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Wenn man sie reinließ, durften auch Teutonen früh jenes geheimnisvolle Reich in Übersee betreten, das seit 1492 den Spaniern »gehörte«. Erst tröpfchenweise, aber dann kamen sie, die Deutschen. Michi Strausfeld berichtet, wie, warum und wer: Gauner, Exzentriker, Künstler, Kaufleute, die Reichtümer witterten, eine Utopistin mit Kaiserkrone, Forscher, die sich um das kümmerten, was ihnen Alexander von Humboldt übrig gelassen hatte. In Massen kamen sie erst spät: hungernde Auswanderer, geflohene Juden, aber auch ihre Quälgeister, die sich hier nach 1945 versteckten. Und heute ? Ein lateinamerikanisches Tableau, von 1492 bis zur Gegenwart, in kräftig deutschen Farben.
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Seitenzahl: 313
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Michi Strausfeld
Deutsche Abenteuerin Lateinamerika
BERENBERG
Für Judith,
Jana, Luca, Nicolai
und für Harald
Vorwort
Das 16. Jahrhundert
Das 17. und 18. Jahrhundert
Das 19. Jahrhundert
Das 20. Jahrhundert
Das 21. Jahrhundert
Dank
Nachweise
Personenregister
Über die Autorin
Als ich 1967 zum ersten Mal nach Lateinamerika kam, war alles neu für mich, verlockend und manchmal verstörend. In Lima lernte ich mehr als ein Dutzend unbekannte Früchte kennen und die exzellente Gastronomie: Ceviche, chifas, die chinesischperuanischen Restaurants wie auch die populären Stände am Malecón mit typischen Gerichten. Die Gesellschaft war klar geschieden in Weiße, cholos, und Indigene, indios. Stand im Pass die Hautfarbe trigueño, also »brünett«, bedeutete dies: kein Zugang zur feinen Oberschicht. Die koloniale Altstadt war beeindruckend, die Museen mit den prähispanischen Objekten überwältigend. Ein Ausflug nach Chosica, nur vierzig Kilometer von Lima entfernt und bereits achthundert Meter hoch, vermittelte einen ersten Eindruck von der grandiosen Andenkette. Das Meer lag im August unter einem grauen Schleier, der garúa, der die ganze Stadt monatelang in einen feuchten Nebel hüllt. Ich erfuhr Eckdaten der Geschichte, wunderte mich über die Politik, den machismo und die Doppelmoral der Menschen in diesem erzkatholischen Land.
Reisen im Land führten mich in die Anden, nach Cuzco, Machu Picchu und den Titicacasee, in die Wüste nach Nazca etwa fünfhundert Kilometer südlich von Lima und natürlich in den Urwald, an den Ucayali-Fluss, wo die Shipibo leben. Das Instituto Lingüístico de Verano, das seit Jahrzehnten in der Nähe der Stadt Pucallpa tätig ist, setzt sich für den Erhalt der indigenen Sprachen ein und wirkt zugleich missionarisch. Ungefragt lehrt es die Shipibo und andere Stämme die Bibel, und so ist die Institution stark umstritten. Viele kritisieren die angebliche Sorge für den Erhalt der Sprache als bloßen Deckmantel für die Evangelisierung.
Ich las Autoren, die ich alle nicht kannte und die mir als unverzichtbar empfohlen wurden: César Vallejo, Jorge Luis Borges, Pablo Neruda und José Carlos Mariátegui, den marxistischen Intellektuellen mit seinem Standardwerk über die peruanische Wirklichkeit. Vor allem aber war gerade ein Roman mit dem schönen Titel Hundert Jahre Einsamkeit erschienen, der die Leser elektrisierte. Die Studenten schwärmten von Che Guevara, der in Bolivien für die Revolution kämpfte, und alle wünschten sich die gleichen Errungenschaften für ihr Land, wie sie die Kubanische Revolution erreicht hatte: Alphabetisierung, kostenlosen Unterricht und Krankheitsversorgung, Grundnahrungsmittel für alle. Es herrschte eine Aufbruchstimmung, ein ansteckender Optimismus.
Drei Monate Peru waren ein prägendes Erlebnis. Seitdem hat mich der Kontinent nicht mehr losgelassen. Ich habe viele politische Hoch- und Tiefpunkte erlebt. Offensichtlich gibt es keine gradlinige Entwicklung, immer wechseln sich die Extreme ab, so scheint es. Dank der großartigen Literatur, die auf diesem Kontinent während der letzten hundert Jahre entstanden ist, habe ich seine Geschichte besser verstehen gelernt, dank der vielen Reisen und Freundschaften habe ich meinen Blick auf die Probleme und das Ungleichgewicht zwischen der Alten und der Neuen Welt enorm erweitert. Immer wieder war ich überrascht, entgeistert oder begeistert von den Fort- und Rückschritten.
Knapp sechzig Jahre später stecken etliche Länder wieder einmal in der Krise. »Unser Präsident spricht mit seinem toten Hund«, kommentierten in einer Mischung von Verzweiflung und Zynismus argentinische Autoren auf der Buchmesse 2024 in Buenos Aires das Verhalten des »Anarchokapitalisten mit der Kettensäge«. »Maduro verfälscht unverfroren die Wahlen und sperrt die Opposition ins Gefängnis«, sagen die Venezolaner. »Unsere Präsidentin liebt Rolex-Uhren und trägt immer eine andere, und keiner weiß angeblich, wer sie bezahlt«, so die Peruaner. Rosario Murillo, die Vizepräsidentin Nicaraguas, in deren Händen die Macht liegt, »ist eine Hexe und leitet eine esoterische Diktatur«, klagen die Exilanten des Landes.
Die Liste eigenwilliger oder irrationaler Verhaltensweisen, die man kaum ernst nehmen kann, lässt sich mühelos verlängern. Wen interessiert da noch Lateinamerika? Die Empörung nach dem Militärputsch von General Pinochet gegen den charismatischen Präsidenten Salvador Allende: vergessen. Die Euphorie, die sich nach der Revolution in Nicaragua in den 1980er Jahren bei uns verbreitet hatte: verflogen. Der verspätete Siegeszug der neuen lateinamerikanischen Literatur in Deutschland, die Zigtausende Leser drei Jahrzehnte begeistert hatte: vorbei, der »magische Realismus« hat seine Strahlkraft verloren. Warum weiß man heute – politisch und literarisch – weniger über den Kontinent als vor vierzig Jahren?
Diese Frage stelle ich mir und anderen immer wieder, und niemand findet befriedigende Antworten. Immer das Gleiche, höre ich, alles wiederholt sich und ist bekannt: Diktaturen nach Revolutionen, regelmäßige Wirtschaftskrisen, zunehmende violencia allüberall, ein paar Naturkatastrophen – die Medien liefern einfach keine positiven Nachrichten. »Lateinamerika interessiert nicht – die Leute scheren sich einen Dreck darum«, erklärte Richard Nixon dem jungen Donald Rumsfeld bereits 1971.»Besser würde er diese Weltgegend meiden, wenn er Karriere machen wolle.« Lateinamerika als Karrierekiller?1
Dabei waren zahllose Reisende und Forscher – und eben nicht zuletzt auch deutsche – immer wieder quer durch die Jahrhunderte von Lateinamerika fasziniert, denn grandiose Landschaften, Flora und Fauna, Ruinen, Literatur, Musik, Tanz, Gastronomie und der Urwald üben einen unwiderstehlichen Reiz aus. Hinzu kommen die beeindruckende Gastfreundschaft und spontane Herzlichkeit der Menschen, so dass man diese Weltgegend lieber ins Herz schließen als sie meiden möchte.
Weitere Fragen drängen sich auf:Wenn aktuell Ignoranz und Gleichgültigkeit dominieren, wie war es früher? Gibt es weiterhin besondere Beziehungen zwischen Spanien, dem »Mutterland«, und seinen ehemaligen Kolonien in Lateinamerika? Immerhin feiert die madre patria jedes Jahr den 12. Oktober als »Tag der Hispanität«, an dem sie die historische Verbundenheit und die Gemeinsamkeit der Sprache beschwört. Aber: Verteidigt Spanien in der EU nur eigene Interessen oder auch – nicht nur rhetorisch – die von Lateinamerika? Und haben sich Brasilien und Portugal noch viel zu sagen, obwohl sie inzwischen sogar sprachlich klar geschieden sind? Man redet Portugiesisch oder Brasilianisch, und es gibt Übersetzungen in »beide« Sprachen.
Wie aber steht es um die Beziehungen zwischen Deutschland und Lateinamerika, damals und heute? Gibt und gab es nur individuelle Interessen und Leistungen von Abenteurern, Missionaren, Forschern, Malern, Utopisten, Aussteigern, Glücksrittern oder wagemutigen Kaufleuten?
Man muss in die Geschichte zurückgehen, um Erklärungen zu finden. Deutschland wurde erst 1871 vereint und war niemals Kolonialmacht in Lateinamerika. Schon allein deshalb entfielen staatliche, ausreichend unterstützte Initiativen für wissenschaftliche Reisen, wie sie in Frankreich seit dem 16. Jahrhundert üblich waren. Weder die Königreiche von Preußen oder Bayern noch die vielen teils wohlhabenden Fürstentümer wollten sich die dafür notwendigen Mittel leisten. Die Bindungen zwischen den meisten lateinamerikanischen Ländern und Paris hingegen waren immer etwas Besonderes und wurden gepflegt, zum einen dank der Verbundenheit als romanische Sprachen, zum anderen wegen der Schriften der französischen Aufklärer, die für die Unabhängigkeitsbestrebungen eine entscheidende Rolle gespielt haben. Für die jungen Republiken war Paris im 19. Jahrhundert die verehrte kulturelle »Hauptstadt Lateinamerikas«.
Deutschland stand eher im Abseits – es gab große Sprachprobleme und mangelnde Neugier auf beiden Seiten des Atlantiks. Desgleichen bürokratische Hürden und Verbote, denn »Lutheraner« waren auf dem spanisch-katholischen Kontinent nicht erwünscht.
Leider hat sich bis heute wenig daran geändert. Seit Jahren, besser gesagt seit ein paar Jahrzehnten, ist immer wieder zu hören und zu lesen, dass sich die politischen und kulturellen Kontakte zwischen Deutschland und Lateinamerika auf einem Tiefpunkt befinden. Aber wenn das zutrifft, welche Ursachen gibt es dafür? Sowohl in Europa als auch in Deutschland besteht die große, jahrhundertealte Nachfrage (um nicht zu sagen: Gier) nach den lateinamerikanischen Bodenschätzen und Rohstoffen unverändert weiter. Schon Kolumbus wollte »nur« einen neuen Weg zu den begehrten und teuren Gewürzen finden, aber seine bescheidenen Goldfunde, die er den katholischen Königen in Barcelona stolz präsentierte, weckten ein unstillbares Verlangen nach dem Edelmetall. In Mexiko fand Hernán Cortés die gesuchten und erträumten Mengen wie Francisco Pizarro später in Peru im Überfluss. Die Gold- und Silberminen Amerikas garantierten unermesslichen Reichtum, ihre Ausbeutung war während der Kolonialzeit oberstes Ziel.
Diese Erträge halfen auch breiteren Bevölkerungsschichten im damals sehr armen Spanien und füllten die Kriegskassen der europäischen Herrscher. Die spanische Krone wachte sorgsam über ihren Import, alles musste in die Heimat verschifft und penibel dokumentiert werden. Der Transport war gefährlich, denn es galt, die wertvolle Fracht gegen die Überfälle der Freibeuter und Piraten zu verteidigen. Spanien sicherte sich eine Monopolstellung in den Handelsbeziehungen und behinderte die Produktion von Gütern in ihren Kolonien, die mit den eigenen konkurrieren könnten, verlangsamte also die industrielle Entwicklung um drei Jahrhunderte.2 Lateinamerika war Lieferant, seine Wirtschaftsform der Extraktivismus – und so ist es weitgehend geblieben.
Europa verdankt der Neuen Welt in der Frühen Neuzeit insgesamt einen deutlich angestiegenen Wohlstand und feudalen Luxus für die Oberschichten. Aus Lateinamerika kamen aber nicht nur Gold und Silber, sondern auch zahllose Naturschätze. Kolumbus lernte den Tabak auf Kuba kennen, und die aus Peru importierte Kartoffel verhinderte Hungersnöte in Europa. Mexiko verdanken wir Tomaten, Mais, Kakao, Chili, Ananas, Avocado, Hülsenfrüchte und vieles mehr. Eine schier endlose Liste von zuvor unbekannten Lebensmitteln hat unsere Küche bereichert und geprägt. Chinin, Salpeter, Kautschuk und Heilkräuter (um nur einige natürliche Rohstoffe zu nennen) waren wichtig für die Medizin und die Industrie. Der uruguayische Autor Eduardo Galeano publizierte 1971 einen Bestseller: Die offenen Adern Lateinamerikas, in dem er die Ausbeutung und das Ungleichgewicht im Handel polemisch anprangerte. Das Buch machte Furore im ganzen Kontinent und beeinflusste das Selbstverständnis von Generationen junger Lateinamerikaner. Es ist bis heute lesenswert.
Inzwischen bemühen sich deutsche und europäische Politiker bei ihren Reisen weiterhin unverdrossen vor allem darum, den Erwerb von Lithium, Kupfer, Zinn, Eisenerzen, Kohle, Soja und vielem mehr sicherzustellen. Lateinamerika bleibt der begehrte Kontinent der für den Lebensstandard der westlichen Industrienationen überlebenswichtigen Rohstoffe, zu denen inzwischen sogar Fachkräfte, vor allem in der Pflege, gehören, die in großem Stil angeworben werden – nach wie vor fehlt jegliche Parität.
Immer gab es lukrative Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und Lateinamerika, aber ich frage mich: Gab es engere Verbindungen in anderen Bereichen, vielleicht in der Kultur, die in Lateinamerika einen so hohen Stellenwert hat? Mexiko, Mittelamerika und die Andenländer sind stolz auf ihre jahrtausendealten Hochkulturen, längst zeigen teils grandiose Museen diese Schätze. Viele deutsche Wissenschaftler waren immer wieder davon fasziniert und haben sie erforscht. Desgleichen versuchten sie, oft unter großen körperlichen Anstrengungen, das Mysterium und die Vegetationen des Amazonas-Urwalds zu ergründen.
Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich ein neues Selbstbewusstsein im Kontinent verbreitet. Politisch sorgte die Kubanische Revolution 1959 für weltweite Aufmerksamkeit, literarisch zeitgleich der »Boom« der neuen Literatur Lateinamerikas. Ihr wurden in wenigen Jahrzehnten die höchsten Ehren zuteil: Miguel Ángel Asturias, Pablo Neruda, Gabriel García Márquez und Mario Vargas Llosa erhielten den Nobelpreis, die chilenische Lyrikerin Gabriela Mistral war bereits 1945 ausgezeichnet worden. Die Romane und Gedichte dieser Autoren wurden begeistert gelesen und ermöglichen ein neues Verständnis für Lateinamerika.
Haben sich seitdem, also in den vergangenen sechs Jahrzehnten, das Wissen und die Beschäftigung mit der fünfhundertjährigen Geschichte Lateinamerikas und seiner konfliktreichen Gegenwart in Deutschland verbessert, verfeinert, vertieft? Oder ist und bleibt Lateinamerika ein »vergessener Kontinent«, wie der britische Journalist Michael Reid seinen umfangreichen Essay 2007 nannte, in dem er den »Kampf um Amerikas Seele« beschreibt?
Wendet man den Blick und fragt, in welcher Weise die deutsche Präsenz in Lateinamerika wahrgenommen wurde, so ergibt sich ein erstaunliches Bild: Unzählige deutsche Forscher (Archäologen, Ethnologen, Natur- oder Sprachwissenschaftler), die bei uns unbekannt oder nur Spezialisten vertraut sind, genießen auf dem südamerikanischen Kontinent hohes Ansehen. In Asunción, Buenos Aires, Santiago de Chile oder Peru tragen Museen ihre Namen. In Deutschland aber wissen wir über ihr Wirken kaum etwas. Im 18., vor allem aber im 19. Jahrhundert leisteten viele von ihnen Entscheidendes auf ihren Gebieten für Lateinamerika. Ganz bewusst klammere ich Alexander von Humboldt aus, denn sein gigantisches Werk überragt alle und alles und ist in den letzten Jahrzehnten auch in Deutschland endlich bekannter geworden. In Lateinamerika wurde sein Genie immer bewundert und verehrt, seit er zu Beginn des 19. Jahrhunderts seine langjährige Forschungsreise durch den Kontinent unternahm. Humboldt war und ist präsent.
Ich möchte diesen Fragen gerne nachgehen, um die aktuell so missliche Lage etwas besser zu verstehen – es zumindest versuchen. Da ich weder Politikerin noch Ökonomin bin, werde ich mich auf die kulturellen Aspekte beschränken. Unverzichtbar ist ein notgedrungen viel zu kurzer geschichtlicher Rückblick, denn eigentlich könnte man vermuten, dass Deutschland und Lateinamerika aufgrund der gemeinsamen Habsburger Herrscher Karl V. und Philipp II. enge Verbindungen geschaffen hätten. Das war nicht der Fall. Uns fehlt ein zumindest rudimentäres historisches Wissen über Lateinamerika, denn in den deutschen Schulen wird der Kontinent nahezu komplett ignoriert. Hinzufügen möchte ich noch, dass ich hier nicht nur Deutschland berücksichtige, sondern auch den deutschsprachigen Teil der Schweiz und Österreich, denn alle drei Staaten gab es jahrhundertelang nicht in den Grenzen, die wir heute kennen.
Selbstverständlich ist es im Rahmen dieser bescheidenen Recherche unmöglich, alle relevanten Personen aufzuführen und ihre Verdienste zumindest skizzenhaft zu würdigen: Lücken sind unvermeidlich. Die Vielzahl uns unbekannter Forscher oder Missionare, die unübersehbare Spuren hinterlassen haben, mag überraschen. Sekundärliteratur und zum Teil ausführliche Studien und Biografien geben Auskunft. Ich habe mich bemüht, Fragmente der Primärtexte von Abenteurern, Forschern und Schriftstellern aufzunehmen, da sie einen lebendigen Eindruck ihrer Zeit vermitteln. Mein Wunsch ist es, einen summarischen Überblick über dieses individuelle Engagement zu geben, denn viele Leistungen sind bemerkenswert und verdienen es, auch bei uns gewürdigt zu werden. Die Aktivitäten vieler stiller Helden und Heldinnen bleiben hingegen unbekannt. Ich möchte dennoch einen kompakten Streifzug durch fünf Jahrhunderte wagen, um einen Eindruck von der unerwarteten Fülle dessen zu vermitteln, was Deutsche in Lateinamerika geschaffen haben. Und natürlich werden dabei auch die problematischen und die im 20. Jahrhundert gehäuft auftretenden dunklen Seiten nicht ausgespart.
Die Kartografen
Die Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg um 1450 in Mainz wird oft als Medienrevolution bezeichnet. Endlich mussten die Bibeln nicht mehr handschriftlich vervielfacht, sondern konnten einfacher, preiswerter und in größerer Anzahl hergestellt werden. Schon bald entstanden zahlreiche Druckereien, denen ein lukratives Geschäft winkte. Verständlicherweise wurden besonders viele im deutschsprachigen Raum gegründet, Basel zum Beispiel war ein wichtiges Zentrum, auch für Kartografen.
Die ersten Berichte über die unbekannte »Neue Welt« weckten große Neugier, und so überrascht es nicht, dass die besten Kartografen sich früh mit dem Thema beschäftigten. Erstmals aufgezeichnet wurde der Name América vom deutschen Kartografen Martin Waldseemüller (ca. 1472–1520). Er hatte 1507 die Landkarte angefertigt, die die »vollständige Kosmographie nach der Überlieferung des Ptolemäus sowie nach dem Augenschein Amerigo Vespuccis und anderer« wiedergibt. Es wurden etwa tausend Stück gedruckt, Kaufleute, Priester und Adelige erhielten eine Kopie. Die Karte erregte Aufsehen bei den Zeitgenossen und beflügelte den Wunsch vieler Menschen, in diesen unbekannten Kontinent auszureisen, was sich allerdings, wie wir noch sehen werden, als schwierig herausstellte. Auf Waldseemüllers Seekarte von 1516 findet sich die Bezeichnung:»Brasilia Sive Terra Papagalli«, also Papageienland. Diese diskriminierende Bezeichnung verbreitete sich und wurde jahrhundertelang verwendet.
Literarisch betritt Amerika bei Sebastian Brant im 1494 in Basel gedruckten Narrenschiff die Bühne: »Ouch hatt man sydt jnn Portigal / Und jnn Hispanyen uberall / Golt / jnslen funden / und nacket lüt / Von den man vor wust sagen nüt« (Kapitel 66: »von erfarung aller land«, Verse 53–56). Damit sind die beiden wichtigsten Themen für die Beschäftigung mit der Neuen Welt benannt:Gold und nackte Menschen, also Reichtum und Paradies. Auf Erdteilallegorien wird Amerika meist als verführerische und nackte Frau dargestellt, oft auch als bedrohliche Menschenfresserin.
Die ebenfalls in Basel gedruckte und sehr einflussreiche Cosmographia Universalis (1544) von Sebastian Münster (1488–1552), für die er jahrelang Schilderungen und Reiseberichte über die ganze Welt sammelte, war die erste umfangreiche und wissenschaftliche Weltbeschreibung, die in viele Sprachen übersetzt wurde. Das populäre, weil gut verständliche Werk war im 16. Jahrhundert fast so verbreitet wie die Bibel, allein zwischen 1544 und 1600 gab es dreiunddreißig Auflagen. An diesem Lebenswerk, das er kontinuierlich erweiterte, arbeitete Münster bis zu seinem Tod durch die Pest. Die Ausgaben nach 1550 umfassen etwa 1200 Seiten. Im Buch VI beschrieb er Amerika und seine Bewohner. Bei ihm handelte es sich allerdings um eine Insel, nicht um einen Kontinent – während andere Kartografen Amerika bereits als Kontinent dargestellt hatten.
Karl V./Carlos I 1500–1558
Unter der Regentschaft des deutschen Kaisers, seit 1519 Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und in Personalunion seit 1516 bereits spanischer König, hofften viele »deutsche« Bürger seines riesigen Reiches, gleiche Privilegien zu erhalten wie die Spanier und nach Amerika ausreisen zu können. Karl V. setzte jedoch andere Prioritäten.
Als Carlos I betrat er sein Reich – in dem die Sonne nie unterging – erstmals 1517, sprach aber kein Spanisch. Alles war ihm fremd: das Land, die Menschen und ihre Kulturen. Seine Untertanen missbilligten ihn zunächst und stellten Forderungen an ihn: Er müsse die Sprache lernen, dürfe Ausländern keine wichtigen Ämter übergeben und solle die Ausfuhr von Edelmetallen unterbinden. Zunächst brachen überall Proteste auf: Die Ständeversammlungen (cortes) lehnten ihn ab, und das städtische Bürgertum (comuneros) erhob sich wenig später, denn es wollte seine überlieferten Rechte bewahren – aber der Aufstand scheiterte und die Lage stabilisierte sich für die Krone.
Schon drei Jahre später verließ Carlos I das Land wieder und überließ seiner Frau Isabella von Portugal die Geschäfte, die sie geschickt handhabte. Er selbst – genannt der Reisekaiser – war unermüdlich in seinem Imperium unterwegs und führte teure Kriege, die mit dem immensen Reichtum aus Amerika finanziert wurden. Von dort floss ein schier unerschöpflicher Gold- und Silberstrom nach Sevilla. Der Historiker John Elliott schrieb 1970 in seiner Studie über Die Neue in der Alten Welt: »Zwischen 1500 und 1650 gelangten nach offiziellen Angaben an die 181 Tonnen Gold und 16.000 Tonnen Silber aus Amerika nach Europa, und darüber hinaus kamen mit Sicherheit große Mengen durch Schmuggler ins Land.«3
Aber nicht einmal diese Mengen an Edelmetallen reichten aus, und so verschuldete sich der Kaiser bei den Großbankiers der Zeit, den Welser und Fugger aus Augsburg. Die Welser erhielten als Schuldverschreibung ein Lehen in Venezuela, in Klein-Venedig. Dort finanzierten sie mehrere Expeditionen, um das sagenumwobene El Dorado zu finden. Die Fugger bekamen Territorien in Chile.
Eines der Hauptanliegen von Karl V. war der Kampf gegen den Protestantismus. Seine lutherischen Untertanen rebellierten sowohl in Deutschland als auch in den spanischen Niederlanden, die politische Lage war aufgewühlt, Konflikte und bewaffnete Auseinandersetzungen allgegenwärtig, Frieden schien aussichtslos. Daher bemühte sich der Kaiser, wenigstens in Spanien ein katholisches Bollwerk gegen alle Abtrünnigen und Ungläubigen, Juden und Protestanten zu errichten. Das war einer der Gründe – wie seine schlechte Gesundheit –, warum er sein Reich noch zu Lebzeiten aufteilte. Seine Hoffnung beruhte bis zu seinem Tode auf der Macht der Kirche in Spanien, die er für stark genug hielt, das Land vor den schädlichen Gedanken von Luther, Erasmus und anderen ketzerischen Denkern zu schützen. Er wählte 1556 ein bescheidenes Landhaus neben dem Kloster von San Jerónimo de Yuste in der Extremadura als letzten Aufenthaltsort – das katholische Land lag ihm inzwischen am Herzen, so scheint es. Oder war es das Klima? Bei seiner Abdankung als Kaiser 1555 hatte er in einer Rede seine zahllosen Reisen in ganz Europa aufgezählt und festgehalten, dass er sechsmal nach Spanien gekommen war. Insgesamt hatte er dort etwa zehn Jahre verbracht. Ob er tatsächlich in dieser Zeit die Landessprache so gut erlernte, dass er, wie es die Legende erzählt, mit seinem katholischen Herrgott auf Spanisch verkehrte (Deutsch blieb für die Hunde reserviert, Französisch für die Frauen, Italienisch für die Bankiers), bleibt zweifelhaft. Carlos I starb 1558.
Casa de Contratación‚ Sevilla
Eigentlich könnte man vermuten, dass nicht nur Spanier, sondern viele Abenteurer, Schatzsucher und arme Menschen aus dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation – Deutsche, Österreicher, Italiener oder Niederländer – in die sagenumwobene Neue Welt emigrieren würden. Das aber war verboten. Die Beamten der 1503 in Sevilla gegründeten Casa de la Contratación sorgten dafür, dass nur Spanier mit »reinem Blut« (limpieza de sangre) und rechtschaffene Katholiken die Fahrt über den Atlantik antreten durften. Ihre Personalien wurden akribisch in den Akten der Casa aufgezeichnet.
Aus Deutschland gelang die Reise deshalb nur wenigen Landsknechten, Söldnern und einigen Missionaren. Ausnahmegenehmigungen existierten für spezielle Berufsvertreter, und so kamen im 16. Jahrhundert auch Bergbauspezialisten, Mineralogen, Geografen, Geophysiker und andere Naturwissenschaftler, deren Fachwissen gefragt war. Trotz des gemeinsamen Herrschers gab es keine Privilegien für die nichtspanischen Nationen des Großreichs.
Das Ergebnis der aberwitzigen Fülle an bürokratischen Tätigkeiten der Casa de Contratación, das Archivo de Indias, kann heute in einem prachtvollen Palast besichtigt werden, der sich in der Nähe der Riesenkathedrale von Sevilla befindet, die bis auf das Minarett, die Giralda, auf einer eingeebneten Moschee errichtet wurde. Früher war er die Handelsbörse (lonja). Eingelagert sind rund neunzig Millionen Dokumente, darunter achttausend Karten. Das beeindruckende Gebäude hat wunderschön gemusterte Marmorböden, Kassettendecken, Wände voller Mahagoniregale und stilvolle Schränke. Hier befinden sich zahllose Kartons, reihenweise liest man Kuba, Santo Domingo, Mexiko, Lima, Buenos Aires usw., und alle sind säuberlich durchnummeriert. Die Casa war schließlich verantwortlich für die Genehmigungen zur Auswanderung, die Einnahme der Steuern, die Kontrolle der importierten Waren, die Auflistung der Schiffe und mitgebrachten Edelmetalle. All das ergab diese unfassbare Masse an Papieren, die den peniblen bürokratischen Anweisungen Philipps II. geschuldet war.
Heute sind die digitalisierten Originale in klimatisierten Räumen gelagert und werden für die Forscher durch einen unterirdischen Tunnel von der anderen Seite der Calle Santo Tomás herbeigeschafft. Das Archivo General de Indias ist ein Monument der imperialen Macht und ermöglicht zugleich den historischen Rückblick. Das altehrwürdige Gebäude wird inzwischen auch Touristen zugänglich gemacht.
Das Goldene Zeitalter
Die Casa de Contratación enthält die umfangreichen Listen der aus Lateinamerika importierten Waren und vor allem der Gold- und Silberlieferungen. Das 16./17. Jahrhundert wird als »Goldenes Zeitalter« bezeichnet, was durchaus wörtlich zu verstehen ist, da das viele Gold nicht nur Sevilla verschönte, sondern von dort auch in den Norden gelangte. Vor allem aber bezeichnet es die Blütezeit der spanischen Kultur in der Literatur, den bildenden Künsten und der Architektur. Die Namen der Autoren sind weltbekannt: Cervantes,Calderón de la Barca, Lope de Vega, Tirso de Molina, Francisco de Quevedo, Luis de Góngora, Juan Huarte, Teresa von Avila, Juan de la Cruz, Baltasar Gracián. Von der unfassbaren Armut der spanischen Bevölkerung erzählten die Picaros Lazarillo de Tormes, Guzmán de Alfarache und die Helden anderer Schelmenromane. Hervorzuheben unter den Malern und bildenden Künstlern sind Diego Velázquez, El Greco, Jusepe de Ribera, Francisco de Zurbarán, Bartolomé Murillo, Alonso Cano, Juan de Valdés Leal, Alonso Berruguete, Pedro de Mena. Zu einigen Malern unterhielten die Habsburger Könige freundschaftliche und oft enge Beziehungen: Karl V. wie auch Philipp II. zu Tizian, Philipp IV. zu Velázquez, Carlos III und Carlos IV später zu Francisco de Goya. Desgleichen erwarben sie Werke bedeutender italienischer Künstler, auch von El Bosco (Hieronymus Bosch) oder Joachim Patinir, um nur einen Holländer und einen Flamen zu nennen. Spanien strahlte in kulturellem Glanz, der auch die Grenzen überstrahlte, denn die Einflüsse dieser Meister waren in Europa spürbar.
Die großen französischen Dramatiker Jean Racine,Pierre Corneille undMolière übernahmen früh »spanische« Themen wie die Problematik der äußeren und der inneren Ehre, also von Schein oder Sein, sowie von Persönlichkeiten wie der geschäftstüchtigen Kupplerin Celestina, Don Juan oder der Figur des pícaro, des Schelms. Corneille dramatisierte die historische Gestalt El Cid. Schon 1614 gab es eine Übersetzung der 1605 als erster Teil erschienenen Abenteuer von Don Quijote und seinem getreuen Knappen Sancho Pansa, deren zweiter Teil in Spanien ein Jahr später veröffentlicht wurde. Die erste, allerdings unvollständige und unbrauchbare deutsche Übersetzung eines gewissen Joachim Caesar erschien 1648.
Dürer hatte die mexikanischen Artefakte 1520 in Brüssel bewundert: »Und ich hab aber all mein lebtag nichts gesehen, das mein Herz also erfreuet hat, als diese ding. Dann ich hab darin gesehen wunderliche künstliche ding und hab mich verwundert der subtilen ingenia der Menschen in frembden landen.«4 Er, Cranach oder Holbein übernahmen früh Motive, Themen, Flora und Fauna aus Lateinamerika: Wir sehen Affen, Papageien und andere unbekannte Tiere auf ihren Bildern. Adam und Eva stehen unter einer großen Agave im Paradies, und der in Lateinamerika verortete Jungbrunnen wurde ein beliebtes Motiv. Die Paradiesgärten zeigten die Pracht exotischer Pflanzen.
Philipp II.: 1527–1598
Die spanische Krone unter Philipp II. war intensiv darum bemüht, das Handelsmonopol in den Kolonien zu erhalten. Der Historiker Stefan Rinke fasst die Anstrengungen zusammen: »Das Patentrezept der Zeit hieß Abschottung nach außen, und sowohl Spanien wie Portugal – wenngleich weitaus weniger konsequent als der Nachbar – setzten dies um, indem sie ein geschlossenes Wirtschafts- und Handelssystem aufbauten. Dieses System schloss theoretisch alle anderen Mächte vom Handel aus. Nur die Mutterländer durften mit den Kolonien auf festgelegten Routen und mit privilegierten Häfen Handel treiben.«5 Zugleich sorgten strenge Vorschriften für die Zensur der Kommunikationsmittel dafür, dass die Bewohner der Neuen Welt nur die Bibel und den Katechismus, nicht aber kritisches Gedankengut lesen durften. Daher wurden zum Beispiel auch die beliebten Ritterromane der Zeit oder Don Quijote sowie später die Schriften der französischen Aufklärer auf oft abenteuerliche Weise eingeschmuggelt. Es heißt, dass Don Quijote für die Reise über den Ozean in Weinfässern versteckt wurde, nur so habe er den Hafen Callao von Lima erreicht. Die Krone wachte argwöhnisch darüber, dass ihr Herrschaftswissen nicht geteilt wurde und geistige Einflüsse im breitesten Sinne – von Mythen über Human- bis zu den Naturwissenschaften – von der »Neuen Welt« ferngehalten wurden.
Philipp II., ein Sohn Karls V. und seit 1555/56 Erbe des spanischen Königreiches, setzte den Kampf seines Vaters gegen den Protestantismus energisch fort und führte die Inquisition in den Kolonien ein, um identifizierte Ketzer, Protestanten oder Juden sofort bestrafen zu können. Bereits seit 1570 arbeitete die Inquisition, das Santo Oficio, in Peru, seit 1571 in Mexiko. Mario Vargas Llosa schreibt in seinem Roman Die große Versuchung: »Und auch wenn die Heilige Inquisition nicht viele Menschen zum Scheiterhaufen verurteilte – einem chilenischen Historiker zufolge nur sieben in drei Jahrhunderten –, erinnerte ihre Präsenz die Peruaner doch daran, dass sie den Flammentod sterben konnten, wenn sie zu weit gingen. Zugleich trichterten ihnen die Priester und Pfarrer die ›wahre‹ Religion ein, während die Zerstörer des Götzendienstes Tausende und Abertausende von kleinen Statuen und Objekten zerschlugen oder verschwinden ließen, die die Inkas ihren Göttern geweiht hatten.«6 Tätig war die mächtige Institution bis Anfang des 19. Jahrhunderts, also fast zweihundertfünfzig Jahre, ehe die ersten lateinamerikanischen Länder ihre Unabhängigkeit erkämpft hatten.
Der tiefgläubige König war von seiner Mutter sorgfältig und streng erzogen worden, da Karl V. nur selten in Spanien anwesend war. Der Infant erhielt von seinen Lehrern die für die Renaissance typische breite humanistische Bildung, studierte Naturwissenschaften und Sprachen. Später sammelte er leidenschaftlich Bücher und Bilder. Seine Privatbibliothek umfasste rund 13.500 Titel und war eine der größten jener Zeit; seine umfangreiche Pinakothek enthielt bedeutende Gemälde von Tizian, Hieronymus Bosch, Velázquez, Joachim Patinir, Tintoretto und anderen Künstlern, die zum Teil Auftragsarbeiten, zum Teil Erwerbungen waren. Diese Gemälde sind heute im Prado und im von ihm gebauten gigantischen Palast El Escorial zu besichtigen.
Carlos Fuentes hat in seinem monumentalen Roman Terra Nostra ein Porträt der komplexen Persönlichkeit Philipps II. erstellt. Dort liest man als sein Credo: »Ich will nicht, dass die Welt sich verändert.« Aber im Alter musste er erleben, dass seine Machtfülle den Herausforderungen der Zeit nicht gewachsen war: »Andere Mächte machten ihm die seine streitig, die Ketzerei erhob ihr Haupt überall dort, wo er sie geschlagen hatte. […] Die aus Spanien vertriebenen Juden brachten Geist und Geschick in die nordischen Lande […] und die Wissenschaft sagte, dass die Erde rund sei. […] So zog er einen grollenden Vorhang vor die Wirklichkeit.«
Für die Neue Welt war die Herrschaft dieses Monarchen eine Katastrophe: »Die gleiche Ordnung, die du für Spanien wolltest, wurde nach Neuspanien gebracht. Der Traum wurde zum Alptraum. […] Die gleichen starren Hierarchien von oben nach unten, derselbe Regierungsstil, für die Mächtigen alle Rechte und keinerlei Pflichten, für die Schwachen keinerlei Rechte und alle Pflichten, die neue Welt hat sich bevölkert mit Spaniern, die verweichlicht sind durch das unerwartete Wohlleben, das Klima, die Mestizierung, die Versuchungen einer straflosen Ungerechtigkeit.«7
Wegen der vielen Kriege, die Karl V. wie später sein Sohn Philipp in ganz Europa führten, musste sich das Königshaus immer wieder massiv verschulden und Philipp II. dreimal einen Staatsbankrott erklären. Die größten Bankhäuser der Zeit, jene der Welser und Fugger aus Augsburg, halfen regelmäßig aus und erhielten natürlich Gegenleistungen und Vergünstigungen. Die Welser wurden 1526 den spanischen Kaufleuten gleichgestellt, das spanische Monopol war damit erstmals gebrochen. Endlich kam es zu direkten Handelsbeziehungen zwischen lateinamerikanischen und nicht-spanischen Unternehmern.
Die Fugger waren mehr noch als ihre Augsburger Konkurrenten im 15. und 16. Jahrhundert die Wirtschaftsgiganten Europas. Als Gegenleistung für ihre Kredite hatten sie bereits mit Kaiser Karl V. ein Abkommen geschlossen, das ihnen Territorien in Peru und Chile zuteilte. Allerdings verloren sie ihr Interesse schon 1531, als Francisco Pizarro und Diego de Almagro das ihnen versprochene Land erobert hatten und sie von den Problemen mit den kriegerischen Indigenen, den Mapuche, Kenntnis erhielten.
Venezuela
Die Welser hingegen blieben weiterhin stark engagiert. In Venezuela hatten sie per Vertrag die beiden Provinzen Falcón und Zulia erhalten und konnten dort von 1528 bis 1546 Gouverneure und Beamte einsetzen. Auch von der Salzsteuer, den Zöllen und Hafengebühren in Sevilla wurden sie befreit, außerdem erhielten sie die Lizenz, viertausend Sklaven zu importieren. Sie gründeten Festungen und zwei wichtige Städte, Coro und Maracaibo. Insgesamt aber blieben auch sie nicht länger als zwanzig Jahre lang im Land.
Ambrosius Alfinger (oder Delfinger, auch Ehinger) war der erste Gouverneur, der 1528 mit einem Kontingent von etwa zweihundert Personen nach Venezuela ausreiste. Aber er hatte keine glückliche Hand. Die Klagen über seine harte Regierung häuften sich bei der Audiencia im Mutterland, die eine Untersuchung der unter seiner Ägide verübten Gräueltaten veranlasste.
Von Coro aus starteten die Expeditionen, um El Dorado und dort den erhofften legendären Reichtum zu finden. Nikolaus Federmann (1506–1542), stellvertretender Gouverneur, hatte Siedler und Bergleute aus seiner Ulmer Heimat nach Coro gebracht. Dort führte er bereits 1530, allerdings ohne Erlaubnis der Audiencia, eine erste kleine Expedition an mit hundertzehn Soldaten, sechzehn Reitern und hundert indigenen Lastenträgern. Sie begegneten vielen meist feindlichen Stämmen, bis die Guayacarier ihnen schließlich den Weg versperrten und sie zur Umkehr zwangen. Federmann verfasste über diese erfolglose Reise, die sieben Monate dauerte, einen Bericht, die Indianische Historia, nach eigener Aussage eine »schöne kurzweilige« Geschichte. Hauptthema war allerdings der permanente Hunger, dazu kamen Krankheiten, Strapazen und die Kämpfe mit den kriegerischen Indigenen. Federmann schreibt: »In dieser Angst konnten wir uns weder vor- noch zurückziehen, denn wir waren durch den Mangel an Nahrung und den großen Hunger sehr mutlos, hatten auch kein Wasser und befanden uns in einem Gehölz, in dem wir den Weg nicht wussten und auch den Rückweg nicht mehr fanden. […] Als die Hunde, die wir dabeihatten, etwas abseits Laut gaben, nahmen wir an ein wildes Schwein, von denen es dort viele gibt, vorzufinden. Ich schickte also einige Leute den Hunden nach und hoffte, sie würden etwas jagen. […] Als mein Volk aber zu den Hunden kam, fanden sie in dem Dickicht einen starken Tiger.« Zum Glück verfing sich dieser im Unterholz, und so gelang es einem kühnen Mönch, gemeinsam mit anderen Christen, das Tier niederzustechen.8
Trotz dieser wenig einladenden Nachrichten blieb die Verlockung El Dorados lebendig, und so konnte Federmann nach seiner vierjährigen Verbannung, der Strafe für sein vorheriges eigenmächtiges Vorgehen, nach Venezuela zurückkehren und 1536 eine weitere und aufwendigere Expedition unternehmen. Dabei gründete er die Stadt Riohacha im Norden des heutigen Kolumbiens und kam auf der Suche nach dem Chibcha-Schatz auch nach Bogotá, wo er mit den spanischen Eroberern Gonzalo Jiménez de Quesada und Sebastián de Belalcázar zusammentraf, die ebenfalls auf der Suche nach El Dorado waren.
Die ökonomischen Erwartungen der Augsburger Bankiers erfüllten sich nicht, im Gegenteil, »Welserland« geriet schon bald zu einem finanziellen Desaster. Als Federmann 1539 endgültig nach Europa zurückkehrte, kam es zum finanziellen Zerwürfnis mit den Geldgebern. Nach langen Prozessen erzielten die Parteien einen Vergleich, Federmann musste seinen gesamten amerikanischen Landbesitz abtreten. 1542 starb er verarmt und geächtet in Valladolid.
Alfred Döblin widmete ihm in seiner Trilogie Amazonas ein Kapitel. Der Autor, der nie nach Lateinamerika gelang, erwarb seine Kenntnisse durch das akribische Studium der Atlanten und Literatur in der Bibliothèque nationale in Paris. Zwei Jahre lang schrieb er an diesem gigantischen Werk (rund 840 Seiten), vertiefte sich in die Lektüre von Reiseberichten und Chroniken und verfasste dann ein Fresko über fast vierhundert Jahre der ihn faszinierenden Geschichte des Kontinents. Sehr kritisch behandelte er die gewalttätigen Eroberer und rücksichtslosen Kolonialherren und wies auf die zahllosen grausamen Verfehlungen der Europäer hin.
Seine Geschichte des wagemutigen Entdeckers liest sich so: »Es war die Schar von Nikolaus Federmann aus Ulm. Das war einmal ein fröhlicher Haufe, der mit Lust alles aufs Spiel setzte. Sie wollte dasselbe wie die andern: eine Fahrt in den seligen Untergang. […] Federmann war ein großer breitschultriger Mann mit rotem wehendem Vollbart und hellblauen Augen. Er sang schmetternd, wenn er guter Laune war. Die Schifffahrt hatte ihm missfallen, weil er hart sein musste. Auf dem Marsch atmete er auf und lachte. Wie ein Schwarm lustiger Vögel fielen sie in das Land ein.« Aber seine Expedition misslang, Federmann zog sich »geschlagen, in sein Zelt zurück und schluckte seine Wut herunter«.
»Federmann, Kapitänsgeneral, wollte sich drüben Ruhm und Ehre holen. Er wollte sich auch gegen die gierig reichen Leute aus Augsburg verteidigen, die ihn an die Spitze seiner Truppe stellten und ihm wie echte Händler nachher Übergriff vorwarfen. […] Die Geldsäcke von Augsburg schlagen ihre Bücher auf, Herr Seyler und Herr Pegner, setzen sich die Brillen auf die Nase und lesen vor, und du stehst wie ein kleiner Knabe und lutschst Daumen.«9
Die letzten Welser in Venezuela waren Philipp von Hutten und der 1540 eingereiste Bartholomäus VI. Beide lebten in der Ortschaft Cuara und beteiligten sich an einer weiteren Expedition, um El Dorado zu finden. Nach ihrer Rückkehr 1564 ließ Juan de Carvajal, der sich inzwischen mit gefälschten Papieren zum Gouverneur ernannt hatte, die beiden Deutschen samt ihren spanischen Begleitern umbringen. Karl V. musste den Mord an einem Sohn der Welser natürlich ahnden, und so wurde Carvajal wenige Monate später zum Tode verurteilt und grausam hingerichtet.
Bartolomé de Las Casas hat in seinem Kurzgefaßten Bericht von der Verwüstung der Westindischen Länder 1542 auch das Verhalten der in den spanischen Truppen dienenden deutschen Landsknechte gegeißelt. Zahllose Indianer, so schrieb er, starben wegen der Grausamkeit der Deutschen: »Als diese mit dreihundert oder mehr Männern in jene Lande eingedrungen waren, entdeckten sie, dass deren Bewohner überaus sanfte Schafe waren. […] Während sie vorrückten, handelten sie, wie ich meine, unvergleichlich grausamer als alle übrigen Tyrannen, sie waren bestialischer und wütender als überaus blutdürstige Tiger oder mordgierige Wölfe oder Löwen. Denn sie zeigten größere Gier, waren mehr von Habsucht und Grimm verblendet und griffen zu abgefeimteren Grausamkeiten und Winkelzügen, um Silber und Gold zu rauben und sich zu verschaffen, als alle ihre Vorgänger, wobei sie jede Furcht vor Gott und dem König wie auch alle Scham vor den Menschen hintansetzten und vergaßen, dass sie Sterbliche waren, da sie größere Freiheiten besaßen und die ganze Jurisdiktionsgewalt des Landes in ihrer Hand hatten. Diese leibhaftigen Teufel haben mehr als vierhundert Meilen umfassende, überaus fruchtbare Länder zerstört, verwüstet und entvölkert. […] Von jenen unschuldigen Völkern haben sie (wie ich glaube) mehr als vier oder fünf Millionen Menschen zugrunde gerichtet, getötet und in die Hölle geworfen.« Die Schuld lag eindeutig beim Gouverneur, der sicher ein Ketzer oder Lutheraner war, das jedenfalls vermutete Las Casas.10
Die Zahlen sind wenig glaubwürdig beziehungsweise unrealistisch, denn zur Zeit der Conquista lebten nur etwa 350.000 Menschen in Venezuela, deren Zahl bis zum Ende des 16. Jahrhunderts auf etwa 300.000 sank, wie der Historiker Günter Kahle in seinem Essay über Deutsche Landsknechte, Legionäre und Militärinstrukteure in Lateinamerika festhält.11
Insgesamt gibt es nur wenige Zeugnisse dieser Zeit aus Venezuela, zu denen die Indianische Historia von Nikolaus Federmann sowie die Briefe des erwähnten Welser-Sprosses Philipp von Hutten (ein Vetter des Humanisten Ulrich von Hutten) zählen, die er seinem Bruder, dem Bischof Moritz von Eichstätt, geschickt hatte. Ein Teil wurde erstmals 1550 bekannt.
Cono Sur
Interessanter und aufschlussreicher als Federmanns Schrift sind die Berichte der Söldner und Landsknechte, die in den Süden des Kontinents gelangten. Ihre Schilderungen sind manchmal überaus fantasievoll, manchmal derb realistisch. Die berühmteste stammt von Hans Staden (1525–ca.1558), einem Büchsenschützen. Er publizierte 1557 die Wahrhaftig Historia und beschreibung eyner Landtschafft der Wilden/Nacketen/Grimmigen Menschfresser Leuthen/in der Newenwelt America gelegen. Seine lebendige Erzählung über die neunmonatige Gefangenschaft bei den Tupinambá, einem indigenen Stamm an der brasilianischen Atlantikküste, und die permanente Angst, rituell geopfert und verspeist zu werden, lehrte die Europäer das Fürchten.
Staden schrieb sowohl über seine Gefangenschaft als auch über das, was er gesehen hatte. Im zweiten, eher trockenen Text, dem Wahrhaftigen kurzen Bericht über Sitten und Gebräuche der Tupinambás, erzählte er, dass die »Wilden« mit anderen Stämmen ständig Krieg führten, denn alle kämpften um Land und Essen. Desgleichen erläuterte er, fast wie ein Ethnologe, ihre Sitten und Gebräuche, die ihn beeindruckt hatten. Staden war ein neugieriger Beobachter und hielt fest, wie die Tupinambá ihre Wohnungen bauen, Feuer machen, wo sie schlafen, wie geschickt sie wilde Tiere und Fische mit Pfeilen schießen, was sie als Brot essen und wie sie die Maniokwurzeln pflanzen und zubereiten, wie sie ihre Speisen gar machen und Töpfe und Gefäße brennen, die sie gebrauchen: »Die Weiber stellen die Gefäße, die sie benutzen, folgendermaßen her: Sie nehmen Ton, kneten ihn wie Teig und machen daraus die Gefäße, die sie haben wollen. Dann lassen sie sie eine Zeitlang trocknen. Sie verstehen auch, sie fein zu bemalen. Wenn sie die Gefäße brennen wollen, stülpen sie sie auf Steine, legen viel trockene Baumrinde darum und stecken diese an. So werden die Gefäße gebrannt, daß sie glühen wie heißes Eisen.«12