Die Journalistin – Neue Zeiten auf der Kö - Bettina Lausen - E-Book

Die Journalistin – Neue Zeiten auf der Kö E-Book

Bettina Lausen

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Beschreibung

Eine verbotene Liebe öffnet einer jungen Frau in Düsseldorf den Weg zu einem selbstbestimmten Leben als Journalistin. Für alle Leser:innen von Eva Völler, Mechthild Borrmann und Lily Bernstein  »Und warum lernen Sie dann nicht bei einer Zeitung?« Sie seufzte. »Die Frage kann wohl nur von einem Mann kommen. Die Zeiten, in denen die Frauen für alles zuständig waren, arbeiten gingen und für sich selbst entscheiden durften, sind wieder vorbei.«  Düsseldorf 1950: Eva erfährt mit zwanzig Jahren das erste Mal von den Gräueltaten der Nazis. Ihre Eltern hatten sie als Kind für die NS-Propaganda instrumentalisiert, indem Eva Hitler beim Reichsparteitag Blumen überreichen musste. Sie konfrontiert ihre Eltern mit ihrem neuen Wissen. Aus dem Streit wächst ein Konflikt, der die Grundfeste von Evas Leben erschüttert. Ihr junger Politiklehrer ermutigt sie dazu, ihren eigenen Weg zu gehen und eine Karriere als Journalistin anzustreben. Zwischen den beiden keimt eine Liebe auf, die aus mehr als einem Grund verboten bleibt. Wird es Eva trotz familiärer und gesellschaftlicher Widerstände gelingen, für ihre Freiheit zu kämpfen und gleichzeitig ihrem Herz zu folgen? 

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»Gefördert durch ein Künstlerstipendium im Rahmen der NRW-Corona-Hilfen«

Die Handlung ist frei erfunden, wenngleich in das historische Umfeld eingebettet. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© Piper Verlag GmbH, München 2024

Die Bibelzitate sind aus der Bibelübersetzung Luther 1912 entnommen

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Redaktion: Sandra Lode

Covergestaltung: Giessel Design

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Historischer Hintergrund

Danksagung

Bildmarke

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Kapitel 1

Juli 1950

»Da bist du ja endlich!«, rief Margot, den Kopf mit Dutzenden Lockenwicklern im Haar aus dem Fenster im ersten Stock gestreckt. »Es sind schon alle in heller Aufregung, weil der Ehrengast nicht aufzufinden ist, also beeil dich.«

Eva unterdrückte eine Erwiderung, schob ihr Fahrrad in den Hinterhof und lehnte es an die Hauswand. Sie warf ihren geflochtenen Zopf über die Schulter, der ihr beim Radfahren schon wieder nach vorn gerutscht war. Ihre Mutter hätte es gern gesehen, wenn sie die Frisur ihrer Schwester nachahmte. Sie selbst würde sich die Haare am liebsten nach der neusten Mode bis zu den Schultern kürzen lassen, doch bei der Vorstellung, wie sie mit einer solchen Frisur nach Hause kam, hatte sie das Gezeter ihrer Mutter bereits jetzt in den Ohren. Bei Haaren waren sie sich genauso uneins wie bei Blumen.

Ihr Blick fiel auf das Beet und sie holte tief Luft. Die Blütenpracht war dahin. Wie hatte ihre Mutter bloß die Dahlien abschneiden können? Sie standen bestimmt in der kostbaren Vase auf dem Esstisch. Aber wie schnell waren die Blumen im Haus verblüht.

Bei dem Gedanken an die bevorstehenden Stunden seufzte Eva. Sie freute sich zwar auf ihre Freundin Helga, den Kuchen und die Leichtigkeit am Abend, aber auf die anfängliche Steifheit und die Rede ihres Vaters hatte sie wenig Lust.

Langsam umrundete sie das zweistöckige Haus. Die Blumenkästen auf den Fensterbänken zierten frisch gepflanzte Husarenknöpfchen und Zauberglöckchen in Rot und Gelb. Auf der Straße vor dem Gartenzaun glänzte der Kotflügel des brandneuen Ford Taunus Spezial ihres Vaters in der Sonne. Der Anblick erinnerte Eva immer daran, wie schnell sich ihre finanzielle Lage im letzten Jahr verändert hatte. Von den Trümmern des Krieges war auf ihrem Grundstück nichts mehr zu sehen. Die Fassade erstrahlte in frischem Weiß und die Bretter, die lange Zeit das rechte Fenster im Erdgeschoss verschlossen hatten, waren durch eine Glasscheibe ersetzt worden.

Die Zeiten, in denen ihre Familie Angst haben musste, die britischen Besatzer könnten ihr Haus beschlagnahmen, waren vorbei.

Als Eva durch die Eingangstür trat, stieg ihr der herrliche Duft nach gebratenem Fleisch und Apfelkuchen in die Nase. Ihre Großmutter Ida hatte schon gebacken. Eva hängte die Jacke im dunklen Flur auf, trat in die Küche und gab ihrer Oma einen Kuss auf die Wange. Johanna, das Dienstmädchen, saß auf einem Schemel und schälte Kartoffeln. Das Backwerk stand dampfend auf dem Tisch und verströmte den köstlichen Geruch im ganzen Raum.

»Hätte ich geahnt, dass der Kuchen schon fertig ist, wäre ich früher gekommen«, sagte Eva.

»Hasde mal wieder de Zeit verjesse?« Ihre Oma zwinkerte ihr zu.

»Du kennst mich doch. Ein wundervoller Sonnenaufgang am Rhein und Papier und Stift – mehr brauche ich nicht.«

Ihre Großmutter nickte. »Geh lieber flott nach owe. Din Mam is schon em Schlafzimmer.«

»Dann spute ich mich mal, damit der Löwe nicht zu gefräßig wird.«

»Ich jlaub, dat Raubtier is schon aanjefresse.«

Eva ging die Treppe hoch in den zweiten Stock und legte ihr Tagebuch und den Füller eilig auf der Kommode im Flur ab, bevor sie das Elternschlafzimmer betrat. Ihre Mutter sortierte Garn auf dem Nähmaschinentisch.

»Wo hast du dich wieder rumgetrieben?«, fragte sie und wandte sich zu Eva um. Sie trug ihre kostbaren Perlenohrringe, dazu einen dunkelblauen Faltenrock und eine schwarze Bluse. Wenigstens heute nicht komplett schwarz. Sie hatte die sonntägliche Messe ausnahmsweise ausfallen lassen, und so war auch Eva vom Kirchgang verschont geblieben. Das hatte sie ausnutzen müssen.

»Es ist doch noch Zeit, bis die Gäste kommen.«

Es war erst elf Uhr, ihr Vater hatte für halb eins eingeladen.

»Du musst dich noch frisieren, umkleiden und frisch machen, wenn ich mir deine Hände ansehe.« Ihre Mutter machte ein Gesicht, als hätte sie eine Kakerlake gefunden. Nur ein paar Tintenflecke, kaum der Rede wert. »Und du weißt, wie dein Vater Unpünktlichkeit hasst.«

»Du oder Papa?«, gab Eva zurück und erntete einen vernichtenden Blick. Sie sollte es sich mit ihrer Mutter nicht verscherzen, wenn sie den Tag überstehen wollte, doch manchmal konnte sie nicht an sich halten. Um einem größeren Konflikt aus dem Weg zu gehen, lief sie in die kleine Kammer im Keller, die ihnen als Waschraum diente und in der sich ihre Toilette befand.

Sie wusch sich die Hände und das Gesicht am Waschbecken. Im letzten Jahr hatte ihr Vater eine Dusche installieren lassen, doch am gestrigen Samstag war Badetag gewesen, da wäre es nur unnötige Wasserverschwendung, sich noch mal unter den Brausekopf zu stellen.

Vera kam hereingestürmt, hielt aber inne, als sie Eva bemerkte. Das zehnjährige Mädchen der Familie Preuß, die bei ihnen im Dachgeschoss lebte, sah sie mit großen Augen an.

»Wolltest du zur Toilette?«, fragte Eva.

Vera blickte hektisch über die Schulter und schüttelte den Kopf, wobei ihre Affenschaukeln wippten. Sie hatte die beiden Enden der geflochtenen Zöpfe hoch ins Haargummi gezogen, sodass sich zwei Haarschlaufen gebildet hatten – so wie es bei Mädchen früher Mode gewesen war.

Eva trocknete sich mit dem Handtuch ab. »Geh ruhig hier. Ich bin fertig und steh draußen Schmiere, dass niemand reinkommt.« Sie zwinkerte Vera zu und schloss die Tür hinter sich. Erst vor zwei Tagen hatte sie mitbekommen, wie das Mädchen heimlich ihre Toilette benutzt hatte, anstatt das wackelige Ding am anderen Ende des Kellers, das fast auseinanderzufallen drohte und nur durch einen Vorhang vom restlichen Kellerraum getrennt war.

Vera kam nach kurzer Zeit wieder heraus. »Danke«, flüsterte sie und schlich auf leisen Sohlen nach oben. Die Familie hatte gelernt, sich in diesem Haus unsichtbar zu machen. Ihr Vater begegnete ihnen nur ungern, obwohl er sich Freunden gegenüber damit brüstete, eine fünfköpfige Familie unter dem Dach zu beherbergen. Als ob das eine Besonderheit wäre. In jedem Haus in Düsseldorf lebten mehrere Familien, meist auf wesentlich weniger Platz, als sie zur Verfügung hatten.

Familie Preuß kam aus dem Memelland, hatte dort einen Gutshof mit weiten Ländereien gehabt, doch nach dem Krieg war ihnen nichts davon geblieben. Herr Preuß verdiente den Unterhalt bei verschiedenen Bauunternehmen eher schlecht als recht, sodass ihnen neben der Miete kaum ausreichend Geld für Lebensmittel blieb. Evas Großmutter brachte der Familie immer wieder etwas vom Mittagessen, meist kochte sie heimlich mehr, damit genug übrig blieb.

Eva lief die Treppe hinauf bis ins Obergeschoss und ging in das Zimmer, das sie sich mit ihrer Schwester teilte. Margot saß vor dem Schminktisch und zog ihre Augenbrauen nach.

Ihre Mutter hatte Eva das blaue Kleid, das sie kürzlich genäht hatte, aufs Bett gelegt. Den edlen Seidenstoff hatte ihr Vater organisiert. Das Kleid war hochgeschlossen und für Evas Empfinden viel zu eng am Hals, genau wie an der Hüfte. Der Rock ging ihr bis zu den Knöcheln – überhaupt nicht zeitgemäß. Außerdem drückten beim Sitzen die Knöpfe am Rücken.

Kurz entschlossen nahm sie das luftige, karierte Sommerkleid aus dem Schrank und zog es an. Es reichte bis zur Wade, die gerafften Ärmel konnte sie wahlweise über den Schultern tragen oder ein Stück hinunterziehen, zudem war es in ihrer Lieblingsfarbe Gelb.

Margot drehte sich zu ihr um. »Das wird Mama nicht billigen.« Sie betastete ihre hochtoupierte und gelockte Haarpracht.

Wie auf Befehl kam ihre Mutter hereingerauscht. »Das ziehst du nicht an«, sagte sie zu Eva.

»Hab ich ihr auch schon gesagt.« Margot grinste in den Spiegel und schmierte Make-up auf ihr Muttermal über der Lippe, sodass es nicht mehr zu sehen war.

»Aber es ist viel bequemer und passt besser zu den sommerlichen Temperaturen«, widersprach Eva.

»Soll Gert denken, du willst dich an alle Männer heranmachen?«, fragte ihre Mutter.

»Ich glaube, er würde sich freuen, wenn er mich darin sieht.« Der Ausschnitt erlaubte einen Blick auf ihr Dekolleté, dennoch war es nicht unanständig.

»Keine Widerrede. Ich will nicht, dass man hinter vorgehaltener Hand über meine Töchter tuschelt. Und die ziehst du auch noch an.« Ihre Mutter warf zwei weiße Handschuhe auf das Bett, dann zog sie wieder ab.

Eva ließ sich auf den Schemel fallen. »Die hat aber schlechte Laune.«

»Sie möchte, dass heute alles perfekt ist.« Margot streifte sich ihre Handschuhe über die dünnen Finger.

Eva legte die Hände aufs Gesicht. »So ein Aufwand für nichts.«

»Nichts? Du solltest dankbar sein, dass Vater dir einen Ausbildungsplatz besorgt hat. Und das will er eben gebührend feiern.«

Eva zog das Sommerkleid wieder aus und zwängte sich in das blaue. Dann griff sie nach den Handschuhen, der Spitzenstoff fühlte sich kratzig an. Sie fand dieses Accessoire überflüssig.

Margot trat hinter sie und schloss energisch die Knöpfe an Evas Kleid. »Du solltest auf Mama hören und nicht immer deinen eigenen Kopf durchsetzen.« Mit einem letzten zufriedenen Blick in den Spiegel stolzierte sie aus dem Zimmer.

Eva holte tief Luft, setzte sich an den Spiegeltisch und schminkte sich ebenfalls – obwohl sie Make-up, Lidschatten und Lippenstift hasste. Sie verdeckten nur die natürliche Schönheit, aber sie tat ihren Eltern heute den Gefallen. Vielleicht würde es Gert auch ansprechen.

Als Eva kurz darauf geschminkt und vollständig angekleidet das Wohnzimmer betrat, war Johanna dabei, die Tische zu decken. Sie hatten die Möbel aus der Gartenhütte geholt, damit sie genug Sitzgelegenheiten hatten. Auf den gestärkten Tischdecken standen zwei Blumensträuße: der mit den Dahlien und der eine, den es immer bei ihnen gab. Jedes Mal, wenn ihre Mutter rote und weiße Blumen bekam, band sie einen Strauß daraus und stellte ihn auf den Esstisch. Eine Replik aus der Vergangenheit. Es war eine Familientradition und ein Symbol für ihren Erfolg und Stolz. Und Eva war ein Teil davon … Es war etwas, das nur ihr gehörte, selbst Margot konnte in diesem Punkt nicht besser sein als sie.

Auf der Kommode neben dem Radio lagen die Düsseldorfer Nachrichten von gestern. »Die Lage in Südkorea immer bedrohlicher«, lautete die Schlagzeile. Dort stand, dass die nordkoreanischen Truppen zu einer Großoffensive angetreten waren, um eine schnelle Entscheidung herbeizuführen. Ob ihre Mutter doch recht behalten sollte und ihnen ein Dritter Weltkrieg blühte? Eva wollte es nicht glauben und heute nicht daran denken.

»Was steckst du denn die Nase in meine Zeitung?« Ihr Vater war der Meinung, die Nachrichten seien nichts für Frauen. Er gab ihr einen Kuss auf die Wange und strich ihr über die Haare.

»Ich wollte nur den Roman von Louis Weinert-Wilton weiterlesen.« Sie blätterte, bis sie den Textausschnitt aus Die weiße Spinne gefunden hatte. Sie hatte sich nie für Politik interessiert, überflog in letzter Zeit höchstens die Schlagzeilen und Titelseitenberichte.

Ihr Vater ließ ihren Zopf durch seine Hände gleiten. »Du hättest deine Haare für heute mal wieder aufhellen sollen.«

»Das Wasserstoffperoxid ist alle.«

»Dann sag mir doch Bescheid, ich hätte dir neues gekauft.«

»Ich denke, vor unseren Freunden ist es egal, wie hell meine Haare sind.«

Einen Moment lang war die Miene ihres Vaters undurchdringlich. Es schien ihr, dass seine Stirn in den letzten Tagen höher und die Geheimratsecken größer geworden waren. Dann lächelte er. »Du hast natürlich recht, meine Kleine.« Er nahm die Tageszeitung. »Und die räume ich lieber weg, bevor noch jemand anders einen Blick darauf wirft.« Er zwinkerte ihr zu, faltete die Zeitung zusammen und klemmte sie sich unter den Arm.

»Du kannst morgen weiterlesen, wenn dich der Roman so brennend interessiert«, sagte er, als er sie ansah und wohl ihre enttäuschte Miene bemerkte.

Als er aus dem Raum verschwunden war, stellte sie das Radio an. Erst kürzlich hatte ihr Vater den schon seit längerem defekten Volksempfänger durch ein modernes Gerät austauschen lassen, mit dem sie auch die neue UKW-Frequenz empfangen konnten. Aus dem Lautsprecher ertönte der fröhliche Sambasong Maria aus Bahia von Danielle Mag und René Carol. Sie summte mit und wippte mit dem Fuß, dachte an den letzten Tanzabend mit Helga im Haus Kolvenbach. Bei dem Song konnte sie nicht stillstehen.

Als die Musik jäh verstummte, hielt Eva inne und blickte sich um. »Komm en de Küch, sonst jagt et gleich en Donnerwetter von din Mam.« Ihre Großmutter stand mit hochgezogenen Brauen auf der Schwelle.

Eva folgte Ida und half bei den Vorbereitungen, bis die Türglocke läutete. Sie wischte sich die Hände ab und ging in den Flur, wo ihr Vater bereits die Tür geöffnet hatte. Als sie Familie Koll erblickte, drückte sie den Rücken durch.

Gert trat auf sie zu, streckte sich und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. »Du siehst wunderschön aus«, flüsterte er ihr ins Ohr. Er hatte seine braunen Haare mit Pomade nach hinten gekämmt. In der Faltenhose, dem Schlips und der Anzugweste sah er aus, als käme er direkt vom Herrenausstatter.

»Dankeschön.« Hätte er sie erst in dem gelben Kleid gesehen!

Walter Koll schob sich an seinem Sohn vorbei und klopfte ihrem Vater mit ausladenden Gesten auf den Rücken. »Wie versprochen haben wir Kuchen aus dem Café mitgebracht.« Er wies auf seine Frau, die eine Platte hereinbalancierte und sie Ida überreichte. Die Familie besaß ein Café auf der Königsallee und hatte sich in den letzten zwei Jahren zur echten Konkurrenz des beliebten Cafés Hemesath gemausert.

Gerts Schwestern Jutta und Rita schritten auf das Radiogerät zu und beugten sich neugierig vor. Eva hielt den Atem an, denn Juttas schmal geschnittenes Kostüm saß so eng, dass das Kleid im Rücken spannte und die Knöpfe abzureißen drohten. Evas Vater führte den jungen Frauen seine neuste Errungenschaft vor.

Wenige Minuten später trafen Evas Tante mit Gemahl und den beiden Töchtern aus Langenfeld ein, als Nächstes zwei Freunde aus Vaters Wandertruppe und schließlich Helga.

Evas Freundin tanzte mehr herein, als dass sie lief. Sie drehte sich im Kreis und ließ das weiße Kleid mit den großen schwarzen Punkten schwingen. Scheinbar hatte ihre Mutter Helga das Kleid nach dem Vorbild aus der Constanze nachgeschneidert, das sie mit Helga letzten Monat in der Illustrierten bestaunt hatte. Sogar die neumodisch gestrickten Ärmelbündchen, die so sportlich wirkten, hatte Helgas Mutter meisterhaft hinbekommen.

»Na, was sagst du?« Helgas Augen leuchteten.

»Deine Mutter ist eine wahre Künstlerin.«

»Schau dir diesen perfekt angekrausten Rock an.« Helga fasste an die Falten unter dem Gürtel. »Wenn ich das gemacht hätte, hätte das ausgesehen wie Kraut und Rüben.«

Eva umarmte ihre Freundin und flüsterte ihr ins Ohr: »Woher hast du diesen umwerfend schönen Stoff?«

Helga löste sich von ihr und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Du darfst zwar alles essen, aber nicht alles wissen.« Sie kicherte.

Eva hätte zu gern gewusst, wie ihre Freundin das Geld dafür aufgetrieben hatte. Sie wohnte mit ihrer Mutter und den sieben Geschwistern in zwei Räumen im Keller eines Trümmerhauses. Die Familie brauchte jeden Pfennig, um die Kinder zu ernähren, sodass Eva alles bezahlte, wenn sie mit ihrer Freundin mal zum Tanzen ging. Schließlich bekam sie von ihrem Vater ein großzügiges Taschengeld.

Helga blickte über Evas Schulter ins Wohnzimmer. »Was gibt es denn zu essen? Es riecht zumindest köstlich.«

»Du denkst auch nur ans Essen.«

»Woran sonst?« Helga grinste breit.

Nachdem zur Begrüßung das Dienstmädchen Sekt ausgeschenkt hatte, begaben sich alle an ihre Plätze. Links neben Eva saß Gert, zu ihrer Rechten Helga. Doch bevor die Gäste mit dem Essen beginnen konnten, erhob sich Evas Vater und schlug mit der Gabel gegen sein Glas. »Wir freuen uns, dass ihr der Einladung gefolgt seid, um mit uns diesen Tag zu feiern. Unsere jüngste Tochter ist nun fast erwachsen.« Ihr Vater sah sie an. Auch die Augen aller anderen waren auf sie gerichtet. Sie rührte sich nicht, wagte kaum zu atmen, konnte es nicht ausstehen, wenn sie so in den Mittelpunkt gestellt wurde.

»Unser arisches Mädchen ist der Stolz der ganzen Familie.«

»Hat er wirklich arisch gesagt?«, flüsterte Helga ihr zu.

Eva nickte.

Ihr Vater blickte zu dem Foto an der Wand. Viele der Anwesenden wussten, was dort zu sehen war, doch für Unwissende war die Bedeutung der Szene nicht zu erahnen. Das Gesicht des Mannes, schräg von hinten fotografiert, war auf dem Bild nicht zu sehen. Nach Kriegsende war das Foto in den Flur gewandert, doch seit einiger Zeit hing es wieder an seinem üblichen Ehrenplatz über der Kommode. Auf der rechten Seite zeigte die Fotografie Eva auf dem Arm ihrer Mutter, wie sie dem Mann einen Blumenstrauß überreichte. Sie wusste, dass er rot-weiß gewesen war – in Anlehnung an die Farben der damaligen Reichsflagge. Das war 1934 gewesen, als sie vier Jahre alt gewesen war. Der Mann war Adolf Hitler. Lange war der Moment her, doch er hatte ihrem Vater damals großen beruflichen Erfolg beschert, und es bedeutete ihm immer noch viel.

»Und nun wird sie eine Ausbildung zur Kinderpflegerin machen, bevor sie bald mit Gert Koll die Ehe schließen wird.« Er nickte seinem Freund Walter zu.

Gert drückte ihre Hand und schenkte ihr ein Lächeln, doch sie war viel zu aufgeregt, um die Zärtlichkeit zu genießen.

Ihr Vater hob das Sektglas an und sah in die Runde. »Und nun erwarte ich, dass ihr mit uns ordentlich feiert. Auf Eva.«

»Auf Eva«, stimmten alle mit ein und prosteten sich zu.

Eva hob ebenfalls mechanisch das Glas, bevor sie daran nippte. Das Getränk schmeckte bitter und war viel zu trocken.

»Mundet dir unser Riesling nicht?«, fragte Gert großspurig. »Wir haben gestern eine Kiste aus dem Café vorbeibringen lassen.«

»Doch«, beeilte Eva sich zu sagen. Das hatte sie gar nicht mitbekommen. Sie war fast den ganzen Tag im Garten gewesen, hatte Unkraut gezupft, Rasen gemäht und die Gartenhütte sauber gemacht.

»Und nun lasst das Essen nicht kalt werden«, rief ihr Vater.

»Also ich finde, er schmeckt wunderbar.« Helga trank ihr Glas in einem Zug leer. »Wenn noch mehr da ist, nehme ich noch etwas«, sagte sie kichernd und rieb sich über die spitze Nase. Ihre runden Wangen schimmerten rosig, doch das fliehende Kinn ließ sie reserviert erscheinen und machte sie wenig anziehend für die meisten Männer. Dabei hatte sie ein so einnehmendes Wesen, dass Eva sie vom ersten Moment an gemocht hatte. Und sie liebte es, dass Helga ihr Herz auf der Zunge trug.

Eva ließ sich von Johanna eine Limonade bringen. Sie hätte lieber ein Altbier getrunken, aber dafür würde es später noch Gelegenheit geben.

Helga lobte den Braten und den anschließenden Apfelkuchen in höchsten Tönen. Gert beteiligte sich irgendwann am Gespräch mit ihren Vätern, die über den Neuordnungsplan der Stadt Düsseldorf sprachen.

»Tamm verliert die Unterstützer«, sagte Walter Koll. Er zündete sich eine Zigarette an und fuhr mit der Hand über seine gewellten Haare. Er hatte einen dicken Wohlstandsbauch bekommen, wahrscheinlich war er in seinem Café sein bester Kunde. Mit der runden Brille und dem Anzug sah er aus wie ein Professor.

»Man sollte den Architekten seine Arbeit machen lassen …«, warf ihr Vater ein. »… und ihn nicht wegen seiner NS-Vergangenheit kritisieren. Er ist einfach ein treuer Gefolgsmann – jetzt und früher.«

Helga stupste sie an. »Wir müssen nächsten Monat unbedingt wieder ins Kino gehen.«

»Was läuft diesmal?«, fragte Eva.

»Du wirst es nicht glauben!« Helga hielt beide Fäuste vors Kinn und sah sie an wie ein Schulmädchen, das vor Stolz platzte, weil es den Eltern gleich von seiner Eins erzählen wollte.

»Was denn? Dass Konrad Adenauer die Hauptrolle spielen wird?«

Gert lachte und drehte sich zu Eva um. »Das wäre was.«

»Nein«, sagte Helga. »Der erste deutsche Farbfilm soll am 7. September ins Kino kommen.«

»Ein Farbfilm?«, fragte Gert überrascht.

»Ja, und stellt euch vor – mit Rudolf Prack und Sonja Ziemann.« In Helgas Augen lag ein schwärmerisches Glitzern. Sie war dem Schauspieler verfallen wie die meisten Kinobesucherinnen, dabei war er viel zu alt für Helga.

»Wie heißt der Film?«, fragte Gert.

»Schwarzwaldmädel.«

»Wieder so ein Heimatfilmquatsch. Da könnt ihr gern ohne mich reingehen.« Er wandte sich erneut den Männern zu.

»Komm«, sagte Eva. »Wir gehen in den Garten.«

Sie nahmen ihre Limonaden mit, legten eine Platte auf das Grammofon, das ihr Vater auf einem Tisch neben den Getränken und der Obstplatte platziert hatte, und stellten sich unter einen Baum. Einige Gäste hatten sich unter den zwei gepunkteten Sonnenschirmen versammelt. Die Julisonne strahlte vom Himmel, doch es war nicht zu heiß.

Helga erzählte, wie ihre kleinste Schwester mit dem Fahrrad hingefallen war und sich die Knie aufgeschürft hatte. Danach klagte sie darüber, dass sie sich die letzten beiden Tage in der Schneiderei die Finger wund gestochen hatte, weil sie den harten Stoff kaum bearbeiten konnte. »Ich bin einfach nicht dafür gemacht, ich würde viel lieber als Mannequin die schönsten Kleider präsentieren, als dicke Wintermäntel zu flicken.« Sie zog einen Schmollmund.

So sehr Eva es ihrer Freundin wünschte, sie glaubte nicht, dass irgendjemand Helga als Mannequin engagieren würde. »Dann musst du geschickt heiraten.«

»Ach …« Helga seufzte. »Ich hab eben nicht so viel Glück wie du. Und da kommt dein Traumprinz.« Sie wies mit dem Kopf zu der Gruppe Männer, aus der sich Gert herausschälte und den Weg in ihre Richtung einschlug. Er hatte zwei Gläser Bier dabei.

»Da ist ja meine Hübsche«, sagte er und drückte Eva ein Glas Altbier in die Hand. Er wusste genau, dass sie lieber ein Alt als Sekt trank. »Freust du dich schon auf deine Ausbildung?«

»Ja.« Eva sah auf die Wiese, auf der sich am Rand ein Gänseblümchen vor dem gestrigen Rasenmäher gedrückt hatte. Sie hatte nie den Wunsch gehabt, Kinderpflegerin zu werden, aber heutzutage musste man nehmen, was man kriegen konnte. Ausbildungsstellen – vor allem für Frauen – waren rar und ihr Vater hatte seine Beziehungen spielen lassen, um ihr einen Platz zu sichern. Doch wenn sie an morgen dachte, kam das Grummeln in ihren Magen zurück. Vielleicht war es auch nur das Unbekannte, das ihr Bauchschmerzen bereitete.

»Sie wird dir helfen, wenn wir eigene Kinder haben werden«, fuhr Gert fort.

»Ich werde euch mal kurz allein lassen.« Helga zwinkerte Eva zu und spazierte zurück ins Haus.

Ihr Vater ging mit den Männern auf die Straße und zeigte ihnen sein neues Auto. Bewundernd umrundete ihr Onkel das Gefährt.

Gert schlenderte in den hinteren Teil des Gartens, sodass Eva sich genötigt fühlte, ihm zu folgen. »Gut möglich«, antwortete sie auf seinen Hinweis auf ihre eigenen Kinder, wobei sie sich noch nicht vorstellen konnte, ein Baby im Arm zu halten.

»Ich habe mit meinem Vater besprochen, dass ich nächstes Jahr die Konditorei übernehmen darf.«

»Das ist wunderbar.«

Gert nickte mit stolzer Miene. »Wir können in zwei Kammern über dem Café ziehen und dann werden wir uns zügig ein eigenes Haus kaufen. Es sind neue Bauvorhaben geplant. Wir werden die Ersten sein, die ein nagelneues Einfamilienhaus mit Garten besitzen werden.« Er strahlte. »Dort werden unsere Kinder schnell Spielkameraden finden.«

»Du scheinst schon alles durchdacht zu haben.«

»Daher sollten wir einen Termin für die Hochzeit festlegen.« Er griff nach ihrer Hand und zog sie hinter die Gartenhütte, in eine Nische zwischen Büschen und Koniferen, wo sie vor den Blicken der anderen geschützt waren. Sie lachte kurz auf, weil sie sich wie ein Schulmädchen fühlte, das einen Streich ausgeheckt hatte.

Er hob sie hoch und setzte sie auf die hüfthohe Mauer, die die Grenze zum Nachbargrundstück markierte. Er nahm ihr das Bier aus der Hand und platzierte beide Gläser auf dem Boden. Dann stellte er sich vor sie und fuhr mit den Fingern in ihren Nacken. »Ich will nicht mehr länger warten, Eva«, hauchte er und küsste sie gierig. Er schmeckte nach Alkohol und Zigaretten. Seine eine Hand nestelte an den Knöpfen in ihrem Rücken, die andere zog ihr Kleid hoch.

Evas Knie wurden weich. Nicht jetzt, nicht hier. Sie konnte das nicht. Wollte es nicht. Sie hatte sich vor diesem Moment gefürchtet, dachte, sie hätte noch Zeit bis zur Hochzeit.

Eva stieß ihn sachte von sich. »Gert, nicht«, sagte sie, doch er presste seine Lippen wieder auf ihre. Gierig, verlangend, seine Zunge drang tief in ihren Mund ein.

»Lass mich nicht länger warten. Wenn wir gleich einen Termin machen, ist alles nur noch pro forma. Ich heirate dich natürlich auch, wenn du schwanger bist.« Er lachte auf. Er glaubte wohl, er hätte einen unglaublich guten Witz gerissen.

Eva rutschte von der Mauer herunter und strich ihr Kleid glatt. »So weit kommt es noch. Alles schön der Reihe nach.«

Er zog die Stirn in Falten. »Ich dachte, nur deine Mutter wäre so streng katholisch.«

»Das hat doch damit nichts zu tun.«

»Dann zier dich nicht so.« Er drückte sie an die Mauer und küsste sie erneut. Wieder machte sie sich von ihm los. Sie schnappte nach Luft. »Ich glaube, du hast zu viel getrunken«, sagte sie und zwängte sich an ihm vorbei.

Schnellen Schrittes lief sie zurück zum Haus und schlich sich drinnen die Treppe hinauf. Zum Glück beachtete sie keiner der anderen. Sie betrat ihr Zimmer, schloss die Tür und lehnte sich an die Wand. Ihr Herzschlag hämmerte wie ein Flakgeschütz. Wie hatte Gert sie so bedrängen können? Sie war noch nicht so weit. Sie wusste, dass einige Männer diese Dinge vor der Ehe erwarteten, doch sie hatte geglaubt, dass ihr Verlobter sich an die Regeln halten würde.

Schritte ertönten, dann ein Poltern. Eva öffnete die Tür und erstarrte, als sie die Stimmen ihrer Eltern vernahm.

»Du willst doch wohl nicht gehen!«, rief ihr Vater.

»Natürlich, du wusstest doch, was heute für ein Tag ist«, entgegnete ihre Mutter.

»War heute Morgen dafür keine Zeit?«

»Da war ich mit den Vorbereitungen beschäftigt.«

»Was sollen die Gäste denken, wenn du verschwindest? Das ist dir doch sonst so wichtig.«

Ihre Mutter wollte weg? Jetzt, da die Feier in vollem Gange war? Das sah ihr überhaupt nicht ähnlich.

»Wir müssen auch an Edith denken«, sagte ihre Mutter.

»Ich möchte den Namen nicht hören. Es hat keinen Namen. Es hat nie gelebt.«

»Natürlich hat sie das, ich habe es doch deutlich in meinem Bauch gespürt.«

Eva schluckte schwer. Hatte sie etwa noch eine Schwester gehabt? Aber was war passiert? Sie sollte nie gelebt haben. Hatte ihre Mutter eine Totgeburt erlitten? Wieso wusste sie davon nichts?

»Du kannst nicht alle deine Kinder totschweigen. Auch nicht Kurt.«

Eva sog scharf die Luft ein, als sie den Namen ihres Bruders hörte. Er war seit dem Krieg nicht heimgekehrt, doch sie hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, dass er irgendwann vor der Haustür stehen würde. Ihr Vater hatte ihn für tot erklären lassen wollen, aber ihre Mutter hatte sich bisher erfolgreich dagegen gewehrt.

»Bei Hitlers Leib, kannst du die Vergangenheit nicht ruhen lassen?«, fragte ihr Vater scharf.

»Es geht um meine Kinder, Franz. Da kann ich nicht ruhen.«

Die Schritte ihrer Mutter wurden erst lauter, dann leiser; sie ging die Treppe hinunter. Evas Beine fühlten sich an wie brüchige Stöcke. Was hatte das alles zu bedeuten? Nachdem auch ihr Vater nach unten gegangen war, folgte sie den beiden. Ihr Vater unterhielt sich mit Walter Koll im Wohnzimmer vor der Bar, zeigte ihm eine der neuen Whiskyflaschen.

Ein Blick nach draußen verriet ihr, dass ihre Mutter gerade das Gartentor passierte und auf die Straße trat. Wenn sie dem auf den Grund gehen wollte, musste sie sich beeilen. Sie sah Helga am Ende des Gartens mit einer Schwester von Gert im Gespräch. Sie würde ihr nicht Bescheid geben können, wenn sie ihrer Mutter folgen wollte. Ihre Neugier siegte. Möglichst unauffällig ging sie zum Gartentor, schlüpfte hinaus und zog es lautlos hinter sich zu.

***

Eva hockte sich hin und verbarg sich hinter einem Busch. Sie zitterte am ganzen Leib, obwohl ihr die Sonne auf den Rücken schien. Es war nicht einfach gewesen, ihrer Mutter ungesehen zu folgen, vor allem, weil sie mit der Straßenbahn gefahren war. Doch Eva hatte sich hinter einem großen Mann mit Hut verbergen können. Und nun war sie auf dem Stoffeler Friedhof.

Ihre Mutter kniete vor einem Grab, hatte den Kopf gesenkt und schien zu beten.

Eva konnte den Strudel aus Empfindungen und Fragen nicht ordnen. So unfassbar war der Gedanke, dass dort womöglich ihre Schwester liegen mochte, von der sie nie etwas erfahren hatte. Eva vernahm das leise Wimmern ihrer Mutter. Wie oft hatte sie ihre Mutter weinen sehen? Vielleicht zweimal. Ihre Mutter war immer die Starke gewesen, auch im Krieg und bei viel Leid, das sie hatte ertragen müssen. Sie hatte in Kriegszeiten den Haushalt organisiert und das Essen besorgt. In den schlimmeren Zeiten war sie mit einem klapprigen Rad nach Langenfeld gefahren und hatte etwas von ihrer Schwester bekommen. So war die Familie besser als andere durch die entbehrungsreichen Jahre gekommen.

Dennoch hatten sie auch Verluste erlitten. Oma Minna war 1944 von ihnen gegangen. Nach deren Tod hatte Evas Mutter vier Wochen kaum ein Wort gesprochen und am Tag der Beerdigung hatte sie geweint.

Schritte ließen Eva aufschrecken. Sie fuhr herum. Ein alter Mann mit buckeligem Rücken und Vollbart bewässerte zehn Meter entfernt ein Grab mit einer Gießkanne. Er warf ihr einen irritierten Blick zu, wobei sich seine Augen verengten. Sie richtete den Kopf zum Busch, doch aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie der Bucklige die Kanne abstellte, sich eine Zigarette anzündete und unverhohlen in ihre Richtung starrte.

Eva hielt instinktiv die Luft an, erhob sich und balancierte auf wackeligen Beinen zwei Schritte über die weiche Wiese. Als sie durch die Zweige des Busches spähte, hielt sie in der Bewegung inne.

Ihre Mutter war verschwunden!

Dann sah Eva sie den Weg hinuntergehen. Sie trat wohl den Heimweg an.

Eva wartete zwei Atemzüge, ging langsam um den Busch herum und steuerte auf das Grab zu, vor dem kurz zuvor ihre Mutter gestanden hatte. Ein paar rot-gelbe Tagetes und Erikapflanzen zierten die Grabstätte. Auf einem verwitterten Holzkreuz stand: »Edith Brockmann, geboren am 30.07.1929, gestorben am 30.07.1929.«

Wahrhaftig!

Sie hatte noch eine Schwester. Es las sich so, als hätte sie einen Tag oder zumindest ein paar Stunden gelebt. Doch die Worte ihrer Eltern hatten sich so angehört, als ob Edith diese Welt nie lebend erreicht hatte. Und es war genau heute vor einundzwanzig Jahren.

»Edith«, flüsterte sie. Wie kalt und ungewohnt sich dieser Name auf ihrer Zunge anfühlte.

Wie konnten ihre Eltern ihr so etwas verschweigen? Und wussten ihre Geschwister Kurt und Margot davon? Kurt mit Sicherheit, er war zu dem Zeitpunkt fünf Jahre alt gewesen, aber Margot gerade mal zwei.

Eva umrundete das Grab und legte ihre Hand auf das Holzkreuz. »Ich werde dein Geheimnis lüften, Schwester.«

Sie wandte sich ab und schritt den Weg entlang Richtung Ausgang. Die kleinen Kiesel knirschten unter ihren Pumps. Ihre Beine fühlten sich schwer an und ihr Blick war tränenverschwommen. Und die Leere in ihrer Brust wollte nicht weichen.

Wie viele Geheimnisse mochte ihre Familie noch haben?

Kapitel 2

»Wat bisde denn heut so zujeknöppt?«, fragte ihre Großmutter beim Frühstück. »Guck emol, du kannst neue Freunde finden un viel lernen.«

Eva nickte, auch wenn sie nicht überzeugt war, dass sie ausgerechnet heute neue Freundschaften schließen konnte. Als sie gestern vom Friedhof zurückgekehrt war, hatte sich ihre Mutter nichts anmerken lassen. Zwar war sie reserviert gewesen, hatte sich aber um ihre Gäste gekümmert und hier und da ein Pläuschchen gehalten. Helga hatte Eva gefragt, wo sie gewesen war, doch sie hatte nur ausweichend geantwortet. Für die Wahrheit hatte sie noch keine Worte gefunden. Sie hatte selbst die Puzzleteile in ihrem Kopf noch nicht zusammensetzen können. Wie oft konnte sie es ihren Eltern nicht recht machen. Margot war immer die Bessere gewesen, in der Schule, beim Klavierspielen und beim Stillsitzen am Abendbrottisch. Vielleicht musste ihre Mutter immer an Edith denken, wenn sie Eva ansah. Was wäre gewesen, wenn Edith noch leben würde? Würde es Eva dann überhaupt …

Sie wagte nicht, den Gedanken zu vollenden.

Vielleicht hätte sie sich getraut, ihrer Großmutter heute Morgen Fragen zu stellen, wenn sie mit ihr allein gewesen wäre. Doch Margot saß neben ihr und löffelte ihre Hafergrütze.

Eva musste ihre Gedanken ordnen und sich überlegen, wen sie damit zuerst konfrontieren wollte. Vor allem aber musste sie sich auf den heutigen Tag konzentrieren – der erste Tag ihrer Ausbildung. Obwohl sich das Bild des Grabkreuzes immer wieder vor ihr inneres Auge schob.

Sie rieb über die Tintenflecke auf ihrem Zeigefinger. Bis spät in die Nacht hatte sie wirre Gedanken, Tausende Fragen und ein Gedicht in ihr Tagebuch gekritzelt. Doch die blauen Stellen würden in der Schule wohl kaum jemandem auffallen.

Ihre Großmutter legte ihr eine in Butterbrotpapier gewickelte Stulle neben ihren Teller. »Hier, für dinne lange Taach! Und dat du mir nachher wieder mit enem Lache nach Haus komms.«

Eva packte es in ihren Ranzen und verabschiedete sich. Sie musste raus hier, konnte den Geruch nach Braten, der immer noch im Raum hing, keinen Augenblick länger ertragen.

Es regnete in Strömen. Einen Moment überlegte sie, ob sie mit der Straßenbahn fahren sollte. Nein! Sie wollte laufen, die frische Luft einatmen, in der Hoffnung, ihren Kopf freizubekommen.

Sie spannte den Schirm auf und trat auf den Bürgersteig. Der Weg führte sie die Wasserstraße entlang, sie bog links zwischen Ständehaus und Kaiserteich ab. Die Wasseroberfläche tanzte vom Regen und war in der Unruhe ein Spiegelbild ihres Inneren. Ein Mann im Anzug stolperte aus der Tür und rannte ihr mit geducktem Kopf entgegen. Seit April 1949 war der Landtag hier eingezogen. Seitdem sah man die Abgeordneten hier ein und aus gehen.

Eva umrundete das imposante Gebäude, kam an dem ersten Spielplatz, der nach dem Krieg erbaut worden war, vorbei und gelangte auf die Elisabethstraße, auf der ihr ein Schulmädchen entgegenkam. Edith … Edith. Wie hätte ihre Schwester ausgesehen? Was wären ihre Vorlieben gewesen?

Eva hörte von hinten ein Rauschen näherkommen und drehte zu spät ihren Kopf. Der Tempo, ein dreirädriger Lieferwagen, war schon viel zu nah, als dass sie hätte ausweichen können. Er fuhr geradewegs in die Pfütze direkt neben ihr. Eine Wasserfontäne spritzte hoch und platschte auf den Bürgersteig.

Ihre Strumpfhose und ein Schuh waren pitschnass. »So ein Mist«, fluchte sie. Sie sah dem Gefährt hinterher. Auf der Rückseite war die Werbung einer Brauerei angebracht. Die Lieferwagen ersetzten immer mehr die Pferdekarren in der Stadt. Bei den Pferdewagen hätte sie sicherlich noch ausweichen können – so war es mit dem Fortschritt.

Schnellen Schrittes überquerte sie den Kirchplatz bei Sankt Peter und bog links in die Kirchfeldstraße ein. Weiter die Straße hinunter würde sie zur Helene Lange Schule gelangen, dem Mädchengymnasium, auf dem sie vor Kurzem ihr Abitur im »Zug F« gemacht hatte. In diesem Zweig hatte sie auch die Fächer »Kochen«, »Handarbeit« und »Hauswirtschaft« belegt.

Ab heute musste sie zur Berufsschule, die sich einen Häuserblock weiter vorn befand. Als sie sich der Eingangstür, in die viele Schülerinnen strömten, näherte, atmete sie tief durch.

Eva blieb vor der hölzernen Tür stehen, von der die Farbe abblätterte. Was würde sie erwarten? Arbeit mit Kindern. Bis vor ein paar Wochen hätte sie nicht geglaubt, dass dies die Zukunft für sie bereithalten würde. Es war noch so unwirklich. Viel lieber würde sie … ja was eigentlich? Sie hatte es noch nie konkret in Worte gefasst, dabei war es doch das, was ihr lag: das Jonglieren mit Wörtern, die Tinte in geordneten Gedanken zu Papier bringen. Aber ihr Vater und das Leben hielten einen anderen Plan für sie bereit.

Eva gab sich einen Ruck und betrat mit dem Strom der Wissbegierigen die Schule. Das Klassenzimmer war voller gackernder, tratschender und lachender junger Frauen. Eva konnte sich glücklich schätzen, noch einen freien Stuhl neben einer zierlichen Brünetten mit Brille zu ergattern. Die Lehrerin musste für drei Schülerinnen weitere Sitzgelegenheiten organisieren. Auf den Fensterbänken stapelten sich die Regenschirme und ließen die Fensterscheiben beschlagen. Ihr Tisch war vollgekritzelt und am äußeren Rand ein Hakenkreuz eingeritzt.

Als alle einen Platz hatten – sie saßen genauso eng gedrängt wie in der Helene Lange Schule kurz nach dem Krieg –, stellte sich eine kleine Frau in einem grauen Damenanzug aus grobem Stoff als Frau Stolzenburg vor. Mit ihren eng zusammenstehenden Augen, der hohen Stirn und den dicken Brauen sah sie sogar grimmig aus, wenn sie lächelte.

»Ihr wollt also Kinderpflegerinnen werden?«, fragte die Frau und ging vor der Tafel auf und ab, schien jede Einzelne zu mustern.

Eva sah nach unten. Sie musste an Edith denken.

»Brockmann?«, fragte eine energische Stimme.

Eva sah auf. »Was?«

»Sind Sie Fräulein Brockmann?«, fragte Frau Stolzenburg.

»Die bin ich. Eva Brockmann.«

Zwei Schülerinnen in der vordersten Reihe steckten die Köpfe zusammen, sahen sich verstohlen zu ihr um und kicherten. Sie waren beide strohblond und so stark geschminkt, als würden sie zu einem Ball gehen wollen.

»Träumt im Unterricht«, murmelte sie und machte einen Haken auf ihrer Liste.

So ein Mist. Der erste Tag und sie war direkt unangenehm aufgefallen.

»Mach dir nichts draus«, flüsterte ihr die Sitznachbarin zu. »Die beiden werden sowieso nicht lange in der Klasse bleiben. Sind beide bereits versprochen und werden bald heiraten.« Das Mädchen neben ihr lächelte wissend.

Eva begriff, dass sie wohl jünger aussah, als sie wirklich war. Erst hatte sie geglaubt, sie wäre nicht älter als sechzehn, doch wenn sie genauer hinsah, schätzte sie die Frau ungefähr so alt wie sie selbst – zwanzig vielleicht. Ihre Haare waren strähnig und das karierte Kleid am Kragen schmutzig, aber sie hatte unheimlich wache Augen.

»Ich bin übrigens Dorothea, doch werde meist nur Dora genannt.«

»Eva.«

Dora lächelte und plötzlich fühlte sich Eva nicht mehr so einsam.

Als Frau Stolzenburg mit der Namensliste fertig war, schrieb sie die Fächer an die Tafel wie Körper- und Bewegungsbildung, Berufskunde, Erziehungslehre, Spielpflege, Geräte- und Maschinenkunde. Alles nichts, was Eva interessierte. Sie war etwas beruhigt, als die Lehrerin mit quietschender Kreide auch »Deutsch« und »Politik« notierte. Doch an ihrer abfälligen Betonung konnte Eva erkennen, dass Frau Stolzenburg diesen Fächern keine große Bedeutung zumaß.

Sie erhielten den Stundenplan und Eva musste mit Erschrecken feststellen, dass es auch hier Wechselunterricht gab. Eine Woche vormittags, die andere nachmittags Unterricht, sodass möglichst viele Klassen das Schulgebäude nutzen konnten. Ein Umstand, den es seit Kriegsende auch auf dem Gymnasium gegeben hatte, weil viele Gebäude durch die Bombenangriffe zerstört worden waren.

»In der zweiten Stunde habt ihr Politik. Der Lehrer kommt von einer anderen Schule. Dass ich keine Klagen höre«, sagte Frau Stolzenburg, bevor sie sich verabschiedete.

»Ich komm übrigens aus Danzig und du?«, fragte Dora.

»Ich hab schon immer hier in Düsseldorf gewohnt.«

»Echt? Du Glückliche!«

War sie das wirklich? Im Moment fühlte es sich nicht so an. So konnte es nicht bleiben. Sie musste heute mit irgendjemandem über ihre neue Erkenntnis reden. Mit ihrer Mutter, ihrem Vater oder vielleicht mit Oma Ida.

Dann betrat der Politiklehrer den Klassenraum und sie hielt für einen Augenblick die Luft an. Beim Eintreten musste er den Kopf einziehen, um sich nicht an dem Holzbalken zu stoßen. Seine rötlichen Haare erinnerten an die britischen Besatzer, sein Gesicht war schmal und markant, er trug ein schwarzes Hemd zu einer eng anliegenden Anzughose. Er wirkte jung, sie schätzte ihn auf Mitte Zwanzig. Wie konnte so jemand bereits Politik studiert haben? Er musste doch im Krieg gedient haben.

Wortlos platzierte er seine Aktentasche neben dem Pult und stellte sich vor die Klasse, die Hände zusammengefaltet, abwartend, bis die Schülerinnen ihre Gespräche einstellten.

»Vielen Dank, meine Damen, dass Sie mir Ihre Aufmerksamkeit schenken.« Er ließ den Blick schweifen. »Sie wollen Kinderpflegerinnen werden und ich weiß, dass wirklich verantwortungsvolle Aufgaben auf Sie warten. Doch es gibt auch andere wichtige Themen abseits von Spieltrieb und Nahrungsaufnahme.«

»Meinen Sie etwa, es gibt etwas Wichtigeres als die Erziehung der Kinder – der Zukunft unseres Landes?«, fragte eines der strohblonden Mädchen in der ersten Reihe.

Er schritt durch das Klassenzimmer, blieb vor ihrem Tisch stehen und sah von oben auf sie herab. Es blieb still, sie rutschte unruhig auf ihrem Stuhl herum. Ohne Worte strahlte er eine enorme Autorität aus. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit sagte er: »Habe ich Sie aufgefordert, etwas zu sagen?«

Das Mädchen schüttelte verschüchtert den Kopf.

»Dann möchte ich auch nichts hören.« Er trat wieder vor die Tafel. »Wer dazwischenquatscht, bekommt Strafarbeiten. Wer mitarbeitet, gute Noten. Melden Sie sich, wenn Sie etwas zu sagen haben, dann werde ich Sie aufrufen. Ansonsten erwarte ich gespanntes Zuhören und …« Er machte eine Pause, hob den Finger und ließ den Blick schweifen. »Mitdenken.«

Sein Blick traf Eva und verharrte einen Moment. Ihr Herz begann zu klopfen und ihr wurde warm. Es war ihr, als würde er ihr leicht zunicken. Oder hatte sie sich getäuscht? Was auch immer es war, es gefiel ihr, dass er sein Fach so wichtig nahm und von ihnen eigene Gedanken forderte. Sie ahnte, dass Politik ihr Lieblingsfach werden würde.

***

Eva setzte sich zu ihrer Familie an den Esstisch. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie Angst hatte, die anderen könnten es sehen. Sie hatte sich die Fragen im Voraus überlegt, verlor die Worte aber immer wieder. Sie waren wie Seifenblasen, einmal in Form, zerplatzten sie bereits wieder.

Nachdem Johanna ihnen die Erbsensuppe serviert hatte, falteten sie alle die Hände. Ihre Mutter sprach ein Dankgebet: »Ob wir trinken, ob wir essen, lass uns Dich, Herr, nicht vergessen. Dich, der Leib und Seele speist, Vater, Sohn und Heiliger Geist. Amen.«

Die anderen begannen zu essen. Eva griff nach ihrem Löffel und hatte das Gefühl, dass er kälter war als üblich.

»Wann hört der Quatsch endlich auf?«, brummte ihr Vater, den Blick auf die Mitte des Tisches geheftet.

Die Mundwinkel ihrer Mutter zuckten, sie schwieg jedoch. Ihr Glaube war seit jeher ein Streitthema in der Familie gewesen. Vor allem als Hitler an die Macht gekommen und Evas Vater in die Partei eingetreten war. Für ein paar Jahre hatte ihr Vater durchgesetzt, dass sie statt Weihnachten das Sonnwendfest feierten. Seitdem der Krieg jedoch vorbei war, hatte ihre Mutter wieder das Weihnachtsfest und den sonntäglichen Kirchgang eingeführt und ihr Vater hatte nach seiner Heimkehr nichts dagegen einwenden können.

Er hob den Kopf und sah Eva an. »Wie war dein erster Schultag?«

»Also …« Eva räusperte sich. Sie wollte nach ihrer verstorbenen Schwester fragen. Edith! Die Bilder der Schule stolperten nur langsam in ihr Gehirn. Die ungewohnten Fächer, die vielen neuen Gesichter, das Schaben der Stühle über den Boden. »… gut, denke ich.« Dass sie einen schlechten Eindruck bei Frau Stolzenburg hinterlassen hatte, brauchte er nicht zu wissen. Dafür würde sie sicherlich bei dem Politiklehrer punkten können.

»Geht das auch etwas genauer?« Ihr Vater führte einen Löffel Suppe zum Mund. »Wir müssen dir doch sonst nicht alles aus der Nase ziehen.«

Evas Blick blieb an dem Blumenstrauß mit den roten Rosen und weißen Nelken in der Meißener Trompetenvase mit dem Goldrand hängen. Auf der Unterseite prangte das Symbol der Vergangenheit: das Hakenkreuz. Ihre Eltern hatten das gute Stück nicht aussortieren können. Die Vase stand schließlich auf dem Unaussprechlichen, sodass kein Gast es zu Gesicht bekam. Auch hier wurde etwas verschwiegen. Was wohl noch alles?

»Wir haben noch nicht viel gemacht«, antwortete Eva. »Wir haben den Stundenplan bekommen, es gibt wieder Wechselunterricht. Und ich muss bald einen Tag in der Woche zu einer Familie und die Kinder betreuen.«

»Mein Mädchen wird erwachsen.« Er rührte mit zufriedener Miene in der Suppe.

Jetzt war der Zeitpunkt gekommen! Ihre Handflächen begannen zu schwitzen. Sie öffnete den Mund.

»Fragt mich auch mal jemand, wie mein Tag war?« Margot zog einen Schmollmund.

Eva ließ langsam die Luft aus ihren Lungen und drehte den Löffel zwischen den Fingern.

»Natürlich, mein brauner Engel. Was hast du zu berichten?« Ihr Vater tunkte einen Kanten Brot in die Suppe und riss mit den Zähnen ein Stück davon ab.

»Brauner Engel« und »blonder Engel«. Diese beiden Spitznamen stammten aus ihrer Kindheit. Eva wollte so nicht mehr genannt werden, aber Margots strahlender Miene nach zu urteilen, schien es ihr zu gefallen.

»Ich hatte heute wieder echte Härtefälle dabei.« Sie trieb Beiträge für eine Versicherung ein, die ihren Hauptsitz in Köln und eine Zweigstelle in Düsseldorf hatte. Sie hatte sich dort um eine Ausbildung beworben, doch die Versicherung hatte sie abgelehnt und ihr stattdessen diese Stelle angeboten. »Und als ich bei einer Dame vor der Haustür stand, kam gerade ihr ältester Sohn zu Besuch.«

Jetzt blickte auch ihre Mutter interessiert auf.

»Und wat hasde ihm jesacht? Her mit em Jeld oder ich tu dich heirade?« Oma Ida lachte und füllte sich mit dem Löffel noch etwas Erbsensuppe auf ihren Teller.

»So ähnlich, Oma. Er hat tatsächlich das Geld für die Versicherung seiner Mutter beglichen. Und mich anschließend zum Kaffee hereingebeten.«

Ihr Vater stockte in der Bewegung. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst keine Wohnungen von Fremden betreten. Das ist viel zu gefährlich.«

»Er war so sympathisch, da konnte ich nicht ablehnen. Es gab echten Bohnenkaffee und Birnenkuchen. Der Mann hat vor vier Wochen bei der Frankfurter Allianz als Vertreter angefangen.« Margots Augen leuchteten und sie vergaß über ihren Erzählungen, ihre Suppe zu essen. Sie schwärmte für den gut aussehenden Versicherungsvertreter und hatte ihn fürs Wochenende zum Kaffee eingeladen.

»Das nächste Mal fragst du mich zuerst, bevor du fremde Männer zu uns nach Hause einlädst«, zischte ihre Mutter.

»Aber ihr müsst doch zugeben, dass heiratsfähige Männer rar sind in …« Das Klingeln des Telefons unterbrach Margot.

Ihr Vater erhob sich und stapfte zur Tür.

»Lass dich doch nicht beim Abendessen stören«, sagte ihre Mutter.

»Ich muss wissen, wer es ist«, widersprach er und stieg die Treppe hoch in sein Büro. Er kam nicht wieder herunter und Eva hatte keine Möglichkeit mehr, ihre Fragen loszuwerden.

Nach dem Essen setzte Margot sich ans Klavier, um für ihre nächste Musikstunde zu üben, und ihre Mutter ging in den Keller und kümmerte sich um die Wäsche.

Eva ließ sich an dem Tisch in der Küche nieder.

Ihre Großmutter nahm ihr gegenüber Platz. »Wat bisde denn so bedröppelt, Kind?« Sie hatte sich über die karierte Bluse wieder die rot-weiße Schürze im Karomuster angezogen.

»Ich …« Eva strich über die Tischplatte, auf der mehrere Einkerbungen das Möbelstück als Relikt früherer Zeiten erscheinen ließen.

Jetzt oder nie! Was hielt sie davon ab? Sie musste es loswerden. Und ihre Großmutter würde sie verstehen. »Ich habe gestern zufällig einen Streit zwischen Mama und Papa mitbekommen.«

»Und um wat isses en dem Streit jejange?«

Eva nahm einen tiefen Atemzug, bevor sie die nächsten Worte aussprach. »Darum, dass Mama gestern zum Friedhof gegangen ist.«

Ida blies die Backen auf und lehnte sich im Stuhl zurück. »Und du bis ihr dann hinterher jejange.«

»Woher weißt du das?«

»De Auge von en alde Frau entjeht nix.« Sie tippte sich ans untere Augenlid.

»Was weißt du darüber?«

»Wat hasde denn spritz jekriecht?«, fragte ihre Großmutter und blickte sie unverwandt an. In ihren braunen Augen lag eine Trauer, die Eva selten bei ihrer Oma entdeckte.

Eva schloss die Lider, sah den Grabstein vor sich. »Dass ich eine Schwester namens Edith habe und dass sie am 30. Juli 1929 geboren und gestorben ist.« Sie öffnete wieder die Augen.

Ihre Großmutter rieb sich mehrmals über Mund und Kinn, dann griff sie nach ihren Händen. »Warum soll ich et noch für mich behalde? Et stimmt.«

»Was ist passiert?«, fragte Eva, wobei ihre Stimmbänder ihr kaum gehorchten.

»Din Mam hat en dodes Kind op de Welt jebracht, et war schon en paar Taach vorher jestorwe.«

»Wie schrecklich.« Eva rieb die Finger aneinander.

»So is dat Lebe, Kind! Unser Herrjott jibt und er nimmt. En dem Fall hat er nit jejäwe.«

»Aber warum hat mir nie jemand etwas davon gesagt?« Sie hatte immer geglaubt, sie könnte ihren Eltern alles glauben, hatte ihnen blindes Vertrauen geschenkt. Ihre Mutter hatte im Krieg immer betont, man müsse sich auf die Familie verlassen können und dürfe keine Geheimnisse voreinander haben.

Ihre Großmutter seufzte. »Dinne Papp hat immer so jedonn, als wär dat Kind nie jebore worde. Und für din Mam waren Unglück und Kummer so jroß, dat se dat alles en sich einjeschlosse hat.«

»Weiß es Margot?«

Ihre Großmutter schüttelte den Kopf. »Dat kann ich mir nit vorstelle.«

»Aber das können die doch nicht machen! Wir haben ein Recht darauf, so etwas zu erfahren. Sie war auch unsere Schwester. Vielleicht hätten wir Mama bei ihrer Trauer unterstützen können. Wir hätten sie zum Friedhof begleiten können.«

»Nee, Evi! Keener kann ihr helfe. Und du sollst dir dat nit so zu Herze nehme, bloß weil din Mam emol em Jahr zum Friedhof jeht.«

»Nicht so zu Herzen nehmen?« Eva stand auf und lief zwischen Ofen und Tisch hin und her. »So etwas Wichtiges kann man doch nicht verschweigen! Ich dachte immer, sie wären aufrichtig zu uns …«

Ihre Großmutter erhob sich und umarmte sie. »Ach, Evi. Se meinen dat nit bös.«

Das taten sie gewiss nicht. Doch wie hoch wurde die Ehrlichkeit in diesem Haus geschrieben? Gab es noch mehr, das ihre Eltern verschwiegen?

***

August 1950

Als Eva mit dem Fahrrad den Weg zwischen Kaiserteich und Schwanenspiegel entlangfuhr, sah sie ein Pärchen in einem Ruderboot über den See gleiten. Die Frau strahlte ihren Ruderer an, der Wind wehte ihr die lockigen Haare vors Gesicht. Wie gern würde Eva mit ihr tauschen.

Seit sie gestern von ihrer Großmutter Gewissheit erhalten hatte, beherrschte Edith jeden ihrer Gedanken. Auch in der Schule hatte ihr die Konzentration gefehlt. Sie sehnte sich nach lieben Worten, einer Umarmung und Zuspruch. Vielleicht schaffte es Helga, den Druck von ihrer Brust zu nehmen.

Als sie am Café Koll vorbeiradelte, sah sie Gert auf die Terrasse treten. Leichtfüßig schlängelte er sich zwischen den Tischen hindurch und servierte einem älteren Ehepaar mit ausladenden Armbewegungen Kaffee und Kuchen. Als er sich in ihre Richtung drehte, senkte sie den Kopf und trat fester in die Pedale. Sie hatte keine Lust auf eine Unterhaltung und hätte wohl besser den Umweg über die Bahnstraße nehmen sollen. Doch er rief nicht ihren Namen. Hoffentlich hatte er sie nicht gesehen und würde ihr später vorhalten, dass sie nicht angehalten hatte. Das könnte sie nicht auch noch ertragen.

Als Eva das Trümmerhaus erreichte, stieg sie vom Fahrrad und schob es den holprigen Weg entlang bis zum Eingang. Schon von Weitem hörte sie Kindergeschrei. Sie lehnte das Rad hinter einer Tonne an die Hauswand und ging die paar Stufen zum Kellereingang hinunter. Die provisorische Tür stand einen Spalt offen. Eva drückte sie auf und warf einen Blick hinein. Die zwei Brüder von Helga jagten sich um den Tisch, die ältesten Schwestern Sonja und Gundel brüteten über einem Buch, während die drei jüngeren auf dem Bett mit zerschlissenen Puppen spielten. Der einen fehlte ein Bein, die andere hatte nur noch verbrannte Stoppeln als Haare. Ihre Mutter räumte Teller in die offene Kommode.

»Was machst du denn hier?«, fragte Helga und kam auf sie zu.

»Hast du Zeit?« Eva rieb die Fingerspitzen aneinander.

Helga blickte kurz über ihre Schulter. »Also, wenn du ins Kino willst, dann kriege ich meine Mutter überzeugt, dass ich gehen kann.«

»Erzähl ihr, was du möchtest, ich muss mit dir reden.«

»Oh! Wo brennt’s denn?«

Eine ihrer jüngeren Schwestern trat neben sie und hielt Eva die Puppe hin. »Möchtest du die Mama sein?«

Eva lächelte das Mädchen an. »Das nächste Mal.«

»Geh zurück, Lieschen«, sagte Helga und wuschelte ihrer Schwester über den Kopf. Dann sprang sie zu ihrer Mutter und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Der Blick von Helgas Mutter war nicht begeistert. »Aber um acht bist du zurück.«

Helga bürstete sich geschwind das Haar, zog einen Strickpullover mit kurzen Ärmeln an, band sich ein Tuch um den Hals und schnappte sich ihre Handtasche. Dann traten sie ins Freie.

»Und was machen wir mit dem angebrochenen Abend? Wollen wir nicht doch ins Kino? Im Europa Palast läuft Große Freiheit Nr. 7, der Western Vogelfrei im Asta Nielsen oder In den Klauen des Borgia im Atrium Metropol.«

Eva musste lächeln. »Du bist mal wieder bestens informiert.«

»Du kennst mich doch. Ich würde den Western vorschlagen, der wird dich aufmuntern.« Helga schlug ihr leicht die Handtasche gegen den Oberarm. »Nun sag schon, was ist los?«

»Lass uns einen Kaffee trinken gehen, ich erzähl dir alles und dann sehen wir weiter.«

»Willst du etwa deinen Verlobten wiedersehen, das hättest du auch einfacher haben können?«

»Nicht Koll. Ich lade dich heute ins Café Hemesath ein.«

Helga machte große Augen. »Hättest du das nicht eher sagen können? Dann hätte ich mir das Kleid von Sonntag angezogen.«

Sie sah an sich hinunter und zupfte an ihrem Rock aus grobem Stoff.

»Du siehst wunderbar aus. Außerdem gehen wir nicht zu einer Modenschau, sondern nur einen Kaffee trinken.«

Helga hakte sich bei ihr unter und gab einen strammen Schritt vor. »Was sollen die anderen Leute denken?«, fragte sie gespielt beleidigt und musste lachen.

Eva genoss die Leichtigkeit, die ihre Freundin ausstrahlte. Es war das, was sie jetzt brauchte. Und sie wusste, dass Helga gleich genauso gut würde zuhören können.

 

Die Außenterrasse des Café Hemesath auf der Königsallee war an diesem Nachmittag gut gefüllt. Sie bekamen noch einen Platz an einem äußeren Tisch. Der Regen hatte zum Glück heute Morgen aufgehört und jetzt kam sogar die Sonne durch die Wolken. Die Tische und Stühle waren durch einen Zaun vom breiten Bürgersteig und der Straße abgetrennt. Die gestreiften Schirme spendeten Schatten.

Als sie sich setzten, bekamen sie von zwei Damen in edlen Kleidern skeptische Blicke zugeworfen. Die ältere der beiden war so stark geschminkt, dass man nicht sicher sein konnte, ob man überhaupt etwas natürliche Haut in ihrem Gesicht sah. Auf ihrem weißen Rock hielt sie ein ebenso weißes Schoßhündchen. Die andere trug einen überdimensionalen Hut mit einer künstlichen Blume darauf. In einer ausladenden Geste führte sie ihre Zigarette zum Mund, zog daran und blies den Rauch nach oben.

Helga beugte sich zu Eva herüber. »Wir hätten unsere Garderobe doch überdenken sollen.«

»Du machst dir darüber zu viele Gedanken.« Ihre Sorgen wollte Eva haben. Sie bestellten sich Kaffee und Helga ein Stück Käsesahnetorte. Sie selbst würde nichts herunterbekommen.

»Und nun erzähl«, forderte Helga sie auf. »Wo drückt der Schuh?«

Eva atmete tief durch. »Ich habe erfahren, dass ich noch eine Schwester hatte, die verstorben ist.«

»Wie bitte?«

Nachdem die Getränke und der Kuchen gekommen waren, begann Eva zu erzählen, was sich seit Sonntag zugetragen hatte.

Helga griff nach ihrer Hand. »Evi, ich kann verstehen, wie du dich fühlst. So eine Nachricht muss schrecklich sein.«

»Ja, das ist sie.«

»Aber es ist kein Weltuntergang. Das Leben geht weiter.«

Eva zog ihre Hand zurück und rührte in ihrem Kaffee. »Ich kann nicht fassen, dass meine Eltern mir so etwas Wichtiges verschweigen.«

Helga ließ die Schultern hängen, wandte den Blick ab, hing anscheinend einen Moment ihren Gedanken nach, bevor sie wieder Eva ansah und fortfuhr: »Evi, ich kann verstehen, dass du enttäuscht bist. Aber was glaubst du wohl, was wir Maria erzählt haben? Sie weiß weder von Papa noch von Lothar.« Maria war ihre jüngste Schwester. Das Mädchen hatte keine Ahnung, dass ihr Vater seit dem Krieg verschollen und ihr ältester Bruder an der Front gefallen war.

»Sie ist ein Kind, irgendwann werdet ihr der Kleinen das wohl erzählen.«

»Das vielleicht, aber was mit meinen Großeltern geschehen ist …« Sie senkte den Blick. Eva hatte ihre Freundin selten so traurig gesehen.

»Was ist mit ihnen passiert?«, fragte Eva leise und strich über den Rand ihrer Tasse.

Helga trank von ihrem Kaffee, wobei ihre Hand zitterte und beim Abstellen des Porzellans einen Schluck auf die Untertasse schwappte. »Ich weiß nicht, ob wir darüber reden sollten. Deine Sorgen sind im Moment groß genug.«

»Hast du es nicht verstanden, Helga? Mir geht es darum, dass mir etwas verschwiegen wurde. Das ist das Schlimmste daran.«

»Also, wenn du es unbedingt wissen möchtest …« Helga knetete ihre Hände. Sie blickte kurz zu den Kastanien auf der anderen Seite der Straße am Stadtgraben, bevor sie Eva direkt ansah. »Als wir aus Ostpreußen geflohen sind, haben meine Mutter, meine Geschwister und ich uns von unseren Großeltern in Gotenhafen im Hafen getrennt. Einfach nur, weil meine Mutter noch auf eine Freundin warten wollte. Wir wollten uns in Kiel treffen. Dann sind meine Großeltern an Bord der Gustloff gegangen.«

»Oh! Das tut mir leid.«