Meine Beine wurden schwach, als mir aufging, wie eiskalt ich geblufft und in welche Lage ich mich möglicherweise gebracht hatte. Die Sorge war jedoch unbegründet, denn in der Agentur lobte man mich, da Frau von Lichtenberg dort natürlich mit niemandem gesprochen hatte. Allerdings, so sagte man mir, müsste ich weitere unentgeltliche Änderungen vornehmen, sollte die Klientin nach dem Lektorat darauf bestehen. Ich ärgerte mich über den Chef der Agentur, der mir schon immer wie ein rückgratloser Wurm vorgekommen war. Insgeheim vermutete ich, dass er entweder etwas von der von Lichtenberg wollte oder schon mit ihr am Laufen hatte. Sie sah gut aus, sodass Mann ihre menschlichen Makel leicht übersehen konnte. Mir sollte es egal sein. Ich wollte Kaffee und Kuchen.

 

Delia

 

„Sorry, Tanja, meine Liebe, jetzt hab ich endlich Zeit. Na, nun erzähl aber mal: Wie war’s?“, plapperte ich drauflos, während ich mich setzte.

„Das fragst du noch? Schau mich an! Fantastisch! Ich bin wie neugeboren! Am liebsten wäre ich noch ein paar Monate geblieben.“

„Ein paar Monate gleich? Hast du dich etwa verliebt?“

„Ach, was du schon wieder denkst!“ Lachend wehrte sie ab. „Nein, oder doch, aber nicht in einen Mann, sondern in das Land. Und ins Leben! Mir geht’s so unsagbar gut!“ Sie schloss die Augen und streckte die Arme gen Himmel.

„Echt? Die Kur wirkt solche Wunder?“ So wie sie wollte ich mich auch fühlen! Seit Jahren zog und zerrte es mal in den Knien, mal in den Beinen, Schultern und im Nacken, und zwar teilweise so stark, dass ich mich übergeben musste. Während meiner Menstruation lag ich zwei Tage mit Schmerzmitteln vollgepumpt im Bett und starrte an die Decke. Es war grauenvoll und fast kein Leben.

„Und wie! Ayurveda ist nicht umsonst die uralte indische Lehre vom Leben!“

Ich nickte begeistert, dann kamen mir Zweifel. „Isst du deswegen keinen Kuchen mehr oder kann ich dir ein Stück mitbringen?“

„Danke, nichts Süßes für mich, der Smoothie reicht mir vollkommen.“

„Nicht mal einen Erdbeershake? Die haben hier Bioprodukte!“

„Um Himmels willen, nein!“, rief sie entsetzt. „Nie wieder. Man sollte kein Obst mit Milcherzeugnissen mischen, das ist das reinste Gift für den Körper.“

Ich schaute, dass ich an die Kuchentheke und weg von ihren befremdlichen Ansichten kam. So eine Kur musste ja die reinste Gehirnwäsche sein, wenn ein ehemaliges Schleckermaul wie Tanja freiwillig auf Süßes verzichtete. Doch davon würde ich mir den Appetit nicht verderben lassen. Da Zimt den Blutzuckerspiegel senkte, rührte ich zum Ausgleich meiner Sünden sowohl davon als auch von dem verdauungsfördernden Anis eine große Menge in den Kaffee. Genüsslich schloss ich die Augen, als die cremig leichte Süße der Schokoladentorte auf meiner Zunge zerfloss.

Während ich schlemmte, schwärmte Tanja in den schillerndsten Farben von ihrer inneren und äußeren Reinigung. Sie zeigte mir Fotos von schlummernden Krokodilbabys, Mangrovenwäldern, prachtvollen Blütenmandalas und dem Kurhotel. Fasziniert lauschte ich ihren Schilderungen. Sie sah zehn Jahre jünger aus und verströmte pure Lebensfreude. Quicklebendig strahlte sie mich aus ihren grashüpfergrünen Augen an, und das obwohl diese vom Jetlag eigentlich winzig klein hätten sein müssen. Meine Besorgnis, dass sie zur Esoterikerin geworden wäre, bestätigte sich nicht, dafür aber die mein Fernweh betreffend, denn das wuchs unaufhaltsam. Alles, was sie erzählte, klang zu schön, um wahr zu sein, und was sie über die Massagen berichtete, konnte ich beim besten Willen nicht glauben.

„Zwei Stunden jeden Tag?“ Ich ließ meine Kuchengabel sinken und sah sie mit offenem Mund an. Ich stellte mir vor, wie zarte Hände über meinen verspannten Körper glitten, wie sich die Schmerzen in Luft auflösten und wie ich die Berührung genoss. Es wäre das Paradies auf Erden.

„Ja, wenn ich’s dir doch sage! Zwei Stunden jeden Tag. Du wirst von Kopf bis Fuß verwöhnt, alles dreht sich nur um dich. Du bekommst sogar einen Speiseplan, der exakt auf deinen Typ abgestimmt ist.“ Sie küsste ihre Fingerspitzen wie ein italienischer Koch. „Das Essen, oh Mann, ich sag dir, das ist ein Gedicht! Es fehlt mir jetzt schon. Weißt du, es ist alles ganz gesund und wird immer frisch zubereitet, damit das Prana, die Lebensenergie, erhalten bleibt.“

Ich wollte mir den Genuss meiner zuckrigen Fettbombe nicht verderben lassen und passte kurz nicht auf, damit ich den letzten Bissen auskosten konnte. Dann dachte ich wieder an die massierenden Hände, und das Nächste, was ich hörte, war: „… direkt am Meer, in dem großen Garten davor blühen bunte Blumen und Palmen wedeln schattenspendend über dir.“ Wir lachten über ihre drollige Ausdrucksweise. „Alles ist lauschig und ruhig, die Leute sind unglaublich nett, du musst nichts tun, außer dich behandeln und bedienen zu lassen. Sag, wäre das nicht auch etwas für dich?“

„Für mich? Was soll ich denn da?“

„Na, gesund werden natürlich!“

„Aber ich bin doch gar nicht krank!“

„Oh doch, natürlich bist du krank! Du hast seit Jahren Schmerzen, die dir das Leben zur Hölle machen! Du rennst von Arzt zu Arzt, aber keiner kann dir sagen, woher sie kommen und wie du sie wieder loswirst. Dahinter können nur gestörte Doshas stecken!“

„Gestörte was?“

„Doshas. Bio-Energien. Man wird in einem bestimmen Verhältnis von den drei Doshas geboren, und wenn das ins Ungleichgewicht gerät, wird man krank. Und du bist krank, Delia, glaub mir!“

„Unsinn. Red mir doch bitte nichts ein.“ Wirklich krank war man doch erst, wenn man nicht mehr arbeiten konnte.

„Schmerzen sind ein Zeichen dafür, dass man etwas ändern muss. Oft haben sie ihre Ursache an ganz anderer Stelle. Die westliche Medizin erkennt die Zusammenhänge nicht, tappt im Dunkeln, verschreibt Schmerzmittel, heilt aber nicht, sondern ...“

„Ja, ich weiß.“

„Eben. Deli, du musst die Ursachen bekämpfen und die Schmerzen endlich loswerden, so ist das doch kein Leben!“

„Wem sagst du das.“

„Dir! Natürlich werden die Leiden bei der Erstverschlechterung erst mal noch schlimmer, aber dann ... dann ...“ Wieder breitete sie die Arme gen Himmel aus.

„Was? Noch schlimmer? Dann kann ich mich ja gleich eingraben!“

„Unsinn, Liebes, da sind doch lauter Spitzenärzte, die sich Tag und Nacht um dich kümmern und dafür sorgen, dass du den Drachen besiegst und zum Gold kommst.“

„Drachen? Gold?“ Vielleicht hatte ich mich doch geirrt, was Tanjas Verhältnis zur Esoterik anging.

Sie winkte ungeduldig ab. „War ja nur ein Vergleich. Was ich sagen will: Da muss man durch. Zwei, drei Tage geht es einem richtig mies, aber dann!“ Sie warf einen Kuss in die Luft und strahlte mich an. Wer konnte so viel Begeisterung widerstehen? Widerwillig musste ich lachen.

„Okay. Dann soll ich also einfach alles hinschmeißen und hinfliegen, ja?“

„Ja!“ Sie sah mich an, als hätte ich endlich ein an sich einfaches Rätsel gelöst.

Ich schüttelte den Kopf und wollte etwas erwidern, kam aber nicht dazu, da jemand meinen Namen rief.

„Delia! Das gibt’s doch nicht! Meine Güte, bist du es wirklich?“ Eine elegante Frau mit glänzend blonden Haaren stand auf dem Gehweg und sah mich an. Das war –

„Bea!“, rief ich halb erfreut, halb verunsichert, weil ich mich für mein Outfit schämte, und stand auf. „Was tust du denn hier?“

„Ich? Ich komme gerade von einem Termin in der Nähe. Mensch, das ist ja eine schöne Überraschung! Lass dich umarmen!“

Zögernd fiel ich ihr in die Arme. Ihr Körper war weich und sie roch unglaublich gut. Fest drückte sie mich an sich, und die Freude über das unverhoffte Wiedersehen wuchs.

„So ein Zufall! Hast du Zeit? Komm, setz dich doch zu uns“, lud ich sie ein. Bea war nicht nur meine Cousine, sondern eigentlich meine Lieblingscousine, trotzdem hatten wir uns in den letzten Jahren kaum gesehen. Und das, obwohl sie ganz in der Nähe in einem herrlichen Penthouse am Ludwigkirchplatz wohnte. Bis zu meinem Burnout waren wir unzertrennlich gewesen, doch seitdem hatte sich viel verändert. Außerdem mochten sie und Vincent einander nicht, weswegen ich auf Distanz zu ihr gegangen war.

„Stör ich euch auch nicht?“, fragte sie höflich, doch da wir ihr schon einen Stuhl zurechtrückten, nahm sie Platz und begrüßte Tanja, die sie von früher kannte.

Wir erfuhren, dass sie soeben von einem Gespräch kam, weil sie jetzt, da ihre Zwillinge außer Haus waren, wieder Vollzeit als Anwältin arbeiten wollte. Die beiden Sechzehnjährigen verbrachten das Schuljahr bei ihrer Tante Patricia in Madrid, um Auslandserfahrung zu sammeln, perfekt Spanisch zu lernen und vor dem deutschen Abitur schon das internationale zu haben. Sie eiferten darin ihren älteren Cousinen nach, die ebenfalls einen internationalen Schulabschluss hatten und an angesehenen Universitäten studierten. Ich war in eine der spießigsten Familien Bayerns hineingeboren worden, für die fast alles, wovon andere träumten, selbstverständlich war. Alle bis auf mich hatten großartige Karrieren hingelegt, lebten in Wohlstand und frönten ihren Privilegien. Bea war da nicht anders. Sie war als Anwältin in Teilzeit bei einer großen Versicherung tätig, aber von dem Gehalt konnte sie unmöglich ihren Lebenswandel bestreiten. Es empörte Vincent hochgradig, dass ihr Ehemann das mitmachte und ihr so viel finanzierte. Was ich Vincent nie verraten hatte, war, dass Beas und mein Vater für jede von uns Aktien im Wert von 20.000 Euro investiert hatten, als wir sechzehn waren. Während ich meine in der Dot.com-Krise verkauft hatte, hatte Bea sie behalten und konstant dazugekauft oder verkauft. Vor Jahren hatte sie mir einmal gestanden, dass sie nicht arbeiten müsste. Dass sie eine Ganztagsstelle suchte, überraschte mich. Entweder hatte sie herbe Anlageverluste eingefahren, oder sie flüchtete sich in die Arbeit, um einer Leere davonzulaufen.

„Die zwei wollten auch nach D.C. zu deinem Bruder, aber das konnten wir ihm und seiner Frau nicht antun. Und zu wildfremden Leuten – das hätte ich nicht übers Herz gebracht“, erzählte sie bedrückt. „Sie sind doch noch so jung! Aber wenn ich denke, was wir beide in dem Alter für Abenteuer hingelegt haben und wie erwachsen wir uns dabei vorgekommen sind!“ Kichernd stupste sie mich an. „Ach Gott, wo ist nur die Zeit geblieben?“

Bea war 36 und wenige Monate älter als ich. Da sie das Leben nahm, wie es kam, hatte sie nicht abgetrieben, sondern mit stoischer Gelassenheit neun Monate nach der Abiturfeier Diana und Philip zur Welt gebracht. Sie hatte die Kinder neben dem Jura-Studium großgezogen. Sie verdankte es ihrem Verstand, Fokus, Organisationstalent und dem Einsatz ihrer Mutter, dass sie nach nur neun Semestern mit „vollbefriedigend“ abschloss, eine Leistung, die nicht mal ein Fünftel aller Studenten, die überhaupt zum ersten Staatsexamen antraten, erbrachten. Den Vater hatte sie nie geheiratet, dafür aber wenig später den zehn Jahre älteren Richard Cavendish, einen erfolgreichen englischen Immobilienmakler, von dem sie sich jetzt in aller Freundschaft scheiden ließ.

„Wenn er sich in eine 23-Jährige verliebt, was soll ich mich da groß aufregen und ihm lange nachtrauern?“, sagte sie aufgeräumt. „Es waren vierzehn schöne Jahre mit ihm, er hat mich auf Händen getragen und die Kinder wie seine eigenen behandelt, aber jetzt ist es eben vorbei.“

Wer das Leben so nahm, konnte nicht scheitern, dachte ich mit einem seltsam engen Gefühl in der Magengrube.

„Tja“, fuhr Bea fort, „somit bin ich also allein, hab Zeit und überlege mir gerade, wohin ich verreisen könnte.“

Ich wusste sofort, was kommen würde. Prompt rief Tanja: „Du hast in den nächsten Wochen nichts vor?“

„Nein, warum?“

Normalerweise mochte ich Tanjas Begeisterungsfähigkeit, doch nun musste ich einschreiten, bevor die beiden Nägel mit Köpfen machten. Augenrollend seufzte ich: „Damit sie dich zu einer heilbringenden, lebensverändernden Ayurvedakur in Sri Lanka überreden kann.“

Bea ließ sich nicht abschrecken, im Gegenteil. Entzückt rief sie: „A-yur-veda?“

„Ja!“ Tanja klatschte in die Hände und rückte näher zu ihr. „Kennst du dich damit aus?“

„Nur ein bisschen – aber meine Güte! Eine Panchakarmakur wäre genau das Richtige für mich. Dass ich nicht selbst darauf gekommen bin!“

„Bestimmt! Ich bin gestern zurückgekommen, und ...“

„Im Ernst? Also deswegen siehst du aus wie das blühende Leben. Los, erzähl! Ist das nicht irre teuer?“

Ich sah ihr an, dass sie innerlich schon gebucht hatte, und wunderte mich, dass sie sich für Geld interessierte, aber dann fiel mir die Scheidung wieder ein.

Tanja beruhigte sie. „Nein, es ist sogar überraschend günstig, besonders in der Vorsaison. Kommt, Mädels, das ist eure Chance! Ihr müsst dahin!“

„Wir?“, rief ich. Was für sie günstig war, war für mich teuer.

„Ja, natürlich ihr!“ Tanja nickte heftig. „Jetzt, wo ihr euch wiedergefunden habt! Das ist doch ein Omen! Hier ist es bald grau, kalt, nass – dort ist Sommer! Wie könnt ihr auch nur einen Augenblick zögern?“

Ich sah mich mit einer frischen Kokosnuss in den Händen unter einer Palme liegen und tiefenentspannt auf das blau und golden glitzernde Wasser schauen. Das Meer! Diese Weite, diese Stille, diese Freiheit! Mein Computer wäre weit weg. Frau Ich-mach-mir-die-Welt wäre weit weg. Alles andere ebenso. Dafür wäre alles Schöne da. Bea zum Beispiel. Oder die Sonne. Und zarte Hände, die mich stundenlang massieren und die Schmerzen aus mir herausziehen würden. Ich würde gesund werden. Und glücklich. Und überhaupt ...

„Wie soll das gehen? Ich muss arbeiten!“, stöhnte ich.

„Aber du brauchst doch auch mal Urlaub!“, rief Bea. „Deli, das wird fantastisch! Wir haben uns immer gut verstanden. Außerdem sind wir ein erprobtes Urlaubsteam. Denk nur an die Tennistrainingscamps oder die Sprachreise nach Antibes.“ Verschmitzt blinzelte sie mich an. Bei den Erinnerungen musste auch ich lächeln, und mir wurde warm ums Herz.

„Frankreich? Mein Gott, der Cidre!“

„Und Yves und – wie hieß der andere gleich nochmal?“

Wir kicherten vergnügt.

„Das waren Zeiten, was?“, rief sie ausgelassen und legte mir strahlend eine perfekt manikürte Hand auf den Unterarm.

„Es war echt schön“, seufzte ich.

„Ja, genau! Also, was hält dich vom Gesundwerden ab?“, rief sie, mit einem Fuß schon im Flugzeug.

Auch Tanja trompetete siegessicher: „Jeder braucht Urlaub! Du ganz besonders! Du brauchst eine Auszeit und eine Kur!“

Ich stöhnte. „Ich habe aber einen neuen Auftrag von einem Windpark-Initiator. Und Frau Ich-mach-mir-die-Welt braucht ihre Autobiografie!“

Tanjas Miene verfinsterte sich. „Ihre geliftete Autobiografie“, schnaubte sie, denn seitdem ich an dem Werk schrieb und ihr verbotenerweise erzählt hatte, wie schrecklich die Frau in Wahrheit war, drohte sie der GEZ mit Beitragsverweigerung. „Ich dachte, du wolltest das Manuskript abgeben, während ich weg war?“

„Das habe ich auch, aber jetzt will sie weitere Änderungen.“

„No, no, no!“ Erbost sah Tanja uns an. „Die kriegt sie nicht! Abgegeben ist abgegeben! Aber zurück zum Thema, Deli: Dass wir deine liebe Cousine zufällig hier treffen und sie spontan mit dir verreisen will, kann, wie gesagt, nur ein Zeichen sein! Es steht in den Sternen: Du musst raus hier!“

„Du klingst schon wie das Ungeheuer!“, konterte ich, konnte mir aber ein Lachen nicht verkneifen.

„Unsinn. Komm, pack den Koffer! Nur in einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist, das wussten schon die alten Römer, und Ayurveda ist noch älter“, drängte sie mich weiter.

Zwei Stunden Massage pro Tag ...

„Genau“, pflichtete Bea ihr bei. „Ich meine es nicht böse, aber du siehst wirklich ein wenig abgespannt aus. Also, wann fliegen wir?“

Ich wäre ja liebend gern mitgekommen, aber es ging trotz Palmen, Sonne, Meer, Bea und Massage nicht. Wegen dem Geld, dem Mann mit den Windparks, Frau Lichtenberg, Vincent, dem Klima, und etlichen Sachen mehr.

„Ha!“ Mit einem tatendurstigen Funkeln in den Augen blickte Bea von ihrem Handy auf. „Es sind noch einige Direktflüge frei. Wie heißt das Hotel?“

Tanja lächelte triumphierend. „Pagoda. Sie sind momentan nicht ausgebucht, das weiß ich. Nimm dir ein Luxuszimmer, Bea, von denen hast du einen Wahnsinnsblick aufs Meer.“

„Hey, Moment mal!“, ging ich dazwischen. „Wir können doch nicht mal eben so eine Fernreise buchen!“

„Aber warum denn nicht? Es hat doch nun keine von uns dringende Termine, oder?“, fragte Bea.

„Nein, Termine nicht, aber Vincent!“

„Vincent?“ Entgeistert sahen sie mich an.

„Ja! Soll der etwa nicht mit?“

Panische Blicke flogen hin und her. „Nein!“, protestierte Tanja. „Auf keinen Fall geht es nur um einen selbst und ums Gesundwerden. Für den ist das nichts. Der ist dafür nicht offen, er ist so kopflastig und ...“ Sie schüttelte den Kopf und sah mich beinahe verzweifelt an. „Du musst doch gesund werden, Deli.“

Bea nickte ernst. „Gesund und glücklich.“

 

 

Delia

 

„Gesund und glücklich“! Wer wäre das nicht gern? Doch wie brachte man das seinem Freund bei? Und dann war da noch die Sache mit dem Mittagessen, das mir seit dem Bülowbogen im Magen lag. Wie sollte ich das Thema Vincent gegenüber nur anschneiden, ohne eifersüchtig zu klingen? Und wie sollte ich ihm von Bea erzählen? Er verachtete sie. Ich könnte ihm nicht sagen, wie wohl, wie natürlich und frei ich mich bei ihr fühlte, allein deswegen, weil wir miteinander Bayerisch sprachen. Denn das hatten wir automatisch getan, als Tanja auf der Toilette war. Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Ich hatte die richtigen Worte noch immer nicht gefunden, als ich mein Rad vor dem griechischen Bistro abstellte, in das ich Vincent zur Feier der Manuskriptabgabe und des neuen Auftrags eingeladen hatte. Nach der langen Radfahrt war ich schon wieder hungrig und freute mich auf die gegrillte Dorade, die nirgendwo so gut schmeckte wie hier. Ich kettete das Rad an einen Laternenpfosten und stieg über die volle Babywindel, die danebenlag.

Alexis, der Eigentümer, begrüßte mich überschwänglich und gab mir einen Tisch am Fenster, wo ich auf Vincent wartete. Nachdenklich aß ich die öligen grünen Oliven, die der Wirt mir gegen den schlimmsten Hunger bereitgestellt hatte. Dabei malte ich mir aus, wie empört Vincent über Frau Lichtenbergs Dreistigkeit wäre und wie er mich für meinen Bluff loben würde. Dann jedoch dämmerte mir, dass er eigentlich immer für sie Partei ergriffen, meinen Ärger nie verstanden und sie sogar heimlich getroffen hatte. Aber dafür gab es bestimmt eine Erklärung, und den Rest musste ich mir wohl einbilden.

Als er schließlich das Lokal betrat, folgten ihm die begehrlichen Blicke sämtlicher Frauen, während er kerzengerade, zielstrebig und mit seinem leicht spöttischen Blick den Raum durchschritt – und bei mir stehen blieb. Ich glühte vor Stolz. Er war groß, vom vielen Radfahren durch-trainiert und immer von einer intellektuellen Aura umgeben. Mit einer äußerst männlichen Geste fuhr er sich durch das dunkelblonde Haar und lächelte mich an. Fasziniert lächelte ich zurück. Er drückte nur kurz meine Schulter und setzte sich gleich, weil er keine Zurschaustellung von Zärtlichkeiten mochte.

„Hi, sorry für die Verspätung, na, wie geht’s?“, fragte er. Ein Schweißfilm überzog sein markantes Gesicht. Sein Handy legte er mit dem Display nach unten auf den Tisch.

„Macht doch nichts. Mir geht’s gut, und dir?“

„Geht schon. Ich hab einen Mordsdurst von der Bruthitze.“ Er winkte Alexis herbei und bestellte wie immer eine große Flasche Wasser ohne Kohlensäure, obwohl ich mit lieber mochte. „Und ein Glas – oder nein, zur Feier des Tages gleich eine Flasche Weißwein.“ Er sah mich an. „Dir ist Weißwein doch recht, oder? Ich lade dich ein.“

„Du lädst mich ein? Aber ich wollte doch dich einladen.“

„Lass gut sein, es gibt einen Grund zu feiern!“

Lächelnd bedeutete ich Konstantinos, dass Weißwein in Ordnung sei. „Ja, wenn du das sagst, dann danke.“

„Ich bin für den Liberté-Preis nominiert!“, rief er so laut, dass das halbe Bistro zu uns schaute. Es ging gar nicht um mich. Vincent war Redakteur bei Die Zeitung und träumte schon lange von dieser Auszeichnung. Der Liberté-Preis für herausragenden Journalismus wurde jährlich ausgelobt und war in verschiedenen Kategorien mit bis zu 50.000 Euro Preisgeld dotiert. Davon abgesehen brachte allein die Nominierung Ruhm und Ehre.

„Der Liberté-Preis? Im Ernst? Meine Güte, Vincent, das ist ja großartig!“

„Ja, nicht schlecht, was?“ Breit grinsend lehnte er sich zurück. „Dafür habe ich auch ordentlich geschuftet. Endlich zahlen sich die Mühen und akribischen Recherchen aus!“

„Auf alle Fälle! Du hast dir die Nominierung mehr als verdient, endlich erkennen die, was für ein Talent, wie sorgfältig und moralisch integer du bist! Du wirst gewinnen, da bin ich mir sicher.“

Er lachte in sich hinein. „Es ist gar nicht so unwahrscheinlich, dass ich gewinne, weil außer mir nur Nullen und Idioten nominiert sind. Der Fiorinto, der Arat, die Breugel, aber gut, die ist eine Frau, das könnte gefährlich werden.“

Ich erschrak, denn Arat hatte zahlreiche aufsehenerregende Interviews, Porträts und Reportagen veröffentlicht. Wenn einer Vincent gefährlich werden konnte, dann der. „Der Arat auch“, gab ich zu bedenken.

„Ja, aber er distanziert sich nicht genug von Erdogan, hat Özil verteidigt, da sehe ich keine Gefahr für mich.“

„Stimmt. So etwas könnte dir nie passieren, stimmt’s?“

„Mir?“ Er lachte dröhnend. „Bestimmt nicht. Ich stehe immer auf der richtigen Seite.“

Stolz nickte ich.

„Ah, da kommt ja der Wein. Weißt du, was du essen willst? Die gemischte Vorspeisenplatte, wie immer?“

Wieder nickte ich. So würden wir etwas teilen und die Dorade hatte ohnehin viele Gräten. Wir prosteten uns zu und er erkundigte sich nach meinem Tag. Irgendwann würde ich ihn nach seinem Lunch fragen, oder auch nicht, vielleicht war es ja gar nicht so wichtig.

„Der Tag war gut, sehr gut sogar. Ich war doch mit Tanja Kaffeetrinken, und stell dir vor, wen wir zufällig getroffen haben!“

„Wen?“, fragte er und drehte beiläufig sein Handy um.

„Bea! Meine Cousine, du weißt schon.“

„Ach, die gibt’s noch?“, fragte er und wischte über das Display.

„Ja, natürlich.“

„Und was hat sie sich jetzt wieder gekauft?“

„Nichts.“ Ich schämte mich, dass ich so naiv gewesen war, zu glauben, er hätte seine Meinung über meine spießige Bonzen-Verwandtschaft, wie er sie nannte, geändert und würde sich mit mir über unser Treffen freuen.

„Und sonst?“, fragte er, während er tippte.

Ich holte tief Luft, sammelte mich, schob Sri Lanka aber in letzter Sekunde beiseite. Jetzt war nicht der richtige Augenblick. Jetzt musste ich die Stimmung heben. „Ich habe das Manuskript abgegeben und gleich einen neuen Auftrag bekommen.“

Er nickte, noch immer tippend, grinste, dann sah er auf. „Sehr gut, mein Mädchen, du machst dich. Vielleicht wirst du in ein paar Jahren auch für einen Preis nominiert. Es muss doch auch einen für Biografen und Ghostwriter geben, oder nicht?“

„Ja, vielleicht.“

„Weißt du, wenn ich die 50.000 gewinne, dann ...“

Wir wurden von einem schrillen Lachen unterbrochen.

„Vincent, bist du es wirklich?“, kreischte eine Frau mit roten Korkenzieherlocken, schneeweißer Haut und üppigen Formen. Zielstrebig kam sie auf ihren hohen Hacken an unseren Tisch.

„Sybille, Mensch, was tust du denn hier? Ich dachte, du seist noch in New York! Na, das ist ja eine Freude!“, rief Vincent, stand halb auf, umarmte und küsste sie auf beide Wangen. Nachdem sie sich eine Weile unterhalten hatten, machte er uns miteinander bekannt. „Sybille, das ist Delia, Delia, das ist Sybille, eine sehr interessante Kollegin von mir.“

Die große Platte mit den zwölf verschiedenen Mezze wurde gebracht. Ich war so hungrig, dass ich zugriff, ohne auf Vincent zu warten, der sich noch immer unterhielt. Nach einer Weile verabschiedete Sybille sich und Vincent erzählte mir, bei welchem großen Blatt sie für Wirtschaft und Finanzen zuständig war und wie gut sie sei. Ich schluckte meine Eifersucht und wünschte ihm guten Appetit. Schweigend aßen wir eine Weile, dann kam der nächste Bewunderer an den Tisch.

So war das meistens, wenn wir ausgingen. Vincent wurde erkannt, er selbst kannte die halbe Welt und war als geistreicher Gesprächspartner überaus beliebt. Normalerweise machte mich das stolz, doch heute war ich traurig, weil ich mich auf den Abend zu zweit gefreut hatte. Unzufrieden goss ich uns Wein nach und beschloss, ihn doch wegen Sri Lanka zu fragen. Doch gerade, als ich dazu ansetzte, fragte er, ob wir bezahlen wollten.

„Die Getränke gehen auf mich, gib du mir einfach die Hälfte für die Platte.“

Ich brauchte einen Moment, um mich zu fangen. Es war tussig und dumm, zu glauben, er würde alles bezahlen.

Während wir auf Alexis warteten, hob Vincent die Augenbrauen, lehnte sich zu mir, strich mit dem Zeigefinger über meinen Handrücken und raunte mir zu: „Ich habe riesige Lust auf ein Dessert aus nacktem Fleisch, Sahne und Honig.“ Er knurrte und ich lachte verlegen.

Zu Hause zeigte er mir, was er damit meinte, versicherte mir, wie sehr er mich begehrte und was für ein vollkommen anderer Mann in ihm steckte als der, den er in der Öffentlichkeit zeigen musste. Seine Leidenschaft war wild, roh, animalisch und hatte nichts mit der Gleichberechtigung zu tun, für die er außerhalb des Bettes – im übertragenen Sinne – bis aufs Blut kämpfte.

„Komm her“, knurrte er, noch während ich die Tür aufschloss. Er zog mich an sich und drückte mich gegen die Wand. „Du machst mich den ganzen Abend lang schon so verdammt geil in deinem Blümchenfummel, dass ich es kaum aushalte.“ Zum Beweis seiner Worte presste er seine Erektion heiß und hart an meinem Po. Kurz hielt ich die Luft an, dann atmete ich erleichtert aus. Meine Eifersucht war unbegründet gewesen. Er stand auf mich. Er war mit mir hier. Ich wohnte bei ihm. Ich und keine andere.

Seine Hände glitten unter das Kleid, mit einer fließenden Bewegung riss er die Knöpfe auf, sodass sie absprangen. Seine Fingerkuppen drückten tief in meine Brüste. Er stand auf harten, schnellen Sex, und dass ich dabei verdammt gut war, das sagte er mir immer wieder, auch jetzt, und zwar laut und heiser. Er wusste genau, was er tun musste, um mich zu erregen, und innerhalb kürzester Zeit nahm er mich derbe Sachen keuchend von hinten. „Niemand weiß. Was für ein. Geiler. Mann. In mir. Steckt. Sag, dass du es weißt, du Luder.“ Ich sagte es ihm, bis er kam. Dann gab er mir einen Klaps auf den Po. „Danke, mein geiles Stück, das hab ich echt gebraucht.“ Er duschte, und als ich ins Bett kam und mich an ihn kuscheln wollte, hackte er leider schon wieder auf seinem Handy herum. Kollege Lammert, den er abgrundtief verachtete, hatte etwas geschrieben, was dazu führte, dass Vincent bis Mitternacht twitterte und „Das ist Hassrede, der Kerl gehört endlich weg, fristlos gefeuert!“ schimpfte. Ich drehte mich um und setzte die Oropax ein. So lief es oft. Wie war das noch mal mit „gesund und glücklich“ gewesen?

Aber abgesehen von dieser doch eher negativen Eigenschaft war er ein wirklich guter Mensch. Als wir uns vor drei Jahren kennengelernt hatten, half er mir aus einem tiefen Loch. Mit einer Engelsgeduld machte er mir klar, dass ich an meinem Zusammenbruch selbst schuld war, dass Geld nicht glücklich machte und dass ich mit dem ersten Kind vernünftigerweise noch warten sollte. So anstrengend das Leben vor ihm gewesen war, so leicht wurde es mit ihm. Styling, Geld, Karriere – all das war nicht mehr wichtig. Wie von einer schweren Last befreit, schlüpfte ich in eine neue Haut und ließ alles Alte hinter mir.

Nun gut, das bedeutete allerdings nicht, dass ich überhaupt keine Probleme mehr gehabt hätte. Die gab es natürlich, allein schon, was die mit dem neuen Job verbundene Einsamkeit und den verschwindend geringen Verdienst anging. Vor Vincent – oder eher: vor dem, was vor Vincent passiert war – war ich eine der vielversprechendsten deutschen weiblichen Nachwuchsführungskräfte gewesen. Ursprünglich hatte ich mir eine Stelle im Personalwesen suchen wollen, doch dann hatte ich mich auf einer Jobmesse mit ein paar Unternehmensberatungen unterhalten. Sie luden mich zu ihren Assessmentcenters ein, ich entschied mich für das beste Angebot und jettete alsbald durch Deutschland und Europa, flog bald darauf von einer Konferenz zur nächsten, wurde interviewt und mit diversen Preisen ausgezeichnet. Einen Teil meines Geldes investierte ich in Aktien, Fonds und Anleihen, damit es sich von selbst noch weiter vermehrte, den anderen Teil verschleuderte ich für Kleidung und Kosmetik, Partys und Reisen, weil ich hier und jetzt lebte, nicht irgendwann. Bis zu dem Tag im Februar, an den ich heute nicht mehr dachte, ritt ich ganz oben auf der Erfolgswelle – und fiel umso tiefer. Mein neues Leben verdankte ich Vincent. Trotzdem hatte ich grässliche Schmerzen und musste dringend eine Entscheidung treffen, denn Bea fackelte nicht lange. „Und? Wie sieht’s aus?“, las ich am nächsten Morgen, als ich mit flammenden Schmerzen in Schultern und Nacken aufwachte. Ich hätte den Wein nicht trinken sollen. „Ich habe unverbindlich zwei Einzelzimmer und Flugtickets reserviert. Bis morgen Mittag muss ich Bescheid geben.“

Bis morgen Mittag? Das ging mir zu schnell. Sie setzte mir ja richtiggehend das Messer auf die Brust! Als ob man das so schnell entscheiden könnte! Aber ich wollte dorthin, mit ihr, ich wollte gesund und glücklich werden. Gesund und – glücklich?

Ich sprang aus den Federn und erwischte Vincent, als er gerade in die Dusche stieg.

„Du, Vincent ...“

„Was denn?“, brummte er morgenmuffelig und stellte das Wasser an.

„Könnten wir mal kurz reden?“

„Reden? Worüber denn?“ Er hielt den Finger testend unter den Strahl.

„Über Urlaub.“

„Urlaub? Wir waren doch erst!“

„Ja, schon, aber, also es ist so, dass Tanja doch ...“

In dem Moment traf das Wasser seinen Körper. Er schrie auf, denn seit einigen Tagen duschte er kalt. Eiskalt.

„Ich versteh dich nicht!“, japste er mit schmerzverzerrtem Gesicht und stellte das Wasser so schnell wieder ab, dass ich mich fragte, ob das Ergebnis wirklich als „frisch geduscht“ durchging.

„Tanja war doch auf dieser Ayurvedakur“, fing ich erneut an.

„Ayurveda? Bist du übergeschnappt? Weißt du, was der Schwachsinn kostet und welchen Knall die Leute davon kriegen?“ Er zerrte das Handtuch vom Haken und rubbelte sich mit fahrigen Bewegungen trocken.

„Das ist kein Schwachsinn! Es hilft wirklich. Du solltest Tanja sehen. Es kostet nicht mal viel, zumindest nicht in Sri Lanka. Dort ist es jetzt außerdem schön warm.“

Er richtete sich auf und funkelte mich an, als hätte ich den Verstand verloren. „Sri Lanka?“

„Ja.“ Ich ruderte hilflos mit den Händen in der Luft, denn genau vor dieser Reaktion hatte ich mich gefürchtet. „Es soll schön dort sein, Dschungel, Elefanten, und wie gesagt, die Kur. Wo ich doch immer solche Schmerzen habe.“

„Ähm, sag mal, du weißt aber schon, dass du deinen ökologischen Fußabdruck nach so einem Flug nie wieder auf ein erträgliches Maß kriegst, oder?“

Der Klimawandel war seit Kurzem sein Totschlagargument. Wenn er etwas tat, dann extrem. Wenn er den Warmwasserverbrauch senken wollte, dann duschte er kalt. Wenn er CO2 sparen wollte, dann fuhr er Rad, und zwar ausschließlich. Er war in allem extrem und absolut und beharrte auf seinem Standpunkt, bis sich die Faktenlage änderte oder eine Person in Ungnade fiel, denn dann musste man seine Meinung natürlich überdenken.

Ich folgte ihm ins Schlafzimmer, wo er sich anzog, und setzte mich aufs Bett. „Schau mal, Liebling“, fing ich an. „Du wirst doch wegen der vielen Landtagswahlen in den kommenden Wochen ohnehin die meiste Zeit unterwegs sein.“

„Hä?“

„Da würde es dir vermutlich gar nicht groß auffallen, wenn ich weg wäre, oder?“ Mit einem Unschuldslächeln sah ich ihn wimpernklimpernd an.

„Äh, du ...“ Den Rest verstand ich nicht, weil er sich gerade in einen alten Rollkragenpullover zwängte. Als sein Kopf nach einigem Gewurstel wieder auftauchte, war er kalt und abweisend. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, zog er sich fertig an, schob mich zur Seite und ging in die Küche, wohin ich ihm kleinlaut folgte.

„Was hast du denn? Ich wollte nicht ...“

Er fuhr herum und stach mit dem Finger in die Luft. „Du willst nie, Del, das ist das Problem! Du fragst nie, was ich will! Immer soll sich alles nur um die Prinzessin drehen!“

Das Blut rauschte in meinen Ohren, sodass ich ihn kaum hörte und mich sicherheitshalber an der Wand festhielt. „Was willst du denn?“

„Ich? Das werde ich dir jetzt wohl kaum sagen!“

„Aber, bitte, Vincent, komm, sag mir doch, was du willst, was dir wichtig ist.“

Nach einigem Betteln sagte er kühl: „Sagen wir mal so, es gibt da ein Haus in Meck-Pomm, das mich interessiert.“ Ich hielt die Luft an. Seit Jahren wollte ich raus aus der Stadt. Ich sehnte mich nach der Natur, nach Stille, mehr Platz. „Ein Haus macht aber natürlich nur Sinn, wenn wir ernsthaft über Kinder nachdenken.“ Ich nickte ungläubig. Kinder! Endlich! Das durfte doch nicht wahr sein. Meine Güte, es geschahen noch Zeichen und Wunder!

Er neigte den Kopf und kratzte sich am Kinn „Von daher muss man natürlich abwägen, ob man sich jetzt so eine teure Reise gönnt oder in die Zukunft investiert.“

Ich sah beschämt zu Boden. Wie hatte ich nur so egoistisch sein können! „Meine Güte, ich hatte ja keine Ahnung. Wenn das so ist, dann ist die Kur natürlich kein Thema.“

Er bestrich eine Scheibe Brot mit Butter und sagte in einem eigenartigen Tonfall: „Wobei, weißt du, vielleicht ist es ja aber auch gar nicht so verkehrt, wenn du diese Schmerzen endlich loswirst, denn als Mutter kannst du dich nicht mehr jeden Monat zwei Tage ins Bett legen, das ist dir schon klar, oder?“

In mir überschlug und drehte sich alles. „Ja, natürlich. Mir ist klar, dass Kinder eine große Verantwortung und vollen Einsatz bedeuten.“

Ernst sah er von seinem Brot auf. „Zumindest im ersten Jahr.“

Stumm nickte ich. Ich wusste, was er meinte, bevor er es aussprach. „Kita“, sagte er knapp, kippte den restlichen Kaffee auf ex und stellte die leere Tasse neben die Spüle. „Ist dir schon immer noch klar, oder?“

Ich ignorierte den Seitenhieb auf meine Mutter, die nur Hausfrau, Mutter von vier Kindern und aushilfsweise im Büro des Baugeschäfts meines Vaters gewesen war. Vincent ging ohne einen Kuss, und ich schaute noch lange auf die Tür. Warum freute ich mich nicht? Etwa, weil ich meine Kinder eigentlich lieber erst mit drei in den Halbtagskindergarten geben und mich ansonsten selbst um sie kümmern wollte? Als Ghostwriterin mit entsprechenden finanziellen Rücklagen wäre das doch gut möglich. Aber eben auch völlig rückständig.

Den ganzen Tag quälte mich ein schlechtes Gewissen, und so kam es, dass ich am Nachmittag beschloss, Vincent mit einem selbst gekochten Abendessen zu überraschen. Ich ging einkaufen und stellte mich in die Küche, dann wartete ich. Eigentlich kam er freitags immer gegen 19 Uhr nach Hause, außer er sagte mir Bescheid. Das tat er nicht, blieb aber trotzdem fern. Ich schrieb ihm – er las es nicht. Ich rief an – es läutete, aber er ging nicht ran. Ärger und Angst wechselten sich ab. Wo war er? War ihm etwas passiert? Oder war er mit Kollegen noch etwas trinken gegangen, weil ich ihn so gekränkt hatte?

Ich war mehrmals nah dran, die Polizei und alle Krankenhäuser anzurufen, hielt mich aber immer davon ab, weil ich nicht als hysterisch dastehen wollte. Um zehn Uhr kippte ich das Essen in den Müll und zwei Gin Tonic auf ex. Scheiß auf den Kater!

Ich schlief wie ein Stein. Als ich am nächsten Morgen erwachte, pochte, zog und brannte es in meinem gesamten Körper so heftig, dass ich aufschrie – und damit Vincent weckte, der neben mir lag, als wäre nichts gewesen.

„Lass mich schlafen“, maulte er, zog das Kissen über den Kopf und warf sich auf die andere Seite.

Ich explodierte und brüllte ihn an, wo er gewesen sei, dass ich gekocht und auf ihn gewartet hätte, und dass er mir Bescheid hätte sagen sollen und was ihm überhaupt einfiele, mich so zu behandeln, dann erschrak ich über meine Reaktion und wartete wie gelähmt auf das, was kommen würde.

Eiskalt sah er mich an. „Mach mal halblang. Hab ich etwa gesagt, dass ich komme?“

Vor Wut zitternd starrte ich ihn an. Dann drehte ich mich um, knallte die Schlafzimmertür zu und schrieb Bea: „Bestätige die Buchung. Ich komme mit.“

 

 

Bea

 

Delia kam mit! Ich hüpfte vor Freude in die Luft und rief ihre Mutter an. „Tante Hanni? Halt dich fest! Du glaubst nicht, was passiert ist“, und dann erzählte ich ihr alles.

 

Nachdem meine Kinder nach Spanien abgereist waren, flog ich vergangene Woche nach München, um ein paar Tage bei meinen Eltern zu verbringen. Dabei besuchte ich auch Tante Hanni und Onkel Otto.

Als ich mit einem Strauß Blumen vor dem großen Haus mit weißem Rauputz, dunkelgrünen Fensterläden und blumengeschmückten Holzbalkonen stand, wurde ich sentimental. Auch Tante Hannis Augen waren feucht, und wir umarmten uns fest. Früher waren immer entweder Delia, meine Mutter, meine Kinder oder alle zusammen hier gewesen. Es war das erste Mal, dass ich allein bei ihnen war, und ich hatte das Gefühl, dass uns nun, da auch meine Kinder aus dem Haus waren, etwas verband, obwohl uns eine Generation und Delias Abwesenheit trennten.

„Ach Bea, wir freuen uns ja so, dass du uns besuchst. Komm rein. Ich habe Schwarzwälderkirschtorte gemacht, die mochtest du doch immer so gern, ist das noch immer so? Wenn nicht, habe ich auch einen gedeckten Apfelkuchen …“

Sie war wie ihre Schwester, meine Mutter Delfina: Wenn sie aufgeregt waren, sprachen sie nur von Nebensächlichkeiten, am liebsten vom Wetter, vom Garten oder vom Essen. Beide waren ausgezeichnete Köchinnen und Bäckerinnen, und sie hegten und pflegten jedes noch so kleine Pflänzlein, bis es üppig blühte und saftige Früchte brachte. Glücklich seufzte ich: „Alles, Tante Hanni, ich will alles probieren.“

Wir gingen durch das helle Wohnzimmer mit dem gemütlichen Erker und dem noch viel gemütlicheren offenen Kamin. Zahlreiche, stilvoll gerahmte Familienfotos von Bergtouren, Skiausflügen, Tennisturnieren, großen Feiern und Urlauben schmückten den Raum. Sie erinnerten mich an die goldene Hochzeit unserer Großeltern, den Abschlussball und ersten Platz bei den Bezirksmeisterschaften im Tennis. Überall lachte und strahlte Delia, unser ehemaliger Sonnenschein. Die letzte Aufnahme von ihr stammte von dem großen Weihnachtsessen vor vier Jahren. Sie sah aus, als stünde ihr die ganze Welt offen. Sie versprühte eine unbändige Lebensfreude, ihre Augen funkelten hell und klar und sogar jetzt schien sie über den Bilderrahmen hinaus zu strahlen. Es war völlig unglaublich, dass sie nur wenige Wochen später einen Burnout erlitt und infolgedessen zu einem Schatten ihrer selbst verkümmerte.

Wir gingen weiter auf die breite, Markisen überspannte Terrasse, die Tante Hanni mit Sitzgruppen, Blumenschalen, einem leise plätschernden Brunnen und Keramikfiguren hübsch dekoriert hatte. Auch hier befand sich ein Kamin, denn Onkel Otto – und wir alle - liebten offene Feuer. Der Tisch war mit weiß-goldenen Servietten, Blumen aus dem Garten und dem Turandot-Service von Rosenthal stilvoll gedeckt. Kaffee, Tee, diverse kalte Getränke, das Gebäck sowie frische und mit Vanillezucker gesüßte Schlagsahne standen bereit.

„Dein Elysium“, flüsterte ich, als mir Tante Hannis Wortwahl für diesen Ort wieder einfiel. Als ich noch klein war, dachte ich deswegen bei „Tochter aus Elysium“ immer, jemand würde vom Garten auf die Terrasse kommen. Nun ja, man wurde älter, lernte dazu und entzauberte so stumm die Welt.

„Tante Hanni, du bist einfach unglaublich“, sagte ich gerührt, weil es mir gefiel, wenn jemand alles liebevoll für seine Gäste vorbereitete.

„Ich mache das gern, das weißt du doch. Wenn ich schon mal Besuch aus Berlin bekomme …“ Sie seufzte und schüttelte den Kopf. „Aber komm, setz dich, Otto kommt auch bald, er hat nur noch einen geschäftlichen Termin mit einem potenziellen Nachfolger.“

„Für das Bauunternehmen? Will er allmählich aufhören?“

„Nicht gleich, aber in den nächsten Jahren, er wird ja bald 70. Lieber wäre es ihm natürlich, wenn jemand aus der Familie die Firma übernehmen würde, aber da …“ Sie seufzte.

Auch ich seufzte. Meine Eltern litten ebenfalls, weil keines der Kinder deren Hoch-Tief-Bau-Firma übernommen hatte und die Enkel entweder zu jung oder desinteressiert waren.

Tante Hanni lachte bedrückt. „Aber du bist nicht hier, damit wir übers Geschäft reden, nicht wahr?“

Ich schüttelte den Kopf und sprach den rosaroten Elefanten, um den wir auf leisen Sohlen herumschlichen, an: „Kommt Delia nicht oft?“

„Nein. Fast nie. Sie ist …“ Sie klang betrübt. „Es ist, als wäre sie gar nicht mehr da. Als wäre sie …“ Ihre Stimme brach, aber sie fing sich wieder. „Reden wir von etwas anderem, ja?“

Ich rückte näher zu ihr und legte ihr eine Hand auf den Arm. „Das müssen wir nicht. Mir fehlt sie doch auch.“

„Sie fehlt uns allen“, murmelte sie mit feuchten Augen. „Wenn ich nur wüsste, was in sie gefahren ist! Seitdem sie mit diesem Mann zusammen ist, ist sie ein völlig anderer Mensch. Sie ist dem Kerl völlig hörig.“

„Den Eindruck habe ich auch.

„Weißt du, es wäre mir egal, dass sie sich das Haar mit Mehl wäscht und wie Pippi Langstrumpf rumläuft, auch wenn mir die abgetragenen Klamotten ehrlich gesagt nicht gefallen. Aber das wäre mir egal, weil sie meine Tochter ist und ich sie liebe. Mir geht es darum, dass sie aussieht wie das Leiden Christi.“

„Da sagst du was Wahres. Als würde sie das gesamte Leid der Welt tragen müssen.“

Tante Hanni jammerte weiter: „Ihre ganze Ausstrahlung ist weg. Sie lacht und scherzt nicht mehr. Alles an ihr ist ernst, wohlüberlegt, kopfgesteuert, eigentlich dumpf, erloschen, verzagt. Sie hat eine Heidenangst, etwas Falsches zu sagen oder zu tun. Gleichzeitig kommt es mir so vor, als würde sie auf Beifall für ihre Selbstkasteiung warten.“ Verzweifelt schüttelte sie den Kopf.

„Es ist ja auch eine reife Leistung, sich so zu ändern und derart asketisch zu leben“, sagte ich sarkastisch und entschuldigte mich umgehend. „Aber Askese der Askese Willen ist verrückt. Sie kommt mir vor wie eine Schildkröte, die unter einem Wasserfall den Kopf einzieht und auf besseres Wetter wartet.“

„Gutes Bild. Wenn du mich fragst, dann hält sie Vincent für den Messias, der ihr sagt, wie sie richtig lebt und dass sie nur dann ein guter Mensch ist, wenn sie auf jeden Genuss verzichtet. Dabei ist diese bescheuerte Askese ein Verrat am Leben! Wohlstand kommt von Wohl-stehen, jeder gesunde Mensch strebt doch danach, aber sie tritt alles mit Füßen!“

Stumm nickend wartete ich darauf, dass sie weitersprach. Sie musste lange niemandem ihr Herz ausgeschüttet haben, weil sie niemand war, der ein Thema wiederkäute.

„Sie merkt nicht einmal, wie undankbar und verlogen das Ganze ist. Sie sieht nicht, dass sie das Privileg hatte, genügsam“, sie spukte das Wort aus, „zu leben. Was, wenn sie nicht hätte wählen können, weil sie arm geboren worden wäre? Oder behindert? Oder dumm? Viele Menschen haben diese Wahl nicht! Es ist, als würde sie sich über diese Leute lustig machen, aber auch über uns, ihren Vater, die Großeltern, die alles aufgebaut haben. Sie kapiert nicht, wie gesegnet sie ist! Das ist eine Sünde! Sünde im richtigen Sinn, Trennung von Gott, vom Ursprung, vom Quell alles Guten, verstehst du?“

Ich nickte, denn so empfand ich Delias Verhalten auch.

„Wahrscheinlich hat sie in dem einen Punkt recht. Wir haben es ihr zu leicht gemacht und sie zu sehr verwöhnt“, seufzte Tante Hanni.

„Das würde ich so nicht sagen. Sie, ich meine, wir alle, hatten immer alles, aber nichts im Übermaß, nichts war irrsinnig teuer. Wir haben nicht alles bekommen, was wir wollten. Wir gehören nicht zu den oberen zehntausend, meine Güte! Uns waren die Marken völlig egal, und während andere längst in der Karibik oder Asien Urlaub gemacht haben, sind wir nach Italien an die Adria gefahren. Jahr ein, Jahr aus.“ Ich lächelte bei den schönen Erinnerungen.

„Das stimmt schon. Aber vielleicht war alles zu mühe- und sorglos für sie.“

„Aber Tante Hanni, du kannst dir doch nicht vorwerfen, dass du ihr das Leben unnötig schwer gemacht hast.“ Nun lachten wir beide betrübt. „Außerdem hat sie doch selbst auch hart gearbeitet.“

„Das tut sie nach wie vor! Nur verdient sie jetzt miserabel. Dafür redet sie sich ein, dass sie das Geld jetzt „ehrlich“ verdient, als ob sie das Beratergehalt gestohlen hätte!“ Tante Hanni schüttelte verzweifelt den Kopf.

„Das ist verrückt.“

„Absolut. Aber anders als Stefan scheint dieser Vincent sie ja dafür zu lieben.“

„Wie meinst du das?“, fragte ich. Dunkel dämmerte eine Erinnerung in mir herauf.

„Na, Stefan wollte doch immer, dass sie weniger arbeitet und an Kinder denkt …“

„Stimmt, jetzt erinnere ich mich. Sie war stinksauer, weil er ihr den Erfolg nicht gegönnt hat, oder, nein … er war doch selbst irre erfolgreich, Moment. Hat sie ihm nicht vorgeworfen, dass er sie kleinhalten wollte, weil er zu schwach und zu sehr Macho für eine Frau auf Augenhöhe sei?“

„Ja, hat sie. Aber was macht sie jetzt? Jetzt wird sie wirklich kleingehalten, merkt es aber nicht einmal! Das goldene Mittelmaß hat ihr oft gefehlt. Bei ihr war immer alles extrem.“

„Das stimmt, aber diese Leidenschaft und Begeisterungsfähigkeit waren ja auch etwas sehr Liebenswertes an ihr“, wandte ich ein.

Traurig lächelte Tante Hanni. „Zumindest, solange sie sich auf ihre Bands und den Agassi beschränkt hat.“ Nach einer Pause fuhr sie fort: „Ich hätte darauf bestehen müssen, dass sie die Therapie weitermacht, anstatt Vincent zu ihrem Retter zu erkiesen. Aber sag das mal einer erwachsenen Frau, noch dazu, wenn sie deine Tochter ist!“

„Kann ich dich was fragen?“, setzte ich an. „Dieser Burnout damals – war das ein richtiger oder etwas anderes?“

Sie holte tief Luft und sah zur Seite. „Doch, doch, es war schon auch Überarbeitung, aber reden wir über etwas anderes.“

Ich nickte, denn ich hatte immer vermutet, dass mehr dahintersteckte, zumal Delia davor keine typischen Symptome wie Erschöpfung, Wut oder Verzweiflung gezeigt hatte. Sie hatte ihre Arbeit von sich aus gern gemacht, sich mit Freunden getroffen und Sport getrieben, sie war ins Theater gegangen und hatte ihre leidenschaftliche Ader bei Konzerten aller Art schwelgen lassen. Kurzum: Sie hatte ausreichend Ausgleich gehabt und das Leben genossen. Vielleicht oberflächlich und ohne spirituelle Tiefe, aber die hatten viele Menschen nicht und brannten trotzdem nicht aus.

Onkel Otto klopfte an die Terrassentür. „Stör ich?“, fragte er schmunzelnd in seinem gutmütig dröhnenden Bass.

„Onkel Otto!“, rief ich und sprang auf. Er war immer mein Lieblingsonkel gewesen und nach einer kurzen Unsicherheit, wie wir uns begrüßen sollten, umarmten wir uns. „Ich freue mich so, dich zu sehen.“

„Ich freue mich auch, dass du da bist. Wie es aussieht, komme ich gerade rechtzeitig. Ihr habt ja noch gar nicht angefangen!“

„Ach du meine Güte!“ Schnell griff Tante Hanni nach der Kaffeekanne und verteilte Kuchen, Torte und Vanilleschlagsahne. Über meine Kinder und Patricia in Spanien plaudernd ließen wir uns die Köstlichkeiten auf der Zunge zergehen, wobei ich ihre Backkünste mehrfach lobte. Es tat gut, eine Weile nicht an Delia zu denken.

„Wir haben von Delia gesprochen“, sagte Tante Hanni.

„Oh, natürlich.“ Onkel Ottos Miene verschloss sich.

„Ja. Bea versteht das alles genau so wenig wie wir. Leider haben sie auch keinen Kontakt mehr.“

Onkel Otto nahm ihre Hand und ließ sie lange Zeit nicht mehr los. „Wisst ihr, ich glaube ja, dass sie gern mehr Kontakt hätte, sich aber nicht traut.“

„Wie bitte?“ Überrascht sah ich ihn an.

„Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie gern über ihren Schatten springen würde, aber nicht mehr sieht, wo er aufhört. Oder dass sie nicht mehr weiß, wie man springt.“

„Sie muss weg von diesem Vincent“, seufzte Tante Hanni. „Wenn ich nur wüsste, was sie an ihm findet!“

„Er gibt ihr Sündenböcke, das reicht. Er redet ihr ein, dass wir Spießer und Bonzen sind und „ihre Wurzeln“ schuld an dem Burnout etc. sind. Dabei macht er sie nur so runter, damit sie sich zu wertlos fühlt, um ihn zu verlassen“, regte Onkel Otto sich auf. „Spießer und Bonzen, so hat er mich genannt, das eine Mal, als er hier war.“

Anlässlich des 65. Geburtstags von Tante Hanni, den wir im Sommer nach Delias Krise gefeiert hatten, war Vincent mit an den Starnberger See gekommen und hatte allein die Landschaft mit ihrem „kitschigen Postkarten-Panorama“ schon als konservativ und spießig verurteilt. Zu Onkel Otto hatte er, ein Familienfoto von einem Tagesausflug nach Salzburg in der Hand, gesagt: „Na, du hast dich für deinen Reichtum aber auch nie anstrengen müssen, was?“ Onkel Otto hatte ihm das Bild aus der Hand genommen und ihn gebeten, dass er den Mund halten sollte, wenn er nicht wüsste, wovon er sprach. Er stammte nämlich aus einer einfachen Handwerkerfamilie mit sechs Kindern. Um sich das Studium zu finanzieren, hatte er nachts bei Osram Glühbirnen gewechselt, am Wochenende gelernt und nebenbei Tante Hanni den Hof gemacht.

„Spießer und Bonzen,“, sagte Tante Hanni verächtlich, „so hat er uns genannt. „Ich war noch nie bei solchen Bonzen.“

Wieder schwiegen wir eine Weile, dann fragte ich: „Hat sie eigentlich immer noch diese grauenhaften Schmerzen?“

„Ja, hat sie. Ganz furchtbar schlimm, es wird immer krasser. Während der Periode liegt sie zwei Tage im Bett, starrt an die Decke und denkt, dass Sterben auch nicht so schlimm wäre.“ Tante Hanni brach in Tränen aus, und auch ich stand nahe davor. Wenn ich mir vorstellte, meine Kinder würden mir sagen, dass sie nicht mehr leben wollten, wäre ich auch am Boden zerstört.

„Vielleicht“, überlegte ich laut „vielleicht fehlt ihr wegen der Schmerzen die Kraft, den Kerl zu durchschauen und zu verlassen.“

„Ja“, sagte Onkel Otto langsam, „daran habe ich auch schon gedacht. Aber kein Arzt kann ihr helfen. Die finden einfach nichts.“

„Das ist typisch für psychosomatische Erkrankungen“, sagte ich, und Tante Hanni pflichtete mir bei: „Wenn ihr mich fragt, dann ist sie wegen dem Kerl so krank. Sie ist krank, weil sie eine Lüge lebt.“

Nachdenklich schauten wir in den tiefblauen Spätsommerhimmel, der hinter der Markise begann. Dann klatschte ich in die Hände. „Also, wie befreien wir Delia aus den Klauen des Diktators?“

„Et vite, too“, sagte Onkel Otto um Aufheiterung bemüht, und wir lachten, weil die Mischung aus Latein, Französisch und Englisch früher bei uns ein geflügeltes Wort gewesen war.

Bea

 

Nun, ein paar Tage später saß Delia reisebereit bei einem gerührten Eiskaffee mit gezuckerter Vanilleschlagsahne auf meiner Dachterrasse. Sie trank einen genüsslichen Schluck, und ich starrte sie fassungslos an.

„Er will ein Haus? Jetzt? Und das sagt er dir so nebenbei?“ Meine Stimme überschlug sich. Ich durfte mich nicht zu sehr aufregen, damit Delia ihn nicht verteidigen, seine Seite einnehmen und am Ende doch noch hierbleiben würde.

Sie nickte niedergeschlagen. „Ich weiß, ich bin undankbar und sollte mich freuen, aber …“

Nein, das sollte sie nicht! Sie sollte dankbar sein, das ja, aber für völlig andere Dinge als für Vincent und ein Haus in der Pampa! Ihre Instinkte waren noch intakt, nur ihr Kopf übersetzte die Signale falsch. Es war freilich fraglich, dass eine ernährungsbasierte Kur dieses Problem heilen könnte, aber alles war ein Schritt in die richtige Richtung, und ich war bereit, klein anzufangen.

Ich dankte also allen Göttern dafür, dass Delia gerade noch rechtzeitig kalte Füße bekommen und dem Hauskauf nicht sofort laut jubelnd zugestimmt hatte. Etwas an der Sache gefiel mir nicht, sie stank förmlich zum Himmel, und ich wurde den Eindruck nicht los, dass der Kerl bluffte, um sie bei der Stange zu halten. Menschen mit schrumpeligen Egos taten das gern, das wusste ich von den Psychologiekursen, die ich hobbymäßig belegte.