Die Jahre des Maulwurfs - Kerstin Brune - E-Book
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Die Jahre des Maulwurfs E-Book

Kerstin Brune

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Beschreibung

Von der Tragik, aber auch der Komik des Aufwachsens in der tiefen Provinz – ein virtuoses literarisches Debüt!

Die Erzählerin weiß nicht, ob ein Fest oder eine Beerdigung sie erwartet, als sie nach vielen Jahren in ihr Heimatdorf zurückfährt. Im Gepäck hat sie nur den ausgestopften Maulwurf Herrn Klotho – das Einzige, was geblieben ist von ihrer wundersamen Freundin Tanja, mit der sie vor über dreißig Jahren das Abenteuer des Erwachsenwerdens antrat. Tanja, die Rebellische, die mutig und mühelos alle Grenzen im Dorf überschritt und die Kinder zu bizarren Unternehmungen anstiftete. In der Erinnerung wird noch einmal die gemeinsame Kindheit lebendig, die die Erzählerin bis heute prägt: das Ulkige, Verrückte, Grobe des Dorfes, Bauernschläue und vor allem Tanjas magische Sicht auf die Welt. Und sie versteht jetzt, weshalb ihre Freundin damals so plötzlich verschwunden ist.

Kerstin Brune legt mit großem literarischem Gespür und kraftvollen Bildern einen virtuosen Roman über zwei ungleiche Freundinnen vor. Ein Buch voller Skurrilität und Weisheit, Humor und Poesie.

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Von der Tragik, aber auch der Komik des Aufwachsens in der tiefen Provinz – ein virtuoses literarisches Debüt!

Die Erzählerin weiß nicht, ob ein Fest oder eine Beerdigung sie erwartet, als sie nach vielen Jahren in ihr Heimatdorf zurückfährt. Im Gepäck hat sie nur den ausgestopften Maulwurf Herrn Klotho – das Einzige, was geblieben ist von ihrer wundersamen Freundin Tanja, mit der sie vor über dreißig Jahren das Abenteuer des Erwachsenwerdens antrat. Tanja, die Rebellische, die mutig und mühelos alle Grenzen im Dorf überschritt und die Kinder zu bizarren Unternehmungen anstiftete. In der Erinnerung wird noch einmal das lebendig, was sie bis heute geprägt hat: das Ulkige, Verrückte, Grobe des Dorfes, Bauernschläue und vor allem Tanjas magische Sicht auf die Welt. Und sie versteht jetzt, weshalb ihre Freundin damals so plötzlich verschwunden ist.

Kerstin Brune legt mit großem literarischem Gespür und kraftvollen Bildern einen virtuosen Roman über zwei ungleiche Freundinnen vor. Ein Buch voller Skurrilität und Weisheit, Humor und Poesie.

Kerstin Brune, geboren 1979 in Gütersloh, studierte Philosophie und Germanistik. 2015 war sie Twitter-Kolumnistin des ZEITmagazins (»Große Pause«), im darauffolgenden Jahr erschien ihr mehrseitiger Artikel »Das wirklich wahre wilde Leben« im ZEITmagazin. Seit vielen Jahren unterrichtet sie als Lehrerin an einem Gymnasium. »Die Jahre des Maulwurfs« ist ihr erster Roman.

www.penguin-verlag.de

KERSTIN BRUNE

DIE JAHRE DES MAULWURFS

ROMAN

Dieses Buch ist ein Roman. Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen wäre reiner Zufall.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2022 Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Sabine Kwauka

Coverabbildung: © shutterstock/Hein Nouwens München

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN978-3-641-27386-6V003

www.penguin-verlag.de

KAPITEL 1 Der Tisch der Träumenden

»Einen toten Maulwurf unter die Erde zu bringen, heißt, ihn für lebendig zu halten!«

Das hatte Tanja immer gesagt.

Am Tag, als sie verschwand, stand ich mit dem klitschnassen Tier im Schrecklichen Wald, der das Dorf zu allen Seiten hin umschloss wie eine schwer duftende Mauer. Allein gelassen. Über uns kreisten die Krähen, die mit niemandem sprachen. Das hier war kein Märchen.

Im Dorf nahm man die speckigen Mützen ab, und zwei Polizisten durchsuchten tagelang Heuschober, Baumkronen und ganz besonders die Gegend um den Tresen der Dorfschenke Zum Ochsen, um ihr Frischgezapftes nicht allzu lange aus den Augen zu lassen.

Die stiernackigen Bauern verfolgten diese Suche wie ein altes Ritual. Es war ja nichts Besonderes, dass Tanja verschwand – sie war immer mal wieder wie vom Erdboden verschluckt gewesen. Doch dieses Mal war ich mir sicher, dass es keine ihrer Launen war, die sie durch ihr Dasein schleuderten. Es hatte einen Schnitt gegeben.

Ich lehne meine Stirn gegen die Scheibe des Busses. Betrachte, wie die Klimaanlage das räudige Fell des Maulwurfs spreizt. Egal, wie man ihn dreht: Sein Pelz lässt sich glatt in jede Richtung streichen.

»Damit kann er einfach immer rückwärts überallhin zurück, ohne dass was hängen bleibt «, hatte mir Tanja erklärt.

Darin war sie eine Meisterin gewesen. Sie konnte alles gehen lassen, abschütteln und der Vergangenheit eine wunderbare Weichheit geben.

Ich nicht. Verklumpte Gefühle begleiten die Erinnerung an unser Dorf, hart und hinderlich wie die Knoten, die ich ständig im Springseil hatte, während die schöne Verena vorm Pfarrhaus zwischen den Jungen sprang und ihnen allen den Takt vorgab.

Jeder Baum, der draußen vorbeistreicht, ein kleiner Widerhaken, je näher ich dem Dorf komme. Je näher ich Tanja und mir komme, zwei kleinen Mädchen, die sich nachts im Feld auf den Rücken legten, den kalten Wind in den Haaren, um einen dieser Sterne zu entdecken, die es schon lange nicht mehr gab, nur noch sein ewiges Licht.

Manchmal sahen wir einen, Tanja pfiff dann durch ihre große Zahnlücke und zeigte begeistert nach oben. Er flackerte hinter den Bäumen und dunklen Höfen.

Wie das Video, das Opa heimlich von meiner Konfirmation gemacht hatte: zitternde Schatten, schwarze Umrisse, manchmal ein weit entferntes Licht ganz vorne am Altar, wo Pastor Pilz’ Stimme zu hören war, hoch und leise: »Der Herr ist dein Hirte.«

Der Heilige Geist war nicht mit drauf.

Ich habe Tanja genauso wenig unter die Erde bringen können wie diesen Maulwurf. Seit dreißig Jahren sehe ich sie vor mir, stolz und mit riesigen Löchern in der Hose. Diese Reise heute bringt mich zu einem Fest – oder einer Beerdigung.

Was von beidem – das liegt hinter den letzten Häusern der Stadt, wo sich in diesem Augenblick die Sonne über die Dächer hebt, um einen besseren Blick über die Schlange von hupenden Fahrzeugen auf der Autobahn zu haben, die hinter dem umgekippten Transporter stehen. Endlose Reihen bis zum Horizont, gleich dem Mais, der das Dorf im Spätsommer säumte.

Sie schaut in die Fahrzeuge hinein, die Leute kneifen die Augen zu und klappen die Blende herunter. Vielleicht ist es ja das restliche Licht der Sonne, die damals in der allerersten Stunde des Herbstes erlosch, als ich Tanjas Maulwurf Herrn Klotho im tosenden Fluss fand. Ich darf nicht zu spät kommen, nicht heute. Davon hängt alles ab. Wird Tanja da sein?

Der Busfahrer dreht am Lenkrad herum, als würde er in einem Topf Angebranntem rühren. Ein Stück vor uns liegt der vergitterte Laster ohnmächtig auf der Seite. Röchelt im eigenen Dreck, auf der Fahrbahn große Hügel, eine Maulwurfstraße.

Von ihrem Glück überrascht, flitzen Legehennen unter der Leitplanke durch, über die Raststätte hinein in den angrenzenden Wald. Sie freuen sich, denken: Das war so nicht geplant, wir sind fremd im Wald. Gitterstäbe kennen wir, aber Bäume sind ja auch Stäbe, das müsste also gehen. Sie kratzen aufgeregt in den neuen Gerüchen von Tannenzapfen, Beeren und Freiheit, ihr Leben nimmt Fahrt auf, während unser Bus in den Rastplatz abbiegt.

Das Tier auf der rechten Spur ist kaum unter den Rädern zu spüren, als der riesige Doppeldecker versucht, sich an dem Transporter vorbei in die kleine Abzweigung zu schieben.

»Abfahrten bedeuten immer was Gutes!«

Cem hinter mir ist plötzlich wach, und auch die anderen Kinder springen von ihren Sitzen auf. Sie haben das Leuchtsymbol hinter den Bäumen gesehen.

Die Bustür schwingt auf, Füße scheppern auf den Stufen. Der gepfählte Buchstabe eines Fast-Food-Restaurants zieht die Schüler an, wie keiner von Goethe es je getan hat. Hätte der nur große Ms geschrieben – er wäre ihr Held gewesen. Tja, Goethe. Der Busfahrer lehnt sich in seinem Sitz zurück und dreht die Musik lauter, »Live to Tell«, Madonna.

Die Hühner zu unseren Füßen picken alte Pommes zwischen Parkmarkierungen auf. Sie spiegeln sich im tiefen Fenster des Restaurants. Es sieht aus, als seien es die Geister der Artgenossen, die drinnen auf dem Grill liegen.

Ein Stall für tote Tiere zwischen Brötchenhälften. Und tote Tiere erinnern mich immer an zu Hause. Die Kinder schreien lautlos hinter der sauber geputzten Scheibe. Ein junger Mann mit Namensschild beugt sich zu ihnen.

Tanja hätte jetzt die Nase mit der kleinen Delle im Rücken platt gegen das Glas gedrückt wie damals gegen die Fenster des Gemeindesaals, in dem Sommer, von dem ich nun weiß, dass er der schönste Sommer der Welt gewesen ist.

Sie wäre in den Laden hineinmarschiert, hätte die Burger mit ihren breiten Ringen aus Salat und Tomaten vom Tresen genommen und umeinander kreisen lassen wie Planeten.

»Das Universum besteht im Großen und Ganzen aus Käse.«

Dann hätte sie den ersten mit zwei Bissen verdrückt.

»Erloschen – war aber auch schon wirklich alt.«

Die Thekenkraft hätte beschämt ins antike Frittenfett gestarrt.

»Das mit dem Käse ist doch Quatsch, Tanja!«, hätte ich gesagt.

»Kein größerer Quatsch als die Wirklichkeit, gehirnlogisch!«

Dann hätte sie rasselnd gelacht und der Eichelhäher im Baum getanzt. Ich beneidete sie um ihre verrückte Welt.

Die Schüler sind jetzt älter als Tanja damals.

Ich frage mich, ob sie Fan von hartem Rap gewesen wäre, der aus der Boombox an Cems Handgelenk dröhnt – wahrscheinlich schon, sie hatte nie leise gesungen, und all das, was niemand anderes hätte zusammenbringen können, hatte sich bei ihr aufeinander gereimt. Sie hatte immer eine wundersame Verbindung zwischen den Dingen gefunden.

»Können wir das eine Huhn da reintun und begraben?«

Cem hält eine ketchupverschmierte Chicken-McNuggets-Schachtel hoch. Aida hat dazu ein Kreuz aus Eisstielen gebastelt, »Armes Huhn« steht darauf.

Ich schüttele energisch den Kopf, und die Kinder rennen rüber zu meinem Kollegen Herrn Wippenberg, um ihn noch mal dasselbe zu fragen. Die Polizei sperrt jetzt die Autobahn jenseits der Bäume, die das Pommesidyll vom Spielplatz deutscher Autofahrer trennen. Das kann noch dauern. Ich fege einige Zigarettenstummel zur Seite und lege mich ins Gras. Der Sonnenball kippt über mich. Jetzt schon ist es unerträglich heiß und hell, dabei ist erst Vormittag.

Ich blicke in den Himmel und höre die Amseln lachen. Wolken voller Gestalten ziehen über mich, als ich die Augen schließe.

*

DREISSIG JAHRE ZUVOR

»Wolken sind Wasserdampf, der aus dem Schweiß und dem Atem aller Lebewesen besteht, gehirnlogisch!«, haspelte es in meinem rechten Ohr, um das sich der Bügel einer Kinderbrille bog.

Ich öffnete die Augen und starrte das seltsame Mädchen an, das auf einmal neben mir im Gras lag und in den Himmel zeigte. Ich hatte sie noch nie gesehen. Ihre roten Haare leuchteten so stark, dass ich die Augen zusammenkneifen musste.

Sie zog sie beim Sprechen wie ein Fischernetz über die Wiese und hatte bereits einen beträchtlichen Fang an Grashalmen und Schotter gemacht. Die Strähnen sahen nicht aus, als würde sich das Licht auf ihnen brechen, sondern vielmehr, als würden sie es aussenden. Und sie brauchten dringend mal einen Kamm!

Das Mädchen streckte seinen Arm aus, verwirrte meinen sauberen Scheitel und legte eine raue Hand unter meine Wange. Ihre Finger rochen nach Rauch und Staub, nach Erde und Blumen. Sie waren nicht weich wie die von Kindern, die Dinge noch staunend und zart in den Handflächen trugen, sondern feucht, kratzig und voller Furchen.

Sie erinnerten mich an Würmer, die hier immer mal wieder aus der Erde sahen und gleich entschieden, dass sie genug gesehen hatten. Sie drehte mein Gesicht zurück nach oben.

»Am Himmel sammelt er sich in einer Bilderschicht, und der warme Dunst verwandelt sich für eine Sekunde in ihre allergeheimsten Wünsche.«

Ich hatte sie nicht einmal kommen hören, obwohl ich – die Augen hinter den dicken Brillengläsern geschlossen – jedes Piepsen der Amseln genau wahrnahm. Ich traute mich nicht, ihr den Kopf erneut zuzudrehen, und schielte stattdessen nach unten.

Das Mädchen hatte seine ausgelatschten Turnschuhe einfach von den Füßen gestreift. Ihre Farbe konnte man kaum erkennen, die Schnürsenkel fehlten, und die leeren Löcher zu beiden Seiten der Lasche sahen aus, als seien sie dazu da, die Schuhe in einem Ordner mit der Aufschrift »Uralt« abzuheften.

»Die Sonne kann sie auflösen, aber das brennt tierisch. Der Dampf fliegt stattdessen weiter hoch ins Weltall und kreist für immer um die Erde, wo die Wünsche die Welt immer dicker einhüllen und schwerelos werden, damit sie nicht mehr wehtun können. Guck!«

Das Kind holte rasselnd Luft und pustete durch die riesige Lücke, die zwei fehlende Milchschneidezähne als Platzhalter für die Pubertät dagelassen hatten.

Spucketröpfchen lösten sich von ihren Lippen mit weißen Streifen darauf, die sich ein wenig abpellten. Sie erinnerten mich an Mandarinenstücke.

»Siehst du? Das bin ich – auf einem Seil!«

Sie deutete mit ihrer Hand, an der ordentlich viel Erde klebte, weiter in die Höhe. Ich strengte mich an, in den dicken Sommerwolken, die träge am warmen Himmel hingen, irgendetwas zu erkennen, das annähernd aussah wie eine Zirkusartistin mit roten Haaren.

Ich sah nichts, selbst die Sonne – wo war die Sonne, die gerade noch schräg über mir gestanden hatte? An ihrer Stelle ein blauer See, auf dessen Rändern sich langsam weiße Wolkentürme zusammenschoben. Ich wollte mich wieder den Amseln widmen, die ein herannahendes Gewitter herbei­sangen.

Ein Vogel pfiff, der andere antwortete. Erst klang es wie ein Streit, doch beide Gesänge wurden immer ähnlicher – dann auf einmal: nichts mehr. Sie hatten aufgehört, einander etwas zu erwidern.

»Ist die andere Amsel jetzt wohl traurig?«, überlegte ich.

»Nein, sie kann gar nicht traurig sein, denn sie haben sich alles gesagt. Jetzt kann sie es anderen weitererzählen!«

Ich starrte in den Himmel.

»Vögel zwitschern deshalb immer so fröhlich«, fuhr das zottelige Wesen ungerührt fort und kratzte sein Bein durch ein großes Loch am Oberschenkel der braunen Hose, »weil sie durch die Träume der Menschen hindurchfliegen und davon naschen.«

Ich betastete meinen Kopf vorsichtig nach einer gläsernen Stelle, durch die sie meine Gedanken sehen konnte. Vielleicht hatte Dirk Deiwels Schlag gestern meinen Schädel durchsichtig gemacht?

Das Mädchen breitete die verdreckten Ärmel seines viel zu großen Kapuzenpullis aus und schwang sie auf und ab, dass das Gras knisterte. Mit Filzstift hatte es eine Art Federn oder Schuppen auf den linken Ärmel gekritzelt.

Gleich beim ersten Aufschwung ihres Armes rutschte etwas Schwarzes aus der Tasche: ein Maulwurf. Ein echter, mausetoter Maulwurf. Pechfarben und mit einem roten Halsband um den Kopf, an dem ein Glöckchen baumelte und wie wild klingelte.

Wie eine Gestalt aus dem Friedhof der Kuscheltiere, den ich eine Woche zuvor heimlich aus dem Bücherschrank meiner Eltern gezogen und eine halbe Stunde später zitternd wieder hineingeschoben hatte.

»Der hat irgendwas gesehen!«

Das Mädchen kraulte das dumpfe Fell, aus dem weiße Wölkchen staubten. Ich starrte das unförmige Tier an. Es war tot und blind, wobei ja jeder weiß, dass man nur entweder blind oder tot sein kann, aber der Maulwurf war beides.

»Er sieht mit der Nase!«, tönte es neben mir, und als ich das Tier wieder ansah, war diese Nase mir zugedreht.

Sie war ledern und verschrumpelt, die winzigen Augen saßen ein wenig schief im Kopf.

Das wilde Kind steckte das Tier zurück in seine Tasche und fuhr ungerührt fort: »Die Träume setzen sich im Gefieder der Vögel fest und kommen so wieder auf die Erde, damit wir sie nachts noch manchmal glänzen sehen können, gehirnlogisch!«

Die seltsamen Sätze rauschten in meinen Ohren. Die anderen Kinder waren nur noch wie durch Watte zu hören. Ich versuchte, sie zu sehen, aber über meinen Augen schwebten Finger, an deren Ende schrecklich dreckige Nägel saßen.

Sie wurden groß wie die Greifkralle eines Autokrans, und bevor ich mein Gesicht abwenden konnte, zogen sie meine Brille nach oben von meinen Ohren. Das Mädchen drehte sie zu sich, als würde ein Unsichtbarer sie anstarren. Sie bewegte tonlos die Lippen.

Und bevor ich mich rühren konnte, bog sie die Bügel um 180 Grad nach hinten und setzte das Gestell verkehrt herum auf meinen Kopf zurück.

Die Wolken waren plötzlich ganz weit weg, die Bäume klein und zu Kugeln gekrümmt, als wäre ich im Weltraum, nur von unten. Kilometerweit weg. Aber ich fühlte den Flügelärmel noch genauso nah.

Die Hand, mit der ich sie hatte abwehren wollen, hielt sie mit ihrem Ellenbogen auf die Wiese gedrückt. Nicht fest, aber bestimmt.

An ihrem Handgelenk, das jetzt nahe vor meinen Augen schwebte und doch unendlich weit weg, pappte eine Margerite, die sie sich mit einem Zopfgummi am linken Arm befestigt hatte.

So viel konnte ich durch die geteilten Gläser, auf denen ihre Finger fettige Spuren hinterlassen hatten und die jetzt alles in ein glänzendes Kaleidoskop verwandelten, gerade noch sehen.

Ich starrte fasziniert den seltsamen Schmuck an, meine Brille machte daraus gleich neun weiße Blüten. Sie drehte die frisch wirkende Margerite zu sich. Sie sah ganz eigentümlich aus, so dicht neben ihren alten Klamotten.

»Blumenuhr«, krächzte sie stolz, als wäre das überhaupt ein richtiges Wort.

Die Blätter waren zwar rund um das sattgelbe Innere der Blüte angeordnet, aber sie bewegten sich nicht. Ich wartete fast eine Minute lang, die ich aber nicht ablesen konnte.

»Die Blumenuhr zeigt jede Uhrzeit der Welt gleichzeitig an, und sie ist sehr genau: Man kann die Vergänglichkeit der Zeit nämlich riechen und sehen.«

Das fremde Mädchen, das nicht viel älter sein konnte als ich, kannte offensichtlich viele fremde Worte.

Endlich entließ sie meinen Arm unter ihrem. Notdürftig bog ich meine Brille wieder zurecht und setzte sie auf. Das Mädchen schaute mich an. Ihre roten Haare bildeten den Rahmen für das verrückteste Gesicht, das ich je gesehen hatte: irgendwie schön – aber auf eine seltsame Art.

Es war viel konturierter als das der anderen Kinder: die rissigen Lippen, die wie eine Sprungschanze nach oben geschwungene Nase, eine kleine Delle in ihrem Rücken, darüber eine steile Falte, tief wie ein Münzschlitz.

Augen, die alle Farben in sich vereinten, und ihre kleinen Ohren waren dunkel von Sommerstaub, der von den blassen Wangen gerubbelt war und den vermutlich Regen an die hochgewölbten Ränder des Gesichts gewaschen hatte.

Das Mädchen stand auf und klopfte sich die fleckige Cordhose ab, als würde diese dadurch sauberer.

»Tanja«, sagte es.

Ich wollte etwas erwidern, aber das Mädchen war bereits ein ganzes Stück die Straße hinuntergelaufen, seine ausgelatschten Schuhe in der Hand, die weißen Beine durch die Hosenlöcher sichtbar. Sie sah aus wie ein Puzzle, in dem ganz viele Teile fehlten.

Unter ihren Fußsohlen klebten Steinchen, als sie auf einen Zaun kletterte und auf dem dünnen Holz entlangspazierte. Sie ging, als wäre es ein breiter Strand, hielt die gemalten Flügel ausgebreitet, einen speckigen Schuh in jeder Hand.

Dann ließ sie sich auf der anderen Seite ins Gras fallen, die Schafe wendeten den Kopf und blieben liegen, obwohl sie sonst bei jedem vorbeifahrenden Fahrrad aufsprangen und wie wild durcheinanderblökten.

Der Geruch von Blumen und kalten Zigaretten hatte sich verflüchtigt, die Luft schmeckte wieder warm und satt, roch nach Gras, Sonnencreme und Regen.

Unverwechselbar ein Samstag, wobei es in meinen Augen grundsätzlich keinen Sinn machte, auch in den Sommerferien Wochenenden zu haben. Die Tage waren eine lange, gerade Straße ohne Hindernisse, auf der man dahinglitt, nur durch den Gang der Sonne begrenzt.

Wir Kinder stoben jeden Morgen aus den flachen 70er-Bungalows wie Tiere nach einem langen Winter im Stall zum ersten Weidegang. Sobald die Sonne irgendwo hinter dem Schrecklichen Wald aufging und unsere Eltern die Tür öffneten, rannten wir die gepflasterten Auffahrten hinunter, schlugen uns durch Pampasgras und Rhododendronsträucher, um uns auf der sandigen Spielstraße mit Spaß und Luft vollzufressen.

Wir hörten die Trecker rattern, die Bäume rauschen und die Altherrenmannschaft auf dem Sportplatz jenseits der Hauptstraße rufen, laut und harsch. Ich konnte in ihren Stimmen hören, dass sie im Rückstand waren. Sie klangen aufgebracht wie die Krähen, die ihre Nester an den Bussard verloren.

Die staubige Spielstraße war unbefestigt wie unsere Träume. Sie war in das alte, trockene Flussbett hineingebaut worden, einen Arm des Mühlflusses, den man dem brodelnden Strom abgebunden hatte. Oberhalb der Siedlung trennte der unsere Kinderwelt vom Schrecklichen Wald.

Alle paar Jahre trat er bei Dauerregen über die Ufer, füllte das alte Flussbett, an dem nun unsere niedrigen Häuser standen, mit seinem brodelnden Blut, und die Erwachsenen schöpften eimerweise schlammiges Wasser, während wir uns freuten, einen Poolpartykeller zu haben, und darin herumwateten. Dann fiel der Flussarm zurück in eine staubige Trockenheit.

Die Bälle sprangen hier im losen Sand nur einige Zentimeter hoch, so stark ich mit meinen Sandalen auch dagegentrat. Wir stellten uns vor, wir hätten ebenfalls ein jubelndes Publikum wie die Fußballer, nicht nur Meinard und Reinhard Bovenkerk, die am Kopfende der Straße standen, einen Fuß auf die Trittbretter ihrer Mopeds gestellt, die Hände in den Taschen der Trainingsjacken, halb geöffnet über den großen Pullis.

Hinter ihnen flatterten Haare im Sommerwind, die weit bis über den hageren Nacken reichten. Auf dem Kopf waren sie kurz geschnitten – Meinards zu Stacheln, während Reinhards sich in dünne Locken legten, sobald sie die blasse Schädeldecke verließen, als wollten sie sich vor einer Gefahr ducken.

Sie starrten gelangweilt über uns hinweg, als wären wir gar nicht da, nur das Mädchen, das in den braunen Fingern mit abgeblättertem silbernem Nagellack eine Zeitung hielt. Verena, ein besonders strahlendes Exemplar aus der Gruppe der »großen Schwestern«. Die waren in der ferienwarmen Spielstraße damit beauftragt, uns Kleine im Auge zu behalten, was sie grundsätzlich niemals taten.

Sie schlugen elegant Bälle in den Himmel und streichelten Hades, den dicken Scheunenkater, der sich gegen ihre Handflächen schmiegte. Er genoss die Abwechslung von den Tritten, die er in Großbauer Deiwels Kuhstall zu erwarten hatte, wenn abends nicht genügend Ratten zusammenkamen und die sich stattdessen in den Kammern der Erntehilfen tummelten.

Ich erkannte diese Gattung Mädchen an roten Shorts, Sommersprossen auf der tief gebräunten Haut, dicken, schweren Zöpfen und einem hellen Lachen, das die Krähen aufschreckte.

Die flatterten in großen Schwärmen von den frisch eingesäten Rasen der Einfamilienhäuser auf, drehten eine Runde und ließen sich zwischen unseren rennenden Füßen nieder, wo sie hin und wieder zur Seite hopsten. Sie kannten unsere Spiele besser als wir. Wir waren auf herrliche Weise uns selbst überlassen.

Meinard und Reinhard bürsteten mit den Fingern die dünnen Oberlippenbärtchen zurecht und rückten auf ihren Mopeds näher, die sie mit ihren langen Beinen vorwärts schoben wie zwei halbstarke Weberknechte. Sie streckten ihre Hühnerbrüste heraus, zeigten wiehernd auf ein Bild und sahen zweiköpfig herüber.

Das Foto einer verdreckten Neunjährigen prangte ganz vorne auf dem Lokalteil der Zeitung. »Bruchlandung für Hofcafé Dietze!« schwebte in dicken Lettern über Locken, die sich jedem Kämmen in eine einheitliche Richtung widersetzten. Meinen Locken.

Ich fühlte es sofort wieder. Eine Mischung aus Sahne und Matsch war von meiner dicken Brille zurück in die dampfende Pfütze getropft. Als wäre ich dort ordnungsgemäß eingesät – ein kleiner, unförmiger Menschen-Setzling – , hatte ich bäuchlings in der Mitte des Dietze-Hofs gelegen. Hinter mir aufgereiht die Dorfbewohner.

Ihre aufgerissenen Münder erinnerten mich an die Fußballwand auf unserem Schulhof, auf die die Jungs schossen, obwohl sie in Wirklichkeit auf uns Mädchen zielten, um uns quieken zu hören.

Der Matsch hatte sich in der Rille zwischen Fern- und Nahsichtglas gesetzt, die man auch mit Spülmittel nie ganz sauber bekam. Für immer, dachte ich, würde nun eine sandige Linie die Dinge durchschneiden, die ich betrachtete – sie unterteilen in Nah und Weit, in Erreichbar und Unerreichbar. In Sahne und Dreck.

Ich hatte den Kopf gehoben und entsetzt in eine Kamera gestarrt. Sie lag in goldberingten Händen. Der Schatten einer riesigen Tanne hatte auf ihrem Gehäuse und über meine Arme getanzt, die im Schlamm vergeblich nach Halt suchten. Auf einem Banner, mit Strohband an der Tanne befestigt, war zu lesen: Hofcafé 1987 – Willkommen auf dem Acker.

Die Äste des gewaltigen Baumes hatten geschwankt, vor und zurück, vor und zurück, schwarze Zeiger, die Zeit war stehen geblieben, als wiederhole sich die Sekunde des Fallens bis in alle Ewigkeit, und stürzte mit dem Blitz der Kamera zusammen. Klick.

Dieses Foto, das jetzt in Verenas Hand lag, würde mein zukünftiges Ich sein, das nie alterte. Es würde sich über mein Antlitz legen, wann immer die Dorfbewohner mich ansahen, ich würde zu Papier, ein Standbild, ein Standbild des Scheiterns.

Ich senkte beschämt den Kopf, sah meine Arme über der Spielstraße baumeln, neben mir eine große Leere, durch die meine Hand hindurchschwang.

Vielleicht war es gar nicht das Gefühl gewesen, hingefallen zu sein, sondern dass mir niemand aufgeholfen hatte. Und wie das überhaupt alles passiert war, wusste erst recht keiner.

Ich hörte nur Fetzen des Halbstarken-Gelächters, die die Düsenjäger in der Luft übrig ließen. Zwischen ihren Brüchen wuchs bereits das verwaschene Grummeln der erwachsenen Bauern.

Die Scheiben in den Bungalows klirrten, und ich legte den Kopf in den Nacken, kniff die Augen hinter den dicken Brillengläsern zusammen, betrachtete die Flugzeuge der englischen Luftwaffe, die über unsere Spielstraße hinwegschossen.

Die Krähen schienen träge neben ihnen am Himmel zu stehen, dann verschwanden die Flugzeuge hinter dem Schrecklichen Wald, der Eichelhäher zeterte, und die Großväter hoben in ihren Liegestühlen kurz die Köpfe. Meinard betastete seine geschwollene Lippe, die sich rot unter dem Bärtchen hervorwölbte.

Ich wusste: Die Fäuste der jungen Kampfpiloten, die abends vor den Kneipen der nahen Stadt sangen, etwas besser als Pastor Pilz – das musste man immerhin zugeben – , waren wieder härter gewesen als die von Meinard und Reinhard.

Beide Gruppen kamen stets frisch aus dem Feld, die Briten aus dem Irak, die Bovenkerk-Jungs aus den Ackerbohnen, und Meinards Augen waren schon zugeschwollen, noch ehe er das Moped überhaupt richtig geparkt hatte.

»Zehn Kerle, die … wollten heute Nacht die Ponyszz am Deiwel-Hof stabitszzen!«, hörte ich Meinard zu Verena sagen.

Ich konnte jedes einzelne Spucketröpfchen hören. Ich fragte mich, was die Mädchen an ihm fanden, wobei die Partnerwahl hier auf dem Dorf ja so leichtfiel wie das Aussuchen eines warmen Pullis an einem Wintertag, wenn sonst nur T-Shirts zur Auswahl standen: Wärmen sollen sie, die Ehen, praktisch sein und lange halten – da war das Muster der oberen Zahnreihe ja egal.

Das mussten zehn verwegene Kerle gewesen sein! Der Koloss Deiwel fuhr jeden Morgen die Grenzen seines Ackers ab, die gleichzeitig die Grenzen des Dorfes waren. Er zählte seine Schafe, seine Kirschbäume und die prächtigen Tannen, von denen jedes Jahr eine der Weihnachtsbaum in der Kirche war, die Hosenträger in den Kniekehlen, die Flinte neben sich im riesigen Traktor, der so rasselte, dass sich immer wieder ein Schuss löste und der Schrot das Dach durchschlug, manchmal ein Täubchen erwischte und die Sonne dann braune Punkte auf seinem Stiernacken hinterließ.

Er klopfte sich das Pulver vom Revers und ließ sich aus dem Führerhaus zu Boden sacken, wo kleine Krater zurückblieben. Er rüttelte an den Steinen der alten »Stadtmauer ohne Stadt«, damit niemand vom Rand der Welt fiel, steckte hier einen Zaunpfahl um, warf da einen Sack über die Hecke. Dann dröhnte wieder der Trecker, der war so alt, den hatte der liebe Gott vergessen, und alle paar Wochen landete er in irgendeinem Garten, wo die Brötchen flogen und die Butter ein Reifenmuster hatte, oder ragte mit der Schaufel aus einem Graben.

»Besser schlecht gefahren als gut gelaufen!«, brummte er, wenn seine Frau mit dem alten Esel Nabucco am Halfter kam, die Seidenschürze hochgerafft, als sie ihn vor den Trecker spannten.

Das zähe Tier schüttelte den Kopf. Kein anderer hätte Deiwel gegenüber den Kopf geschüttelt. Dem Großbauern gehörte das Dorf, die meisten Felder und die Straßen, an denen unsere Einfamilienhäuser standen.

Sein Hofgebäude überspannte die einzige Straße, die in den Ort hinein- und aus ihm herausführte. Niemals hätte jemand auch nur einen Grashalm berührt, wenn er oder sein Rottweiler Bruno in der Nähe waren. Geschweige denn eins der zotteligen Ponys genommen, die er Metzger Stopf abgeschwatzt hatte, um Springpferde aus ihnen zu machen, für die die Leute in der Stadt viel Geld bezahlten.

Verena betrachtete zärtlich Meinards lädierte Kauleiste und hob einen silbernen Zeigefinger, um seine aufgesprungene Lippe zu betasten, als es hinter uns hupte und der rote Alfa Spider mit silbernen Zierleisten durch den Staub der Spielstraße rollte.

Sie drehte den Kopf, und ihr Lächeln wurde noch breiter. Auf diesen Moment hatten wir insgeheim alle gehofft, Verena offensichtlich noch ein bisschen mehr als wir anderen. Sie wirbelte herum und klopfte sich schnell den Sand vom T-Shirt.

Albrecht winkte mit beringter Hand, als wir zur Seite sprangen und uns an der Linie aus Tannennadeln aufstellten, die bei jedem Wind herunterregneten und die Grundstücksgrenzen markierten – ein Spalier aus bunten Hosen und schlappen Fußbällen.

Seine getönte Pilotenbrille blitzte in der Sonne, und ich konnte sogar durch die Scheibe seinen Mantel riechen – er roch nach Zigarrenrauch und Churchills Parfüm. Nach Premieren und Abenteuern.

Das Abbild dieses Mantels stand im Dorf noch tagelang in der Luft, wenn der berühmte Reporter schon längst weitergezogen war, um in Berlin oder London Dinge auf kleine Zettel zu schreiben, die er dann in eines der zahllosen Täschchen steckte, die rund um seinen Körper angebracht waren.

Dort wuchsen sie zu einem Text für die Zeitung heran. Die lag dann morgens auf dem Frühstückstisch. Meine Eltern filetierten sie wie einen sehr guten Fisch, lösten Sport, Politik und Lokales aus und stellten den abgelegten Teil »Buntes aus aller Welt« als Zelt über mich, verwundert, wie mich das jahrelang vergnügte.

Ich erinnere mich daran wie an eine Zirkuskuppel, den Rücken in den weichen Teppich gedrückt. Wesen in Frack und Ballkleidern schwangen hoch über meinem Kopf.

In ihren Gläsern und Ohrringen konnte man blitzende Scheinwerfer erahnen. An den entscheidenden Stellen sahen sie ganz anders aus als die Menschen im Dorf: Roben, die sich nicht für ungeteerte Straßen wie diese hier eigneten, oder für Arbeit. Arme ohne Druckstellen von Körben und Heuballen, in der Hand statt Schaufel und Mais dünne Gläser und dicke Blumensträuße ohne landwirtschaftlichen Nutzen. Und ihre Mundwinkel zeigten immer bergauf.

Ich bewunderte, wie sie den Crémant aus Champagnerflöten in die spitzen Münder flößten, ohne einen Tropfen zu vergießen, während im alten Ochsen selbst ellenbreite Kiefer und saugfähige Bärte nie verhindern konnten, dass immer ein Teil des Bieres auf lehmigen Lätzen landete. Wenn die Bauern schwiegen, röhrten oder blafften, jonglierten sie mit funkensprühenden Sätzen. Wenn diese Menschen fielen, dann mit einem Tusch, einem Knall aus Musik und Feuerwerk, der so ganz anders war als der Dreck, der flog, als in Bauer Dietzes Scheunencafé auf unerklärliche Weise die Gülle-Explosion über den Gästen zusammenschlug.

Wir liefen hinter dem glänzenden Wagen her. Ich starrte auf das Kennzeichen, BN für Bonn. Er beschleunigte und bog an der Kreuzung in die Hauptstraße ab, die als einzige geteert war und das Dorf in zwei Hälften zerteilte – im Zentrum der einen stand die Kirche, in dem der anderen der Ochse.

Ich blieb stehen und sah die schnurgerade Fahrbahn hinab, die an Deiwels Burgtor begann und in einem weißen Brunnen endete. Dahinter ragte der Schreckliche Wald auf, der das Dorf zu allen Seiten hin umgab.

Der Wald hielt Felder, Schafweiden, zwei Gutshöfe und ein paar kleinere Gehöfte, Wohnstraßen, den Kirchplatz und den Marktplatz, auf dem ein bronzener Esel stand, mit rauschender Faust umklammert. Nichts drang herein, nichts heraus, und wer einmal herkam, der wollte nie wieder weg.

Der Wald war so dicht, dass selbst die Rehe erstaunt vor der grünen Wand stehen blieben. Sie war das Letzte, was sie sahen, bevor Großbauer Deiwel das Schlafzimmerfenster öffnete und die Schrotflinte anlegte, die Kaffeetasse in der anderen Hand.

Albrecht hielt unter der gewaltigen Eiche vor dem Ochsen.

Wir schritten auf das schiefe Gebäude zu, das für mich nie ein Innen gehabt hatte, denn man konnte nicht hineinsehen – die Scheiben waren bunt und gewölbt, dazu staubig wie meine Brille nach einem Sommertag wie diesem.

Das Licht, wenn es welches gab, musste so düster sein, dass es nie nach außen drang. Ursprünglich war der Ochse wohl eine Scheune gewesen, denn die einzige Tür zum Gastraum war in ein großes, altes Tor eingelassen, das weitgehend von der riesigen Eiche versperrt wurde.

Sie musste mehrere Hundert Jahre alt sein, und ihre Krone verschwand im Nebel, wenn ich auf dem Schulweg hinaufsah. Ihre Äste hingen schwer herab, und die krummen Gestalten, die vom Fußballplatz gehumpelt kamen, spannen den wunderschönen Alfa Spider sofort mit ihren Blicken ein.

Ihre Nasen leuchteten mit dem feuerroten Lack um die Wette. Es waren die Altherren, ehemalige Sportgrößen des Dorfes mit vom Handball zertrümmerten Augenhöhlen und vom Turnen versteiften Knien, deren größte Trainingsleistung jetzt das Halbzeitbier und das Reduzieren der Eigentore war, weil sich das Feld so schnell drehte, dass das gegnerische Tor ständig die Seiten wechselte.

Und bevor sie durch den Kneipeneingang verschwanden – dem einzigen Tor, das sie immer zuverlässig trafen – , drückte ihr Trainer, den alle nur Kimme nannten, Albrecht eine große Tüte in den Arm, aus der ein Schinkenknochen ragte. Noch auf die Entfernung konnte ich Albrechts blendend weiße Zähne sehen.

Verena schubste mich von hinten vorwärts.

»Los, ich hab was vergessen!«, sagte sie und kramte im Gehen Münzen aus ihren Shorts, wie immer die da noch reingepasst hatten.

Meinard und Reinhard schoben missmutig ihre Mofas mit und postierten sich rechts und links neben der Tür der Kneipe, durch die Verena mich bugsierte.

Dunkelheit klebte vor meiner Brille, undurchdringlicher als die Pflaster, die mich nach einer Schieloperation wochenlang dem Gespött der Dorfjugend ausgesetzt hatten.

Es war nachtdüster und roch schwer und sauer nach Holz, Qualm und Bratfett. Um mich herum klirrten die Gläser, und die Teller klapperten, obwohl sie so schmierig waren, dass unter ihnen eine Art Filz die Geräusche dämpfte, wenn der Wirt sie mit seiner verkrümmten Hand vor die hungrigen Bauern stellte.

Das Scheppern der Teller war die einzige Orientierung im dicken Rauch der Pfeifen, die sie zum Mund führten. Er quoll statt Worten aus ihren grauen Bärten in Gesichtern, die die schwere Feldarbeit abbildeten. Lebenslandschaften aus Wellen und Wülsten, stacheligen Haaren, hellrote Panzer für ihren Kampf gegen die Natur und die Sonne. Schaumränder um den Mund.

»Und, wie viele Litter hattet ühr?«, fragte das Dunkel, als die Tür zufiel.

»Eine Tasse … Kakao?«, stammelte ich.

Ich hatte oft belauscht, dass das die einzige Form von Begrüßung war. Literzahlen bestimmten das Bauernglück – Regen, Milch und der Schnaps. Die Männer scheuten die Unterscheidung zwischen Du und Sie, deshalb sagten sie immer »Ihr«. Die Menschen auf dem Dorf waren einander so nah im Schicksal und doch jeder für sich.

An der Theke schwoll Deiwels Rücken, Pulverdampf um den gepunkteten Nacken. Er bewölkte die beschneiten Hirsche auf dem Ölschinken über der Theke, die Tierköpfe, die überall aus der Wand starrten, als stünden die Waldbewohner um die Schenke herum und wärmten sich die abgewetzten Schnauzen im Gastraum. Die Kleinbauern schielten nach Deiwel wie die Schafe nach dem Hofhund.

Verena wies mich stumm an, mich an den Tisch in einer Nische ganz hinten unter dem winzigen Fenster zu setzen. Vorsichtig tastete ich mich darauf zu, angestrengt, mir nicht die Füße im Dunkel zu stoßen. Mir war, als watete ich durch schwarzes Wasser, die Strömung zog mich zu dem fast versteckt stehenden Möbel. Ich starrte auf das kleine Fenster in der Wand darüber.

Es war ein seltsamer Fremdkörper in der Düsternis und leuchtete in allen Farben. Das satte Nachmittagslicht blieb in den struppigen Köpfen der Tannen hängen, nur der Rest brach durch dieses speckige Buntglas direkt über meinem Kopf.

Der Lichtkegel wälzte sich in Zeitlupe mit Locken aus Qualm quer durch den Schankraum. Das Fenster, sagte Pastor Pilz, leuchte genau die Minuten lang, in denen der Alkohol den Menschen guttat: der winzigen Zeitspanne zwischen zu wenig und zu viel, die die Gestalt neben mir längst überschritten hatte.

Beinahe berührte ich ihr hartes Haar. Es kräuselte sich auf dem Tischtuch, und ich musste an Sägespäne denken, deren Farbe es ungefähr besaß, als habe man ihr die Locken vom Kopf gehobelt und dafür tiefe Falten in die Stirn gekerbt.

»Die dräumt wieder von den Ochsen«, brummte die hagere Gestalt am Nebentisch.

Dann war sie wahrscheinlich eine Melkerin, die hier schlief, die Arme ausgestreckt zwischen Speisekarten und allerlei Zeug, das auf dem Tisch lag und zur täglichen Aufführung der Kneipe diente.

Eine Sakristei mit einer betrunkenen Maria. Sie schnarch­te, und ich versuchte, mich nicht zu bewegen.

»Nicht einschlopen.« Er grinste, und ich erkannte Altbauer Dietze, den Verrückten, der nach dem frühen Tod seiner Frau aus seinem Hof am anderen Ende des Dorfes in den Ochsen gezogen war.

»Wer am ›Tisch der Träumenden‹ einschlopt, der kummt nich zurück!«

Der Bauer versank wieder in sich.

Ich rückte ein Stück von der Träumenden weg. Sie roch wie der Pinselreiniger auf meinem Schreibtisch, und sie musste viele Pinsel gereinigt haben. Ich sah mich nach Verena um, die sich mit ihren roten Shorts zwischen den Bauern und Altherren hindurchschob.

Unter dem gelben Tischtuch, das vermutlich einmal weiß gewesen war, stieß ich mit den Sandalen an Dinge, die man abends daruntergefegt hatte. Mit einem züchtigen Schlitz in der Mitte hing es bis auf den Boden hinab, fast wie ein Vorhang oder das Kleid einer ziemlich schmutzigen Jungfer, die ich nach meiner Bauchlandung im Matsch irgendwann ganz sicher werden würde.

Nicht so wie Verena, die Tochter des Hausmeisters und Küsters Hackholz, der die Bauern nachblickten. Ich traute mich kaum zu atmen. Vor Scham und weil man den Geschmack von Zigarettenrauch, Pfeifentabak und Bratfett noch tagelang auf der Zunge trug.

Aber so schmeckte Erwachsenwerden nun mal, dachte ich, da musste man sich wohl dran gewöhnen.

Das bunte Licht fiel auf Verenas Rücken, als sie mit dem Zeitungsartikel an der gedrechselten Theke stand, vor Al­brecht, dem großen Albrecht, der ihn aus ihrer Hand nahm. Er zwinkerte Verena zu und hielt ihn gegen das bunte Fenster.

»Nur Brigitte Bardot hat mich noch größer angeschaut!«, dröhnte er. Ob er das Bild oder Verena meinte, war von hier aus nicht zu erkennen.

Die Männer hoben ihre Gläser mit zwei Fingern, als wäre es Dom Pérignon in einem Strandcafé an der Côte d’Azur.

»Auf die Bardot!« Verena strahlte.

Albrecht stieß sein Glas galant gegen die erhobenen, tippte es grinsend gegen Verenas Stirn, die rot wurde wie ihre Hose, und zum Schluss gegen die wuchtige Schreibmaschine, die vor ihm auf der Theke stand.

Verena strich mit einem silbrigen Finger über den Bügel und betrachtete ehrfürchtig das riesige Gerät mit seinen fein aufgehängten Ärmchen. Unzählige Geschichten von Prominenten und Adeligen hatten sie bereits umarmt. Dann griff sie in ihre Tasche und reichte dem Wirt die Münzen.

Er schob ihr eine Schachtel Zigaretten hin, »Grüße an den Vater « konnte ich hören.

Die traute sich ja was! Ich kniff die Augen zusammen. Von hier aus konnte ich nur ein Stück von Albrechts weißem Anzug sehen. Das nach hinten gekämmte schwarze Haar mit den versilberten Schläfen überragte die speckigen Hüte der Bauern.

Der Wirt verschwand völlig hinter dem riesigen Mann. Aber ich wusste, was er tat: Er befestigte den Artikel über das Große Unglück im Hofcafé Dietze an der Vitrine neben den anderen Werken Albrechts: Gottschalk wackelte mit den Papierlocken, und Kohls Augen schienen zu zwinkern, jedes Mal, wenn die Tür des Ochsen sich öffnete und die sauber ausgeschnittenen Artikel hochflatterten.

Albrechts Schreibmaschine war sogar größer als die Registrierkasse, in die der Wirt Verenas Münzen legte. Albrecht rückte sie zurecht, um heute die gedanklichen Ersparnisse der Bauern entgegenzunehmen, jedes Wort bare Münze, und sei sie noch so klein.

Die Schreibmaschine stand bereit, um von uns zu berichten, um der Hähnchenausstellung, dem Turnverein und dem Landfrauenbasar ein bisschen von ihrem Glanz zu geben.

Um Bauer Deiwel zu huldigen, der mit dem gottvergessenen Trecker zum Bauamt und bis vor den Schreibtisch des Landrats gefahren war, weil die Preise für Schnaps stiegen, während die der Milch fielen, die wir Kinder in frisch gespülten Gläsern bei ihm abholten, im größten Hof, der den Dorfeingang bewachte.

»Wenn de verdammten Viecher Zielwater geben täten, dann wär ich de Könning. Un dann hätt unser Kimme heute alle vom Platz gefeet, ne!«

Er schlug der Gestalt neben sich auf die Schulter. Dabei segelte ein langes Papier aus Deiwels Latzhose und blieb unter seinem Stuhl liegen.

Kimme, ein breiter Kerl mit früher Glatze, als habe sein Haar schnell gemerkt, dass nur er bestimmte, was wo zu stehen hatte, wurde von allen im Ochsen so gerufen, weil er beim ersten staubigen Sonnenstrahl in einer knappen Leinenhose am Tresen erschien und einen Platz gleich vorne auf dem Barhocker einnahm, sodass der Blick jedes Hereintretenden unweigerlich in die tiefe rückwärtige Klamm fiel und dort elend starb. Man sagte, er habe früher Gläser gegessen.

»Musse nur gut kauen!«, brummte er.

Jetzt starrte er wütend auf ein Pilsdeckchen für das verlorene Fußballspiel auf dem Tresen. Er hatte die Aufstellung und Laufwege gestern Abend darauf gemalt.

»Das war Schiebung!«

»Aber tausendprozentig!«, bestätigte Tausend, eigentlich Josef, aber von allen Tausend gerufen, weil alles in seinem Le­­ben Tausendstück und tausendfach war: Er musste Menschen immer alles tausendmal sagen, hatte tausend Ideen, rief über den Tag tausendmal »Potztausend!« und tausend Dinge mehr.

Auf sein Konto hatte sich diese Eigenschaft allerdings nicht ausgeweitet, so viel Lotto er auch spielte.

»Pech im Spiel, Glück in der Liebe!«, rief er, wenn er seinen Lottoschein im Krämerladen Meyertoberens über den Tresen reichte, und da das Spiel seine größte Liebe war, glühte er dabei vor Hoffnung.

Er griff vor Deiwel her und strich das kegelförmig hochgewölbte Deckchen prüfend glatt. Alle Linien verschoben sich sofort in andere Richtungen.

»Wanzé!«, rief Albrecht. »Bring mal das Telefon her, ich ruf Uli Borowka an!«

Bewegung kam in die Altherren, als der gebückte Wirt ein Telefon heranschleppte, dessen Kabel sich an jedem Hockerbein verfing.

Er befreite es mit den drei Fingern, die er an seiner rechten Hand noch hatte. Wie das passiert war, darüber erzählte man sich – je nach Pegelstand – zwei Geschichten: Eine hatte zu tun mit einem zu schnell gerollten Bierfass, das gegen eine Wand schlug und zwei seiner Finger zerquetschte, als er noch sehr klein war.

Die andere mit einem Geburtsfehler, weil fromme Kirchgänger während der Schwangerschaft seiner Mutter behauptet hatten, der Sohn eines Wirts könne höchstens bis drei zählen.

Den Dorfbewohnern, denen eine gute Geschichte mehr wert war als Gold, war die Begebenheit, die zum Fingerverlust führte, weniger wichtig als die Faszination für dessen Folgen: Schlug er auf eine der Blattwanzen, die von der riesigen Eiche aus durch die Buntglasfenster in Massen hereinwanderten, verfehlte er sie, oder vielmehr: Er traf sie mit dem fehlenden Zeige- und Mittelfinger, und sie atmete tief und dankbar und schwirrte davon. Wanzé war einer von ihnen.

Man sah, wie gewohnt er es war, dass sich Dinge in seiner Kneipe verfingen: Menschen, Geschichten und Telefonkabel.

Albrecht sprach in den Hörer, »Schiebung« hörte ich, und »Schiedsrichter«.

Die Männer klatschten in die Hände.

»Aus Liebe zum Heimatdorf!«, lachte Albrecht, wenn sie ihn danach fragten, warum er sich einmal die Woche für den Lokalteil um die Neuigkeiten des Dorfes kümmerte, anstatt in seiner Villa am Rhein seine Freunde Hans-Dietrich Genscher und Helmut Kohl zu empfangen und sich anschließend in einem der drei großzügigen Schlafzimmer für die nächste Gala auszuschlafen.

»Aus Liebe zu seinem Schnaps!«, blökte Deiwel, und die Mauer breiter Rücken, an deren Rändern ab und zu ein Ellenbogen hochfuhr, um ein Glas zum Mund zu führen, wackelte in großem Gelächter, als er sich ächzend auf seinem Hocker umdrehte und dem Saal den Einsatz gab.

Von den Tischen vor mir erhoben sich plötzlich rauchende Stimmen:

»Hiiier Acker – Mais und Heu,

Dort Gras und Weizenpfad,

Der Landmann, ehrlich treu – jaaa, treu,

Pflügt seine Furche geraaaad’.

Er erntet Korn und Segen,

und dankt es still dem Herrn,

die Glocken wehen Regen – -gen,

der Landmann gießt nicht geeeern.

Und fette Sau’n gebären

Uns unser Abendbrooot

Die Rinder, Küh’ und Mäh-hä-ren

Vor Kutschen gut und toooot.

Die kräft’gen Körper schlagen

Auf Wiesen schnell den Ball,

Wer will den Wettkampf wa-ha-gen,

Kommt doch sogleich zu Faaaall.

Und nachher in der Schenke

Fließt Wein und Bier und Most,

Der fleiß’gen Leute Tränke – ja! –

Gibt Träume, Trank und Kost.«

Selbst Verena sang lauthals mit. Sie stand in der Mitte des Saales und drehte sich fröhlich. Ungestutzt im Gegensatz zu den Zierbäumchen des Pfarrhauses, wissend, dass Kinder am besten blühten, wenn man sie einfach ließ. Sie gehörte dazu: groß, laut und sonnig.

Eine Prinzessin, unter deren feinen Sandalen die heruntergefallenen Erbsen knackten. Ich hingegen würde immer am abgelegenen Tisch im Halbdunkel sitzen und den anderen beim Großartigsein zuschauen, begrenzt von mir und dem Schrecklichen Wald.

Nie wäre ich alleine einfach in den Ochsen spaziert. Nie würde ich mich dort leichtfüßig auf dem staubigen Steinboden drehen, als sei es ein blankes Parkett. Ich nicht. Mein Platz war am Katzentisch des Lebens. Ich konnte den Schmerz förmlich spüren.

Ich rieb mein Knie und hielt inne. Nein, irgendetwas hatte mich gerade am Bein getroffen.

Gleich über dem Kratzer, den das seltsame Tier dort gestern hinterlassen hatte, als es mich zu Fall brachte, würde das Wurfgeschoss einen blauen Fleck hinterlassen.

Der uralte Tier- und Menschenarzt Doktor Fauseweh hatte nach drei Anläufen die Tetanusimpfung ins Ziel ge­­setzt und dabei gemurmelt: »Ich weiß immer gar nicht, wen von euch ich als Erstes impfen soll, das Tier oder euch!«

Die Kniestrümpfe, in denen meine Beine steckten, um den Kratzer zu verdecken, waren rau und so synthetisch, dass sich die Härchen auf meinem Arm aufstellten, als ich nach der pulsierenden Stelle tastete.

Im selben Moment wendete die Träumende den Kopf, ein Strauß leerer Biertulpen polterte zu Boden, und sie riss das Tischtuch mit. Es schwang zu beiden Seiten auf – und ich blickte ins Schwarz, in das das Wurfgeschoss geschmolzen war. Ein wenig rotgoldenes Stroh glänzte weit hinten, wogte, als wäre es lebendig.

Ich tastete, schob meinen Oberkörper unter den Tisch und fühlte kalten Stein. Die Tischdecke schloss sich hinter mir, und vor meinen Augen und Ohren war es nahezu schwarz. Es summte leise. Ich versuchte, dem Geräusch zu folgen. Mir war, als tastete ich mich durch einen langen Tunnel. Meine Fingerspitzen stießen an Kanten, legten sich auf Papier und fühlten, dass es Text sein musste, Bilder klebten viel mehr, überall um mich herum.

Ich schwamm in Wörtern, »Muss denn alles schädlich sein, was gefährlich aussieht?« konnte ich gerade so erkennen, und »Der Sturm wird stärker. Ich auch.« Ich drückte sie mit beiden Händen auseinander, tauchte hindurch.

Meine Knie stießen an einen Wachsstumpf, ertasteten eine Insel aus Stoff, der auf der Haut pikste, in seinen Falten kleine, verschrumpelte Schalen, die moderig rochen.

Ich ließ sie zurück in das Stroh fallen, setzte die nächste Hand vor mich, fühlte eine warme, feuchte Masse, die nachgab, als ich vorsichtig darauf drückte. Haut! Die Träumende zuckte und hustete rasselnd. Meine Füße schoben mich zum Licht, als würde ich rückwärts Schlitten fahren, bis mein Rücken gegen den Stuhl prallte.

Ich hielt mit der rechten Hand etwas umklammert, was ich im letzten Moment gegriffen hatte: eine Art Kugel. Sie hatte ganz hinten an der Wand zwischen Papier und Decke gelegen.

Die konnte nur einer geworfen haben: Dirk Deiwel, Sohn des Großbauern, der Narbenverteiler, den ich auf der anderen Seite des Raumes entdeckte.

Er hockte auf einem Stapel übereinandergestellter Stühle und starrte mich an, wie am »Tag des Großen Unglücks«, der Bauer Dietzes Hofcafé und mich gleich mit vernichtet hatte. Er griente, breitete die haarigen Arme aus und schien sich gerade von seinem Beobachtungsposten fallen lassen zu wollen, als die Tür aufflog und eine große Frau nach seinem Kragen griff, zur Theke gewandt.

»Ignatz, Essen wird welk!«

Im Dunkel schubberten schadenfroh ein paar Stiefel an­­ein­ander. Hier und da gluckste es in Vorfreude auf das zu erwartende Schauspiel.

»Deiwel, der Mann deiner Frau soll nach Huse!«

Deiwel drehte sich um.

Bärte legten sich wieder regungslos über Münder.

»Muss ich sagen, dat Stöckelwild kommt heute ganz schön nah anne Lichtung«, schnaufte der Koloss.

»Nu laus, Essen ausführen.«

Die Deiwelin hielt die schwere Tür geöffnet.

»Essen.«

Deiwel schnaubte und schraubte sich vom schmalen Hocker herunter, den Wanzé mit aller Kraft gegenhielt.

»Wehe, dat gibt wieder so’n Photosyntheseteller dabei.«

»Salat ist gut füre Umwelt!«

Bäuerin Deiwel klimperte mit den Goldketten, die sie als erste Frau des Dorfes auswiesen.

»Nich für meine.«

Er drehte sich im Gehen zu den Männern um, die nickten heftig. Kimme klopfte ihm von hinten auf die Schulter.

»Din Fru will dir doch nur mal wat Gutes vorschlagen!«

»Auch Vorschläge sind Schläge.«

Bauer Deiwel hob den Finger.

»Da pflüg ich ne gerade Furche.«

Verena zog mich noch gerade rechtzeitig am Arm aus der schlingernden Bahn des mächtigen Bauern, bevor der hinter seiner Frau gerade so das Kneipentor traf. Sie berührte mich mit der Hand, die Albrechts Schreibmaschine gestreift hatte. Mich unverwundbar machte. Die erste Schuppe eines glänzenden Panzers. Ein guter Tag.

Sie schob mich vorbei an Pastor Pilz, der am vordersten Tisch saß, Wein aus seinem Kelch nippte und sich mit dem Beffchen Rührungstränen aus den Augen wischte, die »Das Lied vom Dorf« jedes Mal aufs Neue in ihm auslöste.

In seinem hellblonden Haarkranz, der einen Heiligenschein um sein immer staunendes Gesicht legte, haftete das Wachs der Kerzen auf dem Kronleuchter, unter dem er sonntags stand. Jedes Mal wurden die Klümpchen etwas größer, jedes Mal veränderten sie die Form. Ich sah darin im Vorbeigehen ein schiefes Häuschen, einen klobigen Hund und ein verrücktes Kind.

»Gott macht keine Pause, und seine Schöpfung ist wunderbar, also müssen wir sie auch nahtlos mit unseren Liedern weiterpreisen!«, seufzte er.

Ich sah Dirk hinterher und war mir da nicht ganz so sicher.

*

Draußen betrachteten Meinard und Reinhard den Alfa Spider mit denselben geweiteten Augen, mit denen sie sonst Mädchen anstarrten. Ich überlegte, warum der Wagen ausgerechnet »Spinne« hieß, und stellte mir vor, wie er in der Garage der Villa nachts an der Decke federte.

Meinard quiekte.

»Paszz doch auf!«

Was immer es war, das ihn in den Rücken gestoßen hatte – es quietschte, schlug irgendwo an, und dann war es wieder still. Meinard sah sich um. Nur ich bemerkte den roten Schimmer, der in den Rhododendronsträuchern verschwand.

Fühlte die Kugel in meiner Hand. Jetzt im Licht erkannte ich einen grünen Zettel, in den irgendetwas eingewickelt worden war. Ich setzte mich in die hohe Wiese neben der Straße. Hohe Wiesen waren wie Zimmer, nur draußen. Man schloss die Tür vor den Spielenden und lauschte den Grillen, den Vögeln und dem Röhren der Bovenkerk-Mopeds, die mit Verena hintendrauf zur Mühle am Fluss knatterten.

Meinard hatte eine der Zigaretten in seiner Zahnlücke stecken, »die einzige Beleuchtung, die ein Mofa braucht!«, sagte er immer. Dasselbe galt für Fahrräder, deshalb rauchten die Jungs auf dem Dorf ab zwölf, Verkehrssicherheit ging schließlich vor. Die anderen Kinder quietschten und stoben auseinander. Falk Stopf, einziger Sohn des Schlachters, stürmte auf sie zu. Auf seinem T-Shirt prangte ein zerbröselnder Werbeaufdruck: »Landfleischerei Stopf – Schwein gehabt, Wurst draus gemacht«.

Die Leute im Dorf begegneten ihm jetzt schon wie einem Kind-Kaiser, mit nicht weniger Ehrfurcht als dem Pastor.

»Unser Bruder, unser Fleisch ist er.«

Eines Tages würde er das Seelenheil der Dorfbewohner in der Hand haben, die Entscheidung, ob Himmel oder Hölle, Keule oder Endstück, zu dem er zwinkernd noch einen Streifen Knusperschwarte legte, das die Familienväter schnell auf dem Nachhauseweg in den Mund schoben, aus Angst, man könnte ihnen das wegnehmen wie einem Hund die dreckige Socke.

Fleischerei Stopf war nach Kirche und Kneipe der heiligste Ort im Dorf.

Alle Kinder wurden dazu angehalten, mit Falk zu spielen. Ich wünschte, sie sähen auch in mir etwas, eine in dreißig Jahren über die Theke gereichte Scheibe Fleischwurst, aber sie sahen immer nur mein Jetzt.

In der Hand schwang Falk ein Schweinetreibbrett, groß, rot, ein Plastikschild mit Griffen zu beiden Seiten, mit dem er die lachenden Kinder von der Spielstraße rammte. Ich dachte an die grellen Schreie der Schweine, die er damit von einem Hänger in die gekachelte Stube hinter dem Verkaufsraum der Landfleischerei Stopf trieb. Sie versuchten einen letzten Durchbruch, und seine Oma musste im Gespräch mit den Landfrauen die Tür zuhalten, damit die Tiere nicht lebendig in die Fleischtheke sprangen. Die wedelnden Arme der Kinder flogen über den Halmen vorbei, Milcheis platschte in den Sand und bildete kleine Pfützen.

Ich wickelte den Zettel mit staubigen Fingern auf. Eine Zitrone rollte heraus und fiel mit einem dumpfen Ton auf den Boden – sonst nichts. Der Zettel war leer. Nur ein kleines, grob gezeichnetes Kamel-Figürchen prangte rechts oben.

Ich wischte meine Brillengläser mit dem T-Shirt-Ärmel sauber, relativ erfolglos, was einerseits daran lag, dass das T-Shirt sehr sandig und andererseits Tanjas Finger voller Brausepulver gewesen waren. So ein Pulver durfte ich selbst nie haben, weil in dem pinken Knisterzeug lauter Farbstoffe enthalten waren, die alle mit E anfingen und von denen eine Liste am Kühlschrank meiner Eltern hing: E102, E104, E110, E124A. Bevor ich eine meiner Familie unbekannte Süßigkeit erhielt, wurde auf dieser Liste erst mal überprüft, ob ich mich damit vergiften könnte. Stattdessen gab es dann Rosenkohl. Als ob der nicht noch schlimmer gewesen wäre! Ich setzte das krumme Gestell wieder auf die Nase und sah mich um. Ich hatte meine Brille offensichtlich so fest gerubbelt, dass alle Kinder aus dem Straßenbild verschwunden waren, auch Falk Stopf mit dem Schweinetreibbrett war nirgends mehr zu sehen.

Ich blickte beim Gehen noch einmal misstrauisch in den Sommerhimmel. Die Häuser hatten schwere Lider aus halb heruntergelassenen Jalousien und Raben aus Plastik auf dem Dach, vor denen sich die Tauben kurz fürchteten, bevor sie sich auf ihren Köpfen niederließen. Die Häuser atmeten die Kinder morgens aus und abends wieder ein. Wohnstraßen wie diese hier duckten sich unterhalb der Baumkronenlinie zwischen die Hügel.

In den Zwischenräumen der Natur wurden die Menschen von ihr geduldet und manchmal mit gütiger Strenge von Hochwasser, Sturm und ein paar Tierseuchen daran erinnert, wer hier das Sagen hatte. Diese Häuser begrenzten üppige Weiden und Eichenwäldchen, sie blickten auf ferne Bauernhöfe und beschrieben einen weiten Bogen um die Kirche herum, die im Zentrum von allem stand und selbst nur die Nachbarschaft von Fachwerkhäuschen schätzte.

Warme Schwaden von Braten, Markklößchensuppe und Schnitzeln schwebten in der Sommerluft. Dabei waren das bestimmt nicht die Wünsche und Sehnsüchte der Kühe, die in Bauer Deiwels Stall aufgewachsen waren und sich nun einige Meter entfernt in den gelben Resopalküchen der Einfamilienhäuser auf tiefen Tellern suhlten. Die Erwachsenen hatten den ganzen Nachmittag lang Kuhmist von Kartoffelschalen gerieben und das Etikett »Hanna« vom Lammfleischbeutel gezogen.

Ich schlenderte die Straße hoch. Der Staub hatte sich wieder zwischen die müden Häuschen gelegt. Eine letzte Spur Kindersandalen über zahllosen anderen und die Reifenschlangen der Bovenkerk-Mopeds, mal leicht, mal tief von der Mädchenfracht. Durch Holzpfähle voneinander abgetrennte Vorgärten, beschnittene Stauden, Rasenflächen und kleine Parkbuchten, in denen wir Kinder manchmal Decken ausbreiteten, um Blumen und unser altes Spielzeug zu verkaufen.

Ich trottete blinzelnd die Auffahrt zum Haus meiner Eltern hinauf, die bereits an der geöffneten Haustür warteten. In eine Glaswand eingepasst, konnte man durch die Tür hindurch ins Esszimmer sehen. Hier würde ich meine Erlebnisse des Tages gegen Nahrung eintauschen. Wer wohl auf Tanja wartete, ihr den dreckigen Pulli mit den aufgemalten Flügeln über den Kopf streifte und eine Quarkspeise mit Mandarinchen aus der Dose hinstellte? Ich krempelte sämtliche Umschläge, Aufschläge und Taschen meiner Kleidung nach außen, wie bei einer Zolldurchsuchung nach Sand.

Er war der Bote des Verbotenen: Kuhlen, deren Ränder jederzeit einbrechen konnten, Berge der Baustellen, aus denen Steine und Metall ragten. Tausendmal hatte meine Mutter mir eingeschärft, dass ich mich auf den Wegen und Wiesen halten sollte, ihre strengen Worte hatten mich anstelle des Sandes verschüttet.

Ich dachte an das urverrückte Mädchen, das jetzt ja wohl zeitgleich einen toten Maulwurf aus seiner Tasche ziehen und kräftig ausschütteln würde.

Das Haus war aufgeräumt und kühl. Schön und schützend, nicht wie draußen. Hier bekam ich nicht ständig Sonne, Regen, Sturm und Erde ins Gesicht, sondern frisches Brot mit Butter und Schinken, auf den sich nicht sofort die Wespen setzten. Warum konnte nicht draußen ein bisschen wie drinnen sein, bestimm-, aufräum- und berechenbar.

Ich stach die Gabel in die sauren Gurken, die Silberzwiebeln, Maiskölbchen und Blumenkohlröschen, die mein Vater zu jedem Essen dazustellte. Ich sah Tanja vor meinem geistigen Auge ihre ausgelatschten Schuhe – ja was – aufbinden? Da waren ja keine Senkel gewesen, ihre Schuhe offen wie sie. Gedanken und Dinge rieselten hinein und hinaus, fanden an ihr keinen Halt. Außer die Schuhe selbst. Wie immer sie es fertigbrachte, die nicht zu verlieren.

Meine Brille saß so schief, dass ich kaum etwas sah. Eine Silberzwiebel flutschte weg, meine Mutter versuchte, meine Brille zurechtzubiegen: Was habt ihr bloß gemacht? Ich erzählte von Fleischersohn Falk und dem Schweinetreibbrett, mit dem er die quietschenden Kinder durchpflügt hatte, von Albrecht und dem Fußballspiel – aber Tanja entwischte mir. Sie saß mit herausgestreckter Zunge ganz deutlich vor meinem inneren Auge, warf ein saures Maiskölbchen in die Luft und fing es mit dem Mund auf – aber sie befand sich auf einer Seite der Erinnerung, zu der mir die Wortbrücke fehlte, weil sie so vieles auf einmal war: Entsetzlich und spannend. Dreckig und erhaben. Ich füllte stattdessen meinen Mund mit Schinkenbrot. Meine Eltern nickten, die Abfrage passte zu einem erfüllten Kindertag, ich war nicht verloren gegangen oder unter Bauer Deiwels Traktor geraten, also konnte der Tag beendet werden. Sie räumten den Tisch ab. Ich stocherte derweil heimlich in meiner neuen Zahnspange, die aussah wie die Schleppketten der Fahrzeuge, die das Dorf Tag und Nacht umpflügten.

Der erste Donner draußen drohte einen großen Schlag an, irgendeine Veränderung der Sommerwärme in diesen letzten Wochen, bevor die Grundschule wieder begann. Irgendeine Verschiebung. Hagel, ein Blitzeinschlag, eine kleine Überschwemmung oder so etwas vielleicht. Mit heruntergekrempelten Hosenaufschlägen und wie Hundeohren heraushängenden Taschen tappte ich barfuß über den kühlen Fliesenboden.

Ich starrte an diesem Abend noch lange aus den bodentiefen Fenstern des Wohnzimmers, hockte hinter dem Sofa, das der Scheibe seinen breiten Rücken zudrehte, und sah die Rasenfläche dämmrig werden. Die Amseln, die darauf im Regen pickten, verschwanden nach und nach. Ob Vögel wohl auch Ärmel auf ihre Federn malen würden, wenn sie einen Filzstift halten könnten?

Nachts gewitterte es. Wolken drückten auf das Haus. Sie lagen schwer auf dem Holzdach, wölbten im Dunkel die Decke nach unten, hüllten meinen Kopf ein und die schrecklich verbogene Brille. Ich träumte. Im Traum lag ich wieder in der Pfütze, aber statt meines Spiegelbilds starrte mir Tanja mit ihrer Zahnlücke entgegen. Dann sprang eine katzengroße Ratte an meinem Bein hoch, und ich erwachte zum Prasseln des Regens.

*

Am nächsten Morgen brachen die Wolken auf und bildeten einen blauen Ring über unserem Garten. Tanja stand mitten auf dem gewitternassen Rasen – allerdings nicht auf den Füßen. Ihre Hände waren ins Gras gedrückt, ihr nach unten hängender Kopf rot angelaufen, sodass er kaum von ihren Haaren zu unterscheiden war. Die Beine zappelten über ihr. Die schlackernden Schuhe waren dunkel von Feuchtigkeit, kleine Tropfen rieselten die feinen Blätter ihrer Blumenuhr herab, die an den Enden schwer wurden, sich durchbogen und wieder nach oben schnappten. Tanja ließ sich nach hinten fallen und fing sich mit den Füßen ab.