Die Kaffeemeisterin - Helena Marten - E-Book

Die Kaffeemeisterin E-Book

Helena Marten

4,4
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine couragierte junge Frau, eine kunstvolle Tradition, eine verbotene Liebe

Frankfurt 1729. Nach dem Tod ihres Mannes gelingt es Johanna mit Mut, Einfallsreichtum und der Hilfe des jüdischen Musikers Gabriel, das Kaffeehaus der Familie zum besten der Stadt zu machen. Bis eine üble Intrige sie aus Frankfurt vertreibt. Über Venedig flieht sie nach Konstantinopel, wo sie zur Kaffeemeisterin des Sultans aufsteigt. Doch nie kann Johanna die Heimat vergessen — und auch nicht ihre geheime Liebe zu Gabriel …

Am Sterbebett verspricht Johanna Berger ihrem Mann, sein Kaffeehaus allein weiterzuführen. Schon bald wird ihr Etablissement zu einem der ersten Häuser der Stadt. Allerdings ist der »Türkentrank« nicht wenigen Frankfurtern ein Dorn im Auge. Besonders der Apfelweinwirt Gottfried Hoffmann hat es auf Johanna abgesehen. Als er und seine Schergen die Coffeemühle stürmen, entgeht Gabriel Stern, den Johanna heimlich liebt, nur knapp dem Tod. Johanna flieht nach Venedig, zu Freunden ins berühmte Caffè Florian, um von dort aus weiter nach Konstantinopel zu ziehen. In der faszinierend fremdartigen Metropole lernt sie alles über die Kunst der Kaffeezubereitung. Doch obwohl man ihr anbietet, Die Kaffeemeisterin des Sultans zu werden, reift in ihr ein Entschluss: Sie will sich ihr Frankfurter Kaffeehaus — und Gabriel, den Mann, den sie liebt — zurückerobern.

Sinnlich, mitreißend, geheimnisvoll: eine Reise in die Heimat der Kaffeehäuser.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 750

Bewertungen
4,4 (18 Bewertungen)
12
2
4
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Helena Marten

Die Kaffeemeisterin

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright © 2011 by Diana Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Neumarkter Str. 28, 81673 München Redaktion | Carola Fischer Satz | Leingärtner, Nabburg Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-641-05960-6 V002
www.diana-verlag.de

Prolog

Frankfurt, 1729

Johanna klappte die Fensterflügel schnell wieder zu, damit nicht noch mehr Kälte in die Schlafkammer drang. Draußen war alles weiß. Das Licht des tief über der Stadt hängenden Mondes wurde von der dicken Schneedecke reflektiert, sodass es trotz der frühen Morgenstunde auf dem vor ihr liegenden Alten Markt erstaunlich hell war. Durch die Eisblumen an der Scheibe erkannte sie ihren Nachbarn, den Kartenmacher Ludwig Haldersleben, der mit einer großen Schaufel bewaffnet die Fläche vor seinem Laden frei zu räumen begann. Statt seiner üblichen altmodischen Perücke trug er eine zerbeulte Grenadiermütze auf dem Kopf.

Johanna fröstelte. Genau diese Arbeit würde sie auch gleich erledigen müssen. Schosch, ihr vierzehnjähriger Neffe, schlief sicher noch, und den beiden Dienstmägden Anne und Sybilla hatte sie einen Tag freigegeben, hatten sie doch in letzter Zeit so hart arbeiten müssen wie nie zuvor, seit sie sich das dritte Mädchen nicht mehr leisten konnten. Dass Adam ihr beim Schneeschippen half, daran war nicht zu denken. Die ganze Nacht hatte er gehustet, immer wieder war sie von dem lauten Keuchen an ihrer Seite wach geworden. Einmal war sie sogar aufgestanden, um ihm seinen Tee aus getrockneten Salbeiblättern und Kamillenblüten zuzubereiten, der die Anfälle in der Regel ein wenig linderte, auch wenn Adam das nicht zugeben wollte. »Ich kann die Brühe nicht mehr sehen, Hanne. Mach mir lieber einen Kaffee!«, hatte er mit verächtlichem Blick auf die halb volle Teetasse gesagt. Aber sie hatte nicht nachgegeben und ihm auch die flache Zinnwärmflasche neu mit Glut aus dem Ofen gefüllt und in ein Tuch gewickelt ins Bett gelegt.

Sie drehte sich zu dem Schlafenden um. Obwohl die Kerze in der Laterne auf ihrem Nachttisch längst verloschen war, konnte sie ihren Mann deutlich im Mondschein erkennen. Er lag auf dem Rücken, den Mund leicht geöffnet. Schweißperlen standen auf seiner fahlen Stirn. Das schütter gewordene Haar war an den Schläfen nass geschwitzt. Er sah nicht gut aus, mit seinen eingefallenen Wangen und der spitzen Nase. Selbst seine Schultern, die aus dem Federbett hervorragten, schienen ihr plötzlich weniger breit und kräftig als noch vor ein paar Jahren, als sie seine Frau geworden war.

Wie lange war das jetzt her? An Weihnachten würden es acht Jahre sein, rechnete sie nach. So lange schon! Wie schnell die Zeit vergangen war … Sie konnte sich noch gut an ihre erste Begegnung mit Adam Berger erinnern, seines Zeichens stolzer Besitzer der Coffeemühle am Frankfurter Markt in bereits zweiter Generation. Mit seinen beiden kleinen Töchtern – Margarethe musste damals zwei oder drei Jahre alt gewesen sein, aber Lili? Ja, natürlich, Lili war noch ein Säugling gewesen, keine zwölf Monate alt – hatte er plötzlich in der guten Stube ihres Bornheimer Elternhauses gestanden. Ihr Vater war gerade von der Apfelernte heimgekommen, die Mutter hatte einen riesigen Topf Kartoffelsuppe für die ganze Familie gekocht. »Wo sechs Leute ihren Hunger stillen können, kriegen wir auch noch zwei weitere satt«, hatte sie fröhlich gerufen, »die Kleine isst ja noch nicht richtig, oder?« Ihr Vater hatte den Fremden als entfernten Verwandten vorgestellt, dessen liebe Frau Luise im letzten Sommer am Kindbettfieber gestorben sei. Etwas unbeholfen hatte der blonde Hüne Adam mit der schreienden Lili auf dem Arm dagestanden, Margarethe hatte sich hinter seinen Beinen versteckt, während ihre, Johannas, drei Geschwister den Besuch aus großen Augen angestarrt hatten. Schließlich hatte sie ihm das aufgeregt strampelnde Kind abgenommen und es wiegenden Schrittes so lange durch die Stube getragen und leicht geschuckelt, bis es auf ihrem Arm selig eingeschlafen war. So hatte sie es auch mit ihren beiden kleinen Brüdern, den Zwillingen Leopold und Kaspar, immer gemacht, um die Mutter zu entlasten. Adam Berger hatte an jenem Abend während des Essens immer wieder bewundernd zu ihr hinübergesehen und ein paar Tage später bei ihrem Vater um ihre Hand angehalten.

Die Glocken vom Dom begannen ihr sonntägliches Morgenkonzert. Sechs Uhr war es gleich. Johanna zog bibbernd ihr Wolltuch über dem langen, weißen Leinenhemd zusammen. Sie selbst würde schon wieder nicht zum Gottesdienst in der Nikolaikirche gehen können. Und das alles nur wegen dieses elenden Schnees, den sie noch schippen musste – es war doch erst November, viel zu früh für einen solchen Wintereinbruch! Um halb acht würde sie spätestens den Laden öffnen müssen, bestimmt standen dann schon jede Menge Kirchgänger vor der Tür und verzehrten sich nach einer Tasse Kaffee. Sie konnte die Kunden unmöglich im Tiefschnee warten lassen, nachher legte sich ausgerechnet vor der Coffeemühle noch jemand auf die Nase und brach sich die Knochen – nein, diese Schmach wollte sie sich nicht antun! Sie musste in den sauren Apfel beißen und wie Ludwig Haldersleben schleunigst mit dem Schneeschippen beginnen. Aber zuerst würde sie nach den Kindern schauen. Und ihrem Mann ein paar Wadenwickel machen. Oder die Kräuter noch einmal aufgießen. Wenn sie doch nur wüsste, wie sie Adams Schmerzen ein wenig lindern könnte! Und Schmerzen hatte er, keine Frage. Nicht nur in der Brust. Das war neu; dieser laute, keuchende Husten war erst mit dem Herbst gekommen, mit den feuchtkalten Tagen. Aber das Grimmen im Bauch, das hatte er schon länger. Kein Wunder, dass er so schmal geworden war, er hatte ja auch kaum mehr mit Appetit gegessen, seit dem Frühling nun schon.

»Hanne? Ich …«

Der Rest seines Satzes ging in einem Hustenanfall unter. Während Adam Berger die eine Hand auf seine Brust gepresst hielt, um das röchelnde Bellen in einem verzweifelten Versuch zu ersticken, winkte er sie mit der anderen ans Bett heran.

»Hanne, meine liebe Hanne, wie gerne hätte ich mit dir ein Kind bekommen – weißt du das?«, flüsterte er heiser. Seine Augen glänzten fiebrig. »Aber nun ist es wohl endgültig zu spät …«

»Was heißt das: ›endgültig zu spät‹?«, empörte sich Johanna.

Doch sie hörte selbst, wie wenig überzeugend ihre Erwiderung klang.

»Hanne, du weißt doch, dass ich sterben werde, oder?«

Ihre Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. Sie setzte sich neben ihn auf die Bettkante. Ja, sie wusste es, verdammt noch mal, aber doch jetzt noch nicht! Es war viel zu früh. Adam war gerade mal vierzig Jahre alt, da starb man nicht so einfach! Sie zwang sich zu einem Nicken.

»Es wird nicht mehr lange dauern, verstehst du? Ich fühle den Tod herannahen. Nachts, wenn ich nicht schlafen kann, lausche ich auf seine Schritte. Heute Nacht waren sie besonders nah. Polternd, als würde er geradewegs über den Markt auf unser Haus zustapfen.«

»Das kann doch gar nicht sein, Adam!« Johanna räusperte sich. »Es hat heute Nacht geschneit, guck mal zum Fenster raus! Alles ist weiß, der Schnee liegt mindestens eine Elle hoch – das dämpft jedes Geräusch ab.«

»Hanne, das habe ich immer besonders an dir geliebt: deine Zuversicht. Du glaubst immer, dass am Ende doch noch alles gut wird!«

Er lachte leise. Ein Röcheln entrang sich seiner Brust. Als er wieder bei Atem war, fuhr er fort:

»Diesen Glauben darfst du nicht verlieren, hörst du? Du musst stark und mutig sein, denn du wirst das Kaffeehaus bald alleine weiterführen müssen, schon sehr bald. Die Coffeemühle ist deine Zukunft – und die der Kinder. Ich werde euch kein Geld vererben können, alles, was ich jemals besessen habe, ist zurück ins Geschäft geflossen. Du musst die Coffeemühle zum ersten Haus am Platz machen, verstehst du? Sonst hast du keine Chance!«

Wieder zerriss ein Hustenanfall seinen mageren Körper. Er hatte sich aufgesetzt, um besser Luft zu bekommen. Johanna klopfte ihm kräftig auf den Rücken. Das Taschentuch, das sich Adam vor den Mund hielt, war im Nu dunkel gefärbt.

»Seit wann spuckst du Blut?«, fragte sie erschrocken.

»Schon länger. Ich habe es dir nur nicht gesagt, weil ich dich nicht beunruhigen wollte«, schnaufte er. »Ist nicht so schlimm, wird schon wieder …«

Johanna spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen. Was hatte Adam eben noch gesagt? Sie würde immer an ein gutes Ende glauben … Diesmal war sie sich da nicht so sicher. Oh, Adam, du darfst mich nicht verlassen!, flehte sie stumm. Wie soll ich ohne dich auskommen? Die Kinder, die Coffeemühle – das ist doch alles viel zu viel für mich alleine …

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, lächelte er ihr zu und drückte ihre Hand. Sein Blick war weich und zärtlich.

»Du schaffst das schon, mein Mädchen!«, schien er ihr bedeuten zu wollen. »Auch wenn ich bald tot sein werde, geht das Leben für dich weiter. Und alles wird gut, glaube mir!«

Johanna zwinkerte, um den Tränenschleier von ihren Augen zu entfernen. Sie schniefte leise.

Adam drückte noch einmal ihre Hand.

»Hanne, meine liebe, liebe Hanne …«, sagte er nur.

Dann wurde seine Stimme ernst und geschäftsmäßig.

»Pass auf, du musst mir jetzt gut zuhören, versprichst du mir das? Wir haben nicht mehr viel Zeit, in einer guten Stunde stehen die ersten Gäste vor der Tür. Nicht mal am Sonntag haben wir unsere Ruhe vor ihnen. Und du musst noch …«

»Ich weiß«, unterbrach sie ihn fast böse, »ich muss noch Schnee schippen!«

Eine Wolke hatte sich vor den Mond geschoben, als Adam seine Ausführungen schließlich beendet hatte. Mit einem Mal war es so düster im Zimmer, dass sie sein Gesicht nicht mehr erkennen konnte. Sie sah nur die Umrisse seines vorgebeugten Oberkörpers, der von heftigen Krämpfen geschüttelt wurde. Von der Anstrengung des langen Sprechens hustete er so stark, dass sie Angst hatte, er bekäme keine Luft mehr. Endlich sank er ermattet in die Kissen zurück.

»Mach dir keine Sorgen, Hanne!«, flüsterte er, während sie in der Dunkelheit, am ganzen Leib zitternd, in ihre kalten Kleider schlüpfte. »Du bist stark – auch wenn du das bisher selbst noch nicht gemerkt hast. Ich habe noch nie jemanden erlebt, der deine innere Kraft besitzt. Schon bei unserer ersten Begegnung habe ich das gespürt. Diese Hanne, die braucht eigentlich gar keinen Mann, habe ich da gedacht.« Seine Stimme wurde brüchig, als er nach kurzem Innehalten fortfuhr. »Aber ich habe dich gebraucht, Hanne! Und die Mädchen, sie haben dich auch gebraucht. Und sie brauchen dich immer noch – erst recht, wenn ich nicht mehr da bin. Pass mir nur gut auf sie auf, hörst du, Hanne? Du bist alles, was sie noch haben! Du und das Geschäft.«

Johanna schloss den letzten Knopf ihres Kleides und trat an das Bett. Die Tränen strömten ihr nun ungehindert über das Gesicht, als sie sich neben Adam kniete. Mit beiden Händen umfasste sie seine Rechte, die sich schmal und kalt unter ihren Fingern anfühlte.

»Du hast so schöne warme Hände«, murmelte er erschöpft. »Hast du immer gehabt. Und sogar warme Füße, egal wie eisig es draußen ist.«

»Ich muss gehen, Liebster«, schluchzte sie und stand auf.

»Ja, du musst gehen«, erwiderte Adam ernst. »Das Geschäft ruft.«

Sie beugte sich zu ihm hinunter, um ihm einen Kuss auf die feuchte Stirn zu drücken. Sie spürte sein Lächeln mehr, als dass sie es in der Dämmerung sah.

»Ach, Hanne!«, rief Adam ihr nach, als sie schon auf der Türschwelle stand. »Was ich dir noch sagen wollte: Wenn du mal gar nicht weiterweißt, wende dich an meinen Freund Floriano Francesconi aus Venedig. Ihm gehört dort das erste Kaffeehaus am Platz. Der alte Halunke schuldet mir noch einen Gefallen – und außerdem ist er einer schönen Frau wie dir schon allein aus Prinzip gerne behilflich!«

Adam hatte plötzlich fast heiter geklungen, regelrecht amüsiert. Doch Johanna hatte keine Zeit mehr, ihn nach diesem seltsamen Freund zu befragen, sie musste dringend hinunter in die Gaststube.

»Ja, ja, das mache ich, Lieber!« Sie winkte ihm ein letztes Mal zu. »Aber jetzt schlaf endlich, versprochen? Nachher geht es dir bestimmt schon viel besser!«

Ob Adam ihr die gespielte Munterkeit wohl abgenommen hatte?, fragte sie sich, während sie sich langsam und vorsichtig in dem finsteren Treppenturm die Stufen ins Erdgeschoss hinuntertastete. Sie würde später noch einmal nach ihm schauen, nahm sie sich vor. Später? Plötzlich hatte sie das Gefühl, ihr Herzschlag setzte aus. Würde Adam überhaupt noch leben, wenn sie das nächste Mal in die Schlafkammer kam? Oder wartete dann nur noch sein kalter Leichnam dort oben auf sie?

Jäh verspürte sie Abscheu vor sich selbst. Was hegte sie da für furchtbare Gedanken? Ihr Mann tot? Aber es nützte ja auch nichts, wenn sie sich etwas vormachte, sagte sie sich dann, sie musste der Wahrheit ins Auge sehen: Es konnte wirklich sein, dass Adam sehr bald starb. Sie würde damit rechnen müssen, dass jedes Mal, wenn sie mit ihm sprach, das letzte Mal gewesen sein könnte.

Seine Worte kamen ihr wieder in den Sinn. »Du bist stark«, hatte Adam gesagt. Wie war er bloß auf diese Idee gekommen? Sie war doch nur eine einfache Bauerntochter aus Bornheim, die allein durch ihre Heirat mit einem Frankfurter Kaffeehauswirt aus der Leibeigenschaft befreit und zu einer Bürgerin der Freien Reichsstadt geworden war. Doch diese freie Bürgerin war sie nur auf dem Papier. In ihrer Seele war sie noch immer das schüchterne junge Mädchen, das sich stets auf den großen, starken Adam verlassen hatte, auf seine ruhige, zuverlässige Art, seine breiten Schultern, die tiefe Stimme, mit der er freundlich, aber bestimmt seine Wünsche und Ziele formuliert hatte. Nie hatte es irgendjemand gewagt, sich gegen Adam Berger aufzulehnen, immer hatten alle getan, was er verlangte. Bei ihr würde das garantiert nicht so sein, das wusste sie schon jetzt. Angefangen bei Schosch, der immer nur auf seinen Onkel gehört hatte, auch wenn sie ihn wenige Momente vor Adam um exakt denselben Gefallen gebeten hatte. Und erst die Lieferanten, mit denen nun sie verhandeln sollte! Und dann würde sie auch die Finanzen regeln, sich mit dem Schatzamt und dem Rechneiamt wegen irgendwelcher Vorschriften und Auflagen herumschlagen müssen, die sie nicht einmal kannte. Nicht zu vergessen all die Neider und Konkurrenten, denen sie künftig allein ausgesetzt wäre. Und am allerschlimmsten: die Gäste! All die Jahre hatte sie versucht, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr diese Leute sie verunsicherten. Allesamt gewitzte Städter, denen es nie schnell genug gehen konnte. Ob sie hinter ihrem Rücken über sie lästerten, sich über den »Bauerntrampel« lustig machten? Adam war es nie schwergefallen, mit seinen Kunden ein paar nette Worte zu wechseln; sogar mit den Messegästen aus dem Ausland hatte er sich irgendwie verständigen können. Aber sie fühlte sich steif und gehemmt bei Menschen, die sie nicht kannte. Sie war wahrlich nicht die geborene Wirtin.

Wieder fühlte sie, wie ihr die Tränen die Kehle hinaufstiegen. Das war unmöglich, sie konnte die Coffeemühle nicht alleine weiterführen! Sie war dieser riesigen Aufgabe einfach nicht gewachsen. Wie sollte sie auch?

An dem unebenen Steinfußboden unter ihren Füßen erkannte Johanna, dass sie den Hausflur erreicht hatte. Da vorn musste der Eingang zur Gaststube sein. Sie schniefte und zog die Nase hoch. Was half es, wenn sie sich jetzt hängen ließ? Sie musste da durch, das erkannte sie pötzlich mit einer Klarheit, die sie selbst überraschte. Auf keinen Fall durfte sie sich von ihrer Angst um Adam oder ihrer Verzagtheit von der Arbeit abhalten lassen. Sie allein trug nun die volle Verantwortung: für die Coffeemühle, für die Kinder, die Dienstboten. Es stand außer Zweifel, was sie zu tun hatte.

Sie spürte den dicken, runden Türknauf unter ihren Fingern und straffte die Schultern. Sie musste es schaffen, es gab keine andere Wahl. Adam sollte schließlich stolz auf sie sein – und wenn er ihr nur vom Himmel aus würde zusehen können, wie sie das Kaffeehaus seiner Familie zum größten und schönsten des ganzen Landes machte.

Erster Teil

DER DAMENSALON

1. KAPITEL

Frühjahr 1732

Johanna öffnete die Tür zur Gaststube und wunderte sich über die angespannte Stille. Niemand nahm von ihr Notiz, als sie über die Schwelle trat. Dabei klapperten die zinnernen Becher auf ihrem Tablett, und der Schlüsselbund an ihrem Gürtel klimperte dazu im Takt.

»Was ist denn hier los?«, fragte sie laut.

Keiner von den nun, am späten Nachmittag, nur etwa zehn Anwesenden reagierte. Es war ein stürmischer Märztag, und der Wind warf die Tür hinter ihr ins Schloss.

Erst als sie mitten im Raum stand, erkannte sie, worauf alle Augen gerichtet waren. Selbst ihr Gehilfe Schosch, ein gut aussehender, stets schlecht gelaunter junger Mann, der sich wenig für die Welt um ihn herum interessierte, starrte gebannt zu der Fremden, die sich neben dem Herdfeuer niedergelassen hatte. Ihre Kleidung schien ganz aus bunten Tüchern und Umhängen zu bestehen, die sie in mehreren Schichten um ihren Körper gewickelt hatte. Auf dem Kopf trug sie eine papageienbunte, turmartige Kreation mit einem kleinen Schleier. Mindestens drei Schals ringelten sich eng um ihren Hals. Mit verklärtem Blick und weit ausgestrecktem Arm schwenkte sie eine kleine Kaffeeschale dreimal ganz langsam vor ihrem Körper hin und her. Nicht nur ihr Arm bewegte sich, sie drehte ihren ganzen Oberkörper mit, wie ein Priester, der Weihrauch schwenkt. Theatralisch hielt sie inne und pustete mit geschlossenen Augen mehrmals in das Gefäß, als wollte sie der Flüssigkeit darin Leben einhauchen. Sie schlug die Augen wieder auf und sah konzentriert auf ihr Gegenüber, den Sohn des Besitzers einer Schießpulvermühle aus der Eifel.

»Trinkä Tassä läär!«, raunte sie bedeutungsvoll und mit einem ausländischen Akzent, der so falsch klang, dass Johanna fast laut aufgelacht hätte.

Als der Junge die kleine Schale von ihr entgegennahm, zitterten seine Finger. Hastig schluckte er die schwarze Flüssigkeit hinunter. Mit einer beruhigenden Handbewegung bedeutete ihm die Wahrsagerin, langsamer zu trinken. Niemand redete, alle schauten gebannt auf das Geschehen. Nur die beiden Billardspieler kehrten unbeeindruckt zu dem Tisch im Hinterzimmer zurück.

»Wo hast du die denn aufgegabelt, Johanna?«, fragte sie einer der beiden, der Sohn eines Hufschmiedes aus der Fahrgasse, im Vorbeigehen.

Als die ersten Kugeln laut aufeinanderklackten, verzog die Wahrsagerin schmerzhaft das Gesicht, als müsste sie sich besonders anstrengen, um die Verbindung in die Zukunft zu halten.

Man sah dem Jungen an, dass ihm die ganze Aufmerksamkeit unangenehm war. Als er das leere Gefäß zurück auf die Untertasse stellte, nahm die Frau die Schale und hielt sie mit weit ausgestreckten Armen wie eine Opfergabe in die Höhe.

»Turuus, tandurum dot schamis teleta tarbus manadoridum. Turuus«, murmelte sie vor sich hin.

Die exotischen Worte klangen für Johanna wie eine Sprache, die der Fantasie entsprungen war.

»Dauert einä Momänt. Müssä warten!«

Die Frau stülpte die Schale auf die Untertasse und starrte gedankenvoll in die Ferne.

Selbst Ludwig Haldersleben, den Kartenmacher von gegenüber, der bisher in seine Zeitung vertieft gewesen war, hielt es nicht mehr auf seinem Platz an dem kleinen Tisch neben dem Eingang, der immer für Freunde und Familie reserviert war. Mit einem amüsierten Zwinkern in Richtung Johanna schlich er leise, um die Kaffeeguckerin nicht zu stören, zu der Versammlung um den Tisch der Frau hinüber. Ein knarzendes Dielenbrett ließ die Fremde den Kopf hochreißen. Streng, als wäre er ein ungezogenes Kind, sah sie den Kartenmacher an.

Seit sie erkannt hatte, was die Frau da in ihren Räumlichkeiten trieb, fragte sich Johanna, wie sie sie schnellstmöglich wieder loswerden konnte. Wenn es sich herumsprach, dass in ihrem Kaffeehaus aus dem Satz gelesen wurde, konnte sie in Teufels Küche kommen. Schon andere hatten wegen so etwas ihre Gerechtigkeit verloren, die Schanklizenz, ja waren vor Gericht gestellt worden. Zumindest eine saftige Geldstrafe wäre sicher fällig, und nicht einmal die konnte sie sich zurzeit leisten. Die Frau legte es ja geradezu darauf an, dass man sie für eine Hexe hielt. Auch wenn so etwas heutzutage niemand mehr wirklich für möglich hielt. Aber wenn man die Leute mit der Nase draufstieß, dann glaubten sie eben doch daran. Das hatte sie als Kind selbst oft genug zu spüren bekommen. Sobald ihre Spielkameraden sich über sie geärgert hatten, hatte es geheißen: »Dich haben sie wohl bei der Hexenverbrennung vergessen!« Und das nur, weil sie rote Haare hatte und ihre Nase etwas zu groß und spitz geraten war …

Johanna runzelte die Stirn und kniff die Augen zusammen. Was für eine Scharlatanin! Das Ganze war ein bisschen zu offensichtlich. Warum nur ging die Frau das Risiko ein, im Kerker zu landen und sie, Johanna, gleich mitzunehmen? Und was für eine Frechheit, sich mitten in ihr Lokal zu setzen und einfach seinem Gewerbe nachzugehen, ohne sie um Erlaubnis zu bitten! Schosch hätte sofort einschreiten müssen, war aber wohl wieder nur mit sich selbst beschäftigt gewesen.

Sie blickte zu ihrem Neffen und Gehilfen hinüber. Seine Unsicherheit überspielte er meistens mit extremer Gelassenheit. Jetzt stand sein Mund offen, er hatte alles um sich herum vollkommen vergessen. Sein Gesichtsausdruck war kindlich und staunend.

Laut klappernd stellte Johanna ihr Tablett auf dem Küchentisch ab.

»Willst du, dass ich meine Gerechtigkeit verliere? Warum lässt du so etwas zu?«, holte sie ihren Burschen flüsternd zurück in die Wirklichkeit.

Er sah sie nur erschrocken an, schüttelte kurz den Kopf und blickte wieder gebannt auf die Wahrsagerin. Dass der Kaffee auf dem Feuer wild im Topf brodelte, schien er gar nicht zu bemerken.

»Kann ich nicht einmal kurz auf den Hof gehen, ohne dass hier in der Stube was schiefläuft?«, zischte sie wütend in Schoschs Richtung.

Dieser schien ihre Worte nicht zu hören, so sehr fesselte ihn das Geschehen. Warum musste er der Kaffeeguckerin auch eine Tasse mit Untertasse geben, genau das, was sie für ihr Treiben brauchte?, ärgerte sich Johanna. Alle anderen tranken aus Bechern. Sie musste eigens danach gefragt haben, und Schosch, unerfahren wie er war, hatte die Gefahr nicht erkannt.

Schnell nahm Johanna zwei dicke Topflappen vom Haken und hob den Messingtopf von den Flammen. Mit dem Eisenhaken schob sie zwei der Herdringe auf das Feuer, um die Hitze zu verringern. Der neue ummauerte Herd mit der Eisenplatte war ihr ganzer Stolz. Die Platte bot genügend Platz, um beliebig viele Kaffeekannen warm zu halten, und mit den Ringen konnte man bequem die Hitze regulieren. Vor lauter Begeisterung über die neue Technik schob sie die unterschiedlich großen Ringe manchmal einfach hin und her, als würde sie ein Spiel spielen. Niemand außer ihr hatte so einen modernen Herd! Und erst der Rauchabzug! Er verhinderte, dass die ganze Stube voller Qualm war. Was bei all ihren Konkurrenten der Fall war. Allerdings hatte das Ganze sie auch ein Vermögen gekostet. Die wenigen Rücklagen, die sie nach Adams Tod durch eisernes Sparen und nächtelanges Arbeiten gebildet hatte, waren allesamt draufgegangen. Sie hängte die Topflappen zurück an ihren Haken und wandte sich wieder dem Geschehen im Raum zu. Eine weitere an Schosch gerichtete Bemerkung verkniff sie sich. Der neue Herd hob jedes Mal aufs Neue ihre Laune.

Die Kaffeeguckerin nahm nun die umgestülpte Schale von der Untertasse und beugte sich über das kleine Tellerchen, um den darauf verbliebenen Satz besser studieren zu können. Sie ließ sich viel Zeit bei ihrer Untersuchung. Noch immer herrschte bis auf das Klacken der Billardkugeln und das Knistern des Feuers völlige Stille im Raum. Nur ab und zu knackte eines der brennenden Holzscheite laut, oder man hörte den Wind um das Haus pfeifen.

Viel war auf der Untertasse nicht zu sehen. Ein winziger dunkler Klecks in der Mitte und einige Tropfen Kaffee am Rand.

Das wäre ja auch noch schöner, ging es Johanna durch den Kopf, wenn in dem Kaffee, den ich serviere, noch viel Satz wäre! Wenn sie und ihre Dienstboten den Kaffee aus dem Topf in die Kannen umschütteten, gaben sie sich schließlich alle Mühe, den Satz nicht mit auszugießen. Das bisschen, das doch in die Kanne gelangte, wurde möglichst nicht mit in die Schale gegossen. Nur weil Schosch von ihnen allen der Unachtsamste war, gab es überhaupt den kleinen Klecks auf der Untertasse. Wie sehr ähnelte er doch seinem Vater, ihrem älteren Bruder Simon! Die gleiche Nonchalance, die gleiche leichtfertige Herangehensweise an die Dinge. Aber das würde sie ihm schon noch abgewöhnen!

»Ich sähen viele Erfolg. Einä bedeutendä Posten.«

Voller gespielter Ehrfurcht sah die Kaffeeguckerin auf den pickligen Jüngling vor sich, dessen Gesicht dunkel anlief. Es war ein so tiefes Rot, dass man es selbst in dem winterlichen Halbdunkel in der Gaststube erkennen konnte. Um diese Jahreszeit stieg die Sonne nie hoch genug, um in den großen Hauptraum der Coffeemühle hineinzuleuchten, schon gar nicht am Nachmittag. Der Junge drehte sich Beifall heischend zu seinem Vater um, der an einen Stützpfeiler gelehnt stand und das Geschehen amüsiert verfolgte.

»Vielä Söhne«, fuhr die Kaffeeguckerin fort. Mit dem kleinen Finger deutete sie auf den Klecks, als gäbe es auf der Untertasse sonst noch etwas zu sehen. »Und das bedeutet: vielä Geld.«

Johanna reichte es nun. Noch immer ging sie Streitereien und Unstimmigkeiten am liebsten aus dem Weg. Früher hätte Adam so etwas geregelt. Nachdem er gestorben war, hatte sie sich viel zu viel gefallen lassen, aus lauter Angst, irgendwo anzuecken. Aber irgendwann hatte sie gemerkt, dass eine Wirtin es sich einfach nicht leisten konnte, schüchtern zu sein.

»Bravo! Du wirst ein glückliches Leben haben!«, rief sie laut in die Hände klatschend dem Jungen zu.

Mit dem Klatschen hatte sie die Gruppe aus ihrer Trance gerissen. Mit schnellen Schritten lief sie zu der Kaffeeguckerin und raunte ihr ins Ohr:

»Lassen Sie uns erst mal das Geschäftliche regeln, Madame, bevor Sie hier weitermachen!«

Sie deutete mit der linken Hand auf die Tür zur Vorratskammer, woher man nun lautes Gestampfe hörte. Die rechte Hand legte sie auf die Schulter der Frau.

»Ich bin noch nicht fertig«, antwortete diese dreist. Jede Spur von Akzent war aus ihrer Sprache gewichen.

Sie versuchte Johannas Hand abzustreifen und machte keinerlei Anstalten aufzustehen. Stattdessen winkte sie Schosch, als wäre er der Wirt und als wüsste nicht die ganze Stadt, dass Johanna die Besitzerin der Coffeemühle war, ihr eine neue Schale mit Kaffee zu bringen. Doch Schosch reagierte nicht auf ihre Signale.

Der Jüngling aus der Eifel fummelte nach einem weiteren unsicheren Blick zu seinem Vater in seinem Geldbeutel herum und förderte einige Silberstücke zutage, die er auf den Tisch legte. Doch bevor die Kaffeeguckerin danach greifen konnte, hatte Johanna schon ihre Hand daraufgelegt und die Silberlinge an sich genommen.

»Das ist mein Anteil«, flüsterte sie der Fremden ins Ohr. »Wenn du etwas davon abhaben willst, komm endlich mit!«

Entrüstet blickte die Kaffeeguckerin sich um. Aber als niemand ihr zu Hilfe eilen wollte, entschloss sie sich, Johanna in den Nebenraum zu folgen. Einer ihrer langen Fransenschals verfing sich an einem Holzsplitter, sodass sie am Stuhl hängen blieb und es noch mal dauerte, bis sie sich umständlich befreit hatte.

Währenddessen hatte sich die kleine Versammlung wieder aufgelöst. Der Kartenmacher war erneut in seine Zeitung versunken, die Würfelspieler waren auf ihren Stammplatz am Ende des langen Tisches, genau vor der Hoftür, zurückgekehrt, an den zugigsten Platz in der ganzen Stube – eine Wahl, über die sich Johanna immer wieder wunderte. Nur der Pulvermühlenbesitzer und sein Sohn schauten ihr und der Kaffeeguckerin gebannt hinterher, als sie die Tür zur Vorratskammer öffnete und schnell die Frau hineinschob, die sich sofort theatralisch die Ohren zuhielt und zugleich gierig den Duft nach frischem Kaffee mit der Nase aufsog.

Anne und Sybilla hatten beide riesige Holzstößel in der Hand und stießen damit abwechselnd in das große auf dem Boden stehende Steingefäß, um die frisch gerösteten Kaffeebohnen zu zerstampfen. Sie klagten jeden Abend über Schmerzen in Rücken, Schultern und Armen, wehrten sich aber vehement dagegen, dass eine der neumodischen Kaffeemühlen angeschafft wurde. Der in der Mühle zerkleinerte Kaffee schmecke nicht, behaupteten die beiden Mägde. Wenigstens hatte sie sich mit dem neuen Herd durchsetzen können, beglückwünschte sich Johanna bei ihrem Anblick. Ihr Gesinde war hoffnungslos altmodisch, keine Frage.

Die Mägde hielten mit der Arbeit inne, und Anne fing sofort an, ihren Arm zu massieren, damit ihre Dienstherrin ja mitbekam, welche Strapazen sie auf sich nahm. Sie war eine kleine, äußerst agile Frau, die sich ungeheuer wichtig nahm und Johanna mit ihren Ideen und Kommentaren manchmal regelrecht auf die Palme brachte. Zu allem und jedem hatte sie eine Meinung, und nie konnte sie diese für sich behalten. Es kostete Johanna immer wieder eine ungeheure Kraft, sich gegen die eigene Magd durchzusetzen. Obwohl Anne viel eifriger und schneller wirkte als die behäbige ältere Sybilla, war es doch diese, die den Großteil der Arbeit erledigte, ohne jemals zu murren. Auch jetzt war ihr breitflächiges Gesicht mit dem leichten Schweißfilm vollkommen ausdruckslos. Die Welt bot keine Überraschungen für sie. Die als Hexe verkleidete Frau barg für die Bauerntochter Sybilla keinerlei Geheimnis in sich, nichts, was ihre Neugier geweckt hätte. Zumindest sah man ihr nichts an. Sie hatte den Stößel mit beiden Händen umklammert und auf den Rand des Steingefäßes gestützt.

»Wie kommst du dazu, einfach ohne mich zu fragen in meinem Haus aus dem Kaffeesatz zu lesen?«

Johanna bemühte sich um einen strengen Tonfall. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und funkelte die Kaffeeguckerin wütend an.

Doch die Frau grinste nur frech.

»Ach, das ist deine Wirtschaft? Das wusste ich gar nicht«, entgegnete sie gelangweilt und ließ ihren Blick durch die dämmerige Vorratskammer schweifen.

Das war ja mal wieder typisch! Warum nahmen ihr die Leute nie ab, dass sie die Wirtin war? Strahlte sie so wenig Autorität aus? Johanna versuchte ihren Ärger zu unterdrücken. Sie wusste, dass ihre Stimme nur schrill klang, wenn sie laut wurde.

»Wer bist du überhaupt?«, fragte sie betont sachlich.

»Das würdest du wohl gerne wissen, was?«

Die falsche Kaffeeguckerin lachte verächtlich. Mit einem schnellen Schritt zum Ausgang hin wollte sie die Tür zur Gaststube wieder aufstoßen. Sofort krallte Johanna ihr beide Hände in den Arm. Vor Schmerz verzog die Frau das Gesicht.

»Gib mir mein Geld zurück!«, fauchte sie.

»Jetzt hör endlich auf mit diesen Spielchen und sag uns, wer du bist und was du hier willst!«

Johanna riss allmählich der Geduldsfaden. Sie verstärkte ihren Griff um den wabbeligen Oberarm der Frau.

»Was war denn los?«, fragte Anne neugierig dazwischen.

Herablassend antwortete ihr die Wahrsagerin:

»Ich lese die Zukunft aus dem Kaffeesatz, Schätzchen.«

Wieder versuchte sie sich aus Johannas Umklammerung loszureißen, verhedderte sich jedoch erneut in ihrem Schal.

»Wenn du willst, sage ich dir, wie dein Leben verlaufen wird!«, fuhr sie ungerührt fort.

In dem Moment hob Sybilla drohend ihren Stößel und trat auf die Frau zu, als wollte sie ihn ihr über den Kopf schlagen. Ängstlich duckte sich die Kaffeeguckerin, während Johanna Sybilla mit ihrer freien Hand signalisierte, sich zurückzuhalten. Fieberhaft überlegte sie, was nun am besten zu tun sei. Aus der Frau schien man nicht mehr herauszukriegen. Aber lange konnten sie hier nicht mehr zu viert auf engstem Raum verweilen, zumal man sie in der Stube draußen sicher brauchte.

Das Bimmeln der Türglocke aus dem Nachbarzimmer riss sie aus ihren Überlegungen. Kurz darauf war eine laute, herrische Stimme zu hören.

»Uns wurde mitgeteilt, dass hier eine Kaffeeguckerin tätig ist. Wo steckt die Frau?«

Ein eisiger Schauer lief Johanna über den Rücken. Anne hatte sich erschreckt die Hand vor den Mund geschlagen, nur Sybilla verzog wie immer keine Miene. Allen war klar, was die Stimme bedeutete: Der Schultheiß hatte seine Piketts ausgeschickt – wie die Frankfurter ihre Polizei nannten. Man hatte sie angezeigt.

Nur die Betroffene selbst blieb ungerührt. Die Gunst der Stunde nutzend, befreite sie ihren Arm aus dem Griff der völlig überraschten Johanna und trat auf die Tür zur Gaststube zu. Sie hatte die Hand schon nach dem Knauf ausgestreckt, als Anne blitzschnell ein Bein ausstreckte und sie zum Stolpern brachte. Geistesgegenwärtig fing Johanna die fallende Frau auf und legte ihr sogleich eine Hand über den Mund.

»Mmhhmm …. mhmmmm«, versuchte die Kaffeeguckerin auf sich aufmerksam zu machen. Sie schlug und trat heftig um sich, konnte sich aber in ihren vielen Gewändern nicht frei bewegen.

Schließlich wurde es Sybilla zu bunt. Die Magd ließ ihren Stößel fallen und drehte der Frau so fest den Arm auf den Rücken, dass sie augenblicklich verstummte.

»Hier war niemand«, vermeldete von nebenan die Stimme von Schosch.

Endlich einmal übernimmt er so etwas wie Verantwortung, dachte Johanna erleichtert. Den Hauch von Verunsicherung in seinem Timbre hörte hoffentlich nur sie, die ihn so gut kannte.

»Wo ist die Wirtin?«, schnarrte der Polizist wieder.

»Ich muss wieder rüber«, flüsterte Johanna den beiden Mägden zu. »Ihr müsst sie allein in Schach halten.«

Anne nickte eifrig, während Sybilla der Frau vorsichtshalber noch einmal gegen das Schienbein trat, sodass sie nur ja keinen Mucks von sich geben würde, wenn Johanna die Hand von ihrem Mund nahm.

»Aber tut ihr nichts!«, raunte sie Anne ins Ohr, damit die Frau sie nicht hörte.

Sybilla machte ihr manchmal Angst. Sie konnte nicht nur Tiere schlachten, Hühnern den Hals umdrehen, Katzenjunge ertränken und Ratten fangen – nein, nicht einmal vor einer Giftschlange war sie im letzten Sommer zurückgeschreckt. Das Tier hatte sich in der Mauer im Hof eingenistet: Ein Stein, mit dem Sybilla ihm den Kopf zertrümmert hatte, hatte verhindert, dass aus ihrem Hof ein Schlangennest wurde. Nie spiegelten sich irgendwelche Gefühle auf dem breitflächigen Gesicht der Magd. Johanna wollte später nicht auch das Tassenweib mit gebrochenem Genick vorfinden.

»Sitzt meine Haube?«, fragte sie Anne.

Mit konzentriertem Blick strich die Magd über die weiße Leinenhaube ihrer Herrin, dann glättete sie Johannas Schürze, während diese selbst die Bänder hinter ihrem Rücken neu befestigte.

»Alles in Ordnung, Frau Johanna. Man sieht nichts von einem Kampf.«

Sybilla hatte währenddessen die Kaffeeguckerin mit dem Oberkörper auf einen Tisch bugsiert, als wollte sie sie zum Schlachten bereitlegen. Mit einer Hand hielt sie ihr noch immer den Mund zu, mit der anderen versuchte sie ihr Zappeln zu unterdrücken.

»Schnell, das Küchentuch!«, befahl sie Anne mit ihrer heiseren Stimme, die sofort begriff und das blau bestickte Tuch in lange Streifen riss.

Die beiden würden schon ohne sie zurechtkommen, dachte Johanna in einer Mischung aus Erleichterung und Unruhe und atmete noch einmal tief durch. Dann öffnete sie die Tür zur Gaststube und schloss sie schnell wieder hinter sich zu.

»Ah, die Herren von der Justiz!«, begrüßte sie die Männer mit gespielter Munterkeit. »Guten Tag! Wie schön, Sie auch einmal bei uns zu haben. Was dürfen wir Ihnen anbieten?«

»Uns liegt eine Anzeige gegen Sie vor«, kam der dickere der beiden Piketts sofort zur Sache. »In Ihrer Wirtschaft soll ein Weib aus der Tassenweiberzunft ihrem Handwerk nachgehen.«

Sein barscher Tonfall stand in einem merkwürdigen Gegensatz zu seinem Aussehen und Verhalten. Er hatte seinen Dreispitz abgenommen, sodass seine wenigen flaumigen Haare in alle Himmelsrichtungen abstanden, und hielt die Hände über das Herdfeuer, um sie zu wärmen. Seine Stiefel hatten eine lange Dreckspur auf den Holzplanken hinterlassen. Er blickte ihr nicht ins Gesicht, sondern schaute immer wieder misstrauisch zu den Würfelspielern hinüber, als würde er dort einen weiteren Hort der Unruhe vermuten.

Er muss neu sein, überlegte Johanna, sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen.

»Mein Herr, das muss ein Irrtum sein! Hier ist niemand, auf den diese Beschreibung zutrifft«, sagte sie und lächelte den Mann unschuldig an.

»Das kann doch wohl nicht wahr sein!«, tönte es in dem Augenblick laut vom Tisch der Würfelspieler. »Niemand kann solch ein Glück haben!«

O Gott, der Neffe des Schultheißen!, erkannte Johanna. Schon spürte sie, wie ihr das Lächeln auf den Lippen gefror.

Justus von Zimmer war ein stadtbekannter Nichtstuer, aber aus bester Familie. Er hatte ein durchschnittliches Gesicht mit einer großen Kartoffelnase, an dem außer den herausfordernd schauenden Augen nichts auffällig war. Sie strahlten etwas Kühnes aus oder vielmehr das Versprechen von Kühnheit, denn Johanna hatte noch nie erlebt, dass der junge Patrizier überhaupt etwas tat außer Herumschwätzen, Wein und Kaffee trinken und Karten spielen. Er zählte zu den Stammgästen der Coffeemühle, doch man wusste nie, in welcher Stimmung er gerade war, einmal mehr, wenn er etwas getrunken hatte, was um diese Uhrzeit durchaus schon vorkommen konnte. Immerhin zeichnete er sich dadurch aus, dass er keinerlei Standesdünkel zu besitzen schien.

Als auf seinen Ausruf keiner von seinen Spielkumpanen reagierte, sondern alle nur wie gebannt auf Johanna und den kükenflaumigen Polizisten starrten, erhob er sich von seinem Platz. Er zwinkerte Johanna verschwörerisch zu und rief gebieterisch:

»Ihr seht doch, dass hier niemand ist, auf den eure Beschreibung zutrifft! Es war auch niemand da. Ihr solltet euch lieber um die Diebe in dieser Stadt kümmern, als anständigen Leuten hinterherzuspionieren!«

Mit dramatischer Geste schleuderte er eine Handvoll Würfel auf den Tisch.

Der Polizist mit dem Kükenflaum auf dem Kopf zeigte keinerlei Regung bei den Worten des jungen Mannes. Nichts ließ erahnen, dass er erkannte, wer der Würfelspieler mit der stutzerhaften Perücke und dem prächtigen Anzug war.

Der zweite Pikett, ein Mann mit stumpfem Gesicht und einem herabhängenden Schnurrbart, war hinter dem Kartenmacher stehen geblieben und tat, als ob ihn all das nichts anginge. Zum Ärger von Ludwig Haldersleben, für den die Lektüre seines Journals einer heiligen Tätigkeit gleichkam, der er jeden Tag mit äußerster Andacht nachging, versuchte der Polizist schon die ganze Zeit, in seiner Zeitung mitzulesen.

Der Kükenflaumige wandte sich nun an den Pulvermühlenbesitzer und seinen Sohn, als ahnte er, dass aus diesen beiden am ehesten etwas herauszukriegen wäre. Der Junge begann prompt zu zittern. Doch der alte Kaufmann war nicht so leicht einzuschüchtern.

»Wir haben auch niemanden gesehen, auf den Ihre Beschreibung passt.«

Seine Stimme klang kühl. Er nahm die Untertasse vor ihm auf dem Tisch in die Hand und pustete vornehm auf den Kaffee, den er zuvor daraufgegossen hatte, um ihn abkühlen zu lassen. Dann nahm er mit abgespreiztem kleinem Finger einen großen Schluck Kaffee.

»Vielleicht liegt eine Verwechslung vor?«, schaltete sich nun Johanna wieder ein, bemüht, ihre Stimme hilfreich und eifrig klingen zu lassen.

In Wirklichkeit war ihr ganz anders zumute. Am liebsten wäre sie einfach gegangen und hätte die anderen sich selbst überlassen. Solche Situationen waren einfach nichts für sie. Sie hatte es schon immer gehasst, in Bedrängnis zu geraten. Einmal mehr, wenn sie so tun musste, als wäre alles in bester Ordnung. Warum nur kam sie immer wieder in die Lage, sich selbst und ihr Hab und Gut verteidigen zu müssen? Konnte man sie nicht einfach in Ruhe lassen? Es war so schon schwierig genug, die Mädchen großzuziehen und das Kaffeehaus weiterzuführen. Wie oft hatte sie gedacht, sie müsste die Brocken hinwerfen, weil sie ihrer Aufgabe nicht gewachsen war und das Geschäft in den Ruin trieb. Weil entweder zu wenige Kunden kamen oder zu viele auf einmal, weil die bestellten Kaffeelieferungen nicht eintrafen oder die Ware mangelhaft war, weil nicht einmal ihre Dienstboten sie ernst nahmen und ihr auf der Nase herumtanzten, kaum gönnte sie sich einen winzigen Moment der Muße und wachte nicht mit Argusaugen darüber, dass alle ihre Pflicht erfüllten. Ach, Adam, warum hast du mich nur so früh verlassen?, dachte sie zum unzähligsten Male seit seinem viel zu frühen Tod. Manchmal war sie richtig von Wut erfüllt, wenn ihr wieder einmal bewusst wurde, welch große Verantwortung er auf ihre Schultern geladen hatte – weiß Gott nicht freiwillig, das war ihr genauso klar –, dann wieder hätte sie sich am liebsten weinend im Bett verkrochen und sich die Decke über den Kopf gezogen, um nie mehr den Gastraum der Coffeemühle betreten zu müssen.

Johanna spürte den durchdringenden Blick des Kükenflaumigen auf sich ruhen. Auch alle anderen im Raum schienen sie anzustarren, bis auf den zweiten Polizisten, der nach wie vor teilnahmslos in Halderslebens Zeitung glotzte. Wie aus weiter Ferne ertönte als einziges Geräusch das Klacken der Billardkugeln aus dem Hinterzimmer. Aus der Speisekammer war kein Mucks zu vernehmen. Die Mägde mussten die Kaffeeguckerin wirklich gut im Griff haben. Johanna gab sich einen Ruck. Es half ja alles nichts, auch durch diese Geschichte musste sie durch.

»Ich bin mir ganz sicher, dass hier eine Verwechslung vorliegt«, wiederholte sie mit forscher Stimme und zwang sich, ein entwaffnendes Lächeln aufzusetzen.

Der Pikett warf einen fragenden Blick zu seinem Kollegen, der nun durchdringend einen der Orden an der Uniformjacke des Kartenmachers betrachtete. Haldersleben liebte Uniformen, obwohl er selbst nie beim Militär gewesen war. Heute trug er die dunkelblaue Jacke eines schwedischen Artilleristen.

Endlich schaute der zweite Polizist auf und schüttelte den Kopf.

»Es liegt bestimmt keine Verwechslung vor! Man hat uns gesagt, dass hier bei Ihnen Kaffeeguckerinnen ihr Gewerbe praktizieren würden. Wir sind hierher geschickt worden. Hierher zu Ihnen. Zur Coffeemühle am Alten Markt. Sie wissen, dass das Lesen aus dem Kaffeesatz verboten ist, oder?«

»Natürlich weiß ich das! Aber Sie sehen ja, dass das hier nicht der Fall ist.«

Rums! Aus der Vorratskammer war ein lautes Rumpeln zu hören, dicht gefolgt von einem Scheppern, als wäre etwas heruntergefallen und zerbrochen. Dann war es wieder still.

»Was befindet sich hinter dieser Tür?«

Der mit dem schütteren Haar legte eine Hand an seinen Degen.

Seine Stimme klang ungewöhnlich hell, registrierte Johanna mechanisch, der der Schreck in alle Glieder gefahren war. Die ganze Stube schien den Atem anzuhalten. Selbst die Würfelspieler sahen gespannt auf die Tür zur Vorratskammer. Auch Ludwig Haldersleben schaute für einen Moment von seiner Lektüre hoch. Er rückte die Kerze etwas näher an das Papier, warf einen unwirschen Blick über seine Schulter auf den mitlesenden Polizisten und blätterte raschelnd die Seite um.

»Das ist nur unser Vorratslager. Wir stampfen unseren Kaffee dort. Meine Mägde gehen da ständig rein und raus. Rein, raus, rein, raus. Sie wissen, was ich meine? Das war nur die Tür zum Hof, die Sie gehört haben.«

Wenn es sein musste, konnte Johanna lügen wie gedruckt. Das war eine ihrer großen Stärken – wenngleich noch nicht sehr lange. Früher war sie sofort rot geworden, wenn sie auch nur daran gedacht hatte, die Unwahrheit zu sagen oder sonst wie vom Pfad der Tugend abzuweichen. Adam hatte sich oft über sie lustig gemacht und behauptet, man könne in ihrem Gesicht lesen wie in einem offenen Buch. Insgeheim war Johanna sogar stolz darauf gewesen, dass sie nicht lügen konnte. Als Kind war sie einmal dabei erwischt worden, wie sie eine kleine Puppe, die aus einem Lumpen gefertigt war und ihrer Cousine gehörte, in ihren Rocktaschen hatte verschwinden lassen, um sie mit nach Hause zu nehmen. Seit ihre scharfzüngige Tante ihr den Diebstahl auf den Kopf zugesagt hatte, war sie nie mehr in Versuchung gekommen, etwas Unehrenhaftes zu tun. Zu groß war die Schande damals gewesen, zumal ihre Eltern Zeugen der Zurechtweisung durch die Tante geworden waren. Sie selbst hatten nicht mit ihr geschimpft, sondern sie nur bekümmert angesehen – was letztlich eine viel schlimmere Strafe gewesen war. Seit diesem Tag hatte sich Johanna immer um Redlichkeit bemüht und war damit bis zu Adams Tod recht gut durchs Leben gekommen. Doch allein auf sich gestellt, hatte sie bald gemerkt, dass ihre Mitmenschen es mit der Wahrheit längst nicht so genau nahmen wie sie selbst und alles daransetzten, sich persönlich einen Vorteil zu verschaffen. Nicht dass Johanna nun ständig versuchte, ihre Geschäftspartner über den Tisch zu ziehen, aber sie ließ sich nicht mehr so leicht etwas vormachen. Und wenn es gar nicht anders ging, kämpfte sie eben mit gleichen Waffen und warf all ihre moralischen Bedenken über den Haufen. Doch ein gutes Gefühl hatte sie nie dabei, wenn sie jemandem gegenüber nicht ehrlich war. Eines Tages würde sich das furchtbar rächen, fürchtete sie jedes Mal. Sie warf auch nun wieder einen schnellen Blick gen Himmel, um sich davon zu überzeugen, dass keine dunklen Gewitterwolken aufzogen. Töricht, das wusste sie, aber trotzdem hielt sie an diesem abergläubischen Ritual fest.

»Das war keine Tür!«

Der Pikett mit dem langen Schnurrbart riss sich von Halderslebens Zeitung und Orden los und durchschritt die Gaststube.

So viel zu ihrer Einbildung, sie könne gut lügen, dachte Johanna resigniert. Bevor sie ihm in den Weg treten konnte, hatte der Mann schon den Knauf zur Vorratskammer mit einem lauten Quietschen herumgedreht.

Nun ist alles aus!, schoss es ihr durch den Kopf. Wenn man ihr bloß die Gerechtigkeit nicht wegnehmen würde!

Mit zitternden Knien eilte sie hinter dem Mann, der sie einfach zur Seite geschoben hatte, in das Lager, um sich schützend vor Anne und Sybilla zu stellen.

Doch die Speisekammer war leer. Die Stößel lagen ordentlich nebeneinander auf der langen Bank. Der gemahlene Kaffee war in eine große Schüssel gefüllt worden, aber nicht zugedeckt.

Genießerisch sog der Schnurrbärtige den Duft der frisch gestampften Bohnen ein, wie kurz vor ihm die Kaffeeguckerin. Mit beiden Händen hob er die Schüssel dicht unter seine Nase.

»Hm!«, seufzte er verklärt.

»Wie Sie sehen, ist hier auch niemand, auf den Ihre Beschreibung zutreffen könnte.«

Johanna hatte sich wieder gefasst. Ihre Angst vor dem Polizisten war verflogen. Er schien ihr überhaupt der nettere der beiden Männer zu sein. Sie meinte, ihn schon einmal bei einer der täglichen Paraden an der Hauptwache gesehen zu haben.

»Lass uns im Hof gucken!«, schnarrte in dem Moment die helle Stimme des kükenflaumigen Piketts hinter ihr.

Er war neu und übereifrig, vermutete Johanna. Selbst seine Uniform sah aus, als hätte er sie zum ersten Mal an.

Der andere stellte widerwillig die Schüssel mit dem Kaffeepulver zur Seite, öffnete mit einem Ruck die klemmende Hoftür und streckte den Kopf hinaus.

»Hier ist nichts.«

Schwungvoll zog er die widerspenstige Tür wieder zu.

Seinem Kollegen stand die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben, als sie alle zurück in die Gaststube traten.

»Mach den Herren eine Schale Kaffee!«, rief Johanna eilig dem erstaunten Schosch zu.

Dieser löste sich endlich aus seiner Erstarrung, nahm einen der dicken Topflappen und griff nach der großen Messingkanne auf dem Herd.

»Oder können wir Ihnen etwas anderes anbieten?«, fragte sie fröhlich an die Männer gewandt. »Schokolade, Tee oder einfach einen Würzwein? Es ist alles da!«

Hoffentlich hatte man ihr ihre Erleichterung nicht angemerkt, dachte Johanna kurz. Sie wusste, dass sie jetzt eigentlich nichts mehr zu verlieren hatte. Wohin auch immer: Die beiden Mägde hatten die Kaffeeguckerin sicher in Verwahrung gebracht. Wahrscheinlich in ihre Schlafkammer hoch oben unter dem Dach. Dort würden die Polizisten wohl kaum nach dem Tassenweib suchen.

Die beiden Männer schienen ihre Frage überhört zu haben, denn sie griffen gierig nach den bis zum Rand gefüllten Kaffeebechern, die Schosch ihnen entgegenhielt.

»Aua, ist das heiß!«

Fast hätte der Kükenflaumige seinen Becher fallen lassen. Seine Augenbrauen waren so dünn, dass sie sich kaum von seiner Gesichtshaut abhoben.

»Ich an Ihrer Stelle würde darüber nachdenken, wer meine Feinde sind«, sagte der Schnurrbärtige nach einer Weile gemütlich. »Gegen Sie liegt nämlich eine Anzeige vor.«

Wie ein Fisch bewegte er immer wieder seine Lippen vor und zurück, um den heißen Kaffee in seinem Mund zum Abkühlen zu bringen.

»Wer hat mich denn angezeigt?«, fragte Johanna interessiert.

»Das können wir Ihnen leider nicht sagen.«

Dem Schnurrbärtigen schien die Sache nun wirklich unangenehm zu sein.

»Aber wie kann ich mich gegen solche Anschuldigungen wehren, wenn mir nicht einmal gesagt wird, woher sie kommen?«

Johanna musste sich zügeln, ihre Empörung nicht laut werden zu lassen. Wenn sie eines hasste, dann das Gefühl von Ohnmacht. Warum sagten ihr die Piketts nicht einfach, wer sie so auf dem Kieker hatte, dass er mit seinen Anschuldigungen ihre ganze Existenz bedrohte? Wenn sie ihren Feind nicht kannte, wie sollte sie ihn dann bekämpfen? Das musste doch auch der Polizei begreiflich sein – einmal mehr, wenn man sie geradezu darauf stieß, sich Gedanken über denjenigen zu machen, der die Anzeige gegen sie aufgegeben hatte. Oder steckte doch mehr dahinter? Vielleicht wollte man ihr ja von ganz oben das Geschäft madig machen und suchte nach offiziellen Wegen, eine Schließung des Lokals zu erwirken? Aber warum? Was sollte der Rat der Stadt Frankfurt gegen die Coffeemühle haben? Sie hatte doch stets sämtliche Abgaben bezahlt und sich immer korrekt verhalten, fast immer jedenfalls …

Eine Welle von Mutlosigkeit drohte sie zu überschwemmen. Wenn sie nicht in Erfahrung brachte, wer hinter der Sache mit der Kaffeeguckerin stand, nützte ihr der momentane Punktsieg überhaupt nichts, erkannte sie plötzlich.

»Würde mich nicht wundern, wenn es die da gewesen wäre«, machte sie schließlich einen lahmen Versuch ins Blaue hinein und deutete mit dem Kinn in Richtung Römerberg, wo Anfang des Jahres ein neuer Kaffeestand eröffnet hatte. Die von einer ehemaligen Kaffeehockerin betriebene Bretterbude konnte zwar nicht mit ihrem Etablissement mithalten, aber viele von Johannas Kunden waren zumindest einmal dorthin gegangen, um den Kaffee auszuprobieren.

»Nein, nein, das können wir verneinen! Mit der Ilse Laubenmacherin auf dem Römerberg hat das Ganze nichts zu tun. Ist zwar auch Konkurrenz für Sie und Ihre Coffeemühle, aber Konkurrenz belebt ja bekanntlich das Geschäft. Derjenige, der da Anzeige gegen Sie erstattet hat, ist jemand ganz anders.«

Der Kükenflaumige versuchte einen rein geschäftsmäßigen Ton anzuschlagen, aber man konnte ihm ansehen, dass er seine Rolle im Gegensatz zu seinem Kollegen deutlich genoss.

Endlich kann er mal seine ganze Macht ausspielen, dachte Johanna, endlich ist er mal nicht der arme Tölpel, der von allen nur ausgelacht wird! Sie fühlte sich fast schon wieder stark, als sie die feiste Gestalt musterte, die da mit vorgeschobener Brust und in die Hüften gestützten Händen vor ihr stand, das ganze Körpergewicht aufs Standbein verlagert, das Spielbein vorangestellt. So viel Lächerlichkeit auf einem Haufen hatte sie lange nicht gesehen. Doch sie durfte jetzt nicht übermütig werden, ermahnte sie sich. Was nützte es ihr, wenn sie dem Polizisten gegenüber erwähnte, dass nur die vier mit einer Gerechtigkeit ausgestatteten Kaffeehäuser einen Ausschank betreiben durften und deshalb die Laubenmacherin genauso illegal arbeitete wie viele andere.

»Wie recht Sie haben, Herr Hauptmann!«, wiederholte sie mit einem demütigen Lächeln, um Zeit zu gewinnen. »Ohne Konkurrenz würde das ganze Geschäft nur halb so viel Spaß machen.«

Angestrengt überlegte sie, wen der Mann mit seiner Bemerkung gemeint haben konnte. Vielleicht ihre bigotte Nachbarin von gegenüber, die mit Begeisterung bei jeder Rufmordkampagne mitmachte? Aber nein, sie anzuzeigen, das traute Johanna der Gewürzkrämerin dann doch nicht zu. Also mochte es einer ihrer Kollegen von den anderen Frankfurter Kaffeehäusern gewesen sein, der gegen sie intrigierte? Nein, auch nicht, korrigierte sie sich sofort. Sie kannte sie alle – für so gemein und hinterhältig hielt sie keinen von ihnen. Wen aber konnte man sonst noch zu ihren Konkurrenten zählen?

Mit einem Mal fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Natürlich, dass sie darauf nicht eher gekommen war!

»Zumal ja all die Apfelweinwirte, Schnapsbrenner und Bierbrauer in gewisser Weise auch noch dazuzuzählen sind«, versuchte sie weiter ihr Glück und lächelte dem Polizisten treuherzig ins Gesicht. »Nicht wahr, Herr Hauptmann, auch diese Leute wollen schließlich ihre Erzeugnisse an den Mann bringen. Also denken sie sich etwas aus, wie sie möglichst viel verdienen können. Entweder sie sind einfach besser als die Kollegen, oder sie brüten irgendwelche anderen Ideen aus, wie sie der Konkurrenz ein Schnippchen schlagen können. So ist es doch, oder etwa nicht?«

»Gewiss, gewiss, auch die Apfelweinzunft hat heutzutage schwer zu kämpfen«, stotterte das Küken ein wenig überrumpelt.

Hatte sie es doch geahnt! Johanna hatte Mühe, ein triumphierendes Lächeln zu unterdrücken. Dabei war ihr eigentlich viel eher zum Heulen zumute. Sie hatte also den richtigen Riecher gehabt: Hinter der ganzen Geschichte steckte ihr alter Feind Gottfried Hoffmann, seines Zeichens Apfelweinbauer aus Sachsenhausen – und Ehemann ihrer ehemals besten Freundin Elisabeth. Er hatte die falsche Kaffeeguckerin bezahlt, damit sie in der Coffeemühle ihr Unwesen trieb, und sie, Johanna, gleichzeitig beim Schultheißen angezeigt. Kein Monat verging, in dem sich Gottfried Hoffmann nicht etwas Neues ausdachte, um sie zu schikanieren. Das Tassenweib war nur eine weitere Maßnahme, um ihr Geschäft zu schädigen, ihre Kunden zu verschrecken und die Justiz auf sie aufmerksam zu machen. Wenn man mit genug Dreck warf, dann blieb irgendwann etwas hängen, so dachte Gottfried offenbar. Johanna hatte es sich immer wieder durch den Kopf gehen lassen, ob sie selbst zum Schultheiß gehen sollte, um die Schikanen des Apfelweinwirts anzuzeigen. Doch die Angst um Elisabeth hatte sie jedes Mal davon abgehalten. Als Kinder waren sie unzertrennlich gewesen. Nebeneinander hatten sie mit der Sichel die Felder gemäht, waren auf Obstbäume geklettert wie die Jungen und hatten Schafe gehütet. Sie hatten einander ihre größten Geheimnisse anvertraut und die herrlichsten Lachanfälle zusammen bekommen. Erst als Elisabeth Gottfried Hoffmann kennengelernt und gegen Johannas Rat geheiratet hatte, war ihre Freundschaft zu Ende gewesen.

Johanna ließ ihren Blick durch die Gaststube schweifen, wo alles wieder seinen normalen Gang genommen hatte: Ludwig Haldersleben las hoch konzentriert seine Zeitung, die Würfelspieler zockten unter fröhlichem Kampfgeschrei, der Eifeler Schießpulverfabrikant unterhielt sich leise mit seinem pickligen Sohn, Schosch hantierte lustlos am Herd herum, und die beiden Piketts rüsteten sich zum Aufbruch. Es war alles in bester Ordnung – und so sollte es bleiben! Niemand hatte das Recht, ihr und Adams Töchtern die Lebensgrundlage zu zerstören. Auch nicht Gottfried Hoffmann, mochte er noch so sehr mit Elisabeth verheiratet sein. Damit war nun endgültig Schluss!

2. KAPITEL

Was soll ausgerechnet an der Bergerin so gefährlich sein?«,fragte der Bierbrauer Hildebrand Praetorius mit ungläubiger Stimme.

Martin Münch hätte ihm am liebsten sekundiert und noch hinzugefügt: »Ja, lassen wir sie doch endlich in Ruhe!« Aber das traute er sich nicht. Stattdessen drehte er sein Gesicht den ersten Sonnenstrahlen des Jahres zu, die durch die winzige Fensterluke der Hütte fielen.

Eine große Spinnwebe vom letzten Sommer wehte in der Ecke nahe der Öffnung hin und her. Bis vor Kurzem hatten ein paar Maurer in dem grob gezimmerten Bretterverschlag gewohnt, die am Neubau des Deutschordenshauses gearbeitet hatten. Ein Loch in der Mauer zwischen dem Ordensareal und dem Hof des Roten Apfel ermöglichte Gottfried Hoffmann und seinen Getreuen, hier ihre heimlichen Treffen abzuhalten. Noch war es viel zu kühl, als dass die Männer ihren Apfelwein im Hof des Hoffmann’schen Wirtshauses hätten trinken können. Auf ein Feuer verzichteten sie in der Hütte, hätte der aufsteigende Rauch sie doch bloß verraten.

Seine Erkältung machte Martin Münch zu schaffen. Sein Kopf brummte. Durch das Herumsitzen in der Kälte würde er auch nicht gesünder. Noch in der Nacht zuvor hatte es wieder zu frieren begonnen. Immer, wenn man dachte, der Winter sei nun endgültig vorbei, stellte man fest, dass man sich zu früh gefreut hatte. Jedes Jahr war das so. Die verwitterte Bank, auf der er saß, war feucht und morsch. Er spürte, wie die Kälte in seine Hüften kroch und den Schmerz an der empfindlichen Stelle oberhalb des Steißbeins vergrößerte.

Gottfried Hoffmann ließ sich Zeit mit seiner Antwort auf Hildebrand Praetorius’ Frage, als würde es ausreichen, den Feind in Grund und Boden zu starren. Martin war froh, dass dieser Blick nicht ihm galt. Doch in dem mächtigen Bierbrauer hatte Gottfried – auch genannt »der Schläger von Sachsenhausen« – einen würdigen Gegner gefunden. Praetorius war kein Mann, der sich einschüchtern ließ. Er starrte einfach zurück, ohne mit der Wimper zu zucken, und hielt das Schweigen aus.

Gottfried Hoffmann selbst hatte den Bierbrauer zu dem konspirativen Treffen eingeladen, weil er gehört hatte, dass Praetorius eine Kampagne gegen den schwarzen Türkentrank ins Leben gerufen hatte. Seinem eigenen Feldzug gegen die Witwe Berger war in letzter Zeit etwas die Puste ausgegangen, und er erhoffte sich offenbar neuen Schwung durch ein Bündnis mit einem der mächtigsten Männer der Stadt. Nun aber schien er Probleme damit zu haben, die Macht tatsächlich abzugeben, und verfing sich erst einmal in seinen üblichen Spielchen.

Martin Münch konnte sich kaum etwas Langweiligeres vorstellen als Männer, die ständig dabei waren abzuklären, wer innerhalb der Gruppe welchen Platz innehatte – vor allem auch deswegen, weil er bei solchen Rangeleien meist am schlechtesten abschnitt. Nur deshalb war er überhaupt hier. Er selbst hatte nichts gegen Johanna Berger, er kannte sie schließlich gar nicht, aber er musste mitmachen, weil er Gottfried Hoffmanns Nachbar war und weil dieser sonst ihn und seine Frau Ännchen gnadenlos tyrannisieren würde. Seit Jahren schon versuchte er mäßigend auf Hoffmann einzuwirken. Bisher ohne Erfolg. Er schüttelte sich innerlich und presste die Kieferknochen aufeinander. Wie er diesen Mann hasste! Abgrundtief! Mit seiner gedrungenen Gestalt, dem muskulösen Oberkörper, den kurzen Beinen, dem kräftigen Hals und dem vorgeschobenen Kinn ähnelte Hoffmann stark einem seiner »Bullenbeißer«, einer Hunderasse, die vorzugsweise zum Kampf gegen Bullen und Bären eingesetzt wurde und die der Apfelweinwirt vor nicht allzu langer Zeit zu züchten begonnen hatte. Manchmal hatte er bis zu zehn Viecher von der Sorte in seinem Zwinger, mutmaßte Martin Münch, der aufgrund des lauten Gekläffs aus dem Nachbargehöft nachts oft nicht einschlafen konnte. Aber das war noch gar nichts gegen den Bären, den Hoffmann sich vor ein paar Tagen zugelegt hatte! Das Tier war angeblich noch nicht ausgewachsen, aber schon jetzt weit größer als sein Besitzer, wenn es sich zu voller Höhe aufrichtete. Und das tat es oft genug! Mit einem gefährlichen Zähnefletschen, das Hoffmann als Begrüßungslächeln deutete, wie er ihm, Martin Münch, erst gestern stolz erzählt hatte. Der Gestank, der von Luzifers – so der Name des Ungeheuers – mit Heu und Stroh ausgelegtem Stall ausging, war bereits jetzt kaum mehr auszuhalten. Wie er Gottfried Hoffmann kannte, würde er bestimmt nicht zu denjenigen Tierbesitzern zählen, die regelmäßig ans Ausmisten dachten. Er konnte nur hoffen, dass der Apfelweinwirt diese lästige Pflicht nicht auf seine Frau Elisabeth abschob. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn der spielwütige Luzifer auf die Idee kam, mit ihr »herumtollen« zu wollen!

»Wenn wir die Bergerin erst mal kleingekriegt haben, dann kriegen wir auch die anderen klein«, meldete sich in dem Moment Jockel Lauer, der Vierte in der Hütte, in seinem stets fanatischen Tonfall zu Wort.

Jockel Lauer war nicht sehr intelligent und machte alles, was Hoffmann anordnete. Er brannte illegal Schnaps und hatte eine winzige Schenke am Stadtrand. Das Leben war für ihn ein einziger langer Krieg. Wenn es dabei Tote geben würde, nähme Jockel Lauer auch die fraglos in Kauf.

»Na ja, so ganz leuchtet mir das nicht ein, aber wir sollten mal weitermachen und nicht unsere Zeit mit Nebensächlichkeiten verplempern«, sagte Hildebrand Praetorius von oben herab, ohne Gottfried Hoffmann anzusehen.

Martin Münch konnte es kaum fassen, dass sich ein solch wichtiger Mann mit ihnen verbündet hatte. Praetorius galt als der erfolgreichste Bierbrauer der Stadt. Sein Schwager war Ratsmitglied. Er führte ein großes Haus auf der Zeil und besaß ein Sommerhaus im Grünen. Wie konnte sich so jemand mit einem gefährlichen Irren wie Gottfried Hoffmann und einem Kleinkriminellen wie Jockel Lauer einlassen?

Einige Steine schienen draußen aus der Mauer zu bröckeln. Man konnte hören, wie jemand darauftrat und sich der Hütte näherte. Jockel sprang auf, als müsste der Holzschuppen gegen die Ungläubigen verteidigt werden. Die Hand hatte er an seinen Gürtel mit dem Messer gelegt. Knarrend wurde die morsche Tür aufgezogen.

Elisabeth Hoffmann war noch immer eine Schönheit. Und ohne den großen Bluterguss rund um ihr linkes Auge wäre sie noch schöner gewesen. Mit der rechten Hand hielt sie ein Tablett mit einem dampfenden Krug und Bechern gegen ihre Hüfte gepresst. Der andere Arm steckte in einem Verband und war gegen ihren Oberkörper geschnürt.

»Hier ist etwas zu trinken.«

Es klang wie eine Frage, so zögerlich formulierte sie ihre Aussage.

»Danke.«

Martin Münch nahm sich als Erster einen Becher und lächelte Elisabeth aufmunternd zu. Er verspürte Zorn in sich aufsteigen. Was Hoffmann mit seiner Frau machte, war unerträglich!

Gottfried Hoffmann ignorierte Elisabeth. Unsicher sah sie ihn an.

»Lass uns in Ruhe, du kannst gehen!«, entfuhr es ihm unwirsch.

Mit einem eingeschüchterten Lächeln zog sie sich schnell wieder zurück. Die anderen grinsten betreten und murmelten einen Dank.