Die Insel Rügen - Wolfgang Rudolph - E-Book

Die Insel Rügen E-Book

Wolfgang Rudolph

4,9

Beschreibung

Keine Geringere als Käthe Miethe schrieb das Vorwort zu dem Band von Wolfgang Rudolph, den der Maler Georg Hülsse illustrierte. Mit Einfühlungsvermögen und Sachkenntnis führt der Autor über Die Insel Rügen, erzählt von der Eigenart der Landschaft, von den Menschen und ihrer Geschichte. Da werden die vier Gesichter des Swantevit wieder lebendig und auch die Zeit, als Rügen noch Festland war. Der Leser erfährt die Sicht von damals mit ihren Wertungen und Schlussfolgerungen und wird sich den Worten Käthe Miethes vorbehaltlos anschließen: "Vollständigkeit ist ein Ziel, an das sich ein echtes Heimatbuch nie verlieren darf. Es soll sich an das Wesentliche halten. ... Rügen, so wie es sich heute zeigt, wie es die Rüganer kennen, die Gäste erleben und lieben, diese bunte Welt der Bodden und Beeken, der Wälder und Felder, Rügen, so wie es in Jahrtausenden geworden ist durch die See, die noch heute von allen Seiten in das Land einzieht, durch das Wirken der Menschen, die Insel der Schiffer, der Fischer und der Bauern - es läßt sich mit wenigen Worten nicht umreißen."

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 357

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,9 (16 Bewertungen)
14
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Wolfgang Rudolph

DieInsel Rügen

Illustriert von Georg HülsseHerausgegeben von Käthe Miethe

Professor Dr. Erich Leickin Dankbarkeit

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Die vier Gesichter des Herrn Swantevit

Mit Gott per Dampf quer durch die Insel

Kleine und große Gäste

Weißes Gold

Schwerpunkt Saßnitz

Bergen

Putbus

Garz

Rügen war Festland

Land der Hünengräber und der Burgwälle

Ernst Moritz Arndt hatte Recht!

Bodenreform

Windland Wittow

Unbekanntes Jasmund

Mönchgut heute

Lotsen

Inseln der Inseln – Vogelfreistätten

Der Vilm

Die Seehundsteine

Die Oehe

Die Insel der Merkwürdigkeiten

An Bodden und Beeken

Barken, Briggs und Kapitäne

Nach Arkona

Vorwort

Der Mann, der dieses Heimatbuch der Insel Rügen geschrieben hat, wurde 1923 geboren und hat bis auf die Jahre des Krieges und der Gefangenschaft in der Sowjetunion einen wesentlichen Teil seines jungen Lebens auf Rügen verbracht, soweit er nicht an Bord war. Er stammt aus einer Familie, die aufs engste mit der Arbeit und dem Leben auf dem Wasser verbunden war, wuchs mehr auf Schiffen als auf dem Lande auf. Er bringt also vieles mit, das Vorbedingung gerade für dieses Heimatbuch ist, welches sich unseren Büchern über das Fischland und über die Insel Hiddensee mit innerer wie äußerer Notwendigkeit anschließt, nur – dass Rügen verglichen mit Hiddensee und dem Fischland allein durch seine Größe und Vielfältigkeit ein kleiner Erdteil für sich genannt werden könnte.

Vollständigkeit ist ein Ziel, an das sich ein echtes Heimatbuch nie verlieren darf. Es soll sich an das Wesentliche halten. Und das ist geschehen. Rügen, so wie es sich heute zeigt, wie es die Rüganer kennen, die Gäste erleben und lieben, diese bunte Welt der Bodden und Beeken, der Wälder und Felder, der gewaltig anwachsenden Industrien, Rügen, so wie es in Jahrtausenden geworden ist, durch die See, die noch heute von allen Seiten in das Land einzieht, durch das Wirken der Menschen, die Insel der Schiffer, der Fischer und der Bauern – – es läßt sich mit wenigen Worten nicht umreißen. Die Seiten dieses Heimatbuches stellen es den Lesern vor. […]

Käthe Miethe

Die vier Gesichter des Herrn Swantevit

Mit Donnergetöse poltert der D-Zug über das stählerne Brückenwerk des Rügendammes hinweg. Gleich werden wir Altefähr passieren, den ersten Bahnhof jenseits des Festlandes, den ersten Bahnhof auf der Insel.

Lächeln muß ich, wenn ich mich daran erinnere, was ich mir unter der „Insel Rügen“ vorstellte, als ich zum ersten Male hierher kam. Das war vor beinahe 15 Jahren. Damals schwamm unser Eisenbahnzug auf einem Fährschiff über das weite, blaue, im Sonnenglanz schimmernde Wasser – ein unsagbar schönes Erlebnis, das Erlebnis für einen kleinen Kerl, der seine erste Ferienreise macht. Die Wagen unseres Zuges wurden auf den Dampfer geschoben, und endlich hörte das Stillsitzen auf dem harten, von dicken Damen eingeengten Bankplatz auf. Das Schiff war Freiheit, die Nacht der stundenlangen Bahnfahrt war zu Ende. Im Morgenlicht des Sommertages lag der Hafen: Masten, Rauch und kühler Seewind. Drüben, am anderen Ufer, war es mit meiner Ruhe aus. Diesem ersten Erlebnis mußte ja, vielleicht schon in wenigen Minuten, die Entdeckung des noch nie gesehenen „ganz großen“ Meeres folgen – denn Rügen war doch eine Insel!

So klein, wie ich es mir mit sechs Jahren vorgestellt hatte, ist unser Rügen nicht: kein Eiland, sondern an Fläche umfangreicher als der Raum von Groß-Berlin. Wo sollte auch sonst eine Inselbevölkerung Platz haben, die gut und gern die Einwohnerzahl einer Großstadt ausmachen könnte.

Rügen ist mit seiner Fläche von 968 Quadratkilometern keine kompakte Masse, sondern ein unregelmäßiges Gebilde aus verschiedengestaltigen Inselkernen, die untereinander durch Nehrungen verbunden, von Buchten und Meerengen begrenzt und von Seen durchbrochen werden. Rügens Küsten sind nicht weniger als 573 km lang; das entspricht einer Strecke vom Rhein bei Köln bis zur Oder bei Küstrin.

Die Bodden, jene mit dem Meere verbundenen fischreichen Binnenwasser, schaffen die charakteristische zerlappte Gestalt der Insel. Sie stimmen den ewigen Dreiklang an aus dem Blau des Himmels, aus der Farbe des allgegenwärtigen Wassers und aus dem Bunt der Küstenkanten, sie machen Rügens Landschaftsbild so verwirrend und so schön.

Die Ostsee ist die Seele der Insel.

Die ausgeprägte Gliederung der Landschaft verursachte bis in die neueste Zeit hinein große Unterschiede in der Bevölkerung unserer Heimat: Sitten, Gebräuche und auch die Aussprache des Plattdeutschen wichen oft erheblich voneinander ab; auf allen Gebieten verlief die Entwicklung recht verschieden.

So konnte es geschehen, daß die Mönchguter jahrhundertelang ein abgeschlossenes Dasein führten und sich entsprechend ihrer Arbeitsweise die alten Bräuche und Trachten erhielten, bis in unsere Zeit, die sich mit Hilfe der Technik den Zugang zur Halbinsel erzwang. Vorher hatten die Mönchguter mit dem eigentlichen Rügen kaum Verbindung gehalten und stattdessen den Bug ihrer Boote nach Stralsund und Greifswald gewandt.

Ebenso war es auf Ummanz, der stralsundischen Insel am Westufer Rügens, und auch auf Hiddensee, das ja eigentlich ein Teil Rügens ist. Auch die Bewohner der Halbinsel Wittow sagen noch heute, wenn sie mit dem Kleinbahn-Trajekt über den Boddenstrom fahren: „Nu geiht dat na Rügen!“, als wäre Wittow eine Insel für sich.

Solche besonderen landschaftlichen Verhältnisse sind im Leben des Alltags alles andere als romantisch! Wir denken uns Rügen als „Ostsee-Insel-Großstadt“; in ihr gibt es aber noch „Stadtviertel“, wo elektrisches Licht unbekannt ist. Die ärztliche Betreuung und auch die kulturelle Arbeit mit der Bevölkerung wird in den entfernt gelegenen Ortschaften mitunter mühevoll, zumal die Straßen sich stellenweise noch recht wenig von den mittelalterlichen Landwegen unterscheiden. Es gibt auf Rügen rund 250 Einzelsiedlungen, Bahnwärterhäuschen, Leuchttürme, Mühlen, Forsthäuser, aber auch einsame Schulen, und die Entfernung solcher Ansiedlungen vom nächsten Dorf ist oft groß. Auch förderte diese Abgeschiedenheit ganzer Halbinseln manche Schildbürgereien, die zwar originell, aber durchaus nicht bewundernswert sind und nichts mit der gesunden, urwüchsigen Eigenart echter Inseloriginale gemein haben.

In einem Land, auf dessen Hünengräbern nachts bei Neumond die Katzen Karten spielen, ist vieles möglich und erklärlich, vieles auch verzeihlich. Mich interessiert dabei nur, ob die spielwütigen Hünengrabkatzen einen handfesten Skat dreschen mögen, oder ob sie sich mit Doppelkopf begnügen. Leider war, als ich das einmal feststellen wollte, gerade kein Neumond …

Einen entscheidenden Wandel erfuhr das unterschiedliche Gefüge der rügenschen Bevölkerung durch den Zustrom in den Jahren 1944 bis 1946, wobei sich die Einwohnerzahl der Insel verdoppelte. Vielen abgeschiedenen Orten tat der Zufluß neuen Blutes not; er wirkte ausgleichend und anpassend, lockerte erstarrte, überspitzte lokale Gegensätze auf und schliff sie allmählich ab.

Ob Wittower, Jasmunder, Mönchguter, Ummanzer, Zudarer oder Rüganer von Putbus, Garz und Bergen: Alle diese 89000 Menschen umschließt das Band der blauen See, die das komplizierte Gebilde „Rügen“ erst zu einer Einheit macht, so daß die Insel ganz ausgeprägte und gegenüber dem Festland unterschiedliche Züge trägt, die teilweise geschichtlich begründet sind.

Als sich um die Wende des ersten Jahrtausends das Christentum über den Ostseeraum ausbreitete, Pommern, Mecklenburger, Dänen, Schweden und Polen längst christlich geworden waren, verteidigten die damaligen Bewohner unserer Insel ihren alten Glauben mit einem bewundernswerten Fanatismus und einer erstaunlichen Zähigkeit. Niemals war Rügens insularer Charakter auch geistig so ausgeprägt wie damals und – im Jahre 1920!

Als in den Tagen des Kapp-Putsches die Reichsregierung zum Generalstreik aufrief und überall in Deutschland die Eisenbahner und Postler ihre Arbeit niederlegten, fragte man sich auf Rügen achselzuckend: „Wat sall dat?“ „Was kümmert uns das Festland?“

Und nach wie vor rollten die Züge fahrplanmäßig über die Insel, von Saßnitz bis zum Sund. Weiter ging es nicht, weil sich auch die Trajektbesatzungen dem Generalstreik angeschlossen hatten. Rügens Briefträger hingen sich mit Schwung ihre leeren Taschen um und trugen das Bündelchen lokaler Post aus, ganz wie früher, von Arkona bis zum Palmer Ort.

So geschehen noch in unseren Tagen!

Der alte Wendengott Swantevit, dessen Standbild auf Arkona ragte, besaß vier Gesichter; viergestaltig ist auch das heutige Antlitz seiner Insel.

Entlang der Küste liegen Rügens Ostseebäder, acht an der Zahl: Thiessow, Göhren, Baabe, Sellin und Binz bilden die Gruppe auf der Südhälfte der Insel, Lohme, Breege-Juliusruh und Dranske sind die Bäder im Norden. Sie haben alle etwas Verwandtes, eine gemeinsame wirtschaftliche Entwicklung im selben Zeitraum und in der gleichen räumlichen und geistigen Richtung.

Nach 1871 entstanden in diesen Orten die großen Hotels und Fremdenheime; damit wurde der Schritt vom Fischerdorf zum Badeort getan. „Butenlandsche“ wanderten zu, wodurch sich die Einwohnerzahlen der Küstenorte verzehnfachten. Häuser schossen aus der Erde; größtenteils waren es Bauten, die gar nicht zur Landschaft der Insel paßten. Straßen, Eisenbahnen, Häfen und Seebrücken wurden erbaut, Licht-, Wasser- und Kanalisationsleitungen gelegt, Kursäle, Kinos, Warmbäder und Tennisplätze errichtet. Dadurch glich das äußere Bild dieser früheren Fischerdörfer weit eher dem einer Stadt auf dem Festland, als etwa einer der Inselstädte Garz oder Bergen, wo man teilweise noch heute den guten alten Brauch übt, die Abwässer einfach auf die Straße zu gießen, wo die Hausfrauen ganzer Viertel gezwungen sind, sich ihr Wasser eimerweise aus dem städtischen Brunnen zu holen.

Der herrliche Wald der Küstengebiete wich den Villenbauten, sein Saum wurde von Schuttabladeplätzen verschandelt. Am Strande machten Netze und Teerkessel den Badeanstalten und Liegekörben Platz. So manches Fischerboot verfaulte am Ufer, weil sein Besitzer dem alten Handwerk untreu geworden war.

Allsommerlich strömten fortan Zehntausende von Erholungssuchenden in die Rügenbäder; bereits um die Jahrhundertwende waren es fast 50000!

Ein Höchststand wurde 1913 mit rund 90000 Kurgästen erreicht. Heute dürften, da Rügen wie noch nie zuvor der Jugend durch Kinderheime, Wanderherbergen und Ferienlager erschlossen wurde, jährlich mehr als 100000 Besucher im Sommer auf die Insel kommen, von denen etwa zwei Drittel Kurgäste der Badeorte sind.

All das bunte Leben und Treiben beschränkte sich aber früher auf wenige Sommerwochen, in denen es die Rügenbäder an Komfort mit mancher Großstadt aufnehmen konnten. Bereits im September lagen jedoch diese selben Orte wieder wie ausgestorben da. Bald deckte das Herbstlaub seinen Mantel über die Spuren der Badegäste am Wege, über zerbrochene Thermosflaschen, weggeworfene Sardinendosen, Keks- und Zigarettenschachteln und über vergilbte Zeitungen.

Erst wenn die Buchenwälder wieder junges Grün entrollten, begannen die Arbeiter der Kurverwaltungen, die winterlichen Frost- und Sturmflutschäden an Promenaden, Seebrücken, an Hochufer und Wegen auszubessern. Zu Pfingsten wurden die Strandkörbe aus dem Schuppen geholt und gelüftet. Die Saison konnte von neuem beginnen! In längst vergangenen Jahren putzten nun auch die jungen Fischer und manchmal sogar der Amtsvorsteher ihre Kieker, um die ersten badebehosten „Maikatzen“ am Strande besser beobachten zu können.

Der zunehmende Bombenterror der letzten Kriegsjahre brachte leidvolles Leben auch in die Winterstarre und Winterruhe der Rügenbäder. Menschen, die Haus und Habe verloren hatten, suchten eine Unterkunft. Ganze Schulen rückten mit allem Mobiliar an, mit Globussen, Elektrisiermaschinen, mit Knochengerüsten und Korbflaschen voll Säure.

Dieser ersten Welle der Not folgte nach Kriegsende eine zweite, stärkere: die der umgesiedelten Neubürger. Die örtlichen Schwierigkeiten wuchsen bedrohlich an. Die wenigen freien Wohnräume waren nicht winterfest; Seuchen flackerten auf. Es fehlte an Verkehrsmitteln, an Schulen, Krankenhäusern, Altersheimen, sogar die Friedhöfe wurden zu klein. Größter Mangel herrschte an Arbeitsmöglichkeiten. Überall hatte auch auf Rügen der Hitlerkrieg seine Spuren hinterlassen.

Mit Hilfe der sowjetischen Besatzungsmacht konnten die ersten Schritte auf dem mühseligen Wege aus diesem Chaos getan werden, zumal sich Frauen und Männer gefunden hatten, die nicht nur jammerten und stöhnten oder argwöhnisch abwarteten, sondern anpackten und mithalfen.

Den unbekannten Frauen, die als erste Helferinnen in die Typhusmassenquartiere gingen, die sich um den Unterricht der Flüchtlingskinder kümmerten, allen Frauen und Mädchen, die im Schneesturm der eisigen Wintertage die Straßen zur Kreisstadt freischippten, – ebenso den Männern, die die erkalteten Kessel der rügenschen Kleinbahnlokomotiven mit Holzfeuern wieder unter Dampf setzten, Autowracks zu Omnibussen zusammenbauten, Telefonleitungen wiederherstellten und sich, von allen Seiten angefeindet, in der Verwaltung für eine sinnvolle, gerechte Wohnraumverteilung einsetzten, war es allein zu verdanken, daß der Wille zum neuen Aufbau gestärkt wurde und bereits 1946 einige Rügenbäder wieder Kurgäste empfangen konnten.

Längst sind aber nicht alle Probleme gelöst; besonders die Wohnverhältnisse der Neubürger sind in Rügens Bädern teilweise schlechter als auf dem Festlande. Doch die geleistete Arbeit der letzten Jahre verheißt einen weiteren planvollen Aufbau unserer Badeorte.

Die Industrie prägt Rügens zweites Antlitz.

Die Anfänge einer industriellen Verwertung rügenscher Bodenschätze lassen sich bis in die zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurückverfolgen; Ansätze verschiedener Industrien – eine Zuckerfabrik, eine Papiermühle, eine Tuchfabrik, Ziegeleien – waren in mehreren Orten zu erkennen. Ein regelrechter Industriebezirk entstand bei uns jedoch erst durch die Gründung moderner großer Kreidewerke auf Jasmund. Seither gehören deren Schlämmanlagen und weiße Bruchwände als Wahrzeichen zum Bilde der rügenschen Landschaft.

Wie überall in der Welt spiegelt sich auch hier auf der Insel die jeweilige Lage der Arbeiterklasse in den Ereignissen um ihre Betriebe wider. Die Streiks der polnischen Kreidebrucharbeiter um 1900, die Lohnkämpfe der zwanziger Jahre und schließlich die Übernahme der größten Werke in das Eigentum des Volkes waren Stationen der vorwärtsdrängenden Entwicklung.

Am Rande des Industriegebietes entstand aus bescheidenen Anfängen der Hafen von Saßnitz, in dem das sinnvolle Wirken friedlichen Handels und völkerverbindenden Verkehrs im Nazireich mehr und mehr von den Kriegsvorbereitungen überschattet wurde. Die Bomben des 6. März 1945 beendeten diesen Zustand, und wenig später wurde auch der Schlußstrich unter die Epoche der Konzernbetriebe in der benachbarten Kreideindustrie gezogen.

Arbeiter und Ingenieure der Kreidewerke waren es, die die verbliebenen Anlagen umgruppierten, den Produktionsvorgang von der Rohkreidegewinnung auf die Schlämmkreideherstellung umstellten und die Betriebe wieder in Gang brachten, so daß man heute in der Lage ist, sogar qualitativ hochwertige Exportlieferungen durchzuführen.

Auch aus dem Hafengebiet von Saßnitz wurden die Trümmer des Hitlerkrieges geräumt und die schweren Bombenschäden an der Hafenmole in jahrelangem verbissenen Kampf gegen die elementaren Vernichtungskräfte der Herbst- und Frühjahrsstürme beseitigt, die beschädigten Trajektanlagen instand gesetzt.

Das alles geschah unter den denkbar größten Schwierigkeiten, weil der Rügendamm, der Lebensnerv der Insel, unsere Verbindung mit dem Festland, durch die von den Nazis befohlenen Sprengungen zerstört worden war. Seine Wiederherstellung war eine Tat.

Die Ernährungslage der sowjetischen Besatzungszone forderte den raschen Aufbau einer Flotte leistungsfähiger Fischereifahrzeuge, als deren Standort der Hafen von Saßnitz ausgesucht worden war. Am 7. Februar 1949 trafen hier die ersten zwölf Kutter des volkseigenen Betriebes „Fischfang“ ein. Heute fahren fast 200 Saßnitzer Kutter zu ihren Fangplätzen, von der Doggerbank bis zum Gotlandtief. Ihnen bahnten die Männer eines anderen Volksbetriebes den Weg; die Taucher und Bergungsarbeiter, die den zahlreichen Wracks der von Bomben und Minen zerfetzten, vor Saßnitz und vor der rügenschen Ostküste gesunkenen Schiffe zu Leibe gingen und so zu treuen Helfern der Fischerei und Schiffahrt wurden.

Da der gelandete Fisch schnell verarbeitet werden muß, wenn man seine Qualität erhalten will, entstanden nach 1951 im Saßnitzer Hafen die großräumigen Werkhallen des Fischkombinates, das seine Konserven, Räucherwaren, Marinaden und Salzheringe in die gesamte Republik versendet und mehr als tausend Werktätigen Beschäftigung gibt.

Die Kutterbesatzungen sowie die Frauen und Männer der Verarbeitungsbetriebe brauchten Wohnungen in der Nähe ihrer Arbeitsstellen. Weil Saßnitz keine Unterkünfte mehr bieten konnte, begann der Neubau von Wohnungen, der damals allerdings einfallslosen Architekten als Versuchsobjekt dafür diente, wie weit sich durch unverputzte, mietskasernenartige Wohnblöcke der Geschmack der Arbeiter verletzen ließ. Erst die später errichteten Häuser und die eben fertiggestellte neue Stadtschule zeigen eine erfreuliche Wendung zum Besseren. Als Bauvorhaben über mehrere Jahre hinaus wurde ein neues Wasserwerk in Angriff genommen.

So wurde Saßnitz aus einer Hafenanlage am Rande des rügenschen Industriegebietes zu dessen Mittelpunkt, zu einem Ort von 8000 Einwohnern, der in einer hoffnungsvollen Entwicklung steht.

Ein zweites, kleineres Industriezentrum bildete sich nach 1945 um Putbus und Lauterbach. Auch hier bestanden bereits Ansatzpunkte in Form vorhandener Betriebe, wie die Kalksandsteinfabrik, die nahe Ziegelei Ketelshagen und die Fischkonservenfabrik Lauterbach.

Um den Bedarf der Fischerei an Bootsneubauten und Reparaturen zu decken, wurde die Lauterbacher Werft erweitert. Seit 1946 arbeitet in diesem Ort auch eine Flachsröste. Der Hafen, eine Fischer-Genossenschaft, ein Sägewerk und Torfbrüche sowie die Maschinen-Traktorenstation in Putbus sind fernerhin Teile dieses ebenfalls neuen Industriebezirkes auf Rügen.

Swantevits drittes Gesicht blickt auf die Landwirtschaft seiner Insel, ein Gesicht voller Runzeln und Falten, die die Gletscher der Eiszeit aus dem Boden formten. Als ist das Bauernland Rügen, so alt wie das Menschengeschlecht darauf.

Unsere Landwirtschaft unterscheidet sich nicht wesentlich von der Landwirtschaft, wie man sie an den benachbarten norddeutschen Küsten treibt. Nur bedingt die Witterung im nördlichsten Kreis der Republik, daß hier die Feldarbeit erst später einsetzen kann, als im Westen und Süden Mecklenburgs. Selbst innerhalb der Insel gibt es noch spürbare Klimaunterschiede, für jeden beim Beginn der Obstbaumblüte und der Herbstverfärbung des Laubes sichtbar. Am 1. Mai eines der letzten Jahre brachen zum Beispiel die Blüten der Kirschbäume in Altefähr auf; am 4. Mai tat’s in Bergen mein Kirschbaum im Garten, und erst sechs Tage später konnten sich die Blüten auf Arkona entfalten.

Steinsätze und Hünengräber, Burgwälle und die alten Dorfkirchen gehören mit zum Bilde des Bauernlandes Rügen, das in seinen hauptsächlichsten Grundtönen seit Jahrtausenden das gleiche blieb: Noch immer wird es beherrscht von jenem geheimnisvollen Rhythmus der Natur, der Wachstum, Reife und Ernte bedeutet und von den Menschen, deren Arbeit des Säens und Pflügens, deren Fürsorge um den Boden und seine Früchte stets die gleichen blieben, ob sie nun in der Vorzeit hinter dem Hakenpflug gingen oder heute auf dem Traktor sitzen. Sie prägten dieser Landschaft ihre Züge auf.

Aus dem alten Kirchdorf Rügen, dargestellt etwa von einem Ortstyp wie Gingst, dem Mittelpunkt des bäuerlichen und handwerklichen Lebens in diesem Sprengel, das zeitweise von den nur selten humanen Besitzern der umliegenden Herrenhöfe zur Ansiedlung von Leibeigenen und Gutsarbeitern herabgewürdigt wurde, entsteht in unseren Tagen das neue Dorf mit seinen neuen Bauten, im Schatten der alten Kirche, mit Kulturhaus, Landambulatorium, Zentral-Schule, Kindergarten, staatlichen Speichern und Werkstätten. Aus dem Kirchdorf der Vergangenheit wurde der ländliche Bezirksmittelpunkt in der Gegenwart.

Das rauschende, wogende Meer blanker Getreidefelder, die weiten Getreidefelder, die weiten Wiesen am Boddenufer, der Kirchturm über dem entfernten Dorf, ein rohrgedeckter Einzelhof unter uralten Pappeln, die Zeile rotbedachter Neubauernhäuser, moderne Speicher, das Schweinehüttendorf eines volkseigenen Gutes, – die Schlosser und Schweißer einer Maschinen-Traktoren-Station, die Bauern einer Produktions-Genossenschaft bei gemeinschaftlicher Aussaat hinter ihren Drillmaschinen, ein einsamer Schäfer mit Hund und Hütestock, und auch die Möwen, die hinter dem schälenden Traktor flattern und sich auf die Engerlinge im aufgepflügten, duftenden Boden stürzen: Das ist das dritte Antlitz Swantevits!

Rügen war nie eine „Fischerinsel“, etwa wie Hiddensee bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts; dazu ist unsere Insel zu groß. Dennoch erachte ich den Fischer für den typischen Bewohner meiner Heimat, denn außer ihm versteht es niemand, in gleicher Weise Pinne, Schoot und Zeese wie Zügel, Pflug und Sense zu führen. Die meisten rügenschen Fischer sind heute noch „Fischerbauern“, sie besitzen außer Boot und Netz ein Stück Ackerland, das sie mit der gleichen Sorgfalt bestellen, mit der sie ihrem Beruf auf dem Wasser nachgehen.

Von den 58 rügenschen Gemeinden sind nur neun von der Seeoder Boddenküste ausgeschlossen! Rund 900 Fischer sind in den rügenschen Genossenschaften vereint, deren älteste, Saßnitz, bereits 1928 zur Abwehr der Ausbeutung durch Fischaufkäufer und Händler entstand.

Der Harpunenfund aus dem Moor von Venz bei Gingst zeigt, daß unsere Fischerei ebenso alt ist, wie die Landwirtschaft. Dieses Fanggerät stammt aus der ältesten Steinzeit, aus der Ancylus-periode der Ostsee.

Der Heringsfang geschieht teilweise auch heute noch mit dem klassischen „Großen Garn“, von dem es schon 1296 in der Schenkungsurkunde des Klosters Usedom heißt „dictio vulgariter grote Garne“. Nicht viel jüngeren Ursprungs sind die Zeesener der Boddengewässer, die eine Stralsunder Chronik 1449 „Zeeskähne“ nennt. Immer noch setzen diese Eineinhalb-Master ihre braunen Segel; Boote, die gekennzeichnet sind durch ihr langes Bugspriet und den gleichlangen Driftbaum überm Achtersteven. An den beiden Auslegern über Bug und Heck schleppen sie, vor dem Wind treibend, die Flundernzeese. Gegen den purpurschummerigen Abendhimmel stehen die Zeesener wie ein Geschwader spinnenbeiniger Gespenster über dem Wasser des Boddens.

Vermutlich aus Dänemark wurde um 1820 eine umwälzende Fangmethode an unseren Küsten eingeführt: die großen Reusen. Heute stehen 170 dieser Ungetüme längs der Insel; mit ihren Wehren und den raffinierten Kopfkehlen wurden sie zu der Massenfalle für ziehende Herings- und Aalschwärme, die mehr als die Hälfte aller auf Rügen angelandeten Fänge liefert. Anschaffungs- und Unterhaltungskosten sowie die Handhabung dieses riesigen Produktionsmittels übersteigen die Kräfte eines einzelnen und forderten daher noch mehr als das „Große Garn“ den Zusammenschluß von Fischern zu Partien oder, wie es bei uns meistens heißt, zu Kommünen oder Reusen-Kompanien, in denen gleiche Rechte gleiche Pflichten bedingen und der Gewinn aufgeteilt wird. Mehr als ein Drittel der rügenschen Fischer sind heute Angehörige solcher Reusen-Kompanien.

Gegen Ende des Ersten Weltkrieges tauchte wiederum eine neue Produktionsweise auf, die aber heute eigenartigerweise sogar bei alten Rüganern schon nahezu wieder vergessen ist: der Hochseefang mit Fischdampfern. Acht dieser Fahrzeuge waren 1919 in Saßnitz beheimatet. Der erste war „Die Oie“ von Eduard Rahn. Es handelte sich allerdings nicht um den Typ der bekannten Island-Trawler, sondern um kleinere, umgebaute Schiffe, mit denen erstmalig den von der Küste abwandernden Plattfisch-Schwärmen nachgesetzt werden konnte, und zwar in Fanggebiete, die damals den kleinen und schwachen Motorkuttern unerreichbar waren. Das Wirken dieser Fischdampfer, die fast alle den Inflationsjahren zum Opfer fielen, hatte zu einem interessanten Pressekrieg geführt, der in den Spalten der „Saßnitzer Zeitung“ für und wider die Ostseefischerei mit Dampfern ausgetragen wurde.

Fritz Schmidts „Senta“, das zweite dieser Schiffe, scheint unsterblich zu sein. Zuerst war sie ein Regierungsfahrzeug, wurde danach zum Fischdampfer umgebaut, fuhr noch eine Weile als Schutenschlepper, ehe sie jahrelang in der Krisenzeit im Saßnitzer Hafen herumlag. Endlich wurde der alte Pott zum zweiten Male umgebaut, diesmal zum Motor-Fischkutter. Als solcher dient er noch heute zur Versorgung der Werkküche im VEB Seehafen Wismar.

In den zwanziger Jahren folgten in raschem Tempo weitere Neuerungen, die alle diese Fangmethoden über den Haufen warfen und eine Umstellung der gesamten rügenschen Hochseefischerei mit sich brachten:

Im September 1928 verwendeten in Saßnitz die Gebrüder Meltmann zum ersten Male eine Kutterzeese zum Fang auf Blankfisch, also auf Hering und Sprott. Bald probte auch der Kutterführer Falk diese neue Methode aus und vervollkommnete sie soweit, daß er als Bahnbrecher der Herings-Zeesenfischerei auf Rügen bezeichnet wird.

Aus Dänemark kam das „Tucken“ auf, das paarweise Schleppen eines großen Heringsnetzes durch zwei starke Kutter. Der erste Saßnitzer, der 1932 eine Tuck-Partie aufstellte, war Otto Rink. Zwei Jahre später tuckten bereits alle rügenschen Kutter.

Die materielle Hilfe der Regierung für die Fischer begünstigt auch ein anderes, mit der Fischerei eng verbundenes bodenständiges Handwerk, die Bootsbauerei. In den letzten Jahren erhielten bei uns 80 Umsiedlerfischer staatliche Kredite zum Bau neuer Boote und zum Kauf von Motoren, wodurch die Bootsbauer und Schlosser auf den Werften der Insel ständig mit Arbeit versorgt sind.

Die Fischerei war – falls es jemand noch nicht bemerkt haben sollte – „Swantevits viertes Gesicht“.

„Mit Gott per Dampf quer durch die Insel“

An einem Sommertag liegt der Bahnhof Bergen im Sonnenschein. Rasch entwickelt sich das gewohnte Ferienbild: Auf dem linken Gleis stehen die vier, fünf Wagen des Zuges nach Putbus, der natürlich schon längst voll besetzt ist. Bei der Ankündigung, daß der D-Zug aus Berlin Einfahrt hat, stecken die Rüganer im Putbuser Zuge die Köpfe aus den Abteilfenstern. Jetzt gibt es gleich etwas zu sehen! Denn wenn auf dem gegenüberliegenden Gleis der Schnellzug hält, ist es ein Hochgefühl, als Sitzplatz-Inhaber und „neutraler“ Zuschauer an dem beginnenden Kampfe um die Plätze teilnehmen zu können.

Am D-Zug fliegen die Türen auf, lassen aus allen Wagen Reisende hervorquellen; Koffer purzeln ihren Besitzern voraus, Kinder weinen, ihr Spielzeug-Segelschiff fest an sich gedrückt – Lärm umbrandet den Bahnsteig auf voller Länge. Ein kurzes orientierendes Umschauen, ein Atemholen, dann beginnt der Sturm auf den Putbuser Zug. Fluchend und schwitzend drängen sich die Badegäste vor den Türen. Man schiebt nach, drückt die Zögernden auf der anderen Seite wieder von der Plattform hinunter. Die letzten hängen wie Trauben am Wagen, ramponiert und durchgeschüttelt, Strandgut der Lokalbahn!

Die „Neutralen“ aber, die Schlachtenbummler grinsen über das Getümmel …

Tröstlich ist die Tatsache, daß es uns nicht besser geht als Wilhelm von Humboldt, der sich 1796 auf seiner Reise durch die Insel mit den rügenschen Landwegen herumquälen mußte und sich über faule Posthalter und unfreundliche Fuhrleute ärgerte.

Seit alten Zeiten gab es auf Rügen drei „gemeine Landwege“. Zwei davon begannen bei der „groten Vitte up Wittow“, dem damals bedeutenden Heringsmarktplatz unter Arkona. In Altenkirchen trennten sie sich, und man konnte von hier aus über die Schaabe, durch Jasmund und die Schmale Heide nach Bergen fahren, um Rothenkirchen zu gewinnen, oder den Weg über Wiek, die Wittower Fähre, Trent und Gingst einschlagen. In Rothenkirchen stieß auch der dritte Landweg auf die Straße zur Fähre am Sundufer, der von Mönchgut kam und über Lancken, Vilmnitz und Kasnevitz führte.

Die Ortschaft an diesem Straßenknotenpunkt soll in alten Urkunden „oppidum Bouthenkyrka“, also Städtchen, genannt und zumindest ein Kirchdorf gewesen sein. Noch 1306 wird ein Drittel von Rothenkirchen angewiesen, einer Stralsunder Kirche einen Altar zu stiften. Demnach muß die Ansiedlung reich gewesen sein. Schon ältere Rügenforscher machten sich Gedanken über den Untergang dieser Stadt, an deren Stelle heute nur noch wenige Bauernhäuser stehen. Vielleicht war hier die alte Fährstelle nach dem Lande Barth, die durch die Gründung Stralsunds zur Bedeutungslosigkeit hinabsank. Von der zweiten untergegangenen rügenschen Stadt, von Rugendal, kennt man heute nicht einmal mehr die Lage.

Doch zurück zu den Straßen!

Das wendisch-rügianische Landrecht bestimmt die Breite der Wege zu 21 Fuß. Für ihren Unterhalt mußten die Benutzer einen „billigen Pfennig“ bezahlen. Eigenartig, aber sinnvoll waren die Verkehrsordnungen: Erntewagen brauchten keinem Edelmann und keiner Dame auszuweichen, wie es sonst strenge Pflicht war. Auch Leichenfuhren und Taufwagen genossen Wegerecht.

Auch damals verursachte das Reisen Hunger und Durst. So entstanden am Wegrand die Krüge, die Gastwirtschaften, von denen einer, der Hülsenkrug bei Neu-Mukran, sich bis heute erhielt. Um einen anderen Krug bildete sich die Kreisstadt Putbus.

Die gemütlichste Kneipe muß aber die auf der schmalen Heide gewesen sein, bei der eine vor der Haustür hängende große Flasche das übliche Namensschild ersetzte und die daher von aller Welt nur der „Buddelkrog“ genannt wurde. Er lag dicht vor dem Paß der Prora, wo der steil abschüssige Hohlweg so eng wurde, daß die Zweige des Gebüsches zu beiden Seiten des Weges in den Wagen hineinreichten. Wer sich anschickte, von der Berghöhe hinabzufahren, warnte mit lautem Rufe die Entgegenkommenden, denn im Hohlweg gab es keine Ausweichsmöglichkeit. Und da man nicht wußte, ob die Bremsen auf der Talfahrt anziehen, wenn es gefährlich wird, tat man besser, vom Buddelkrug aus auf das „Halt vor der Prora!“ zu horchen und gegebenenfalls zu warten.

Berüchtigt waren die Krüge als Schauplätze unzähliger Keilereien, denn hier gerieten sich die Postillone, das reisende Volk und die Rüganer oft genug in die Haare; der Umgangston wird nicht besser gewesen sein, als der auf den Eisenbahn-Trittbrettern und Puffern in den Jahren 1945/46. Jedenfalls behauptet der mittelalterliche Chronist Thomas Kanzow, daß „in den Krügen soviel Schlagens geschieht, und andere Injurien, daß offt ein Edelmann, der einen Krug hat, so viel an Buße und Strafgeldern im Jahre daraus gewinnet, als sonst von einem halben oder ganzen Dorfe!“

Nachdem schon der Schienenweg Stralsund mit Berlin verbunden hatte, bot die Insellage Rügens dem Eisenbahnverkehr noch zwanzig Jahre Widerstand. Erst 1883 schuf man das notwendige Bindeglied zwischen Festland und Insel: die Trajektfähre über den Sund. 1891 wurde die Strecke von Bergen nach Saßnitz verlängert und die erste Lokomotive schnaufte sich „mit Gott per Dampf quer durch die Insel“, wie auf ihr zu lesen stand.

Nach Saßnitz verlangten nun auch die anderen Rügenbäder bessere Verbindungen, und so begann 1894 der Bau der Kleinbahn. Ihre Linienführung bereitete damals Schwierigkeiten, denn während der eine Gutsbesitzer unbedingt einen Bahnanschluß haben wollte, befürchtete sein Nachbar durch die Nähe des rasselnden, feuerspeienden Vehikels einen Rückgang seiner Milcherträge zu erleiden. Je nach Einfluß im Aufsichtsrat ergaben sich daher beim Bau der Strecke einige Kurven mehr oder weniger. 1899 lagen endlich die Gleise bis zur Endstation Göhren.

Lange Zeit besaß unsere Kleinbahn eine Besonderheit, die sie vor allen ihren Geschwistern auszeichnete: einen Speisewagen! Damit verbinden sich bei mir noch leuchtende Kindheitserinnerungen; die Fahrt im Speisewagen ließ die eineinhalbstündige Strecke selbst bei sommerlicher Hitze zu dem werden, was sie eigentlich sein sollte, zum Beginn des Urlaubs, schon während der Reise. Gar eine winterliche Fahrt mit dem Abendzug, in den Vorweihnachtswochen, wenn die Bahn durch die verschneiten Bergwälder der Granitz dampfte und im schaukelnden Speisewagen die Lichter brannten – solche feierlichen Reisestimmungen erlebte ich noch in keiner anderen Gegend.

Es wäre eine dankenswerte Aufgabe der Reichsbahn, auf dieser Strecke wieder einen fahrbaren „Krug“ verkehren zu lassen. Rügen hätte seine Merkwürdigkeit wieder, die Mitropa die Einnahmen, und der Reichsbahn gehörten die Sympathien aller Bäderreisenden, was man jetzt nicht immer behaupten kann. Symphatisch sollte einem auf jeden Fall dieses alte Museumsstück, unsere Kleinbahn, sein, denn sie gehört zum Urlaub wie Sonnenbrand und Schnupfen.

Einmal drohte die ganze Problematik dieses Verkehrs durch den Fortschritt der Technik ausgelöscht zu werden. 1937 erbaute man die Reichsbahnstrecke Lietzow-Binz, deren weitere Fortsetzung bis Göhren schon vermessen wurde. Der Krieg aber zerschlug dieses Projekt, und in den ersten Nachkriegsjahren waren wir Rüganer dankbar, daß es noch ein so unermüdliches, zuverlässiges Verkehrsvehikel wie diese Kleinbahn gab. Das hindert uns aber nicht, mindestens an jedem Sommersonntag kräftig über sie zu schimpfen. Wer einmal, von einer nervösen Ehegattin und neugierigen Kindern begleitet, vielleicht noch einen schreienden Säugling im Kinderwagen schiebend, aus dem Kurzstreckenrennen des Umsteigens zur Kleinbahn, das über Gleise, Weichen und Zäune des Bahngeländes zu Putbus auf Rügen ausgetragen wird, als zweiter Sieger hervorging, der weiß, daß derartige Sonntagsurlaube für einen Journalisten nur noch Stoff zu einer Glosse bieten können. Und dann die Reisen im Winter!

Um drei Uhr vierzig – morgens – geht der Zug nach Altenkirchen. Es lohnt also gar nicht, am Abend vorher noch schlafen zu gehen!

Eine Gänsehaut läuft mir jedesmal über den Rücken, wenn ich die Haustür von außen ins Schloß drücke, um mich auf den Weg zu machen. Bergen liegt noch im Schlaf, laut knirscht der Schnee unter jedem Tritt. Vom Kleinbahnhof her blinzelt schadenfroh ein trübes Lichtfenster durch die Nacht, und der Funke einer kreisenden Signallampe winkt höhnisch: Komm du nur her!

Im dunklen Flur vor der Kartenausgabe drängen sich die wenigen Fahrgäste. Man rückt jedesmal enger zusammen, wenn wieder ein neuer hereinkommt, sucht gegenseitig menschliche Wärme und den warmen Hauch des Atems. Drei Schritte vor der Tür steht der leere Zug, doch niemand steigt ein; keiner will der Erste sein, der die eiskellerkalten Wagen betritt. Wir warten also im Flur, bis uns der Pfiff der Lokomotive aufschreckt: Abfahrt!

Na, dann eben in drei Teufels Namen! Kragen hoch, Hände in die Taschen und mit einem Sprung hinein in die Wagen!

Im Abteil ist es genauso finster wie draußen in der kalten Nacht. Unbekannte Nachbarn rücken dichter zusammen, doch die Kälte mordet jedes Gespräch. Im Nebenabteil versuchen sie, sich die Füße warm zu trampeln, und ich habe den seltsamen Wunsch: Wenn man doch jetzt auf dem Kessel der Lokomotive sitzen dürfte, dann wäre wenigstens der Achtersteven warm.

Langsam wird es heller vor den Fenstern, die von dicken Eisblumen überzogen sind, so daß unser Atem sichtbar wird, auch der kondensierte Fahrgasthauch, der in Form von Dutzenden kleiner gefrorener Tröpfchen von der Wagendecke herabhängt. Wir sitzen in einer auf Rädern rollenden Tropfsteinhöhle …

Die Tür wird sekundenlang geöffnet, und der kalte Wind weht den Schaffner herein, der den Lichtstrahl seiner Lampe über die vermummten Schläfer tasten läßt, ehe er sich neben mich setzt und willkommene Wärme an meine rechte Seite bringt. Er erzählt: Im Oktober 1936 passierte es zwischen Trent und Neuendorf, daß der ganze Zug vom Sturm umgeweht wurde. Zwei Personenwagen, ein Güterwagen und der Packwagen kippten und entgleisten. Es gab sogar sieben Blessierte! Gerade so etwas fehlte uns heute noch!

Gern dagegen erinnere ich mich einer anderen Kleinbahnfahrt in den lachenden Frühling auf Rügen.

Sonnenschein flutete durch die offenen Fenster des Wagens. Neben der Strecke standen Birken in zartgrünen Gewändern, gelber Sumpfdotter blühte auf den Wiesen mit dem Schierling um die Wette. Kirschbäume schütteten Blüten ins Abteil, wenn der Zug in den Kurven ihre Zweige gestreift hatte.

Plötzlich pfiff die Lokomotive auf freier Strecke, dicht vor dem klangvollen Haltepunkt Neparmitz, einen wütenden, kurzen Ordnungspfiff, der Zug bremste und hielt ruckend an. Was war geschehen?

Eine Ziege nagte zwischen den Gleisen und war nicht zu bewegen, diese fetten Weidegründe aufzugeben. Der Lokführer schwang drohend einen Schraubenschlüssel, doch das Biest rührte sich nicht. Schließlich mußte der Heizer abspringen und „de stuure Zääch“ zur Seite ziehen. Wer weiß, vielleicht war sie blind und taub.

Ein neuer Pfiff rief „Einsteigen!“ und gemütlich schlingerten wir weiter durch die Kurven.

Kleine und große Gäste

Ich gehöre zu denen, die sagen können: Mein erstes Ostseebad war Sellin auf Rügen. Mit diesem Ort verknüpfen sich daher viele persönliche Erinnerungen, die sich zu einem Teil seiner Geschichte verdichten lassen.

In meinen Kinderjahren standen am Selliner Strand, rechts und links von der 100stufigen hölzernen Himmelsleiter, auf hohen Pfählen die weißgestrichenen Holzkästen der Herren- und Damenbadeanstalten. In deren Allerheiligstes konnten „Unbefugte“ nur durch die alljährlich erneuerten Astlöcher der Bretterwände sehen. Es ging natürlich nicht mehr so streng zu wie vor dem Ersten Weltkriege, als man junge Leute aus den Badeorten wies und bestrafte, weil sie sich dem Damenbad auf weniger als 50 m Entfernung genähert hatten oder in der Nähe des Herrenbades ihre Schritte nicht „züchtig“ beschleunigten. Immerhin verlangte die Moral, daß mir meine Mutter vor dem Beginn einer neuen Saison eröffnete: In diesem Jahre darfst du nicht mehr mit ins Damenbad kommen. Wir werden von jetzt an ins Familienbad gehen!“ Wahrscheinlich war ich damals gerade schulpflichtig geworden.

Das waren die Jahre, in denen ausgediente Rittmeister und Majore als Kurdirektoren in den Ostseebädern „wirkten“. In Binz „arrangierte“ ein ehemaliger General den Kurbetrieb, und der Republik zum Trotz wehten auf allen Strandkörben und Seebrücken die Farben der abgeschafften Monarchie.

Gut erinnere ich mich noch, wie 1930 einige verstaubte Verordnungen durch ein erschreckendes Ereignis hinweggefegt wurden. Es war bis dahin verboten gewesen, die Selliner Seebrücke im Badeanzug zu betreten. In jenem Sommer geriet ein Gast beim Schwimmen in der Brandung – es herrschte grober Seegang – in Lebensgefahr. Man hörte seine Hilferufe, und beherzte Rettungsschwimmer rannten zur Seebrücke, um vom Steg aus dem mit den Wellen Kämpfenden zu helfen. Der Zerberus an der Eingangspforte hielt sie jedoch mit der Allmacht eines Kammerdieners zurück: „Halt! Das Betreten der Brücke ist nur angekleideten Personen gestattet!“ Alle dringlichen Vorstellungen prallten an seiner Unnahbarkeit ab. Da kam einer der Rettungsschwimmer auf die glückliche Idee, uns Kindern zuzurufen: „Holt schnell ein paar Bademäntel!“ Damit bekleidet, wurde ihnen der Eingang zur Seebrücke gestattet. Es gelang gerade noch, den Ertrinkenden zu retten; am selben Abend erzwang eine Protestversammlung der Badegäste im Kurhaus die Aufhebung dieser verschimmelten Bestimmung.

Die Seebrücken waren einst die Zierde und der Stolz derjenigen Rügenbäder, die etwas auf sich hielten. In Binz und Sellin waren sie 600 m lang. Diese Stege waren gleichzeitig aber auch die Sorgenkinder der Kurdirektoren: einmal brannten sie ab, andere Male stürzten sie ein und alljährlich wurden sie durch Packeis und Sturmfluten erheblich beschädigt.

Auf unserer Insel erzählt man gelegentlich noch von dem furchtbaren Unglück des Jahres 1912. Damals brach in Binz ein Teil des Seebrückenkopfes ein, gerade in dem Augenblick, als der Dampfer anlegen wollte. Über hundert Menschen stürzten in die See. Trotz des Rettungswerkes der Binzer Fischer und der Schiffsbesatzungen forderte die Katastrophe vierzehn Todesopfer.

Der harte Winter des Jahres 1942 vernichtete die Seebrücken aller Rügenbäder. Möge man ihren Wiederaufbau bei der zukünftigen Entwicklung der Badeorte nicht vergessen!

Nachdem uns die letzten Badegäste zu Ausgang des Sommers das Feld überlassen hatten, ergriffen wir Kinder vom Selliner Strand Besitz. Das war die herrliche Zeit, da sich das Buchenlaub der Granitz verfärbte und der Nordost mit langen Reihen gischtenden Wogen den Strand bestürmte. In der Luft torkelten die welken, zusammengekrümmten Buchenblätter, und Möwen tobten schreiend um die Seebrücke. Die Strandkörbe wurden vorsichtshalber unserem Zugriff entzogen und weggetragen. Bald hatte der Wind auch die Krater der Strandburgen nivelliert, und breit und rein dehnte sich nun die weiße Sandfläche beiderseits des Pfahlwerkes der Seebrücke aus. Nur unsere Seeräuberburg trotzte dem Sturm!

Sie lag am Südstrand, am Quitzlasser Ort, wo die Brecher die blaugrauen Mergelwände des Steilufers benagen. Diese Burg war kein so schwächliches Gebilde, wie es gewöhnlich von den Kurgästen errichtet wird; sie besaß mannshohe Wälle und war nach oben hin durch Bretter und Astwerk abgedeckt, auch sonst allenthalben durch Holz verstärkt. Treibgut fand sich genug am Strand: Balken, Bretter, Kisten und Pfähle wurden täglich angeschwemmt. Rostige Ankerketten, Netzkugeln aus grünem Glas, geteerte Korbschwimmer, „Schwäken“, Netzbojen, die mit bunten Lappenfetzen besetzt waren, ein Anker, dem eine Flunke fehlte, und noch viel mehr von solchem Kram verzierte unsern Burgwall.

Hier, in dieser Höhe, fanden wir Gören uns zusammen, um aus einem zerrissenen Schmöker die Abenteuer Störtebekers vorzulesen. Wir erfuhren von den Fahrten des mittelalterlichen Seehelden, der die Stadt Stockholm mit Lebensmitteln versorgte. Wir erlebten seine späteren Kaperzüge gegen die reichen Handelsherren, wobei die Beute auf alle gleich verteilt wurde. Wir siegten mit Störtebeker, fluchten mit ihm, teilten mit ihm, bekriegten die Reichen, gaben den Armen und waren auch bereit, heldenhaft gegen die Übermacht der Hanseaten zu erliegen, falls sie es wagen sollten, unsere Burg anzugreifen.

Störtebeker gehört den Rüganern, wie er uns gehörte. Sie verleugnen die Wissenschaft, nach der er ein Wismarer war. Die Ortschaft Ruschvitz bei Glowe soll seine Heimat gewesen sein; Störtebekers Häfen gibt es mehrfach auf der Insel, und am Königsstuhl vergrub er seine Schätze … ganz bestimmt!

Neben unserer Burg stand die Wache auf Ausguck. Wir lauerten auf Strandgut, wie weiland die alten Rüganer. Meistens brauchten wir nicht lange zu warten; je mehr es aufbriste, desto reichere Auswahl bot sich. So trieb einmal eine Flasche an, noch halb gefüllt mit wasserklarer Flüssigkeit. Wir entkorkten die Buddel und ließen sie reihum kreisen, um das Geheimnis ihres Inhalts zu erkunden. Jeder der sieben-, achtjährigen Piraten roch daran. Schließlich streckte der Anführer, dem diese Prüfung zu lange dauerte, die Hand aus: „Gebt mal her!“ Er hielt die Flasche an die Nase, stellte lakonisch fest: „Schnaps!“ und – trank für alle … Das war ich!

Ein Blechkanister wurde mit mordsmäßiger Ehrfurcht betrachtet. Einer von uns hatte etwas über Dynamit und Nitroglyzerin gelesen; nun befürchteten wir, solcher „Schietkram“ könnte eventuell in dem Kanister enthalten sein und uns alle bei ungeschickter Handhabung in ein ungewisses Jenseits im Piratenhimmel befördern. Unsere Angst besiegte die Neugier; wir warteten, bis sich ein Fischer am Strande blicken ließ. Inzwischen spielten die Wellen mit dem Kanister. Der Fischer besah sich den Fund, hob die Kanne, klemmte sie sich unter den Arm und griente: „Unverzolltes Schmieröl!“

Ein ander Mal trieb eine mächtige Kiste an, die sich aber ohne Mühe an Land ziehen ließ, weil sie im Verhältnis zu ihrem Format sehr leicht war. Schnell rissen wir die Latten ab – eine goldhaarige Masse quoll uns entgegen: feinster Orienttabak! Tagelang trockneten wir ihn in unserer Burg und probierten dann der Reihe nach den ersten Zug aus einer mitgebrachten Pfeife. Pfui Teufel! Die Piraten stürzten einer nach dem anderen hustend und spuckend zum Eingang hinaus …

Viele schöne Erlebnisse verbinden mich mit diesen Selliner Jahren: Kinderfeste, bei denen man auf einem Esel reiten konnte, sogar auf einem Gemeinde-Esel, der Besuch des Zeppelin-Luftschiffes, die Erinnerung an die ellenlangen Stimmzettel der Reichstagswahl im Sommer 1932, von denen ich mir auf krummen Umwegen ein Exemplar besorgte, das wir Gören benutzten, um uns unter den 38 darauf verzeichneten Parteien einige besonders interessante herauszusuchen …

Eindrucksvoll war die erste Begegnung mit einem Flugzeug, auch das konnte man in Sellin erleben, denn seit 1926 landeten in den Sommermonaten zweimal am Tage die Wasserflugzeuge der Linie Berlin – Rügen – Hiddensee am Bollwerk des Fährhauses Hansen. Später machte ich auf dieser Strecke meinen ersten Flug. Ich kann mir noch heute keinen schöneren Weg in die Ostseebäder denken!

Mit dem Aufsteigen über das graue Häusermeer der Großstadt ließ man allen Kram und alle Schwere hinter sich und unter sich, schwang sich über den Alltag hinaus. Dann kam das Schweben über Wälder, Seen und Flüsse, über Bodden und grüne Inseln, bis zur Südspitze Rügens, wo der Schatten der Flugmaschine den weißen Strandstreifen überquerte. In einer Wolke von Gischtspritzern stob man dem Ferienziel entgegen.

Nächst dem Strande war der Wald der Granitz unser anderer grenzenloser Tummelplatz. Hier fühlten wir uns wie im Gebirge; es gab Hohlwege, hohe, durch Täler geschüttete Bahndämme und die nach beiden Seiten in tiefe Schluchten abfallenden Hügelketten, auf denen man richtige Kammwanderungen machen konnte. Ziel unserer Streifzüge war meist der schöne Bau des hundert Jahre alten Jagdschlosses auf dem Tempelberg.

Da Arbeiter und nicht Fürsten die Erbauer dieses und aller anderen Schlösser waren, hätte es unsere Pflicht sein müssen, sie zu erhalten, nachdem sie 1946 von den sowjetischen Militärbehörden dem deutschen Volk in die Hände gelegt wurden. Leider erkannte man das auf der Insel nicht, erkennt es auch heute noch nicht! Man könnte noch darüber lächeln, daß das Prunkbett der Fürstin im Jagdschloss zu einem Kaninchenstall verarbeitet wurde. Ein Verbrechen aber war es, die herrlichen Granitzer Marmorkamine zu zerschlagen und in Sellin und Binz als Grabplatten zu verhökern.

Übrigens beherbergt dieses Jagdschloß noch eine Merkwürdigkeit: eine Art Schifferkneipe! Keine waschechte, das ist klar, sondern eine mit Geweih- und Raupensammlungen, eben jener Art, die 1100 Dezimeter überm Wasserspiegel der Ostsee in einem alten Bergschloß mitten im Walde untergebracht ist. Wie jede bessere Schifferkneipe zählt sie Raritäten zu ihrem Inventar. Hier kann man nicht nur „einen abbeißen“, man könnte sogar selbst gebissen werden, wenn jenes stachlige und haarige Ungetüm, Japanischer Königskrebs genannt, nicht unter Glas an der Wand hinge, sondern im Lokal herumspazieren würde. Dort gibt es auch noch Schiffsmodelle und ein Bild des Zuckerhutes von Rio, das von Seeleuten während der langen Flautentage in den Kalmenbreiten aus bunt schillernden Schmetterlingsflügeln zusammengesetzt wurde.

Mitten im dichten Buchenwald der Granitz stößt man auf eine freie Fläche, eine Wiese, die jetzt mit Pappeln und Fichten aufgeforstet wird. Ihr Wahrzeichen sind zwei uralte, hohlstämmige Wildapfelbäume. Das ist die Dolge. An ihrem östlichen Rande, am Wege nach Sellin, liegt das einsame Grabmal eines finnischen Kriegers aus dem Jahre 1806. Als Kinder legten wir im Vorbeigehen rasch einen kleinen Strauß Waldblumen auf den Hügel. Niemand hatte uns dazu aufgefordert …

Am ersten Tage nach meiner Rückkehr in die Heimat ging ich durch den verschneiten Granitzwald nach Binz, um mich dort anzumelden. Mein Weg führte am Soldatengrab vorüber, das von schützenden Tannenzweigen bedeckt war, zwischen denen ein kleiner Kranz lag, dem man ansah, daß ihn Kinderhände geflochten hatten. Ich freute mich, daß die alte Sitte noch bestand.

Das verborgene Kleinod der Granitz ist der Schwarze See. Hohe Buchen umragen die Ufer, nur selten wird sein Spiegel von Wellen gekraust. Totenstille liegt über Wasser und Feld. Auf der tiefschwarzen Fläche gleißen treibende Blätter wie silberne Sterntaler. Weiße Teichrosen blähen zwischen Schilf und Binsen. An diesem Gestade läßt die Volkssage die grünen Zwerge der Granitz wirken …

Am schönsten ist es im Mai am See, wenn die Buchen knisternd ihr frisches, zartes Grün entfalten und noch keine hallenden Stimmen der Wanderer die Stille zwischen den Waldufern zerreißen. In der Ferne klopfen die Äxte der Forstarbeiter, Insekten summen im Schilf. Verrät kein Laut die Menschennähe, dann wagen sich auch einmal ein paar scheue Rehe zur Tränke ans Ufer.