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Alex fehlt es an nichts: Sein Vater zahlt ihm Studium und Wohnung und er genießt sein Leben in vollen Zügen. Kaum etwas lässt er anbrennen, wenn er feiern geht. Janna hingegen arbeitet Nacht für Nacht in einem Club, um sein Studium zu finanzieren. Als die beiden aufeinandertreffen, ist Alex sofort von Jannas kühler Art fasziniert. Irgendetwas verbirgt Janna hinter seiner abweisenden Fassade und trotzdem kann Alex sich nicht helfen; er fühlt sich unweigerlich von ihm angezogen. Dann jedoch verschwindet Janna spurlos ...
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Seitenzahl: 456
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Elian Mayes
© dead soft verlag, Mettingen 2018
http://www.deadsoft.de
© the author
Cover: Irene Repp
http://www.daylinart.webnode.com
Bildrechte:
© Andrey Kiselev – fotolia.com
1. Auflage
ISBN 978-3-96089-181-9
ISBN 978-3-96089-182-6 (epub)
Alex fehlt es an nichts: Sein Vater zahlt ihm Studium und Wohnung und er genießt sein Leben in vollen Zügen. Kaum etwas lässt er anbrennen, wenn er feiern geht.
Janna hingegen arbeitet Nacht für Nacht in einem Club, um sein Studium zu finanzieren.
Heiß, es war viel zu heiß! Nur das letzte bisschen Selbstkontrolle hielt Alex davon ab, zu hecheln wie ein Hund, als er sich hinter der Fensterscheibe des Busses der heißen Sommersonne ausgesetzt sah. Als ob man als Student nicht genug leiden müsste, dachte er missmutig und schwitzte vor sich hin. Noch drei Stationen, dann durfte er endlich aus dieser fahrenden Sauna aussteigen, die er trotz allem einem Fußmarsch in der Hitze vorzog.
Umso überraschter war er, als er tatsächlich jemanden entdeckte, der auf dem Fahrrad- und Fußgängerweg neben der Straße joggte. Die schwarzen Haare klebten ihm dabei an der Stirn, das weiße T-Shirt war beinahe durchsichtig. Der musste wirklich lebensmüde sein, dachte Alex stirnrunzelnd, doch er verschwendete keinen weiteren Gedanken an den Verrückten. Stattdessen schloss er die Augen und öffnete sie erst wieder, als der Bus seine Haltestelle erreicht hatte. Er schleppte sich durch die Bustür und dann die Straße hinauf, hin zu den Appartements, wo er allein in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung lebte. Müde erklomm er die unzähligen Stufen zu seinem einsamen Reich; der Aufzug war schon seit ein paar Wochen kaputt.
Alex stieß die Tür auf und begrüßte mit einem Seufzen die kühle Luft, die ihm entgegenschlug. Seit Wochen hielt er tagsüber die Fensterläden geschlossen, lüftete nur nachts, aber dafür umso ausgiebiger. So war es zu Hause stets angenehm kühl, zumindest im Vergleich mit den Temperaturen, die draußen oder im Treppenhaus herrschten.
Gähnend machte Alex sich einen Kaffee. Er wischte sich ein paar verschwitzte, blonde Strähnen aus dem Gesicht, bevor er sich auf seine Couch fallen ließ und die Glotze anstellte. Es dauerte jedoch nicht lange, bis ihm vor Erschöpfung auch schon die Augen zufielen.
Als er wieder erwachte, war vom Schlaf noch leicht verwirrt. Das ihm öfter passierte, wenn er nachmittags ungewollt einschlief. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er sich beeilen musste, wenn er noch rechtzeitig zur Vorlesung kommen wollte. Schlaftrunken torkelte er ins Bad und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Es zeigte nur mäßig Wirkung. Sein Spiegelbild verriet ihm außerdem, dass er trotzdem noch aussah, als wäre er von einem Laster überrollt worden. Besonders die vom Schlaf noch müden Augen hätten mit diesen wunderbar hübschen Augenringen von einem Zombie stammen können.
Zu spät trudelte er im Hörsaal ein, aber das interessierte niemanden. Leise ließ er sich in die hinterste Reihe fallen und scannte kurz die Powerpoint-Präsentation. Aha, Genetik. Jetzt fiel ihm auch wieder ein, wieso er sich aufgerafft hatte: Er mochte das Thema.
Kurz nach ihm setzte sich jemand auf den freien Platz auf seiner rechten Seite. Neugierig lugte Alex zu ihm hinüber und stutzte. Hinter dem Vorhang aus schwarzem Haar konnte er nicht allzu viel erkennen, doch das durchgeschwitzte weiße T-Shirt kam ihm vage bekannt vor. Das war der Irre, den er aus dem Bus heraus beobachtet hatte. Atemlos kramte der Neuankömmling einen Block und einen Stift aus seiner Tasche, doch es dauerte gar nicht lange, da schlief er auf seinen Unterlagen ein. Stirnrunzelnd wandte Alex wieder den Kopf nach vorn. Wieso ging man überhaupt zur Vorlesung, wenn man ohnehin nicht vorhatte, zuzuhören? Es bestand doch keine Anwesenheitspflicht.
Der Professor beachtete den Schlafenden nicht – er war nicht einmal der Einzige – und setzte seinen Monolog fort. Ab und zu schreckte der Schwarzhaarige neben Alex kurz hoch, notierte sich für ein paar Minuten etwas und schlief wieder ein.
»Harte Nacht gehabt?«, fragte Alex schief grinsend, nachdem der Professor die Vorlesung beendet und sein Sitznachbar sich aufgerafft hatte. Wenn jemand sich so abhetzte, nur um irgendwo einzuschlafen, dann musste das doch einen Grund haben.
»Hmm«, brummte der zur Antwort. Die Ringe unter den dunklen, fast schwarzen Augen unterstrichen diese Einsilbigkeit noch. Schwarze Haare, schwarze Augen und ein Teint wie Schneewittchen, stellte Alex schmunzelnd fest. Fehlten nur die roten Lippen und der Apfel. Die zierliche Figur und das zarte Gesicht hatte er jedenfalls.
»Hab nicht viel geschlafen«, murmelte der wortkarge Kerl dann doch überraschend ausführlich. Nicht, dass Alex nicht allein darauf gekommen wäre.
»Studierst du auch Bio?«, ging er daher nicht auf das Eingeständnis ein und runzelte überrascht die Stirn, als der andere den Kopf schüttelte.
»Nein, eigentlich bin ich Automechaniker und komme nur wegen der Aussicht hierher.« Alex brauchte einige Sekunden, bis er begriff, dass das ein Scherz sein sollte. Er war wohl auch noch nicht so ganz wach.
»Also ja«, schlussfolgerte er scharfsinnig und zum ersten Mal zuckte der Schatten einer Emotion in Form eines Lächelns über das blasse Gesicht seines Gegenübers. Es ließ ihn direkt menschlicher, oder vielmehr lebendiger, aussehen.
»War das deine letzte Vorlesung für heute?«, fragte Alex interessiert. »Falls ja, könnten wir zusammen in die Mensa gehen.« Er hasste es, allein zu Abend zu essen. Dabei fühlte er sich immer so beobachtet, als ob die anderen sich darüber den Kopf zerbrechen würden, warum er allein aß oder als ob er keine Freunde hätte. Wohl noch so eine Marotte von ihm und abgesehen davon, hätte er gern noch etwas mehr über den schweigsamen Unbekannten erfahren. Verrückte wie er, die sich die Rennerei durch die Sonne freiwillig antaten, waren doch immer irgendwie interessant. Doch leider schüttelte der den Kopf.
»Ich muss weg«, erklärte er kurz angebunden. »Vielleicht nächste Woche.« Er griff nach seiner Tasche und drehte sich um. Nachdenklich sah Alex ihm nach, wie er davonging und fragte sich, wieso er ihm noch nie zuvor über den Weg gelaufen war. Nun besuchte er diese Vorlesung schon seit ein paar Wochen, aber ein Schneewittchen war ihm noch nicht aufgefallen. Schließlich besann er sich und packte sein Zeug ebenfalls ein. Da er noch immer nicht allein in der Mensa essen wollte, machte er sich auf den Heimweg und sprang nur kurz in den Supermarkt. Tiefkühlpizza war sein neuer, bester Freund.
Später saß er kauend auf dem Sofa, zog sich irgendeinen Horrorfilm rein und mampfte seine Pizza. Allein. Eigentlich ging er freitagabends aus, um sich das Wochenende mit einer schnellen Nummer zu versüßen, aber an diesem Tag konnte er seine müden Knochen nicht dazu überreden. Außerdem war es noch immer viel zu warm draußen. Er schaffte es lediglich zu seinem Kühlschrank und danach wieder zum Sofa. Gegenüber stand, unscheinbar neben seinem Flatscreen, sein kleines Geheimnis: ein wackliges Bücherregal. Dass er las und das auch noch gern tat, wusste kaum jemand von ihm. Er hielt es auch nicht für notwendig, das jedem auf die Nase zu binden. Lesen passte nicht zu seinem Image. Wenn ihn eine seiner Eroberungen nach dem Regal fragte, dann erzählte er, dass es nur zur Zierde dort stand. Wer datete schon gern einen Bücherwurm?
Rechts des Regals führte eine Tür in sein Schlafzimmer und eine zweite in sein Bad. Beide Räume waren stets penibel aufgeräumt und sauber. Er hasste nichts mehr als ein dreckiges Bad – abgesehen von einem dreckigen Schlafplatz. Das war auch der Grund, warum er auf der Couch niemals schlief, sondern höchstens Sex hatte. Doch auch das war in letzter Zeit nicht besonders häufig vorgekommen, denn seine Eroberungen schafften es selten bis zu ihm nach Hause. Und sie schafften es auch nie in sein Leben.
Die Woche verging schleppend, die Hitze machte Alex zu schaffen und die Übungen und Vorlesungen gingen ihm auf die Nerven. Trotzdem ging er hin. Ein wenig Ordnung in seinem Tagesablauf schadete schließlich nicht.
Montags war er mit ein paar Kommilitonen im Kino, dienstags und mittwochs verbrachte er den Abend mit ihnen an der Liegewiese am Fluss, donnerstags lag er den halben Tag vor der Glotze. Daneben schrieb er nur ein paar Zeilen zu seiner Hausarbeit und erstellte die Gliederung derselben. Kurz gesagt: Er ließ die Woche selbst für seine Verhältnisse extrem ruhig angehen. Während dieser Zeit schlich sich Schneewittchen immer wieder in seine Gedanken. Noch immer war er dem Rätsel, warum er ihn bisher nie gesehen hatte, nicht auf die Schliche gekommen, und auch, als er die anderen fragte, bekam er nicht wirklich eine Antwort.
»Der redet mit keinem«, meinte einer seine Kommilitonen desinteressiert, als Alex ihn nach einem schmalen Kerl mit schwarzen Haaren fragte. »Der arbeitet immer allein und will von niemandem etwas wissen.«
Freitagabend kam. Alex saß in der Genetik-Vorlesung und spielte mit sich selbst Tic-Tac-Toe, als sich jemand zwei Plätze weiter neben ihm niederließ. Aus den Augenwinkeln erkannte er schwarzes Haar und sah überrascht auf. Der komische, schweigsame Kerl war wieder da! Diesmal schlief er jedoch nicht ein, sondern schrieb fleißig mit. Er sah auch nicht mehr ganz so sehr im Eimer aus wie beim letzten Mal. Wenn er nachdachte und dabei die Zunge zwischen die Zähne nahm, wirkte er total in den Stoff vertieft. Eigentlich ziemlich süß.
Ups.
Hatte er das gerade tatsächlich gedacht? Dabei entsprach der dünne Typ mit der Kellerbräune so gar nicht seinem Beuteschema. Ach, scheiß drauf, dachte Alex dann, er musste doch nicht alles und jeden in ein Schema einteilen.
»Heute Mensa?«, unterbrach er den anderen daher hoffnungsvoll bei seiner Grübelei, der daraufhin wie aus tiefen Gedanken erwachend aufsah.
»Hä, was? Ach du … Nee, sorry, ich hab zu tun«, antwortete der, während er sich mit dem Ende seines Stifts die schwarzen Strähnen aus dem Gesicht strich.
Mist. Also schon wieder Tiefkühlpizza.
»Was hast du denn zu tun?«, wollte Alex neugierig wissen, doch er erhielt keine nennenswerte Antwort darauf; der Blick des anderen war wieder auf den auf- und ablaufenden Professor gerichtet.
»Wie heißt du eigentlich?«, fragte Alex weiter, obwohl er eigentlich nicht mit einer Antwort rechnete.
»Janna.«
»Janna?« Verwundert hob Alex eine Augenbraue. Konnte man einen Jungen Janna nennen? Nun, offenbar hatten dessen Eltern es gekonnt, dachte er und war plötzlich über das Namensmonstrum Alexander Christian von Berthingen mehr als froh.
»Ja, Janna«, gab Janna zurück, nun seinerseits die Stirn runzelnd und Alex wurde plötzlich bewusst, wie unhöflich sein ungläubiges Nachplappern gewesen war. Er setzte ein entschuldigendes Grinsen auf.
»Also, was hast du denn zu tun?«
»Arbeiten.«
Mann, der Kerl war ja gesprächig! Er verschwand auch nach der Vorlesung schneller, als Alex gucken oder ihn noch einmal ansprechen konnte. Schulterzuckend nahm er es zur Kenntnis. War ja nicht seine Sache. Aber schon wieder allein essen und dann auf dem Sofa versacken? Vielleicht sollte er an diesem Abend noch einmal ausgehen …
Janna verschwendete keinen weiteren Gedanken mehr an den Kerl aus der Vorlesung, von dem er, wie ihm nun einfiel, nicht einmal den Namen wusste. Er hatte nicht danach gefragt, schlicht, weil es ihn nicht interessierte. Wie jeden Freitag musste er sich beeilen, um von der Vorlesung rechtzeitig in den Club zu kommen, in dem er arbeitete. Na ja, Club war zu viel gesagt, wenn man Janna fragte, aber das stand zumindest auf dem Schild über der Eingangstür und es klang auch besser als »Kneipe«.
Wie immer kam er atemlos und keine Sekunde zu früh im Hinterhof an. Er verschnaufte nur kurz, bevor er eintrat und sein Zeug an die Garderobe beförderte. Im Vorbeigehen grüßte er Sean, den stellvertretenden Chef, und machte sich eilig daran die Theke auf den Ansturm des Abends vorzubereiten. Getränke auffüllen, Kasse checken, kurz durchwischen …
»Janna, geh duschen. Du stinkst.« Sean gab ihm breit grinsend einen Schlag auf die Schulter, der ihn beinahe umwarf. Der Barkeeper war etwa zwei Meter groß, breit und sportlich, nahm kein Blatt vor den Mund und war der selbstbewussteste Mensch, den Janna kannte. Er hatte schokoladenbraune Augen, färbte sich die brünetten Haare blond und trug etwas, das an einen sechs-Tage-Schnurr-und-Kinnbart erinnerte.
»Wie charmant, Sean«, gab Janna betont kühl zurück. »Ich musste herlaufen, da würdest du bei dem Wetter auch stinken.« Er hatte auch ohne Anweisung noch vorgehabt duschen zu gehen. Sean lachte nur und schob den Kleineren dann Richtung Dusche. Janna schnappte sich noch schnell eines der lila-schwarzen Club-T-Shirts und zog Unterwäsche und Hose aus seiner Tasche, bevor er in dem winzigen Bad verschwand.
»Beeil dich, sonst komm ich rein und helfe dir!«, lachte Sean von der anderen Seite der Tür, wobei Janna sich nicht sicher war, ob das ein Angebot oder eine Drohung sein sollte.Seufzend trat er in die Dusche. Nicht, dass er Sean nicht mochte; im Gegenteil, aber manchmal war ihm dessen gute Laune und vor allem seine Lautstärke zu viel.
Das Wasser, das auf seinen Kopf prasselte, tat gut, auch wenn es eiskalt war. Der Durchlauferhitzer war seit einigen Wochen kaputt und bisher hatte der Chef sich nicht darum gekümmert. Hinterher trocknete Janna sich sorgsam ab und betrachtete sich eine Weile im Spiegel. Er war tatsächlich so schmal, wie alle immer sagten, trotzdem zeichneten sich auch Muskeln sanft unter seiner Haut ab. Vielleicht könnte er daran arbeiten, wenn er irgendwann Zeit hatte, und vielleicht würde er dann sogar dieses blöde Image los …
»Janna, mach mal hinne! Wir öffnen gleich!« Das war Leo. Ein Blick auf die Uhr an der Wand verriet Janna, dass er recht hatte. Eilig rubbelte er sich die Haare trocken, band sie zusammen, weil der Chef es nicht mochte, wenn er sie offen trug, und schlüpfte in seine Klamotten.
»Bin fertig«, verkündete er den beiden anderen und fand seinen Platz hinter der Theke.
In den nächsten Stunden kam er kaum dazu, einen Gedanken zu fassen, so viel bekamen sie zu tun. Wie jeden Freitag war es brechend voll im Club. Vor allem waren es Twens, die den Raum in Beschlag nahmen und zu ohrenbetäubender Musik und zuckendem Licht billige Drinks in sich hineinkippten. Hin und wieder verirrten sich auch ältere Semester hierher, vor allem solche, die nicht wahrhaben wollten, dass sie ihre Jugend schon lange hinter sich gelassen hatten. Und dann gab es noch die, die wegen des Kellers kamen. Janna warf einen Blick zur Treppe, die hinunterführte, als Sean gerade nach oben kam.
»Die Eisprinzessin wird verlangt«, brüllte der grinsend über die lärmende Musik hinweg.
»Vergiss es«, brüllte Janna zurück. »Ich mache keinen Schritt in dieses Loch.«
Sean zuckte die Schultern, noch immer grinsend.
»Deine Entscheidung, Prinzessin. Aber Jay und Leo kommen heute kaum hinterher.« Er ließ es sich nicht nehmen, in das Wort »Prinzessin« einen ironischen Tonfall zu legen. Janna rollte die Augen und wandte sich wieder dem Shaker zu. Gerade wollte er das Produkt seiner Mixkünste in ein Glas schütten, als er jemanden auf die Theke zukommen sah. Verwuscheltes, blondes Haar, sportliche Figur, müder und zugleich irgendwie hungriger Blick. Erschrocken riss Janna die Augen auf. Shaker und Glas fielen ihm aus der Hand – zu seinem Glück blieb beides heil – und ließ sich auf den klebenden Boden fallen. Kurz darauf spürte er einen Fuß, der ihn in die Seite stupste.
»Janna, stimmt was nicht?« Im Zwielicht konnte er Sean nicht erkennen, aber er konnte sich dessen hochgezogene Augenbraue auch so gut genug vorstellen.
»Pscht!«, machte Janna. »Ich bin nicht da!« Auf allen Vieren kroch er nach hinten in ihren Aufenthaltsraum. Dort ließ er sich auf einen der Klappstühle fallen, darauf vertrauend, dass Sean sich des sträflich ignorierten Drinks annehmen würde. Das tat dieser wohl auch, denn es dauerte, bis er Janna hinterherkam.
»Was’n mit dir los?«, fragte Sean, die Arme verschränkt.
»Da war ein Kommilitone«, antwortete Janna. »Einer, den ich hier nicht treffen wollte!«
»Das wird dir noch öfter passieren. Was ist dabei?«
»Eine ganze Menge«, zischte Janna. »Und nein, das ist mir bisher nicht passiert. Welcher Student geht denn bitte in eine Schwulenkneipe?«
»Na, ein schwuler Student?«, schlug Sean feixend vor. »Und lass den Chef nicht hören, wie du seinen Panther nennst«, fügte er hinzu, was Janna aber überging.
»Und wenn ich ihn im Keller treffe? Was dann?«
»Dann lernt er eben deine charmantere Seite kennen« Sean streckte ihm die Zunge raus. Verdammt, konnte er nicht ein bisschen ernster sein?
»Ich mache Schluss für heute«, murmelte Janna düster und knallte den Lappen auf den Tisch, den er in der Hand zusammengeknüllt hatte.
»Das kannst du nicht«, widersprach Sean. »Wir sind zu viert schon wenige. Wenn du gehst, kommen wir vorn und hinten nicht mehr hinterher.«
»Mir ist schlecht«, beharrte Janna, was noch nicht einmal gelogen war. »Bitte, Sean.« Es war keine Frage, eher ein Flehen. Sean versuchte nicht noch einmal, ihn aufzuhalten.
»Wenn der Chef fragt, dann hast du dich übergeben«, seufzte er. »Aber Janna: Du kannst nicht jedes Mal verschwinden, nur weil du hier jemanden triffst, den du kennst. Heißt doch nicht, dass du mit dem ins Bett springen sollst.« Wieder grinste er dieses neckende Grinsen, das Janna die Augen verdrehen ließ. Diesmal musste er dabei aber widerwillig lachen.
Fast ein wenig zu hektisch zog Janna sich um, bevor er den Club durch den Hinterausgang verließ. Er zückte sein Handy. Es war tatsächlich noch vor zwei Uhr. So früh war er schon lange nicht mehr zu Hause gewesen. Wenn er ehrlich war, dann war er auch nicht besonders scharf darauf. Andererseits … Vielleicht konnte er etwas Schlaf nachholen.
Die Hände in den Hosentaschen vergraben, schlurfte er nach Hause. Er hatte keine Lust den Bus zu nehmen, auch wenn er so über vierzig Minuten brauchte, bis er den Plattenbau erreichte. Nie im Leben hatte er damit gerechnet, ausgerechnet in einer Kneipe wie dieser, einen Kommilitonen zu treffen. Natürlich war ihm klar gewesen, dass einige der Gäste Studenten waren, aber bisher waren das unbekannte Studenten gewesen und das war okay so. Dort jedoch jemanden zu treffen, den er kannte … Wobei kennen natürlich zu viel gesagt war, aber trotzdem …
Janna erreichte sein Viertel und horchte automatisch auf seine Umgebung. Um diese Uhrzeit lungerten immer Teenager vor dem Plattenbau herum, die sich gegenseitig anpöbelten und mit billigem Bier betranken. Janna wollte ihnen ausweichen, erkannte jedoch unter ihnen seinen Bruder.
»Mika, Heimflug«, gab er als knappes Kommando. Sein Bruder sprang auch augenblicklich an und lief ihm entgegen. Vermutlich war Janna der Einzige, dem Mika noch gehorchte. In der Schule wurde er immer mehr zum Problem. Janna war sogar zum letzten Elternsprechtag gegangen und hatte dem Jüngeren danach mächtig ins Gewissen geredet. Seitdem war es etwas besser, aber ob das so blieb …
»Du bist früh«, stellte Mika nicht unerfreut fest. Der Sechzehnjährige war in den letzten Monaten kräftig gewachsen und mittlerweile fast so groß wie Janna. Er trug sein schwarzes Haar kürzer als dieser und gelte es in der Mitte hoch.
»Jep«, antwortete Janna kurz angebunden. Er wollte den Grund nicht vertiefen und schon gar nicht mit Mika erörtern. Der wusste nicht einmal, wo genau er arbeitete, und das sollte sich definitiv nicht ändern. »Du bist spät«, tadelte Janna ihn. »Wann hattest du vor, heimzugehen?«
»Am besten gar nicht, was?«, grinste Mika und knuffte Janna spielerisch in die Seite. »Den Stress vermeide ich gern.«
»Du könntest es einfacher haben, wenn du nur nicht so spät heimkommen würdest«, murmelte Janna und seufzte.
Schweigend erklommen sie die restlichen Stufen in den zehnten Stock. Janna öffnete die Tür zur Wohnung, so leise er konnte, und duckte sich dann routiniert, um der Flasche auszuweichen, die nach ihm geworfen wurde.
»Du bist zu spät!«, wurde er von seinem Vater angeblafft, etwas, das er gekonnt ignorierte. »Oh, du bist’s«, kam es kurz darauf. »Dachte, du wärst Mika.«
»Nein, aber ich habe ihn mitgebracht«, erklärte Janna ruhig, während er seinen jüngeren Bruder hinter sich vorbei in ihr gemeinsames Zimmer schob. Mika verschwand wortlos darin und ließ die Tür ins Schloss fallen.
»Aha«, brummte der untersetzte Mann mit dem schütteren, grau-melierten Haar. »Dann sag ihm, dass er seinen Arsch in Zukunft besser pünktlich nach Hause bewegt!«
»Habe ich schon«, gab Janna ungerührt zurück und schloss die Wohnungstür. Es überraschte ihn, dass sein Vater noch so nüchtern war, dass man sogar mit ihm sprechen konnte. Ungewohnt friedlich war er außerdem, wenn man einmal von der freundlichen Begrüßung absah.
»Wieso bist du so früh, bist du rausgeflogen?«, fragte sein Vater misstrauisch.
»Ne, mir war schlecht«, gab Janna knapp zurück. Auch mit seinem Vater wollte er das Ganze ungern besprechen.
»Ich geh ins Bett. Hab Sean versprochen, morgen da zu sein.« Ohne ein weiteres Wort wandte Janna sich ab und folgte seinem Bruder ins Schlafzimmer.
Die Musik, die ihm entgegenschallte, war ohrenbetäubend laut und nicht das, was Alex für gewöhnlich zu hören pflegte. Aber die Drinks waren billig, die Bedienung nett, wenn sich nicht gerade einer von ihnen hinter dem Tresen verkroch. Alles in allem hatte der Ausflug in diese Kneipe mehr positive als negative Überraschungen bereitgehalten. Alex hatte noch versucht herauszufinden, wer da plötzlich bei seinem Anblick in Ohnmacht gefallen war, aber derjenige war nicht wieder aufgetaucht. Sicherlich lag das nur an seinem umwerfenden Aussehen, dachte er und musste dabei über sich selbst lachen. Ein schlichter Zufall war allerdings wahrscheinlicher.
Alex war mit seiner besten Freundin in den Panther gekommen. Die ging gern dorthin, weil sie dort in aller Ruhe tanzen konnte, ohne belästigt zu werden. »In Ruhe tanzen« bedeutete bei Lila allerdings, halb berauscht in höheren Sphären zu schweben. Alex hatte deswegen recht früh am Abend seine Gesprächspartnerin verloren. Aber egal, er war ja nicht schüchtern und auf den Mund gefallen war er auch nicht. Alex schlenderte zur Theke, um sich ein Bier zu bestellen. Ein großer Blonder bediente gerade und warf ihm einen undeutbaren Blick zu, als er sich näherte.
»Na, schon wieder leer?«, fragte er feixend über die Musik hinweg und deutete auf Alex’ Flasche.
»Wonach sieht’s aus?« Alex stellte die Flasche klirrend auf den Tresen, um gleich darauf die neue in Empfang zu nehmen. Er bezahlte und wollte gehen, da hielt ihn der Barkeeper am Arm fest.
»Sag mal, du kommst mir irgendwie bekannt vor. Bist du häufiger hier?«
»Nein.« Alex schüttelte den Kopf. »Musst mich verwechseln, bin zum ersten Mal hier. Mit einer Freundin«, fügte er hinzu und zeigte auf die völlig abwesend tanzende Lila.Sein Gegenüber folgte seinem Blick und unterdrückte ein Lachen.
»Aber SIE kommt häufiger her, das weiß ich ganz sicher«, ließ er verlauten, worauf Alex zustimmend nickte.
»Sie mag den Laden. Hier wird sie nicht angegrapscht.« Warum auch immer er das Gefühl hatte, sie erklären zu müssen. Wieder grinste der andere breit.
»Stimmt, gegrapscht wird ein Stockwerk tiefer, aber dorthin verirrt sich selten eine Frau.«
»Ein Stockwerk tiefer?« Alex stützte sich mit beiden Ellenbogen auf die Theke. Vielleicht hielt er an völlig falscher Stelle nach seinem nächsten One-Night-Stand Ausschau!
»Jep«, meinte der Blonde und zeigte zur Treppe. »Blasen fuffzig, Ficken hundert. Eisprinzessin jeweils zwanzig mehr, aber is heut nicht zu haben.« Er amüsierte sich königlich über Alex’ dummes Gesicht. Dass er in einer SO einer Art Kneipe gelandet war, war ihm bisher nicht klar gewesen.
»Also nix One-Night-Stand«, schlussfolgerte Alex und war doch ein wenig enttäuscht. Die hundert Mücken hätte er gehabt, aber Sex kaufen? Ne, das hatte er nicht nötig und fand es auch irgendwie eklig. Klar, bei einem Fremden wusste er genauso wenig, mit wem der es schon getrieben hatte, aber das war etwas anderes. Fand Alex.
»Du kannst es versuchen«, zog der Blonde ihn auf. »Aber die Jungs sehen das gar nicht gern, wenn ihnen jemand Konkurrenz macht. Wenn du jemanden zum Rummachen oder Abschleppen suchst, bleib besser hier oben.«
Genau das hatte Alex getan. Zwar hatte er niemanden zum Abschleppen gefunden, aber eigentlich war der Abend ganz passabel gelaufen. Das war zumindest sein zufrieden gestelltes Resümee, als er sich am darauffolgenden Nachmittag aus dem Bett schälte. Irgendwann hatte er sich drei anderen angeschlossen, die im Nebenraum Pool spielten, und bis zum Morgengrauen Bälle mit einer Stange gestoßen, was, wie er fand, ähnlich spaßig war wie das Pendant dazu. Die drei waren außerdem nett und so verabredete er sich mit ihnen direkt für den nächsten Freitag.
Die Woche zwischen diesen beiden Freitagen verlief ähnlich unspektakulär wie die letzte. Noch immer war es brühend heiß und Alex schleppte sich von Übung zu Vorlesung, nach Hause und wieder zurück. Die Tage verwischten zu einem großen, zähen Einheitsbrei und am Donnerstag knackte das Thermometer dann die 40 Grad-Marke. Das war der Moment, in dem Alex sich weigerte, überhaupt noch einen Fuß vor die Tür zu setzen. Schwitzend und dösend lag er den Tag über in Shorts vor seinem Ventilator auf der Couch und war sogar zu müde, um sich auf die tumben Nachmittagstalkshows einzulassen.
»Wer zum Henker hat diese Hitze bestellt!«, fluchte er halblaut, als er sich zum Kühlschrank schleppte, um Eiswürfel für seine Cola zu holen.
»Ich war’s jedenfalls nicht«, murrte Lila, die auf seinem Sessel ebenso vor sich hin schwitzte. Sie war gekommen, weil sie beide ein gemeinsames Arbeitsthema hatten und für dieses ein Referat vorbereiten sollten. Jedoch war sie nur durch die Tür gefallen, auf dem Sessel liegen geblieben und hatte sich darüber beschwert, dass der Aufzug zu Alex’ Appartement kaputt war.
»Auch ’ne Cola?«, fragte Alex pflichtbewusst, obwohl er sich eigentlich sicher war, dass er seinen hochheiligen Vorrat Zuckerwasser mit niemandem teilen wollte. Als Lila nicht antwortete, goss er ihr trotzdem ein Glas ein und stellte es auf den niedrigen Milchglastisch, der neben dem Sessel stand.
»Dmke«, murmelte Lila ins Kissen, ohne den Kopf zu heben.
Lila hatte rotblonde Locken, strahlend grüne Augen, war schlank mit ordentlich Vorbau. Die kleine Stupsnase unter den Sommersprossen gab ihr etwas Keckes und der immer leicht ironische Zug um den Mund etwas Witziges. Alex verstand durchaus, dass die meisten Männer sie für gutaussehend hielten. Ein männliches Gegenstück hätte ziemlich sicher seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
Ein Gegenstück, wohlgemerkt. Nicht Lila als Mann. Dazu kannten sie sich schon viel zu lange. Seit achtzehn Jahren, um genau zu sein. Sie waren zusammen in den Kindergarten gegangen, in die Grundschule und aufs Gymnasium. Sie waren zusammen im Orchester gewesen und im Schwimmclub. Nachdem sie beide ein Interesse für Biologie entwickelt hatten, war auch klar gewesen, dass sie gemeinsam studieren würden. Das hatte leider nicht auf Anhieb geklappt. Lila war an ihrer Wunsch-Uni sofort angenommen worden. Alex dagegen hatte zwei Semester an einer anderen Universität studieren müssen. Im Nachhinein betrachtet, war das gar nicht so schlecht gewesen, denn dort hatte er Julian kennengelernt. Der freche, brünette Sportstudent mit den leuchtend grünen Augen hatte Alex vom ersten Moment an angezogen und kurz darauf hatten sie sich in einer heißen Affäre wiedergefunden. Es war mindestens ein halbes Jahr her, dass sie sich zuletzt getroffen hatten. Seit Alex zu der Uni gewechselt hatte, an der auch Lila studierte. Eigentlich könnte er ihn mal wieder anrufen.
»Hast du letzte Woche eigentlich noch jemanden zum Flachlegen gefunden?«, fragte Lila irgendwann und klang dabei, als schliefe sie jeden Augenblick ein.
»Hm. Nee«, brummte Alex, dem es ähnlich ging. »Aber was zum Einlochen.« Der war so schlecht gewesen, dass er darüber kichern musste wie ein Teenager. Lila prustete los.
»Du bist bescheuert.«
»Und deswegen liebst du mich.« Er streckte ihr die Zunge heraus, was sie, noch immer in ihrem Kissen vergraben, nicht sehen konnte.
»Stimmt.« Sie setzte sich auf und warf das Kissen nach ihm. »Ich penn’ heute Nacht hier«, verkündete sie dann. »Bei dem Wetter geh ich nicht mehr vor die Tür.«
»Meinetwegen. Du kochst.«
»Als ob du normalerweise kochen würdest«, zog Lila ihn auf. »Ne, lass mal. Ich bestell uns was …« Und damit griff sie schon zum Handy. Nachdem sie bestellt hatte, musterte sie Alex eine Weile, bis es dem zu dumm wurde.
»Was guckst du so?«
»Ich frag mich, was mit diesem Janna ist, von dem du erzählt hast. Irgendwie hat er es dir doch angetan?«
Alex warf ihr einen vernichtenden Blick zu. Er hätte ihr niemals davon erzählen sollen.
»Er hat es mir nicht angetan«, gab er genervt zurück. »Er sitzt in der Genetik-Vorlesung in meiner Nähe und ist … irgendwie geheimnisvoll.«
»Also hat er es dir doch angetan.« Lila duckte sich unter dem Kissen weg, das Alex nach ihr warf. »Lass das! Ist doch nichts dabei? Irgendwann musst du dich doch auch mal verlieben.«
»Ich bin nicht verliebt«, erwiderte Alex gereizt. »Ich finde ihn nur interessant. Von verliebt hab ich nie was gesagt.«
»Was nicht ist, kann ja noch werden«, flötete Lila vielsagend und wich lachend dem nächsten Kissen aus. Und noch einem, bis Alex nichts mehr zum Werfen hatte.
»Ich weiß ja nicht mal, ob er an meinem Ufer fischt oder an deinem«, verteidigte sich Alex. Er wollte noch etwas nachsetzen, doch da klingelte es an der Tür.
»Futter!« Mit einer Geschwindigkeit, die er sich bei dem Wetter selbst nicht zugetraut hätte, sprang Alex auf und flitzte zur Tür. Dass er nur Shorts trug, vergaß er für den Moment. Es interessierte auch den Pizzaboten nicht, der zwei Schalen Spaghetti Carbonara brachte. Offenbar war der diesen Anblick in Verbindung mit Temperaturen nahe des Siedepunkts gewöhnt. Alex drückte dem schwitzenden Mann einen Zwanzig-Euro-Schein in die Hand und schlug ihm die Tür vor der Nase zu.
»Futter!«, verkündete er noch einmal und stellte beide Schalen auf dem Tisch ab, um in seinem Küchenblock nach sauberem Besteck zu suchen.
»Guten Hunger!« Er reicht Lila Gabel und Löffel und begann dann damit seine Portion hinunterzuschlingen.
»Verfbriff mir, daff du ihn anfbrifft«, nahm Lila das Thema wieder auf.
»Waff?«
Sie schluckte den Bissen hinunter.
»Versprich mir, dass du ihn ansprichst«, wiederholte sie grinsend.
»Das hab ich doch schon! Er weicht immer aus und redet kaum ein Wort. Nee, danke. Das ist mir zu anstrengend.«
»Aber du stehst doch auf ihn.«
»Rennst du jedem Kerl hinterher, auf den du stehst?« Alex hob herausfordernd eine Augenbraue. »Siehst du«, sagte er dann, als sie darauf nichts antwortete, sondern ihn nur mit gespielter Empörung ansah.
Janna krallte die Hände in das Laken unter sich, suchte Halt daran. Seinen Lippen entfuhr ein unfreiwilliges Keuchen, als der Freier sich ein letztes Mal tief in ihn bohrte und sich dann zurückzog.
»Danke, Prinzessin, bis zum nächsten Mal«, kam der Spott auch gleich danach. Zumindest klang es in Jannas Ohren so. Er sparte sich eine Antwort und setzte sich erst auf, als der Mann gegangen war. Dann langte er nach seiner Kleidung und dem Geld, das darauf lag. Es musste schon ein echt abgefahrener Fetisch sein, der die Männer zu ihm trieb.
»Eisprinzessin«, wiederholte er in Gedanken und fragte sich einmal mehr, wie das hatte passieren können … Wohl nur durch Pech. Oder vielmehr Glück? Janna war sich da nicht sicher.
Sein erster Versuch, es für Geld zu machen, hatte ihm jenen Spitznamen beschert, weil er es nicht über sich gebracht hatte, Genuss vorzuspielen, als er lieber ganz woanders sein wollte.
Dummerweise – dummerweise? – hatte das dem Kerl auf perverse Weise gefallen und so hatte eins zum anderen geführt. Janna war die unnahbare Eisprinzessin geworden. Das ersparte ihm, schauspielerische Leistungen erbringen zu müssen, um an sein Geld zu kommen und er bekam dafür auch noch mehr als die anderen Jungs. Eigentlich schlug er so zwei Fliegen mit einer Klappe.
Dummerweise – dummerweise! – gab es allerdings immer wieder Freier, die es sich in den Kopf gesetzt hatten, ihm gewisse Reaktionen zu entlocken. Egal wie und egal, ob Schmerz oder Lust. Janna sorgte für gewöhnlich dafür, dass sie ihr selbstgestecktes Ziel nicht erreichten, denn wenn es doch einmal einer schaffte, häuften sich solche Versuche für einige Zeit. Und darauf konnte er gut und gerne verzichten.
Einige Atemzüge verweilte er auf der fleckigen Matratze, bevor er sich langsam anzog, die Haare wieder zusammenband und den Rückweg aus dem Hinterzimmer in den Keller antrat. Die Musik wurde mit jedem Schritt lauter, bis auch sein Herz im Rhythmus des Bassbeats schlug und er ihm ins Blut überging, in jede Pore drang. Für einen Donnerstag war nicht viel los, dazu war es draußen und auch oben im Club zu heiß. Vermutlich konnte er gleich schon Feierabend machen. Tatsächlich waren kaum noch Gäste im Keller, als er zurückkam. Dem Einzigen, der noch Interesse an der Eisprinzessin bekundete, gab er mit einem Kopfschütteln zu verstehen, dass das an diesem Abend nichts mehr werden würde.
»Ich mach Schluss«, teilte er Leo mit. Der stand hinter der Theke, putzte Gläser und war heute dafür verantwortlich, den Laden zu schließen. Leo hatte kaffeebraune, wilde Locken und ebenso braune Augen, ein ovales Gesicht, das von dominanten Brauen und einem kleinen Kinnbart eingerahmt wurde. Er überragte Janna um etwas mehr als einen halben Kopf, war aber noch immer ein gutes Stück kleiner als Sean.
»Verstanden«, formten Leos Lippen gegen den Lärm der Musik. Er winkte Janna noch zu, bevor der die Treppe in Angriff nahm. Seine Sorge, der Typ aus der Genetik-Vorlesung würde nun regelmäßig im Panther verkehren, hatte sich bisher als grundlos erwiesen. Trotzdem linste Janna erst zwischen den Stäben des Geländers hindurch, bevor er in den Hauptraum des Clubs trat. Auch hier war kaum noch etwas los, sogar die Musik war heruntergedreht und lief nur noch leise im Hintergrund. Es war einfach zu warm.
»Gehst du schon?«, fragte Sean überrascht. Heute hatte er, wie so oft, die Theke im Erdgeschoss übernommen. Er so etwas wie die rechte Hand des Chefs war, den man, wenn Janna darüber nachdachte, eigentlich so gut wie nie zu Gesicht bekam.
»Jep. Bin bedient für heute. Muss außerdem noch Mika suchen, der schreibt morgen eine Klausur. Wenn ich ihn nicht nach Hause schleife, dann kommt er vermutlich gar nicht heim.«
»Wieder so schlimm mit deinem Bruder?«, fragte Sean mitfühlend und lehnte sich halb über die Theke. Janna tat es mit einer Handbewegung ab.
»Was heißt schlimm … Er hat sich mal wieder mit dem Alten gestritten, eine kassiert und schmollt seitdem.«
»Klingt ja … friedlich bei euch«, murmelte Sean und legte den Kopf schief.
»Ach, es klingt schlimmer, als es ist«, winkte Janna ab. »Kann ich schnell noch hier duschen? Ich mag es nicht, wenn …«
»Kein Problem«, fiel Sean ihm ins Wort. »Du weißt doch, dass du immer hier duschen kannst.« Ein Lächeln zuckte kurz über Jannas Lippen und er trabte an der Theke vorbei nach hinten.
Das kalte Wasser jagte ihm einen Schauer den Rücken hinunter. Trotzdem blieb er über eine Minute unter dem eisigen Strahl stehen, die Augen geschlossen, die schlanken Hände im Nacken verschränkt. Es war zu seinem Ritual geworden in den Nächten, in denen er sich verkaufte. Da kam es nicht infrage, nach Hause zu gehen mit dem Schweiß und dem Geruch Fremder an seinem Körper. Das ließ er alles im Panther zurück.
Er war nicht wie Leo beispielsweise, der Spaß daran hatte, sich von Fremden vögeln zu lassen und für den das Geld nur ein netter Nebeneffekt war. Janna war eher durch Zufall hineingeraten. Damals, als er vor der Wahl gestanden hatte, sein Studium für einen mies bezahlten Vollzeitjob hinter irgendeiner Supermarktkasse sausen zu lassen, um für seinen und Mikas Lebensunterhalt zu sorgen. DAS, da war er sich ganz sicher, wollte er auf gar keinen Fall. Er wollte nicht bis an sein Lebensende einer solch stumpfsinnigen Arbeit nachgehen. Nein, er wollte raus aus dem Viertel, in dem er wohnte, weg von den ganzen Junkies und Schlägern und wenn er sich dafür ein paar Jahre lang gegen Geld ficken lassen musste, dann war das ein Preis, den er zu zahlen bereit war. Auch wenn das weder sein Bruder noch sein Vater je erfahren durften. Und deswegen duschte er im Panther. Nicht, dass er wirklich glaubte, dass nur einer der beiden tatsächlich etwas merken würde, aber Vorsicht war die Mutter der Porzellankiste – oder so ähnlich.
Janna trat aus der Dusche, trocknete sich ab und zog frische Kleidung aus seiner Tasche. Das T-Shirt des Clubs warf er in eine Wäschebox, die in der Ecke stand. Seine eigenen getragenen Klamotten stopfte er in seine Tasche zurück, nachdem er das Geld aus der Hose gezogen hatte. Sicherheitshalber zählte er es noch einmal durch, bevor er es in seinen Geldbeutel stopfte. Fast vierhundert Euro. Eine halbe Monatsmiete und das an nur einem Abend. Vielleicht am Samstag noch einmal und am Montag, dachte Janna, während er die Rechnungen überschlug, die es noch zu begleichen gab. Gegen Ende des Monats arbeitete er öfter im Keller, wenn er wieder merkte, dass es knapp wurde.
Als er sich diesmal anzog, ließ Janna die Haare offen, die ihm feucht-glänzend auf die Schultern fielen. Er trat in den Hinterhof und hatte das Bedürfnis nach Atem zu ringen.
Die Luft stand. Kein Windhauch regte sich. Es fühlte sich noch immer an wie die 40 Grad, die es am Mittag gewesen waren. Diesmal hatte Janna keine große Lust zu laufen, aber der Bus war ihm vor wenigen Minuten davongefahren und der nächste würde noch eine ganze Weile auf sich warten lassen. Nur widerwillig setzte er sich in Bewegung und fühlte sich schon nach drei Metern, als hätte er nie geduscht, so sehr klebten seine Klamotten an ihm.
Erleichtert atmete er auf, als er gegen ein Uhr den Plattenbau erreichte. Er sammelte seinen Bruder auf dem verlassenen Spielplatz auf und ging mit ihm zur Wohnung hinauf. Ihr Vater war nicht zu Hause. Der ging donnerstags Poker spielen. Poker!, dachte Janna wütend. Er gewann selten und warf damit jede verdammte Woche Geld zum Fenster hinaus! Gereizt schmiss Janna die Wohnungstür hinter sich ins Schloss, schickte Mika unter die Dusche und dann ins Bett.
»Du musst in fünf Stunden wieder aufstehen«, ermahnte er ihn. »Und wenn du nicht fit bist und die Klausur verhaust, bekommen wir beide mächtig Ärger!«
»Ja, Mama«, gab Mika frech zurück, folgte der Aufforderung seines Bruders und ging ins Bad, ohne noch einmal zu widersprechen. Eigentlich war Mika ein guter Junge, dachte Janna seufzend, während er sich mit der Hand über die brennenden Augen fuhr. Er war nur etwas außer Kontrolle geraten, was, wenn man es recht bedachte, nichts war, über das man sich zu wundern brauchte. So viel Mühe er sich gab den Wildfang zu erziehen, er war trotzdem nur der Bruder. Es fehlte der Vater, vor dem Mika jeden Respekt verloren hatte. Eine Sache, die auf Gegenseitigkeit beruhte.
Müde schmierte Janna seinem Bruder noch ein paar Brote für die Schule und warf seine Wäsche ins Bad, bevor auch er es sich erlaubte zu schlafen.
Der Wecker klingelte nur wenige Stunden später. Zweimal langte Janna daneben, bis er ihn schließlich gegen die Wand pfefferte, wo das blöde Ding endlich verstummte. Mit einem Ruck setzte er sich auf. Wenn er jetzt liegen bliebe, würde er augenblicklich wieder einschlafen.
»Mika, aufstehen!«, befahl er seinem Bruder, der auf der anderen Seite des Zimmers schlief. Sein Bruder rührte sich nicht. Janna schälte sich aus seinem Laken und ging zu dem anderen Bett hinüber. Er zerrte an der Decke, die Mika beim Geräusch des Weckers kurzerhand über den Kopf gezogen hatte.
»Aufstehen, du hast eine Klausur heute!« Sein Bruder grummelte etwas Unverständliches und blieb, wo er war. »Du bist selbst schuld. Wenn du nicht so lang auf dem Spielplatz herumgelungert hättest, dann wärst du jetzt nicht so müde. Aufstehen jetzt!« Seine Stimme duldete keinerlei Widerspruch und endlich gehorchte Mika, wenn auch widerwillig. Undeutlich, aber eindeutig missgelaunt murmelnd stemmte er sich hoch. Janna warf ihm noch einen warnenden Blick zu, damit er es unter keinen Umständen wagte, sich noch einmal hinzulegen, und sprang kurz unter die Dusche. Eog sich an und ging dann in die Küche, um etwas zu essen, bevor er Mika zur Schule brachte. Ja, er brachte ihn. Bis zur Klassentür, wenn es sein musste. In letzter Zeit war es viel zu häufig vorgekommen, dass sein Bruder sich auf dem Weg zur Schule plötzlich »verlief«.
Nur kurz blieben Jannas Augen an seinem Vater hängen. Der schnarchte auf der löchrigen Couch, als wollte er einen ganzen Wald abholzen und stank wie eine Schnapsbrennerei. Angewidert wandte Janna sich ab und schüttete sich Cornflakes mit Milch in eine Schale.
Es wurde Zeit zu verschwinden. Er musste nur Mika im Klassenraum abliefern, möglicherweise ein paar Worte mit dem Lehrer wechseln und dann zur Uni fahren. Bei dem Gedanken fühlte er sich gleich ein bisschen besser. So, wie die Hitze des kommenden Tages schon in der Luft lag, war das klimatisierte Labor eine wahre Wohltat.
Ungeduldig hämmerte Alex auf dem Knopf für den Aufzug herum. Er war doch sowieso schon zu spät dran, wo blieb das blöde Ding? Ach verdammt, dann nahm er eben die Treppe! Alex drehte sich auf dem Absatz um und nahm die Stufen in Angriff, da öffnete sich die Aufzugtür. Er stolperte fast über die eigenen Füße, als er sich herumschmiss und mit zwei großen Sätzen in den Aufzug sprang. Gerade noch rechtzeitig. Schon ging die Tür wieder zu.
Für so einen Stress war es zu warm!
Fünf Stockwerke weiter oben öffnete der Aufzug sich wieder. Alex stürzte hinaus und wandte sich nach rechts zu den Biologielaboren. Gerade wollte er die Tür öffnen, da wurde sie von innen aufgerissen.
Überraschte dunkle Augen umrahmt von langem, schwarzen Haar blinzelten ihn an. Alex blinzelte nicht minder überrascht zurück. Bevor er etwas sagen konnte, senkte der andere den Blick und drängte sich an ihm vorbei auf den Gang. Einen Moment war Alex wie versteinert. Dann besann er sich und spurtete Janna hinterher.
Scheiß auf die Übung!
»Warte mal!«, rief Alex ihm hinterher und beeilte sich, zu ihm aufzuschließen. Janna blieb stehen, drehte sich halb zu Alex um und warf ihm hinter den schwarzen Haaren einen argwöhnischen Blick zu.
»Was willst du?«, fragte er kühl, während seine Augen Alex misstrauisch scannten.
»Bloß nicht zu freundlich«, gab Alex betont fröhlich zurück. »Du schuldest mir noch immer einen Mensa-Besuch, falls du dich erinnerst.«
»Ich schulde dir gar nichts.« Noch immer war Jannas Stimme kühl und berechnend. Holla, da schien aber heute jemandem die Sonne aus dem Arsch, dachte Alex stirnrunzelnd.
»Du hast vor zwei Wochen gesagt, dass du nächste Woche mitkommst. Das war letzte Woche«, erklärte Alex, als spräche er mit einem Kind. Ein Fehler, wie er kurz darauf feststellte.
»Such dir jemand anderen zum Stalken«, zischte Janna. »Ich stehe dafür nicht zur Verfügung.«
Alex hielt Janna am Arm fest, bevor der sich umdrehen konnte. So schnell gab er nicht auf!
»Wieso bist du so abweisend? Ich hab dir doch nichts getan! Du brichst dir keinen Zacken aus deiner Krone, wenn du mal lächelst oder so. Du hättest auch einfach Nein sagen können.« Er rechnete mit der nächsten Retourkutsche in Form eines bissigen Kommentars, doch Janna sah ihn nur unverwandt an. Irgendwie nachdenklich.
»Hast du jetzt nicht eine Übung?«, fragte er nach einer halben Ewigkeit.
»Jep, aber ist nicht schlimm, wenn ich mal fehle. Also?«
Janna rang mit sich, das sah Alex ihm an, aber er dachte gar nicht daran, einen Schritt zurückzumachen. Und dann …
»Meinetwegen«, brummte Janna, wobei er mit seiner Entscheidung nicht wirklich glücklich wirkte. Als Alex sich nicht rührte, setzte er nach: »Etwa jetzt sofort?«
Kurze Zeit später waren sie gemeinsam auf dem Weg in die Mensa. Janna redete dabei kein Wort und Alex fragte sich, ob die Gesellschaft eines Eiswürfels bei dem Wetter nicht die angenehmere Wahl gewesen wäre.
Da es fürs Mittagessen noch zu früh war, lud er Janna auf einen Kaffee ins Bistro ein und die beiden fanden mit ihren Bechern einen Platz auf der Wiese im Schatten eines Baumes.
»Wie lange studierst du schon hier?«, fragte Alex, um dieses verdammte, drückende Schweigen zu brechen.
»Drei Semester«, gab Janna zur Antwort.
»Studierst du nur Biologie oder hast du noch andere Fächer?«
»Chemie und angewandte Informatik.«
Mann, dem musste man ja echt alles aus der Nase ziehen!
»Klingt nach viel Arbeit. Willst hoch hinaus, was?«, versuchte Alex zu scherzen, doch Jannas Gesicht verfinsterte sich bei diesen Worten.
»Ich will jedenfalls nicht ewig am unteren Ende der Nahrungskette rumkrebsen«, erwiderte er kryptisch und nippte an seinem Kaffee.
Was auch immer er damit meinte, dachte Alex. Aber zumindest hatte Janna von sich aus etwas gesagt, das war eindeutig als Fortschritt zu werten.
»Ich bin seit letztem Semester hier, vorher war ich zwei Semester woanders.« Vielleicht taute Janna etwas auf, wenn Alex ein wenig von sich erzählte? »Davor hab ich ein Jahr Pause gemacht, war in Australien und Neuseeland als Backpacker. Warst du auch schon mal im Ausland oder so?«
»Nein.«
»Also direkt nach der Schule an die Uni?«
»Ja.«
»Und aus welcher Ecke kommst du? Fährst du in den Semesterferien nach Hause oder bleibst du hier?«
»Ich bin hier geboren und aufgewachsen, bin hier zur Schule gegangen, wohne noch immer hier und war nie woanders.« Janna sah ihn aus kühlen dunklen Augen an. »Aber Alex … So heißt du doch, oder?« Alex nickte perplex. So viele Worte am Stück hatte Janna bisher noch nicht mit ihm gesprochen. »Warum quetschst du mich aus? Wieso spielen wir dieses Frage-Antwort-Spiel? Was willst du von mir?« Nun war Alex tatsächlich sprachlos. Diese Frage, oder vielmehr diese Fragen, konnte er nicht wirklich beantworten. Eigentlich einfach nur so? Weil er Janna interessant fand? Aber das konnte er ihm unmöglich sagen.
»Es ist nur deswegen ein Frage-Antwort-Spiel, weil du kein Gespräch daraus machst«, konterte er wagemutig und schief grinsend. Als Janna ihn nur verständnislos ansah, fügte er hinzu: »Ich wollte dich halt kennenlernen, weil ich dich nett finde. Ich bin noch nicht lange hier und versuche Leute kennen zu lernen.« Das stimmte nicht so ganz, aber das brauchte Janna ja nicht zu wissen. Der verzog nun seinerseits die Mundwinkel. Das Lächeln, das daraus entstand, war eher ironisch als freundlich.
»Du findest mich nett«, wiederholte er spöttisch. »Du kennst mich doch gar nicht.«
»Noch nicht«, korrigierte Alex grinsend.
»Du willst mich auch nicht kennenlernen«, beharrte Janna. Alex lachte nur.
»Das sag ich dir, wenn es so weit ist.«
Eine Weile herrschte Schweigen zwischen ihnen. Janna untersuchte mit größtem Interesse den Henkel seines Kaffeebechers, war irgendwo in seinen Gedanken versunken. Dann und wann warf er Alex zwischen den schwarzen Strähnen hindurch einen abschätzenden Blick zu. Alex erwiderte diesen berechnenden Blick, noch immer mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht, auch wenn dieses zunehmend unsicherer wurde. Trotzdem würde er so schnell nicht locker lassen. Irgendetwas reizte ihn an dem Jungen. Bei dem Gedanken musste er schmunzeln, denn Janna war sicherlich schon über zwanzig. Seine schmale Statur wirkte aber trotzdem noch wie die eines Jungen.
»Du wirst nicht aufgeben, was?«, fragte Janna schließlich und lehnte sich auf seinen Hände zurück. Der Anflug eines echtes Lächeln – zumindest glaubte Alex das zu sehen – zuckte über seine Lippen.
»Nein.« Alex grinste noch breiter. »Wir könnten zusammen was trinken gehen oder so.«
»Ich trinke nicht.« Nur schwer konnte Alex ein Seufzen und ein Augenrollen unterdrücken. Vielleicht war das Ganze doch eine dumme Idee gewesen. Ganz egal, wie interessant er Janna fand, »Gespräche« mit ihm waren bisher ungefähr so spaßig wie ein Zahnarztbesuch.
»Oder ins Kino« schlug er vor. »Lila kommt sicher auch gern mit.«
»Lila?« Janna hob eine Augenbraue.
»Meine beste Freundin. Nur falls es dir zu blöd ist, mit mir allein ins Kino zu gehen.« Fast hätte Alex ihm die Zunge herausgestreckt.
Zu seiner Überraschung lachte Janna.
»Nein, Kino klingt gut. Ich war da lange nicht mehr, weil ich abends normalerweise keine Zeit habe.«
»Arbeiten?«, fragte Alex interessiert. Janna nickte nur, sagte nichts weiter dazu und Alex hielt es für klüger, nicht weiter zu fragen. »Dann nachmittags«, schlug er fröhlich vor, bevor er einen tiefen Schluck aus seinem Becher nahm. Tatsächlich nickte Janna langsam.
»Meinetwegen.« Er sah flüchtig auf die Uhr und sprang dann auf die Füße, nachdem er die letzten Schlucke seines Kaffees hinuntergestürzt hatte. »Ich muss los. Danke für den Kaffee.«
Mit zwei Schlucken leerte auch Alex seinen Becher und stand ein wenig schwerfällig auf.
»Gern. Bist du heute Abend in der Vorlesung?«
Janna schüttelte den Kopf.
»Heute nicht. Bin …«
»… Arbeiten, schon klar«, beendete Alex den Satz und grinste wieder. »Dann bis nächste Woche.«
Noch eine Weile sah Alex Janna nachdenklich hinterher, bis der schwarze Schopf um eine Ecke verschwunden war. Schlau war er aus dem geheimnisvollen Kerl bisher nicht geworden, aber das fachte seine Neugierde nur noch mehr an. Immerhin hatte Janna zum Ende hin tatsächlich Sätze mit ihm gewechselt, die aus mehr als einem Wort bestanden. Das Eis schien zumindest also angetaut zu sein.
Janna konnte gar nicht schnell genug verschwinden. Eilig hastete er über den Campus, vorbei an den modernen Gebäuden und der alten Bibliothek, die Straße hinunter. Er hatte sich bequatschen lassen und jetzt war Alex ihm näher gekommen, als ihm lieb war. Dieses offene Lachen, die Unbedarftheit, mit der Alex sofort jeden in seiner Nähe in seinen Bann zog … Janna war irgendwie fasziniert davon und doch schreckte es ihn zugleich ab. Solche Menschen waren für ihn kaum berechenbar und alles, was nicht berechenbar war, forderte schnell zu viel von Janna.
Es stimmte auch nicht, dass er nicht zur Vorlesung kommen konnte. Nein, er hatte soeben entschieden, dass er schlicht nicht hingehen würde. Das, also eine Vorlesung zu schwänzen, hatte er noch nie zuvor getan, aber Alex … Alex ließ ihm keine Wahl. Janna hatte nicht wirklich vor, mit diesem ständig grinsenden Komiker ins Kino zu gehen. Was sollte er denn da? Abgesehen davon, dass ihm für solche unnützen Unternehmungen sein sauer verdientes Geld zu schade war … Janna fand den Gedanken, mit Alex irgendeinen x-beliebigen Film zu sehen, nicht gerade erbaulich. Er konnte nicht genau benennen wieso, Alex hatte ihm schließlich nichts getan, aber er war … aufdringlich. Und Janna wusste damit nichts anzufangen. Es war ihm zu viel.
Er wischte den Gedanken an Alex beiseite und machte sich auf den Heimweg. Auch wenn er nachher nicht zur Vorlesung gehen würde, bedeutete das nicht, dass er nicht noch etwas für sein Studium tun konnte. Der Panther würde ihn noch früh genug rufen.
Zu Hause angekommen, stellte Janna fest, dass er allein war. Das war ungewöhnlich für diese Uhrzeit, denn normalerweise lag sein Vater gegen Mittag auf der Couch und schlief irgendeinen Rausch aus. Doch es fehlte jede Spur von ihm. Nicht, dass es Janna tatsächlich geschert hätte, wo der Alte sich herumtrieb, aber es überraschte ihn dennoch.
Dass Mika nirgends zu sehen war, war dagegen keine Überraschung. Janna wusste nur dann, wo sein Bruder herumstreunte, wenn er selbst darauf schaute. Entweder war Mika gerade brav in der Schule oder er war es nicht und dann konnte er überall sein.
Janna versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken, und breitete sein Zeug auf dem Küchentisch aus. Konzentriert arbeitete er sich durch die letzten beiden Vorlesungen und machte sich Notizen dazu. Danach nahm er die Aufzeichnungen aus dem Labor zur Hand und arbeitete auch diese gewissenhaft durch. Als sein Magen sich lautstark zu Wort meldete, sah er auf und stellte fest, dass er bereits fünf Stunden dort saß. Kein Wunder, dass er Hunger hatte! Eilig kippte er ein paar Cornflakes und Milch in eine Schüssel. Während der Vorlesungszeit war das sein Hauptnahrungsmittel. Kauend las sich die letzten Sätze durch, die er geschrieben hatte.
Es klingelte. Irritiert sah Janna von seinen Unterlagen auf. Wer klingelte denn bei ihnen? Sowohl Mika als auch sein Vater hatten einen Schlüssel und sonst klingelte nie jemand bei ihnen. Voll Argwohn stand er auf, tappte zur Gegensprechanlage.
»Ja?« Sicher waren es irgendwelche Vertreter oder so, er gab sich also Mühe so abweisend und unfreundlich wie möglich zu klingen.
Eine Stimme, eindeutig die eines Mannes, antwortete nicht unfreundlich, aber genervt: »Ordnungsamt. Sind wir richtig bei Berger?«
Janna ließ fast den Hörer fallen und er spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Seine Pulsfrequenz schoss in die Höhe.
»Ja, sind Sie«, antwortete er tonlos. Zig Szenarien schossen ihm durch den Kopf, weswegen das Ordnungsamt bei ihnen klingeln sollte. Keines davon war positiver Natur.
»Wolfgang Berger?«, fragte die Stimme weiter.
Janna schüttelte wortlos den Kopf, begriff dann, dass der Mann das gar nicht sehen konnte.
»Nein. Janna. Janna Berger«, krächzte er.
»Würden Sie uns hereinlassen, Herr Berger? Wir haben Ihren Bruder bei uns.«
»Mika?«, fragte Janna überflüssigerweise und setzte schnell hinterher: »Ich mache Ihnen auf.«
Wie ein Tiger im Käfig lief Janna auf und ab, während er auf die Beamten wartete. Schließlich lehnte er sich in den Türrahmen, die Arme verschränkt. Er trat einen Schritt zur Seite, als zwei Männer einen ziemlich zerknirscht dreinschauenden Mika in ihrer Mitte die Treppe hinaufführten. Janna fiel sofort auf, dass sein Bruder eine aufgeplatzte Lippe und ein blaues Auge hatte. Seine Miene verdüsterte sich bei diesem Anblick.
»Sag nicht, du hast dich geprügelt!«, herrschte er Mika an.
Der reagierte nicht auf die Frage, aber er wich Jannas Blick aus, was diesem Antwort genug war.
»Hat er«, antwortete einer der Männer an Mikas Stelle. Sein Blick ruhte auf dem Jungen, den er noch immer am Arm gepackt hatte.
»Wir wollten nur dafür sorgen, dass er auf dem Nachhauseweg nicht noch in eine weitere Prügelei gerät«, erklärte der zweite. Er sah ebenfalls tadelnd auf Mika hinab, der noch immer tat, als wäre er gar nicht da, und trotzig auf ein Loch im Wandputz starrte.
»Und …« Janna wusste nicht, wie er fragen sollte. »Was geschieht nun … mit ihm?«
»Wir geben ihn nur hier ab«, meinte der erste Beamte desinteressiert. »Wenn wir jeden prügelnden Halbwüchsigen mitnehmen würden, würden wir zu sonst nichts kommen. Wir raten nur, dafür zu sorgen, dass das nicht häufiger vorkommt.«
Zum Zeichen, dass er verstanden hatte, nickte Janna. Er geleitete die Beamten zur Tür hinaus und schloss diese hinter ihnen. Dann wandte er sich seinem Bruder zu, der unverändert trotzig im Flur stand. Einige Sekunden lang herrschte Schweigen.
»Was hast du dir dabei gedacht?«, fragte Janna leise, seine dunklen Augen lagen eindringlich auf Mika.
»Nichts«, erwiderte dieser stur und verschränkte die Arme. »Der Wichser hat mich beleidigt, ich hab ihm die Fassade poliert. So läuft das.«
»So läuft das nicht!«, widersprach Janna scharf und musste sich schwer zusammenreißen, Mika keine Backpfeife zu verpassen. »Irgendwann verletzt du wirklich jemanden oder jemand verletzt dich, und dann? Dann steckst du bis zum Hals in der Scheiße! Wenn ich so etwas noch einmal mitbekomme, dann …«
»Was dann?«, fiel Mika ihm ins Wort und reckte das Kinn. »Was willst du dann tun? Schlägst du mich? Wirfst du mich raus? Oder gibst du mir gar – oh Schreck – Hausarrest? Spiel dich nicht immer so auf, Janna, das kotzt mich an!«