Die Ketzer - Jeremiah Pearson - E-Book
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Die Ketzer E-Book

Jeremiah Pearson

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Beschreibung

VON DER MACHT DES WORTES, DER LIEBE UND DES GLAUBENS

Deutschland, am Beginn der Reformation. Mit letzter Kraft haben Kristina und Witter ihre Häscher abgeschüttelt. Zuflucht finden die beiden Täufer in Giebelstadt, dem Heimatdorf von Lud, der ihnen schon einmal das Leben rettete. Auch hier schlägt ihnen, den "Ketzern", Hass entgegen. Gefahr droht jedoch nicht nur von innerhalb des Dorfes: In Würzburg schmiedet Prinz Konrad Pläne, sich Giebelstadt und seine Ländereien unter den Nagel zu reißen, solange es herrenlos ist. Damit das nicht passiert, begeben Lud und Witter sich auf die gefährliche Reise nach England, um den Erben von Giebelstadt nach Hause zu holen: Florian Geyer, den Mann, der Jahre später zum Helden einer ganzen Region werden wird ...

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Seitenzahl: 664

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Inhalt

CoverÜber das BuchÜber den AutorTitelImpressumWidmungZitatDramatis PersonaeDeutschland am Beginn der ReformationWürzburg1.2.3.4.5.6.7.8.9.10.11.12.13.14.15.16.17.18.19.20.21.22.23.24.25.26.27.28.29.30.31.32.33.34.35.36.37.38.39.40.41.42.43.44.45.46.47.48.49.50.51.52.53.54.55.56.Anmerkungen des Verfassers

Über das Buch

VON DER MACHT DES WORTES, DER LIEBE UND DES GLAUBENS Deutschland, am Beginn der Reformation. Mit letzter Kraft haben Kristina und Witter ihre Häscher abgeschüttelt. Zuflucht finden die beiden Täufer in Giebelstadt, dem Heimatdorf von Lud, der ihnen schon einmal das Leben rettete. Auch hier schlägt ihnen, den »Ketzern«, Hass entgegen. Gefahr droht jedoch nicht nur von innerhalb des Dorfes: In Würzburg schmiedet Prinz Konrad Pläne, sich Giebelstadt und seine Ländereien unter den Nagel zu reißen, solange es herrenlos ist. Damit das nicht passiert, begeben Lud und Witter sich auf die gefährliche Reise nach England, um den Erben von Giebelstadt nach Hause zu holen: Florian Geyer, den Mann, der Jahre später zum Helden einer ganzen Region werden wird …

Über den Autor

Jeremiah Pearsons Karriere als Schriftsteller begann als Schüler von Stephen King. Schließlich folgte er dem Ruf Hollywoods und arbeitet seitdem mit großem Erfolg als Drehbuchautor von Kino- und Fernsehproduktionen, so schrieb er u.a. das Drehbuch zu Auf der Flucht mit Harrison Ford. Jeremiahs Leidenschaft für das europäische Mittelalter mündete irgendwann in der Idee zur Freiheitsbund-Saga, seinem Herzensprojekt, mit dem er nun die Leser von epischen historischen Romanen begeistert.

JEREMIAH PEARSON

DIE KETZER

DER BUND DER FREIHEIT

Historischer Roman

Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Axel Merz

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen

 

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»The Villeins Trilogy: The Villeins«

 

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2013 by Jeremiah Pearson

 

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Wolfgang Neuhaus/Judith Mandt

Kartenzeichnungen: Markus Weber, Agentur Guter Punkt

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel, punchdesign, München

Einband-/Umschlagmotiv: Johannes Wiebel, punchdesign, München, unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock.com/Zvonimir Atletic(2); © The execution of Jan Hus or one of his priests at The Council of Constance,, from ›Chronik des Konzils von Konstanz‹ (pen & ink on paper), Richental, Ulrich von (c.1360-1437) / Private Collection / Bridgeman Imagesi\x06

E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7325-2299-6

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Mit all meiner Liebemeiner Frau Velvalea gewidmet,ohne die ich auch dieses Buchniemals hätte schreiben können

Wenn der Löwe seine ganze Kraft kennte, wer vermöchte ihn dann zu zähmen?

– Thomas Morus

DRAMATIS PERSONAE

Es folgt eine Aufstellung der wichtigsten Figuren, wobei die historischen Personen mit einem * gekennzeichnet sind.

DIE GEFLOHENEN TÄUFER IN GIEBELSTADT, SÜDLICH VON WÜRZBURG, HEILIGES RÖMISCHES REICH DEUTSCHER NATION, ZU BEGINN DER REFORMATION

KRISTINA

Witwe Bertholds und Mutter ihres gemeinsamen Sohnes Peter. In einem Nonnenkloster aufgewachsen und ausgebildet, wird sie als Mädchen zum Waisenkind, als ihre Familie wegen Ketzerei auf dem Scheiterhaufen stirbt. Kristina flieht nach Kunwald in Böhmen, wo sie bei den Täufern das Drucken erlernt und zur Leselehrerin ausgebildet wird. Dort begegnet sie auch ihrem späteren Ehemann Berthold.

WITTER

Drucker, Künstler und Sprachgenie jüdischer Herkunft. Ein kluger und entschlossener Mann, zugleich undurchsichtig und voller Geheimnisse. Er begehrt Kristina und bewahrt sie und die anderen Täufer mehrmals vor dem Tod.

MARGUERITE

genannt Grit, ehemalige Sängerin und gefeierte Schönheit, die branntweinsüchtig wurde. Von den Täufern gerettet, arbeitet die nun überzeugte Reformatorin als Papiermacherin und Druckerin.

RUDOLF

bekehrter Magistrat, arbeitet als Leselehrer.

SIMON

Drucker, geflohener Höriger und Rudolfs bester Freund.

AUF SCHLOSS GEYER

ANNA VON SECKENDORF*

Dietrichs Witwe, Mutter des Florian Geyer, der noch Geschichte schreiben soll. Eine resolute Frau und fromme Christin, die entschlossen ist, das Lesen zu lernen.

LURA

Annas Dienstmagd.

LETA

Wäscherin.

WALDO

stummer Stallmeister, Vater einer Tochter namens Kella.

IM DORF GIEBELSTADT

LUD

Höriger, von Dietrich zum Vogt ernannt. Ein kampferprobter, harter Mann mit scharfem Verstand, doch äußerlich entstellt von einer Pockenerkrankung, die ihm Frau und Kinder geraubt hat.

VATER MICHAEL

Geistlicher in Giebelstadt. Ein Mann, der mehr ist, als er zu sein scheint.

ALMUTH

Hörige, Weberin und Hebamme.

RUTH

Hörige, Kerzenmacherin, Mutter von Matthes.

MERKEL

Höriger, Grobschmied.

SIGMUND

Höriger, Müller, Vater von Kaspar.

AMBROSIUS

Enkel des Schusters und Zeugmachers Gerhard. Ambrosius’ größter Traum ist, lesen zu lernen.

DER »KLEINE« GÖTZ

hünenhafter Sohn der Töpfer Franz und Berta.

JAKOB

Pflüger.

KASPAR

Sohn von Sigmund dem Müller. Verlor im Krieg ein Bein.

LINHOFF

Sohn von Thomas, dem Ackerbauern.

MATTHES

Sohn von Ruth, der Kerzenmacherin.

MAX

Sohn der Käser.

GERHARD

Höriger, Schuster und Zeugmacher, Großvater des Ambrosius.

FRANZ

Höriger, Töpfer.

BERTA

Hörige, Töpferin.

THOMAS

Höriger, Linhoffs Großvater.

DER ALTE KLAUS

reisender Händler und Verteiler von Flugblättern.

IN DER STADT WÜRZBURG UND DER FESTUNG MARIENBERG, FRANKEN

KONRAD II. VON THÜNGEN*

Vetter der Anna von Seckendorf und Taufpate ihres Sohnes Florian, Nachfolger Lorenz von Bibras im Amt des Fürstbischofs von Würzburg. Er gründet die Druckerei Veritas (= Wahrheit).

LORENZ VON BIBRA*

Fürstbischof von Würzburg, ein für seine Zeit fortschrittlicher, aufgeklärter Mann und Förderer der Kunst.

MAHMED BEY

osmanischer Edelmann, Gelehrter und Schachmeister, von Lud in der Schlacht besiegt, nun als Geisel in den Händen des Fürstbischofs.

BRUDER BASIL

Mönch und Leibdiener des Konrad von Thüngen. Ein brutaler Mann, der mit inquisitorischem Eifer Ketzer verfolgt.

FRIEDA

ehemalige Täuferin aus Kunwald, nennt sich nun Paulina.

ULRICH

Hauptmann der Landsknechte, in Paulina verliebt.

MARTIN LUTHER*

Geistlicher, Gelehrter und Reformer – ein Mann, der die Welt verändern wird.

THOMAS MÜNTZER*

reformatorischer Theologe, Parteigänger Luthers und eine der maßgeblichen Gestalten in der Zeit der Bauernkriege.

OXFORD, ENGLAND

ERASMUS VON ROTTERDAM*

ein bereits zu Lebzeiten berühmter und hoch geachteter Theologe, Philosoph und humanistischer Gelehrter, Autor Dutzender Bücher. Beschäftigt sich in seinen Schriften auch mit den Lehren Martin Luthers, mit dem er in Schriftwechsel steht.

FLORIAN GEYER*

Student, Sohn und Erbe von Dietrich Geyer. Wird später zur legendären Gestalt.

WILLIAM TYNDALE*

Student, Freund Florian Geyers. Der Wunschtraum des späteren Reformers und Gelehrten ist die Verbreitung einer modernen Version der Wyclif-Bibel aus dem vierzehnten Jahrhundert, ein Traum, der ihm ein grausames Schicksal bescheren wird.

1.

Kristina

Von einem kleinen Balkon der Ritterburg blickte sie hinaus auf den schimmernden See aus morgendlichem Dunst, der sich in der wärmenden Sonne allmählich auflöste. Aus dem Schlafgemach hinter ihr strömte ein metallischer Gestank. Es war der Geruch nach Essig und Blut, Krankheit und Tod. Die Steinwände und Böden waren geschrubbt, das Stroh des Totenbetts verbrannt worden, und doch schien dieser Gestank sich in jeder Fuge, in jedem Stein auf ewig eingenistet zu haben.

In Giebelstadt hatten die Pocken gewütet. Und noch mehr war geschehen. Schlimme Dinge, die Kristina nie vergessen würde. Traurigkeit und Schmerz überwältigten sie.

Sie betete. Für ihren Gemahl und Lehrmeister Berthold. Für Dietrich, den Beschützer ihrer kleinen Gruppe von Brüdern und Schwestern. Für Witter, ihren tapferen Gefährten, der ihnen das Leben gerettet hatte und mit einer schweren Verwundung dafür bezahlen musste. Für Mahmed, den Osmanen, der sie auf unglaubliche Weise vor den Pocken bewahrt hatte.

Vor allem aber betete Kristina um Vergebung.

Hatten sie andere in Gefahr gebracht? War ihr großes Ziel, ihre Mission, von vornherein verfehlt gewesen? Aber sie hatten doch nur Gutes tun wollen, hatten andere Menschen das Lesen lehren und ihnen damit Wissen und Erkenntnis bringen wollen.

Ist jetzt alles zu Ende? Werden sie uns den Ketzerjägern ausliefern, jetzt, wo Dietrich tot ist und seine schützende Hand nicht mehr über uns halten kann? Müssen wir schon wieder flüchten? Aber wohin? Und wie?

Auf der anderen Seite der Felder, auf einem von Unkraut überwucherten kleinen Totenacker, erschienen verschwommene Schatten in den sich lichtenden Dunstschwaden – die gebeugten Rücken von Männern, die Gräber aushoben. Leise Stimmen wehten heran, der Gesang von Frauen und Mädchen, eine seltsam traurige Melodie, die immer wieder anschwoll und verebbte. War es ein kirchliches Totenlied? Oder etwas viel Älteres, ein Lied aus grauer Vorzeit?

Kristina sah sie durch die letzten Schwaden herankommen, unheimlich, schwebend wie Geister, Junge und Alte, weinend, wehklagend. Viele hatten sich das Haar abgeschnitten und Hände und Gesicht mit Ruß geschwärzt; manche hatten sich den Kopf mit einem Stein blutig geschlagen. Über ihren weißen Armen lagen grüne Lindenzweige, frisch geschnitten von dem großen alten Baum auf dem Dorfplatz.

Sie verteilten sich an einem Grab, dann an einem weiteren, knieten vor ihren verstorbenen Lieben nieder. Dann, als wollten sie den Toten auf dem Boden der kalten irdenen Kammern eine Bettstatt bereiten, legten sie die Lindenzweige in die frischen Gräber. Ihr Gesang verstummte, wich vollends lautem Wehklagen.

Kristina erschauerte. Sie kämpfte die Tränen zurück. Ihr Verstand musste klar und wach bleiben. Viele furchtbare Dinge waren geschehen. Wollte sie nicht an ihrem Glauben zweifeln, musste sie versuchen, einen Sinn in alledem zu erkennen.

Sie gehörte nicht hierher. Und doch, da draußen, nicht weit von Schloss Geyer und von Giebelstadt, waren sie und ihre Brüder mit knapper Not den Ketzerjägern aus Würzburg entkommen, als wenn Gott es so gewollt hätte.

Ritter Dietrich hatte ihnen hier, in Giebelstadt, Unterschlupf gewährt. Nun war er tot, elendig gestorben.

Genau wie mein armer Mann Berthold.

Kristina stützte sich auf die Brüstung. Plötzlich zitterte sie, bekam kaum Luft. Das geschah oft, wenn sie an Berthold dachte. Ein paar Herzschläge später war es vorbei.

Sonnenstrahlen tanzten auf den Gesichtern der Trauernden, die noch immer bleiche Schemen waren. Weiter entfernt sah Kristina eine dunkle Gestalt, die eine Grube aushob und unermüdlich arbeitete, kraftvoll, ohne Pause.

Lud.

Kristina ging vom Balkon zurück in die Kammer und trat an ein Fenster, von dem aus die Sicht auf Lud besser war, auf sein vernarbtes Gesicht, die schwarzen Haare, seinen schlanken, kräftigen Körper. Sie wusste selbst nicht, warum sie das tat. Sie hatte diesen Mann gefürchtet, hatte ihn kämpfen sehen an diesem schicksalhaften Tag im Gewittersturm, hatte ihn daran hindern müssen, einem muselmanischen Offizier die Kehle durchzuschneiden. Diesmal aber bewirkte Luds Anblick keine Furcht, er linderte vielmehr den Schmerz, der ihre Gedanken beherrschte.

Lud hob ein Grab aus, das größer war als die anderen, und arbeitete allein. Sorgfältig glättete er mit der Schaufel die Seitenwände der Grube, um das Grab so perfekt wie möglich zu machen.

Es sieht aus, als würde er sich selbst beerdigen, ging es Kristina durch den Kopf, den Blick noch immer auf Lud gerichtet, auf seinen nackten Oberkörper, seine breiten Schultern und die starken, schmutzbedeckten Arme.

Das Grab war zweifellos für Dietrich vorgesehen, den Ritter und Herrn von Giebelstadt, den Kristina gepflegt hatte, als er sterbend in genau der Kammer lag, in der sie nun stand. Schaudernd dachte sie daran zurück, wie sie den glühend heißen, eiternden Körper in Essig gebadet und die zitternde Hand des Todkranken gehalten hatte, als er unter Qualen an den Pocken gestorben war. Kristina selbst war gefeit gegen diese Krankheit – dank eines unglaublichen Geschenks von Mahmed, dem osmanischen Offizier, der sie mit einer Nadel gestochen und auf diese Weise immun gegen die Pocken gemacht hatte.

Selbst jetzt noch konnte Kristina die letzten Worte Dietrichs hören, gesprochen in dieser Kammer, mit gequälter Stimme, durch blutige Lippen hindurch.

Bald wird eine neue Zeit kommen … eine andere Welt, die allen Menschen gehört … Hört meinen letzten Willen, meine Anweisungen für die Zeit nach meinem Tod … Der Bann gegen das Lesen auf meinem Gut ist aufgehoben. Wer möchte, darf lesen und lernen, so Gott diesen Wunsch in ihm weckt …

Seltsamerweise hatte Anna von Seckendorf, die Gemahlin des Ritters und neue Herrin von Schloss Geyer, die Seuche überlebt, obwohl sie als Erste an den Pocken erkrankt war. Die eitrigen Pusteln heilten, aber die einst so schöne Frau würde für immer entstellt sein. Zurzeit hielt sie sich in der kleinen Kapelle unterhalb ihrer Gemächer auf und betete, gestützt auf den Arm ihrer jungen Dienerin Lura.

Kristina war angewiesen worden, auf Annas Rückkehr zu warten. Hier, in dieser Kammer, wo so viel geschehen war. Wo Lud geweint hatte. Wo er Dietrich auf Knien angefleht hatte, am Leben zu bleiben. Kristina erinnerte sich, wie Lud neben dem Totenbett des Ritters gewacht hatte, und an Dietrichs letzte Worte, mühsam hervorgestoßen im Todeskampf: »Lerne … finde die Wahrheit … deine eigene Wahrheit.«

Nie war Kristina einem so furchteinflößenden, ungezähmten und zugleich verwundbaren Mann begegnet wie Lud, einem todbringenden Kämpfer mit den Augen eines Jungen im von Pockennarben entstellten Gesicht. Der Mann da draußen war der gleiche Lud wie damals auf dem Schlachtfeld. Und doch war er nicht mehr der unbesiegte Krieger, nicht mehr der Kämpfer, der ein Messerduell mit einem gefürchteten Landsknecht ausgefochten hatte, um sie, Kristina, davor zu bewahren, von johlenden Soldaten vergewaltigt zu werden. Jetzt war er nur noch ein Mann, der ein Grab schaufelte für seinen Herrn, den er von Herzen geliebt hatte.

Plötzlich blickte Lud mit seinen wimpernlosen Augen auf, schaute genau zu ihr, als hätte er gespürt, dass sie ihn beobachtete.

Kristina überfiel Scham, die augenblicklich von Furcht verdrängt wurde. Hastig trat sie vom Fenster weg, senkte den Blick, starrte auf ihre Füße. Hat er dich bemerkt? Erst jetzt sah sie, dass ihre Hände zitterten. Luds Augen hatten so hart ausgesehen, so kalt, dass ihre Angst vor ihm zurückgekehrt war.

Dann, wie eine herabstürzende Felswand, brachen die Erinnerungen über Kristina herein …

*

Von Kunwald über Würzburg bis hierher nach Giebelstadt – was für eine Reise!

Ihre kleine Gruppe von Brüdern und Schwestern war mutig gewesen. Aber auch blauäugig, vor allem in der ersten Zeit, nachdem sie ihre sichere Zuflucht in Kunwald, dem kleinen Ort in Böhmen, verlassen hatten. Berthold hatte sie angeführt, Kristinas scheuer Gemahl, ein gebildeter Mann, doch unwissend, was die Welt und ihre Grausamkeiten anging. Sie waren von Frieda und Ott begleitet worden, einem jung verheirateten Paar, von den zwei Freunden Rudolf und Simon und von der klugen Grit, die niemals den Mut verlor und jedes Geheimnis zu durchschauen schien. Sie alle waren in Kunwald zu Leselehrern ausgebildet worden und erfüllt von dem Glauben an die Gleichheit aller Menschen vor Gott.

Gleichheit aller Menschen, dachte Kristina voller Bitterkeit.

Als kleines Mädchen hatte sie zusehen müssen, wie ihre Eltern auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Mit namenlosem Entsetzen hatte Kristina die weit aufgerissenen Münder und Augen erblickt, hatte starr vor Schreck beobachtet, wie sich das Haar ihrer Mutter in den Flammen erhoben hatte, wie es geflattert hatte im glutheißen Wind – sie hatte es später in ihren Träumen gesehen, immer wieder, viel zu oft, und jedes Mal war sie nass vor Schweiß und zitternd vor Angst aus dem Schlaf geschreckt.

Dennoch hatte sie später geschworen, die Lehren ihrer Mutter zu übernehmen, einer sanftmütigen und gütigen Frau, ihr Werk zu dem ihren zu machen und es so weit zu verbreiten, wie sie nur konnte.

Vor Monaten dann hatte Kristina sich gemeinsam mit Berthold und den anderen Täufern auf ihre Mission begeben, obwohl sie wusste, dass sie alle so schrecklich enden konnten wie ihre Eltern.

Viele Tage lang waren Kristina und die anderen durch gefährliche Landstriche gezogen, manchmal zaudernd und ängstlich, doch stets voller Zuversicht, erfüllt vom Vertrauen auf Gott und dem Glauben an die Richtigkeit und Wahrhaftigkeit ihrer Mission. In Mainz sollten sie im Verborgenen eine Druckerpresse errichten, die darauf gedruckten Schriften unters Volk bringen und nach und nach jene Brüder ersetzen, die in der Stadt gefasst und auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden waren.

Aber sie hatten Mainz nicht erreicht. Stattdessen waren sie in eine Schlacht geraten und geblieben, um die Verletzten zu behandeln, denn die Nächstenliebe galt Kristina und ihren Gefährten mehr als alles andere.

Während dieses Aufenthalts war Ott, Friedas junger Gatte, getötet worden; die anderen hatten wie durch ein Wunder überlebt. Kristina dachte an Mahmed, den Muselmanen, der ihr sein Leben verdankte und der sie im Gegenzug vor den Pocken bewahrt hatte, und an Lud, den Reisigen des Ritters Dietrich, Anführer der kleinen Streitmacht aus Giebelstadt, und schließlich an Berthold, ihren Mann, der viel zu früh gestorben war.

Und jetzt liegt er in einem unbekannten Grab. Simon ist verwundet. Grit pflegt Witters Verletzungen, die er beim Angriff der Bluthunde davontrug.

Und dort unten begrub der verzweifelte Lud seinen toten Herrn Dietrich, den warmherzigen Mann, der darauf verzichtet hatte, Kristina und die anderen an den Profos des Kriegszugs auszuliefern, was ihren Tod bedeutet hätte. Stattdessen hatte er ihnen Zuflucht im Kriegswagen von Giebelstadt gewährt, um sie anschließend, wie versprochen, vor den Toren Würzburgs freizulassen.

In Würzburg hatten sie einen Verbündeten aufgesucht, den Drucker Werner Heck. In Hecks Druckerei hatten sie dann versucht, ihre Mission weiterzuführen und ihre Werke zu drucken, um auf diese Weise ihre Wahrheit zu verbreiten – doch ebendiese Wahrheit hatte Heck das Leben gekostet, hatte zu jener Schreckensnacht geführt, als Kristina und ihre Gefährten vor den Würzburger Magistraten und ihren Hunden fliehen mussten. Frieda war damals nicht mitgekommen und in die Stadt zurückgekehrt; die anderen hatten sich durchgeschlagen, auf dem Main, über Felder und durch ein ausgedehntes Waldgebiet, bis eines Morgens …

Wieder schnitt die schmerzhafte Erinnerung an Bertholds Tod ihr wie ein Messer durchs Herz.

Berthold im hellen Morgenlicht, ahnungslos und ungedeckt auf freiem Feld … sein ernstes Gesicht mit den dunklen Augen unter dichten Brauen … sein lockiges Haar, zerzaust wie das eines Jungen … der Armbrustbolzen des Magistrats, der heranschwirrt … Bertholds aufgerissene Augen, ängstlich und staunend zugleich … das Blut, das zwischen seinen Händen hervorsprudelt, als er an dem Bolzen zerrt, der seinen Hals durchschlagen hat …

Witter hatte schließlich einen der Hunde getötet und die erschöpfte Kristina trotz seiner tiefen Wunden hierher nach Giebelstadt geführt, auf der Suche nach einer Zuflucht, ohne zu ahnen, dass das Dorf von den Pocken heimgesucht wurde.

Der Tod hatte blutige Ernte in Giebelstadt gehalten. Als Letzter war jener Mann gestorben, dem Kristina am meisten vertraut hatte, Ritter Dietrich.

*

Über den Wäldern im Osten stieg die Sonne höher, brannte sich durch die Wolken und sandte ihre hellen Strahlen über das Land. In Giebelstadt läutete die Kirchenglocke. Schwach zuerst, zögernd, dann lauter und kräftiger, als sie den Rhythmus fand. Jemand fiel ein, schlug eine Trommel dazu.

Kristina richtete den Blick nach unten in den Burghof. Ältere Frauen in weißen Gewändern trugen Dietrichs Leichnam aus dem Gebäude. Wie zur Vorbereitung auf eine letzte Schlacht in der Ewigkeit war er in einen roten Seidenumhang mit aufgesticktem goldenem Widderkopf gekleidet, dem Wappen der Familie. Das Haupt des Toten war in weißes Leinen gewickelt. Ganz behutsam, als würden sie ein Kind in die Wiege legen, betteten die Frauen den Leichnam in seinen schlichten Eichensarg. Der Ritter war erst zwei Tage tot. Eingewickelt in einen Kokon aus Leinen, die Arme über der Brust verschränkt, war er nicht mehr bedrohlich und furchteinflößend wie im Leben; er wirkte hilflos und schwach.

Ein in Leinen gehüllter Wagen, gezogen von Dietrichs Streitross, brachte den Sarg über die Felder zum Ort der Bestattung, wo der größte Teil der Dorfbewohner wartete, um ihrem toten Herrn die letzte Ehre zu erweisen.

»Kristina!«, erklang eine scharfe Stimme hinter ihr. »Hilf mir, Mädchen.«

Kristina fuhr herum.

Herrin Anna war aus ihrer Kapelle zurückgekehrt. Gestützt von Lura, mühte sich die verschleierte Frau die Stufen zum Schlafgemach hinauf. Sie hatte zwar die Pocken überlebt, war aber erschreckend abgemagert. Kristina konnte Annas weißes, verhärmtes Gesicht undeutlich hinter dem schwarzen Schleier erkennen.

Lura führte die Herrin zu einem Stuhl und stützte sie, bis sie Platz genommen hatte. In den Händen dieser gepeinigten Frau lag das Schicksal von Giebelstadt. Jetzt, da ihr Gemahl tot war, besaß Anna die Macht. Die Frage war nur, ob diese unberechenbare Frau die Versprechen, die sie Dietrich auf dem Totenbett gegeben hatte, einhalten würde. Kristina fürchtete sich vor der Antwort.

»Soll ich Euch für die Zeremonie ankleiden, Herrin?«, erkundigte sich Lura. Ihr kleines verquollenes Gesicht war gezeichnet von Entbehrungen. »Oder möchtet Ihr zuerst etwas zu Euch nehmen?«

»Nein. Ich werde alles vom Balkon aus verfolgen«, entschied Anna. »Kleide mich an und bereite eine Sitzgelegenheit für mich vor. Ich habe nicht die Absicht, nach draußen auf den Totenacker zu gehen, um mir anzusehen, wie mein Dietrich im Dreck verscharrt wird, und mir den Sermon unseres Priesters anzuhören, der so viel Angst vor den Pocken hatte, dass er sich in der Kirche versteckt hielt, ohne meinem Gemahl die Letzte Ölung zu geben.«

Als Lura und Kristina die Kleidertruhe ihrer Herrin öffneten, wisperte die Dienerin: »Sie legt ihren Schleier nicht ab. Ihr Verstand ist hell wie eine Flamme, aber ihr Körper ist eine schwarze Ruine. Gib acht, wenn du mit ihr sprichst. Sie ist gereizt.«

Kurz darauf saß Herrin Anna auf dem kleinen Steinbalkon. Eingehüllt in einen dicken Wollumhang, hatte sie sich auf einem Stuhl aus blauem Samt niedergelassen. Kristina stand bei ihr. In der Ferne konnte sie die Dorfbewohner sehen, die sich für die Zeremonie eingefunden hatten; nun bewegten sie sich zur anderen Seite des Friedhofs, wo Dietrichs Grab vorbereitet war. Dort ließen sie seinen Leichnam in die Erde hinunter. Undeutlich konnte Kristina die Worte des Priesters aus der Ferne vernehmen.

»Zwölf«, riss Annas Stimme sie aus ihren Gedanken. »Zwölf Tote. Jede Familie hat Tote zu beklagen. Sie starben durch den Krieg oder an der Pest. Warum? Niemand wird es je erfahren, denn die Wege des Herrn sind unergründlich. Immerhin weiß ich, dass die Pocken nicht mehr ansteckend sind, denn ich kann Vater Michael da draußen sehen. Er ist tatsächlich aus seinem Versteck in der Kirche hervorgekommen. Nun ja, vielleicht ist ein feiger Geistlicher besser als ein streitlustiger Heiliger.«

Anna verstummte und winkte Lura fort. Das Mädchen verneigte sich und zog sich zurück. Kaum war sie verschwunden, wandte Anna sich Kristina zu, ohne sie direkt anzublicken.

»Ich möchte dir für deine Fürsorge während unserer Erkrankung danken.«

»Das habe ich gern getan«, sagte Kristina. »Lieber, als Ihr vielleicht denkt.«

»Lud hat mir erzählt, man hätte euch wie Tiere bis hierher nach Giebelstadt gejagt, dich und die anderen, die du Brüder und Schwestern nennst.«

»Ja, das stimmt.«

»Lud sagt auch, er habe sich darum gekümmert, dass dein Gemahl ordentlich begraben wurde.«

»Lud ist ein guter Mensch.«

»Gut? Ich habe schon vieles über Lud gehört, aber gut hat ihn noch niemand genannt. Und dennoch: Mein verstorbener Gemahl hat ihn zum Vogt ernannt, und Dietrichs Wort ist Gesetz. Er hat noch weitere Verfügungen getroffen. Und das, Kristina, ist der Grund, weshalb ich jetzt mit dir rede, anstatt dich und deine Ketzerfreunde den Magistraten zu übergeben. Als Dietrichs Gemahlin und Erbin werde ich mir Mühe geben, seine letzten Wünsche zu erfüllen, sofern diese Wünsche nicht mein Heil und meine Errettung gefährden – oder das Seelenheil der Dorfbewohner.«

Kristina wagte nicht zu sprechen. Sie spürte, dass Anna ihr etwas Bedeutsames mitteilen würde, und fühlte sich plötzlich wie auf einem unbekannten Pfad in finsterer Nacht, wo jeder falsche Schritt der letzte sein konnte. Bei Dietrich hatte sie stets das Gefühl gehabt, beschützt zu sein; dieses Gefühl war mit ihm gestorben.

»Kristina.« Anna sprach mit der Gewichtigkeit eines Richters, der ein Urteil verkündet. »Du wirst mir dienen.«

»Euch dienen?« Hitze stieg Kristina ins Gesicht.

»Hör jetzt gut zu. Die Ergebenheit meinem verstorbenen Gemahl gegenüber lässt mir keine andere Wahl, als seinen Wunsch zu respektieren und dich zu behalten. Aber wenn du mir nicht gehorchst, werde ich Mittel und Wege finden, dich trotz meines Versprechens an Dietrich loszuwerden.«

Kristina fröstelte, obwohl die Morgensonne warm strahlte.

»Zwei Dienstmägde sind gestorben«, fuhr Anna fort. »Sie werden da drüben begraben. Nur Lura ist übrig.« Sie hob die Hand an den Schleier. »Ich werde diesen Schleier von heute an bis ans Ende meiner Tage tragen, genau wie die Last der letzten Worte meines Mannes. Und du wirst mir zehn Jahre lang dienen. Ich will, dass du darauf schwörst.«

»Zehn Jahre!«, stieß Kristina hervor. »Aber …«

»Du wirst mir dienen, wirst mich pflegen und mir das Lesen beibringen. Der Priester kann Lud unterrichten. Im Gegenzug werde ich den Magistraten ausrichten lassen, dass sich auf meinem Grund keine Ketzer aufhalten. Mein Sohn Florian ist der Erbe dieses Gutes, und mein Vetter Konrad von Thüngen ist Fürst. Der Arm meiner Familie reicht weit. Ich habe Einfluss und Macht genug, um dich zu retten oder zu verdammen.«

Anna hielt inne, wahrscheinlich, um das Gesagte wirken zu lassen. Vielleicht rechnete sie auch damit, dass Kristina protestierte oder zu verhandeln versuchte. Doch Kristina schwieg. Ihr Blick fiel auf Lura, die im Schatten der Kammer stand und lauschte. Auf dem Gesicht der Dienerin spiegelte sich Ungläubigkeit.

Was soll ich nur tun? Kristina dachte fieberhaft nach, schaute über die Felder hinweg zum Totenacker, wo die Dorfbewohner knieten, die Köpfe gesenkt, und sich bekreuzigten. Sie alle waren Hörige, rechtlose Leibeigene, und auf Annas Wohlwollen angewiesen.

»Wenn du mir nicht gehorchst«, sagte Anna, »werde ich dich ausliefern, dich und deine so genannten Brüder und Schwestern. Alle, die mit dir gekommen sind, müssen auf meinen Feldern schuften. Hier muss jeder im Schweiße seines Angesichts für sein Brot arbeiten.«

»Harte Arbeit ist gute Arbeit«, antwortete Kristina. »Und Euch das Lesen beizubringen wäre die größte Freude für mich. Aber ich wäre eine Sklavin.«

Anna drehte den Kopf zu Kristina. Zorn ließ ihre Stimme zittern.

»Sklavin? Du törichtes Ding! Du solltest vor Dankbarkeit auf die Knie sinken. Das ist eine Belohnung, keine Strafe. Du bist eine Ketzerin. Aber das wird sich ändern, dafür sorge ich.« Sie starrte Kristina an. »Ich gewähre dir zehn Jahre lang meinen Schutz, wenn du mir dienst. Nicht draußen auf den Feldern, sondern hier auf der Burg, wo du es warm hast und zu essen bekommst.«

»Vergebt mir, wenn ich undankbar erscheine, aber …«

»Still! Du schuldest mir dein Leben«, unterbrach Anna sie und hob eine fleckige, ausgezehrte Hand. »Und nun wirst du mir ein wenig davon abgeben, indem du mir diese zehn Jahre dienst. Sie sind nur ein kleiner Teil deines Lebens, so Gott will. Wie Dietrich verfügt hat, werde ich dich und jeden deiner Gefährten schützen, der hier bleiben möchte. Nach dem zehnten Jahr seid ihr frei. Dann könnt ihr gehen, wohin ihr wollt, oder bleiben, wenn ihr es wünscht. Aber versucht ja nicht, die Hörigen zu bekehren, die auf meinem Grund und Boden leben. Solltet ihr ketzerische Gedanken unter ihnen verbreiten, werde ich euch ausliefern, darauf hast du mein heiliges Wort.«

»Zehn Jahre …« Kristina flüsterte es beinahe. »Das ist mehr als mein halbes Leben.«

»Es ist die Gegenleistung für euer aller Leben. Und nun will ich deine Antwort.«

»Darf ich eine Nacht lang darüber nachdenken?«

»Nein. Abgesehen davon musst du an dein ungeborenes Kind denken.«

»Mein ungeborenes Kind?« Kristina blickte Anna verständnislos an.

»Du lieber Himmel. Sag bloß, du weißt es nicht. Lura hat mir berichtet, dass dir jeden Morgen übel ist.«

Kristina wurde schwindlig. Für einen Moment befürchtete sie, dass ihre Beine nachgaben, doch sie fing sich rechtzeitig, packte den kalten Stein der Balkonbrüstung und hielt sich daran fest. Ihre freie Hand wanderte hinunter zu ihrem Leib. Verwundert rieb sie darüber, langsam und behutsam.

Könnte es sein …?

Ihre Gedanken kehrten zurück zu Berthold, ihrem Gemahl und Mentor. Sie hatten nur einmal zusammen die fleischliche Liebe gekostet. In Würzburg. Ein einziges Mal nur. Doch Kristina hatte gespürt, wie er sich in sie ergossen hatte. Sie schloss die Augen, strich wieder mit beiden Händen über ihren Leib.

Mein Kind. Bertholds Kind …

»Deine Antwort«, verlangte Anna. »Auf der Stelle.«

Kristina wusste, dass es nur eine Antwort geben konnte. »Ja«, sagte sie. »Ich werde Euch zehn Jahre dienen.«

In diesem Augenblick spürte sie, wie sich die Tür zur Vergangenheit schloss, während eine andere sich öffnete, hinter der die Zukunft lag. War sie voller Licht und Wärme? Oder gab es nur Dunkelheit und Schmerz?

»Zu wem du auch betest, schwöre es in seinem Namen«, sagte Anna.

»Ich werde nicht schwören und keinen Eid ablegen.«

Anna schüttelte den Kopf. »Bist du wirklich so mutig, Kind, oder einfach nur dumm? Es ist keine Sünde, einen Eid zu schwören. Ich will dein Wort.«

In diesem Moment läutete wieder die Kirchenglocke. Draußen kehrten die Trauernden vom Totenacker über die Felder zum Dorf zurück, viele mit gesenktem Kopf, manche weinend. Einige knieten nieder und untersuchten den Boden, zerkrümelten ihn, rochen daran, schmeckten ihn; andere schauten zum Himmel, um zu sehen, wie das Wetter wurde.

»Ihr habt mein Wort, Herrin. Ich gehöre Euch«, sagte Kristina. Noch immer betastete sie ihren Leib, wobei sie sich fragte, ob sie tatsächlich ein Kind in sich trug.

Wieder blickte sie hinaus auf den Totenacker jenseits der Felder, wo nun Dietrich unter großen Steinen begraben lag, beigesetzt von Lud, dem Priester und den Dorfbewohnern. Es kam Kristina so vor, als wäre eine uralte Wahrheit nun für immer verschlossen worden im Schoß der Erde. Sie dachte an Grit und Witter, Rudolf und Simon …

Und dann, so sicher, wie sie wusste, dass sie atmete, erkannte Kristina, dass es stimmte. Bertholds Blut hatte sich mit ihrem Blut vereint, sein Fleisch mit ihrem Fleisch, und nun wuchs ihr gemeinsames Kind in ihrem Schoß heran.

Gott hat mich mit einem neuen Leben gesegnet.

Ihre Welt hatte sich soeben grundlegend verändert. Ihre heilige Pflicht zu überleben schloss nun ein Kind mit ein.

Mein Kind …

Sie würde Mutter sein. Kristinas Angst wich dem Gefühl reinen Glücks.

»Zehn Jahre, Kristina«, sagte Anna in diesem Augenblick. »Und diese zehn Jahre beginnen mit dem heutigen Tag.«

2.

Witter

Es war Wochen her, seit Witter in diesem Bauerndorf gestrandet war, diesem kleinen Ort mit seiner jämmerlichen Burg und seinen rechtlosen Hörigen, diesen von Krieg und Pocken gebeutelten, des Lesens und Schreibens unkundigen Bewohnern.

Manchmal fand Witter sich im Traum zwischen den düsteren Bäumen im nächtlichen Wald wieder. Getrennt von den anderen, rannte er blindlings durch die Finsternis, Kristina an der Hand. Sie war die Einzige aus der Gruppe der Täufer, die ihm etwas bedeutete. Hinter ihnen erklangen die wütenden Schreie der Ketzerjäger und das Bellen ihrer Bluthunde.

Wieder flüchtete Witter vor den Jägern in die Dunkelheit, wieder versuchte er, Kristina zu retten, wieder sah er die große schwarze Bestie, die sich auf sie stürzen wollte, und stellte sich ihr in den Weg, ohne nachzudenken. Der kleine Dolch flog ihm aus der Hand, als er die Zähne des Hundes spürte und das erschreckende Gewicht des Tieres ihn zu Boden riss. Er roch den heißen Raubtieratem, und die roten Augen der Bestie starrten ihn an wie die eines Dämons …

Witter warf sich stöhnend auf seinem Strohlager in der Hütte herum, als er wieder einmal gegen den erschreckend realen Traum kämpfte, bis er hochschrak und ihm bewusst wurde, dass er in Sicherheit war, zumindest für den Augenblick. Und die Bisswunden, die ihm der Bluthund beigebracht hatte, waren inzwischen verheilt.

Mein Leben ist eine einzige Flucht.

Sein ganzes bisheriges Erwachsenenleben hatte Witter wie ein Verbrecher verbracht, unter falschem Namen, immer wachsam und auf der Hut, oft voller Schlichen, manchmal voller Lügen. Von einer Stadt zur anderen, wo er immer wieder in neue Rollen geschlüpft war, um nicht entdeckt zu werden und keine Spuren zu hinterlassen. Eine Arbeit hier, eine Arbeit dort. Schlafen in Verstecken mit zuvor geplanten Fluchtwegen. Früher oder später erschien immer jemand, der ihn fragte, wer er wirklich sei. Woher er wirklich käme. Wo er so viele Sprachen gelernt und ein solches Geschick in den Künsten erworben habe. Wo er so viel über Bücher und das Leben erfahren habe.

Oft sehnte Witter sich nach der Wärme und Sicherheit, die er als Kind daheim in Córdoba als selbstverständlich empfunden hatte, im palastähnlichen Haus seines Vaters mit den vielen Dienern. Stundenlang hatte er in der Bibliothek gelesen, der verhätschelte Sohn des Judah, des berühmten jüdischen Philosophen und Gelehrten, bewundert von seiner schönen Mutter, die ihn in seinen Studien ermutigt hatte in der Hoffnung, er würde Rabbi werden.

Eine weitere Ironie des Schicksals: Hier, in diesem hinterwäldlerischen Dorf und unter aller Augen war er unsichtbarer, als er es im brodelnden Stadtleben jemals hätte sein können. Witter war jetzt ein Höriger von vielen.

Hörige galten nicht viel mehr als Vieh. Sie waren Arbeitstiere, rechtlos, stets verfügbar und ihrem Herrn auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Tiefer konnte man nicht sinken. Es kam vor, dass man ihnen nicht einmal einen Blick gönnte, wenn ihnen schwere Arbeit zugewiesen wurde. Deshalb hatte Witters relative Sicherheit einen hohen Preis: unerbittliche Plackerei.

Zuerst waren seine weichen Künstlerhände vom Schaufeln und Hacken aufgesprungen. Aus Blasen waren blutige Löcher geworden, doch er hatte seine geschundenen Hände in Lappen gewickelt und weitergeschuftet. Jeden Abend vor dem Schlafengehen hatte Grit ihm Schmalz auf die rohe Haut geschmiert. Schließlich waren die Handflächen hart geworden, so wie sein ganzer Körper kräftiger und widerstandsfähiger wurde von der schweren Arbeit.

Lud war der neue Vogt, und er war unerbittlich.

»Sobald ihr eure Füße sehen könnt, fangt an«, befahl er.

Und so standen die Hörigen in der Dunkelheit und warteten. Als kurz darauf der erste blutrote Streifen Sonnenlicht am Horizont erschien, begann der beschwerliche Arbeitstag. Schon nach kurzer Zeit war der Verstand nahezu ausgeschaltet von mühseliger Plackerei und stumpfsinniger Gewohnheit; die Monotonie wurde nur unterbrochen, wenn etwa eine Maus aus ihrem Loch gescheucht wurde oder ein Kaninchen die Flucht ergriff.

Ringsum brachen die Pflüge das widerspenstige Erdreich um, während Männer fluchten und Ochsen ächzten. Manchmal arbeitete Witter mit der Schaufel, manchmal schwang er einen Hammer, um Erdklumpen zu zertrümmern, die von den Pflügen nur umgedreht, aber nicht aufgebrochen worden waren. Wenn die Erschöpfung und die Schmerzen kamen, versuchte er sich durch Flucht in seine Gedanken davon abzulenken. Salziger Schweiß rann ihm in den Mund, und seine Zunge wurde trocken. Kinder brachten Wasser, das sie in Eimern von Feld zu Feld schleppten. Noch nie hatte Witter Brunnenwasser so gut geschmeckt, besser noch als Wein.

Die schwitzenden Hörigen hielten mit ihrer Arbeit inne, um das Wasser weiterzureichen, und lachten, wenn die Kinder mit Steinen nach Ratten warfen oder aufgeschreckte Kaninchen verfolgten.

Noch nie hatte Witter so schwer geschuftet, noch nie so tief und fest geschlafen. Seit Wochen träumte er einen immer wiederkehrenden Traum von einer Arche auf dem Meer, und er war an Bord. Dann sank die Arche, und er strandete auf einer Insel, nackt und hilflos. Das Meer ringsum war gefährlich, voller gefräßiger Kreaturen. Doch Witter war dem Tod entkommen, vorerst jedenfalls, und solange er auf der Insel blieb, war er in Sicherheit.

Jedes Mal kurz vor dem Aufwachen erkannte er, dass die Insel ein Dorf mit Namen Giebelstadt war. Das Meer war der große Wald jenseits des Geyer’schen Gutsbesitzes, auf dem Hörige schufteten, die durchs Gesetz an den Grund gebunden waren, den sie beackerten.

Die Raubtiere jedenfalls – Magistrate und fanatische Mönche – schienen das Interesse an Witter verloren zu haben, zumindest für den Augenblick.

Witter wohnte in einer kleinen Hütte, die der Kerzenmacherin Ruth gehörte. Er schlief dort zusammen mit Rudolf und Simon auf dünnen Strohsäcken. Grits Schlaflager war auf dem Dachboden. Oft stießen die Knie und Ellbogen der anderen Witter in den Rücken, doch sein Schlaf war meist so tief, dass er nicht davon erwachte.

Was ihn hochschrecken ließ, waren allein seine Träume. Vor allem die, in denen Kristina vorkam.

Kristina …

Sie besuchte sie häufig abends in der Hütte, schlief aber nicht dort, sondern in der Burg, was für Witter alles noch schlimmer machte. Er wollte nicht an sie denken, nicht einen Augenblick. Manchmal, im Halbschlaf, überkam ihn ein unglaubliches Gefühl, sinnlicher und süßer als alle anderen; es überfiel ihn wie ein Dieb in der Nacht, ohne Vorwarnung und deshalb umso heftiger. Er dachte an die erotischen Visionen des Hohelieds Salomos.

Deine Lippen ziehen sich wie ein purpurnes Band aus Samt, deine Wangen schimmern wie die Scheiben eines Granatapfels, und deine Brüste sind wie zwei Zicklein, Zwillingsjunge der Gazelle, die auf Blumenwiesen weiden …

Für Witter handelten sie von nur einer Frau: Kristina.

Er hasste es, in der primitiven Hütte aufzuwachen und als Erstes Rudolf und Simon zu erblicken, während er immer noch erregt war von seinen köstlichen Träumen. Hatte er im Schlaf über Kristina geredet? Er wusste es nicht. Manchmal dachte er den ganzen Tag an sie. Er kämpfte dagegen an, jedoch vergebens. Es trieb ihn nur dazu an, noch härter zu arbeiten, um sie wenigstens eine Zeit lang aus seinen Gedanken zu verdrängen.

Es war Jahre her, dass Witter sich im Schlaf so verletzlich, so ungeschützt gefühlt hatte, ohne Hoffnung auf ein Entkommen. Einmal war er nach draußen gegangen und hatte versucht, in einem Heuschober zu übernachten, wo er ungestört war und die nötige Ruhe hatte, seine jüdischen Gebete zu sprechen, zu trauern, zu weinen und seinen sehnsuchtsvollen Gedanken an Kristina nachzuhängen. Doch in dem Schober, halb vergraben im feuchten, modrigen Heu, war es zu kalt zum Schlafen, und in der nächtlichen Kühle schmerzten seine verheilenden Wunden.

Hier jedoch, im Innern der kleinen Hütte, in der er gemeinsam mit den anderen wie ein Tier in einem Bau hauste, herrschten wohltuende Wärme und freundschaftliche Herzlichkeit. Witter wurde inzwischen akzeptiert. Die Täufer hatten ihn als einen der ihren bei sich aufgenommen – eine Erkenntnis, die Witter zugleich tröstete und überraschte. Er brauchte dieses Gefühl der Zugehörigkeit und Geborgenheit, fürchtete sich aber auch davor, ihm zu vertrauen.

Die Dorfbewohner dagegen beäugten Witter und die anderen misstrauisch, oft feindselig. Witter konnte es ihnen nicht verübeln – er wusste, welche schlimmen Geschichten man sich über Andersgläubige erzählte, über Muselmanen, Juden, Täufer. Woher sollten diese Menschen wissen, dass das Wenigste davon der Wirklichkeit entsprach?

Witter war nie bewusst gewesen, wie leidensfähig und zäh die Hörigen waren. Wie wenig sie vom Leben erwarteten. Wie unermüdlich sie sich abrackerten. Lag es daran, dass sie über die Welt draußen so wenig wussten? Aber vielleicht war es besser so, schließlich waren sie hier gefangen.

*

Eines Abends kam Ruth zu ihnen in die Hütte, setzte sich und aß mit ihnen gemeinsam. Witter schlang hungrig seinen Anteil hinunter, wobei er Ruth im Auge behielt. Es musste einen Grund geben, dass sie an diesem Tag zu ihnen gekommen war. Was hatte sie im Sinn?

»Nicht dass ihr glaubt, ihr bekommt das Essen jetzt immer umsonst«, begann sie schließlich. »Ihr bekommt es, weil ich eure Arbeitskraft brauche.«

»Unsere Arbeitskraft?«, fragte Grit verwundert. »Aber wir schuften doch schon jeden Tag auf den Feldern.«

»Das ist Arbeit, die ihr für Herrin Anna tut. Aber auch mein Feld muss bestellt werden.«

»Dein Feld?« Witter war zu Tode erschöpft, wie immer am Ende eines Tages. Sein Rücken schmerzte, seine Beine brannten, und er konnte die Hände kaum noch spüren vom Schaufeln und Hacken. Wie sollte er da noch mehr arbeiten?

»Mein Feld, ganz recht«, gab Ruth zurück. »Wisst ihr denn gar nichts? Jedenfalls, ihr müsst euch die Unterkunft hier in der Hütte und das Essen verdienen. Deshalb werdet ihr auf meinem kleinen Gerstenfeld arbeiten. Es ist bespelzte Gerste, die nach der Ernte geschält werden muss. Ihr könnt mir auch beim Dreschen helfen. Wir lassen einen Teil der Gerste in Wasser keimen, für die Hühner. Aus dem Abfall brauen wir Bier. Nichts wird verschwendet.«

»Du hast ein Feld? Aber du bist Kerzenmacherin«, sagte Grit.

»Nur in meiner knappen freien Zeit«, antwortete Ruth. »Jeder im Dorf muss eigenes Getreide anbauen und obendrein auf den Feldern der Herrin arbeiten, ganz gleich, was er sonst noch tut – es sei denn, er ist besonders geschickt in seinem Handwerk. Sonst hätten wir nichts zu essen. Zuerst müssen wir die Schafe der Herrin hüten und ihr Vieh versorgen. Und uns um ihre Felder kümmern. Wir beackern zuerst das Land der Herrin, dann unser eigenes.«

Sie blickte in die Runde, ehe sie fortfuhr: »Die Kerzen, die ich mache, tausche ich gegen andere Dinge ein. Nahrung ziehe ich mir selbst. Was übrig bleibt, verkaufe ich. So war es immer. Wir müssen dem Gut den Zins zahlen für das Land, das man uns geliehen hat. Und wir müssen für das Mahlen unseres eigenen Getreides zahlen. Von dem, was übrig bleibt, geht die Hälfte an die Kirche.«

»So ist das«, sagte Simon betrübt, »und so wird es immer sein.«

»Noch etwas«, fuhr Ruth fort. »Lud ist einer eurer wenigen Fürsprecher. Als Vogt hat er einen gewissen Einfluss, und die anderen Dorfbewohner werden euch sicher nichts tun, solange er Vogt ist. Doch verlasst euch nicht allzu sehr auf ihn. Er ist im Dorf nicht angesehen und wird sich wohl nicht sehr lange als Vogt halten können.«

»Und wenn Lud eines Tages lesen kann?«, fragte Witter.

»Das schafft er nie. Er geht jeden Tag zum Unterricht bei Vater Michael, kommt aber jedes Mal wütend zurück. Wir haben es gesehen.«

»Glaubst du, Lud ist dumm?«, fragte Grit.

»Er ist nicht dumm, sondern ungeduldig. Er ist schlau auf eine Art, wie ein Wolf schlau ist, nur ist er längst nicht so geduldig. Wir alle dachten, er bleibt in Würzburg und wird irgendein Spitzbube oder dass er sich als Landsknecht verdingt und nie mehr zurückkehrt. Ausgerechnet ihn macht Dietrich zum Vogt!«

»Aber Lud ist ein Mann, auf dessen Wort man sich verlassen kann«, warf Rudolf ein. »Man kann ihm vertrauen. Er wird genau das tun, was Dietrich ihm aufgetragen hat.«

Ruth schaute Rudolf nachdenklich an, und ein Ausdruck von Traurigkeit erschien auf ihrem Gesicht. »Vor Jahren wollte mein Sohn Matthes lesen lernen. Er fragte den alten Priester, den wir damals hatten, ob er es ihm beibringen könne. Wisst ihr, was der Priester gesagt hat? Er sagte, mein Matthes sei ein Träumer und dass sein Verstand zu langsam sei, um lesen zu lernen. Und was ist Lud? Ist Lud etwa klüger, als mein Matthes es war?«

»Warten wir es ab«, sagte Rudolf beschwichtigend.

»Ja, warten wir es ab.« Ruth erhob sich. »Ich habe vier Kerzen mitgebracht. Sie sind ein Geschenk. Geht sparsam damit um. Benutzt sie nur, wenn ihr eure Sachen flicken wollt, oder zum Kochen, wenn ihr Licht braucht. Wir Hörige arbeiten, solange es draußen hell ist. Wer drinnen arbeitet, noch dazu nachts, muss sich Kerzen kaufen.«

Mit diesen Worten verließ Ruth die Hütte.

*

Von diesem Tag an arbeiteten sie von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Witter schuftete schwer, hielt den Kopf gesenkt und den Mund geschlossen. Auf diese Weise sagte er wenigstens nichts Unbedachtes oder Falsches und brauchte es nicht zurücknehmen.

Die Arbeit mit Spaten und Schaufel im Gerstenfeld war für Witter eine genauso erbarmungslose Schinderei wie auf den Äckern der Herrin Anna. Eine seiner Aufgaben bestand darin, den Wassereimer am Brunnen zu füllen.

Wenn er zum Brunnen kam, gingen ihm die Dorfbewohner dort schnell aus dem Weg, ohne ein Wort mit ihm zu reden. Die meisten wollten ihm nicht einmal ins Gesicht sehen; manche bedeckten sogar die Augen mit der Hand. Aber meist trieben sich auch zwei, drei Kinder am Brunnen herum und beobachteten Witter verstohlen, diesen eigenartigen Fremden. Er schnitt ihnen Grimassen, zwinkerte ihnen zu oder streckte ihnen die Zunge heraus, bis sie lachend und kreischend davonrannten.

Eines Abends in der kleinen Hütte, als die Gefährten wieder einmal mit vom Rauch tränenden Augen am Feuer saßen und den Hafer und das Grünzeug aus dem Topf aßen, besprachen sie ihre Lage.

»Ich weiß nicht, ob wir den Hörigen trauen können«, sagte Simon. »Vielleicht liefern sie uns ja doch noch aus, oder sie schneiden uns die Kehlen durch. Natürlich sind auch sie Geschöpfe Gottes, aber sie kommen mir vor wie Tiere.«

»Was sie nicht kennen, das fürchten sie«, sagte Witter. »Und sie kennen nur wenig, weil sie das Dorf nie verlassen und nicht lesen können.«

»Genau deshalb sind wir ja losgezogen«, sagte Grit.

»Was denn? Um die Hörigen zu unterrichten?« Simon lachte.

»Was lachst du so, Dummkopf? Du warst selbst ein gewöhnlicher Ochsenschieber, bevor man dir Lesen und Schreiben beigebracht hat«, erinnerte Grit ihn.

»Beruhigt euch.« Rudolf hob beschwichtigend die Hände. »Ihr solltet den Hunger fürchten, nicht die schlichten Bauern und Handwerker hier in Giebelstadt. Diese Leute haben andere Sorgen als uns. Zum Beispiel, ob sie genug zu essen und ausreichend Feuerholz haben, um den Winter zu überstehen.«

Witter war insgeheim erheitert von Simon, der – selbst ein halbes Maultier – die Dorfbewohner mit Tieren verglich, weil sie sich vor Außenseitern fürchteten. Dabei wusste Simon kaum mehr über die Welt als die Hörigen.

Witters Gedanken schweiften ab. Auch an diesem Abend vermisste er Kristina. Jedes Mal, wenn sie zu ihnen kam, um zu reden und zu beten, gab er sich alle Mühe, sie nicht anzustarren. Anders als er und seine Gefährten – von den Hörigen ganz zu schweigen – war Kristina sauber und frisch, mit schimmernder Haut und glänzendem Haar, und roch wie eine Blumenwiese nach einem Frühlingsregen. Bei ihrem Anblick schlug Witters Herz schneller, der Mund wurde ihm trocken, und schmerzliches Verlangen nach dieser Frau erfüllte ihn.

So auch an diesem Abend, als Kristina sie in der Hütte besuchte und ein Bündel mitbrachte. Sie trug einen langen blauen Leinenumhang – eines jener ausgewaschenen Kleidungsstücke, die alle Bediensteten im Geyerschloss tragen mussten. Kristinas Schultern waren zu schmal für den Umhang, und der Saum schleifte über den Boden, sodass sie ihn anheben musste, um beim Gehen nicht darauf zu treten.

»Ein schöner Umhang«, bemerkte Grit.

»Leta hat ihn mir gebracht, eine Freundin von Lura. Sie wäscht alles Leinen für die Herrin und den Priester.«

Witter bemerkte, wie Kristina einen tiefen Atemzug nahm, bevor sie weitersprach. Sie war ihm mittlerweile so vertraut, dass er wusste, etwas lag ihr auf dem Herzen.

»Übrigens«, begann sie, »Herrin Anna und ich sind zu einer Übereinkunft gelangt, vor längerer Zeit schon. Ich habe euch bisher nichts davon gesagt, weil ich hoffte, ihr würdet eine Entscheidung über eure Zukunft treffen, ohne dass mein Schicksal dabei eine Rolle spielt. Doch mit jedem Tag fällt es mir schwerer, ein Geheimnis vor euch zu haben. So hört nun, was beschlossen wurde.«

Kristina berichtete, welche Vereinbarung sie mit Anna getroffen hatte und dass die Herrin ihr Wort gegeben hatte, die Täufer zu schützen, wenn Kristina ihr zehn Jahre lang diente und ihr das Lesen beibrachte.

»Zehn Jahre!«, stieß Grit hervor.

»Ja, eine lange Zeit«, sagte Kristina. »Doch ich habe meinen Frieden mit dieser Entscheidung gemacht. Steht nicht in der Heiligen Schrift geschrieben: ›An den Wassern zu Babel saßen wir nieder und weinten, wenn wir Zion gedachten, an die Weiden hingen wir unsere Harfen.‹«

Grit nickte und vervollständigte den Psalm. »›Denn dort hießen die Häscher und Folterknechte uns singen, die uns gefangen hielten, und verlangten von uns: Singet uns die Lieder von Zion.‹«

Witter kannte die Stelle. Es war einer der Lieblingspsalmen seines Vaters Judah; er hatte ihn oft zitiert, wenn Witter als Knabe ungehorsam gewesen war oder nicht fleißig genug gelernt hatte. An diesem seltsamen Ort, unter diesen verfolgten Menschen, die ihn als einen der ihren aufgenommen hatten, erschienen ihm die Worte passend. Zugleich erfüllte ihn die Vorstellung, dass Kristina zehn Jahre an diesem Ort blieb, mit Entsetzen.

»Du willst dich wirklich für so lange an Giebelstadt binden und der Herrin Anna das Lesen beibringen?«, fragte er.

»Deshalb sind wir ja hinaus in die Welt gezogen«, erwiderte Kristina. »Um die Menschen das Lesen zu lehren und die Heilige Schrift für alle zu öffnen.«

»Vielleicht ist es der Wille Gottes, dass wir hierbleiben«, warf Rudolf ein. »Es muss einen Grund geben, dass es uns in dieses Dorf verschlagen hat.«

»Ich bin dafür, dass wir ebenfalls bleiben«, erklärte Simon. »Vorerst jedenfalls. Wohin sollten wir auch? Wie könnten wir überleben?«

»Aber wenn wir bleiben, können wir das Wort Gottes nicht verbreiten«, sagte Grit. »Was ist dann mit unserer Mission? Sind wir den ganzen weiten Weg gekommen, nur um hier festzusitzen und aus Angst um unser Leben ein Schweigegelübde abzulegen? Ist das wahrhaftig?«

»Du hast recht, und ich kann deinen Unmut verstehen«, sagte Kristina. »Aber ich habe Herrin Anna mein Wort gegeben.«

Lange Zeit sagte niemand ein Wort, alle waren in Gedanken versunken.

Schließlich beendete Witter das drückende Schweigen. »Kristina«, sagte er. »Vertraust du dieser Anna? Willst du nicht lieber fortgehen und anderswo weitermachen?«

»Hier ist anderswo«, entgegnete Kristina.

»Aber hier sitzt du in der Falle«, sagte Rudolf.

»Ich darf nicht schon wieder davonlaufen«, beharrte Kristina. »Ich könnte es auch gar nicht.«

»Wieso?« Grit legte Kristina die Hand auf den Arm. »Was meinst du damit?«

»Ich bekomme ein Kind.« Kristina strich sanft über ihren Leib, hob den Kopf und blickte lächelnd in die Runde.

Während die anderen zuerst ihrem Erstaunen, dann ihrer Freude Ausdruck verliehen, verspürte Witter einen so heftigen Stich, dass er zusammenzuckte. Er wünschte sich, er hätte Kristina gehabt, als Frau, und dass es sein Kind wäre.

»Und du beugst dich Herrin Anna?«, fragte Grit schließlich.

Kristina schaute sie aus ihren dunkelbraunen Augen an. »Sie ist nicht meine Herrin, und kein Mann ist mein Herr. Ich habe nur einen Herrn, und das ist unser Heiland. Aber ich vertraue Annas Wort.«

»Trotzdem«, beharrte Grit. »Es kann alles Mögliche geschehen, und …«

»Ich vertraue auf Gott«, unterbrach Kristina sie. »Und Rudolf hat recht. Es muss einen Grund geben, warum Gott uns gerade hierher gesandt hat.«

Witter fand die Kraft zu sprechen, trotz des Aufruhrs in seinem Inneren. »Ich für meinen Teil werde jedenfalls nicht von hier weggehen. Wir wissen, was uns außerhalb dieses Gutes erwartet, und nichts davon ist erstrebenswert. Es ist besser, eine Zeit lang zu warten. Aber wir müssen Augen und Ohren offen halten.«

Dann schwieg er. Er hatte Kristina niemals schöner gesehen als jetzt. Ihre Augen funkelten, ihre Haut war rein und weich, ihr braunes Haar glänzend und seidig.

Vielleicht, überlegte er, ist eine Frau wie Kristina die wahre Schönheit Gottes …

Er beobachtete, wie Kristina sich scheu eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht strich. Dabei streifte ihn ihr Blick, als würde sie die Intensität spüren, mit der er sie betrachtete. Witter zwang sich, den Blick von ihr zu nehmen, und starrte auf seine Hände, auf die schmutzigen, eingerissenen Fingernägel und die Schwielen vom Schaufeln, Hauen und Hacken.

»Hier«, sagte Kristina plötzlich. »Das hier habe ich für euch.«

Sie zog ein wollenes Bündel hervor und entfaltete es.

»Eine gute, feste Decke«, sagte Grit. »Wird man dich nicht bestrafen, wenn jemand merkt, dass sie fehlt?«

»Nein, nein, ich soll sie euch bringen«, entgegnete Kristina.

Grit strich mit ihren harten kleinen Händen über die Wolle. »Ich schlafe oben auf dem Boden, da steigt die Wärme hinauf. Hier unten ist es nachts viel kälter. Die Männer können sich diese Decke teilen.«

»Mit Rudolfs dicken Ellbogen und Knien?« Simon kicherte.

»Und deinem fauligen Atem und dem Gas im Bauch?«, entgegnete Rudolf lachend.

»Es ist eine gute Decke«, sagte Witter, wobei er sie in Augenschein nahm. Dann erst bemerkte er, dass irgendetwas in die Decke eingewickelt war. »Was ist das?«

Kristinas schlanke Hände brachten den Gegenstand zum Vorschein. Es war ein ledergebundenes Buch, das im Schein des Feuers glänzte.

»Eine Bibel«, sagte sie. »In deutscher Sprache.«

Witter starrte auf das Buch. Es war mehr wert als die Hütte, in der sie Unterschlupf gefunden hatten – und es würde sie alle in große Gefahr bringen, sollte es von einem der Dorfbewohner gefunden werden.

Simon fand als Erster die Sprache wieder. Er sagte laut, was Witter gedacht hatte, und seine Stimme bebte vor Angst. »Wenn sie uns damit erwischen, kostet es uns den Kopf. Hast du diese Bibel vom Priester gestohlen?«

Kristina funkelte ihn an. »Ich stehle nicht. Die Bibel ist aus Herrn Dietrichs Bibliothek. Wenn jemand kommt, während ihr darin lest, dann sagt einfach, ihr macht Leseübungen.«

»Ich finde, du solltest sie auf der Stelle zurückbringen«, erklärte Rudolf.

»Nein«, widersprach Grit. »Ich bin dafür, dass wir sie behalten und nachts darin lesen.«

»Auf keinen Fall«, rief Simon. »Wir sollten sie schnellstens zurückgeben.«

»Was ist mit dir, Witter?«, fragte Kristina und schaute ihn an.

Witter wurde bewusst, dass seine Stimme entscheidend war. Und er würde dazu raten, das Buch zurückzubringen – vor allem, weil er insgeheim wütend auf Kristina war, und noch immer traurig. Er konnte den Gedanken, dass sie ihm für immer verwehrt bleiben würde, kaum ertragen. Doch als er in ihre braunen Augen schaute und die Zuversicht darin sah, hörte er sich sagen: »Ich bin dafür, die Bibel hierzulassen.«

Kristina lächelte ihn dankbar an. »Dann passt gut auf sie auf, dass sie nicht schmutzig oder beschädigt wird.«

Witter schwieg, als die anderen nun beratschlagten, wo die Bibel am besten zu verstecken wäre. Da sie unversehrt bleiben musste, weil sie zurückgegeben werden sollte, kam man überein, sie in der kostbaren Decke eingeschlagen zu lassen, zumal Bibel und Decke perfekt unter das Strohdach an der Wand gegenüber der Feuerstelle passten.

»Auf diese Weise kommen wir an eine Decke und verlieren sie am gleichen Abend wieder«, sagte Witter mit einem bitteren Lächeln.

»Ich werde versuchen, euch noch eine Decke zu besorgen«, versprach Kristina. »Auch wenn es in der Burg längst nicht so viel Überfluss gibt, wie ihr vielleicht glaubt.«

Kristina lächelte Witter an, und wieder wurde ihm das Herz schwer bei dem Gedanken, sie nie in den Armen halten zu dürfen. Wenn er doch nur ihre Hand nehmen könnte …

Kurz darauf verabschiedete Kristina sich und verschwand in der Dunkelheit. Wie ein Traumbild, das man vergebens festzuhalten versuchte.

3.

Konrad

Heute war der Tag, an dem er Werner Hecks Presse in Besitz nehmen würde.

Er würde nicht ohne diese Presse gehen, niemals. Aber es war wichtig, erst zu handeln, wenn der richtige Augenblick gekommen war.

Tief im Innern der Festung Marienberg schwitzten die Wände der Steinkammer von den Dampfwolken, die von den erhitzten Steinen im Kaltwasserbecken aufstiegen, in das die Novizen sie mit Zangen hineinwarfen.

Zwei Mönche, kräftige Männer, trockneten Konrad und den Fürstbischof mit weichen Leinentüchern ab. Die beiden hohen Herren lagen sich auf zwei Tischen gegenüber, die Köpfe einander zugewandt, während starke Hände sie beide massierten. Konrad genoss es, zumal es ihm half, seinen Verstand zu läutern, und lag ganz entspannt da. Weniger entspannt war das Gesicht des Fürstbischofs, nur ein paar Handbreit von dem eigenen entfernt. Die altersfleckige Haut war nass von der Hitze und Feuchtigkeit.

Er sieht aus wie eine glitschige, mit blauen Adern überzogene Kröte, ging es Konrad durch den Kopf.

Ein Mönch näherte sich ehrerbietig den beiden Männern. Konrad beobachtete, wie der Fürstbischof sich im Flüsterton mit ihm unterhielt. Nachdem der Mönch gegangen war, schüttelte Lorenz den Kopf und blickte zu Boden.

Was ist da los?, fragte sich Konrad. Es kostete ihn alle Beherrschung, den Fürstbischof nicht zu bedrängen.

Schließlich hob Lorenz den Blick. »Es gibt Neuigkeiten über die Pocken«, sagte er. »Der erste Kurier ist nicht wiedergekommen. Der zweite kam zurück mit der Nachricht, dass die Pocken auf mehreren Gütern und Dörfern im Süden und Osten ausgebrochen sind.«

Konrad dachte sofort an Giebelstadt, an das Rittergut der Geyers, an seine schöne Kusine Anna, die so oft schon sein Verlangen geweckt hatte – auch wenn der Gedanke, dass der grobschlächtige Dietrich das Bett mit ihr teilte, Konrad diese Lust regelmäßig verdarb. Hatten die Pocken Giebelstadt verschont? Bisher hatte es keine Nachrichten aus dieser Gegend gegeben.

»Kennt man die Namen der Güter im Süden?«, fragte er.

»Bis jetzt nicht«, entgegnete der Fürstbischof. »Der Kurier, der nach Süden geritten ist, starb selbst an den Pocken.«

Nur wenn Dietrich tot wäre, hätte Konrad die Möglichkeit, Anna für sich zu gewinnen – und mit ihr die fruchtbaren Geyer-Ländereien. Es war eine verlockende Vorstellung, in der Konrad sich oft ergangen hatte. Doch solange Dietrich am Leben war, musste es ein Wunschtraum bleiben. Außerdem hatte Anna ihn, Konrad, vor langer Zeit abgewiesen, als sie beide noch jung gewesen waren. Stattdessen hatte sie sich für Dietrich entschieden.

Zurückgewiesen von Anna, zugleich besessen von ihr und bis in seine Träume verfolgt von ihrem Bild, hatte Konrad sie seit damals immer heftiger begehrt. Doch er wusste, wie närrisch es war, seinem Verlangen nach dieser Frau nachzuhängen. Er rief sich zur Ordnung. Hier lag seine Aussicht auf wahre Macht, sobald er den Zugriff auf Hecks Druckerpresse besaß, dieses großartige Instrument der Verbreitung von Wissen, das seit dessen Tod stillstand.

Konrad beschloss, nicht länger zu warten. Er stemmte sich auf einen Ellbogen und schaute Lorenz an. »Ich habe einen Rat, Exzellenz«, begann er. »Eine Druckerpresse könnte die Menschen vor den Pocken warnen. Kuriere könnten täglich Flugblätter verteilen, denen man entnehmen kann, wie weit die Krankheit sich ausgebreitet hat. Ganz abgesehen von den anderen wichtigen Dingen, die eine Presse vermelden könnte, zum Wohle der Allgemeinheit.«

Lorenz antwortete nicht sofort. Stattdessen gab er sich ganz dem Genuss der Massage hin, und sein Gesicht entspannte sich. Konrad, der den Fürstbischof in diesem Moment am verwundbarsten glaubte, hakte rasch nach: »Es gibt eine große Presse in Würzburg, die stillsteht, obwohl sie sehr viel Gutes bewirken könnte, wenn man sie in Betrieb nähme …«

»Mein lieber Konrad, hör auf damit und lass einem alten Mann seine Entspannung.«

»Bedenkt unsere Pflicht, Exzellenz, das Volk zu lehren.«

»Unsere Pflicht?«, entgegnete Lorenz. »Maße dir nicht an, mir einen Vortrag über Pflicht zu halten. Kauf dir deine eigene Presse, wenn du unbedingt musst. Es steht dir frei, deine Meinung kundzutun. Aber vergiss nicht, unseren Glauben zu stärken. Hilf den Rittern zu begreifen, dass wir alle eins sind. Beweise aller Welt, dass wir gebildet sind und nicht die Narren, für die man uns in anderen Ländern zu halten scheint.«

»Ihr seid der Fürstbischof, Euer Gnaden«, sagte Konrad. »Euer Ratschlag kann alle erreichen, Mächtige wie Niedere. Alle, die lesen können.«

»Und du meinst, mit einer Druckerpresse wäre das einfacher?«, fragte Lorenz.

»Ja. Denn die Menschen müssen so denken, wie wir es wollen und wann wir es wollen. Vor allem diejenigen, die lesen und schreiben können … Kaufleute, Bürger, Künstler. Aber auch Soldaten wie jene, die kürzlich unten am Fluss das Ufer ausgebessert haben. Und das Landvolk auf den Gütern. Anstatt uns zu verfluchen, sollten sie unser Loblied singen, weil wir sie teilhaben lassen an unserem Ruhm.«

»Ist das dein Traum, Konrad? Gepriesen zu werden?«

»Lieber gepriesen als verflucht. Bedenkt doch, Euer Gnaden. Was ist, wenn das gemeine Volk den Gehorsam gegenüber der heiligen Mutter Kirche verweigert? Wenn es sich weigert, Steuern zu zahlen? Wenn es sich gegen unsere Abteien, gegen die Priester in den Dörfern, am Ende sogar gegen uns erhebt?«

Der Fürstbischof schloss die Augen. »Unmöglich. So undankbar können sie nicht sein.«

Du armer alter Narr, dachte Konrad. »Sie sind dumm«, beharrte er, denn er spürte seinen Vorteil. »Und sie sind gefährlich. Denkt an den englischen Bauernkrieg. So etwas kann sich wiederholen, auch bei uns. Es braucht nur einen wahnsinnigen Priester, der die Leute anstachelt, schon kann es auch hier zu bestialischer Raserei kommen.«

Endlich schlug der Fürstbischof die von der Hitze rot geäderten Augen auf. Konrad sah sofort, dass er einen Treffer erzielt hatte.

Lorenz stöhnte auf und winkte schwächlich, worauf die beiden kräftigen Mönche sich wortlos entfernten, sodass Konrad und der Fürstbischof alleine zurückblieben. Bis auf ihr Atmen und das Tröpfeln von Wasser war es totenstill.

»Und was würdest du drucken, wenn dir diese Presse zur Verfügung stünde?«, fragte der Fürstbischof schließlich.

Auf diese Frage hatte Konrad nur gewartet, und er hatte seine Antwort sorgfältig vorbereitet. Seine Spitzel in der Festung hatten herausgefunden, dass Lorenz und der türkische Gefangene Mahmed fast täglich Schach miteinander spielten. Lorenz, so hieß es, sei fasziniert von den brillanten Zügen Mahmeds und hinge ihm an den Lippen, sobald der Ungläubige einen seiner klugen Sätze von sich gab.

»Ihr habt Mahmed, den heidnischen Gefangenen, in prachtvollen Gemächern untergebracht wie einen hochgeehrten Gast«, begann Konrad vorsichtig. »Überlasst ihn mir. Er soll uns Geschichten von muselmanischen Barbareien erzählen, die ich drucken und verbreiten kann, um unser Volk aufzuklären, sodass es jederzeit bereit ist, Kirche und Reich zu verteidigen.«

»Aufklären? Du meinst wohl verängstigen. Du weißt sehr wohl, dass Mahmed auf die Bestätigung aus den Grenzländern wartet, dass sein Lösegeld eingetroffen ist, damit er nach Hause zurückkehren kann. Er wird anständig behandelt, und er steht unter unserem Schutz, wie es recht und billig ist.«

»Ihr solltet lieber die Gelegenheit nutzen, Euer Gnaden.«

»Was meinst du damit?«

»Lasst diesen Heiden die grausigen Geschichten aus seiner Welt erzählen. Eine Welt, die unser Heiliges Römisches Reich bedroht.«

»Wozu? Um weitere Kriege zu führen? Noch mehr Hass zu schüren?« Der Fürstbischof schüttelte den Kopf. »Nein, Konrad. Wir müssen die Herzen unserer Schäfchen mit Mut füllen und ihre Seelen mit Liebe und Güte, anstatt immer neuen Hass zu säen.«

Konrad ließ sich von Lorenz’ Hartnäckigkeit nicht beirren. Er setzte sich auf und hakte nach, wobei er es wagte, die Hand des Fürstbischofs zu nehmen. Es war eine Geste der Kameradschaft, der Brüderlichkeit, verstärkt durch das Wissen des gemeinsamen Strebens nach dem Besten für die Kirche und ihre Schäfchen.