Die Täuferin - Jeremiah Pearson - E-Book
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Die Täuferin E-Book

Jeremiah Pearson

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Beschreibung

AUFTAKT EINER FULMINANTEN HISTORISCHEN SAGA IN DER TRADITION VON KEN FOLLETT UND NOAH GORDON

Böhmen, am Beginn der Reformation. Kristina ist noch ein Kind, als ihre Eltern auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden. Sie seien Ketzer, so das Urteil, Feinde der katholischen Kirche. Weil sie daran glaubten, dass jeder Mensch das Recht hat, Lesen zu lernen. Jahre später will Kristina ihr Werk fortführen. Mit einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter macht sie sich auf die gefährliche Reise nach Deutschland, um Verbündete in Mainz und Würzburg zu unterstützen. Doch unterwegs lauern nicht nur Ketzerjäger, sondern auch der Krieg. Bald liegt Kristinas Schicksal in der Hand eines einzigen Mannes: des hitzköpfigen Bauernkriegers Lud.

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Seitenzahl: 814

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Inhalt

CoverÜber das BuchÜber den AutorTitelImpressumWidmungZitatHISTORISCHE ANMERKUNGENDRAMATIS PERSONAEDeutschland im Jahr 1519Feder und Schwert1.2.3.4.5.6.7.8.9.10.11.12.13.14.15.16.17.Würzburg18.19.20.21.22.23.24.25.26.27.28.29.30.31.32.33.34.35.36.37.38.39.40.41.42.43.44.45.46.Giebelstadt47.48.49.50.51.52.53.54.55.56.ANMERKUNG DES VERFASSERS

Über das Buch

AUFTAKT EINER FULMINANTEN HISTORISCHEN SAGA IN DER TRADITION VON KEN FOLLETT UND NOAH GORDONBöhmen, am Beginn der Reformation. Kristina ist noch ein Kind, als ihre Eltern auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden. Sie seien Ketzer, so das Urteil, Feinde der katholischen Kirche. Weil sie daran glaubten, dass jeder Mensch das Recht hat, Lesen zu lernen. Jahre später will Kristi­na ihr Werk fortführen. Mit einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter macht sie sich auf die gefährliche Reise nach Deutschland, um Verbündete in Mainz und Würzburg zu unterstützen. Doch unterwegs lauern nicht nur Ketzerjäger, sondern auch der Krieg. Bald liegt Kristinas Schicksal in der Hand eines einzigen Mannes: des hitzköpfigen Bauernkriegers Lud.

Über den Autor

Jeremiah Pearsons Karriere als Schriftsteller begann als Schüler von Stephen King. Schließlich folgte er dem Ruf Hollywoods und arbeitet seitdem mit großem Erfolg als Drehbuchautor von Kino- und Fernsehpro­duktionen, so schrieb er u.a. das Drehbuch zu Auf der Flucht mit Harrison Ford. Jeremiahs Leidenschaft für das europäische Mittelalter mündete irgendwann in der Idee zur Freiheitsbund-Saga, seinem Herzensprojekt, mit dem er nun die Leser von epischen historischen Romanen begeistert.

JEREMIAH PEARSON

DIE TÄUFERIN

DER BUND DER FREIHEIT

Historischer Roman

Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Axel Merz

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »The Villeins Trilogy: The Brethren«

Für die Originalausgabe: Copyright © 2013 by Jeremiah Pearson

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln Lektorat: Wolfgang Neuhaus/Judith Mandt Kartenzeichnungen und Vignetten: Markus Weber, Agentur Guter Punkt Umschlaggestaltung und Umschlagmotiv: Johannes Wiebel, punchdesign, München, unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

978-3-7325-0598-2

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Mit all meiner Liebe meiner Frau Velvalea gewidmet,ohne die dieses Buch niemals das Licht der Welterblickt hätte

Jeremiah Pearson

… sind es die Götter, die dieses Feuer in uns pflanzen?Oder ist es vielmehr so, dass eines jeden Mannes unermüdliches Verlangen gleich einem Gott für ihn wird?

– Vergil

HISTORISCHE ANMERKUNGEN

Vor fünfhundert Jahren wurde die Welt durch drei epochale Erfindungen für immer verändert: Kompass, Schießpulver und Druckerpresse.

Die Meere wurden befahren, Gold strömte aus der geplünderten Neuen Welt in die Alte, Armeen kämpften mit mächtigen Geschützen, und eine nie gekannte Woge der Gewalt überzog den Globus.

Doch die bei Weitem dramatischste Veränderung wurde durch die Druckerpresse bewirkt. Plötzlich überfluteten Flugblätter und Bücher aus großen und kleinen, regulären und illegalen Druckereien die Städte und das Land.

Zum ersten Mal lernten Menschen aller Klassen und Schichten das Lesen. Das Ergebnis war ein verändertes Bewusstsein, das Unmut gegen die Herrschenden nach sich zog, denn Kirche und Staat besaßen die absolute Macht. Und diese Macht, diese Tyrannei basierte auf dem Glauben der einfachen Leute. Dem Glauben, dass sie den Herrschenden zu dienen hatten, ohne eigene Stimme, ohne Rechte, so wie ihre Väter und Vorväter und so, wie die Kirche es von ihnen verlangte.

Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation kämpfte in zahlreichen Kriegen gegen Spanien, Frankreich und Italien. Nach den unseligen Kreuzzügen wurden die Grenzen des Reiches im Süden ständig von den Türken bedroht. Seit mehr als einhundert Jahren hatte sich das Osmanische Reich entlang der Donau ausgebreitet. Für die Deutschen waren die Türken ein machtvoller Gegner, den sie noch mehr fürchteten als die Juden in ihren Ghettos, die immer wieder unter Ausbrüchen bestialischer Gewalt litten und starben.

Priester, dem Glauben an die Macht des Klerus und der Fürsten verhaftet, predigten den Heerscharen der Armen, Rechtlosen und Ungebildeten, die weder lesen noch schreiben konnten, ihr Schicksal sei von Gott gewollt und dass es ihre Pflicht sei, dem Adel zu dienen.

Fortschrittliche Prediger riskierten Folter und Tod, wenn sie Bildung für alle forderten, ohne Rücksicht auf Stand oder Herkunft. Die Strafe für Laien, die in der Bibel lasen, war der Tod auf dem Scheiterhaufen.

Staat und Kirche, die verschmolzen waren zum unum corpus christianum, der Einheit von geistlicher und weltlicher Gewalt, durften nicht zulassen, dass Laien lesen und schreiben lernten. Man stelle sich vor, der Pöbel käme auf den Gedanken, Christus hätte so etwas wie Nächstenliebe angemahnt! Wenn das gemeine Volk lesen und selbst über die Wahrheit befinden konnte, würde es das Heilige Römische Reich von innen aushöhlen, und das durfte nicht geschehen.

Doch aller Folter und Unterdrückung, allem Leid und Tod zum Trotz zogen Gruppen tapferer Männer und Frauen durch das Land, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, dem gemeinen Volk die Fackel des Wissens zu reichen und die Botschaft von der Gleichheit aller vor Gottes Angesicht zu verbreiten – dem Leser wird in diesem Zusammenhang vor allem der Begriff Täufer geläufig sein. Die Mächtigen von Kirche und Staat schimpften diese Reformatoren Ketzer und Aufrührer und verdammten ihre Lehren und ihr Eintreten für Gewaltlosigkeit als Bedrohung. Denn wie sollte man Armeen rekrutieren, wenn die Menschen keine Kriege mehr führen wollten?

Die »Rebellen« wurden gnadenlos verfolgt, viele starben qualvoll auf dem Scheiterhaufen. Dennoch entstanden immer neue Gruppen, die ihre ketzerischen Schriften im Verborgenen druckten und auf den Schutz jener hofften, die sie von den Fesseln der Unfreiheit zu befreien versuchten, indem sie ihnen das Lesen und Schreiben beibrachten und ihnen damit einen neuen Blick auf Gott und die Schöpfung, auf Kirche und Staat gewährten.

Zu diesen mutigen Lehrern gehörten ebenfalls die so genannten Böhmischen Brüder.

Im fruchtbaren Südwesten des Reiches, in der Pfalz, in Schwaben, Franken und Thüringen, lebten die Bauern als Sklaven auf den Gutshöfen – geboren auf fremdem Grund und Boden, mit Haut und Haar Eigentum eines Adeligen oder eines Klosters, gebunden durch die Gesetze des corpus christianum und ohne das Recht, den Herrn zu verlassen, dem sie gehörten.

Sie waren Analphabeten. Sie waren rechtlos. Ihr Körper und ihr Verstand waren unfrei, wie seit alters her. Sie wurden Hörige genannt.

Doch dank der missionierenden Brüder und anderen Täufern, die ihr Leben für Freiheit und Gleichheit aufs Spiel setzten, sollten die Unwissenheit der Hörigen und ihre bleierne Untertänigkeit bald ein Ende haben.

Für das Heilige Römische Reich stand die Macht über das Volk auf dem Spiel.

Für die Hörigen ging es um ihre Rechte als Menschen und Geschöpfe Gottes.

DRAMATIS PERSONAE

Es folgt eine Aufstellung der wichtigsten Figuren, wobei die historischen Personen mit einem * gekennzeichnet sind

IN KUNWALD, BÖHMEN, 1517DIE MISSIONSZELLE DERBRÜDER-REFORMATOREN

KRISTINA

17, wurde mit 12 zum Waisenkind, als ihre Eltern und ihre Schwester wegen Ketzerei auf dem Scheiterhaufen starben. Aufgewachsen in einem Konvent unter der Obhut Hannahs, einer fortschrittlichen Nonne, flieht Kristina nach Kunwald, wo sie die Kunst des Druckens erlernt und zur Leselehrerin ausgebildet wird.

BERTHOLD

34, ehemaliger Priester und Reformator, geflohen vor einer Anklage wegen Häresie, nunmehr Anführer der geheimen Zelle der Brüder in Kunwald und späterer Ehemann Kristinas.

MARGUERITE

genannt Grit, 43, ehemalige Sängerin und gefeierteSchönheit, branntweinsüchtig, gerettet von den Brüdern, überzeugte Reformatorin, Papiermacherin und Druckerin.

FRIEDA

18, hübsche Tochter des Druckermeisters Johannes und seiner Frau Rita, in der Ausbildung zur Leselehrerin.

OTT

22, Ehemann Friedas, Gelehrter.

RUDOLF

46, bekehrter Ex-Magistrat, Leselehrer.

SIMON

39, Drucker, geflohener Höriger und Rudolfs bester Freund.

IN KUNWALD GEBLIEBEN

Friedas Eltern: JOHANNES, 55, Druckermeister der Synode der Böhmischen Brüder, und seine Frau RITA, 53, Oberdruckerin.

IM KRIEG IM UMKÄMPFTENDONAUTAL, 1517

LUD

28, aus Giebelstadt, Höriger und Reisiger seines Herrn, des Ritters Dietrich Geyer, entstellt durch die Pocken, die ihm auch Frau und Kinder geraubt haben. Kann weder lesen noch schreiben, ist aber von rastlosem, scharfem Verstand.

DIETRICH GEYER, RITTER ZU GIEBELSTADT*

48, freigeistiger Herr der Hörigen von Giebelstadt, Ehemann der Freifrau Anna, Vetter des Fürst Konrad.

FREIHERR VON BLAUER

53, Obrist auf dem Kriegszug.

ALBERT VON HERZEBURG

Profos auf dem Kriegszug.

WALDO

aus Giebelstadt, 44, stumm, Dietrichs Stallmeister und Pferdeliebhaber, Vater einer Tochter namens Kella.

MAHMED BEY

37, türkische Geisel in Händen des Bistums, osmanischer Edelmann, Offizier der Janitscharen, vierter Sohn eines Arztes, Gelehrter und Schachmeister.

ULRICH

28, Söldner, Kommandant der berittenen Landsknechte, liebt Duelle.

Die Spießgesellen von Giebelstadt

AMBROSIUS

16, Enkel des leibeigenen Schusters und Zeugmachers Gerhard, träumt davon, lesen zu lernen.

FRIDEL

17, Sohn der Hebamme und Weberin Almuth.

HERMO

17, Zwillingsbruder von Fridel.

FRIX

Sohn von Ackerbauern.

DER »KLEINE« GÖTZ

16, hünenhafter Sohn der Töpfer Franz und Berta.

STEFAN

22, Bauernsohn, ältester der Spießgesellen.

JAKOB

17, Pflüger.

KASPAR

15, Jüngster aus dem Heerbann des Dorfes, Sohn des Müllers Sigmund, verlobt mit der Schwester von Fridel und Hermo.

LINHOFF

18, Sohn des Ackerbauern Thomas.

MATTHES

17, Sohn der Kerzenmacherin Ruth.

MAX

16, Narr, Sohn der Käser.

TILO

17, Sohn von Gerstenbauern.

IN DER STADT WÜRZBURG UND DER FESTUNG MARIENBERG, IM SÜDLICHEN FRANKEN, HEILIGES RÖMISCHES REICH DEUTSCHER NATION

KONRAD II. VON THÜNGEN*

Vetter von Dietrich und Anna, Taufpate ihres Sohnes Florian, wird nach dem Tod Lorenz von Bibras zum Fürstbischof, gründet die Buchdruckerei Veritas (= Wahrheit).

LORENZ VON BIBRA*

Fürstbischof von Würzburg, liberaler Reformer und aufgeklärter Förderer der Kunst.

TILMAN RIEMENSCHNEIDER*

Bildhauer, Schnitzer und Rat der Stadt Würzburg.

BRUDER BASIL

Mönch, persönlicher Diener Konrads.

MARTIN LUTHER*

Priester, Gelehrter und Reformer, der die Welt verändern wird.

WERNER HECKS DRUCKEREI IN WÜRZBURG

WITTER

ein Mann mit vielen Geheimnissen. Drucker, Künstler, Sprachgenie.

WERNER HECK

wohlhabender Drucker, Reformator und heimlicher Anhänger der Brüder.

STEINER

Drucker, heimlicher Anhänger der Brüder, Vater von Heck.

BRUNO

Drucker, heimlicher Anhänger der Brüder, Onkel von Heck.

MAGDALENA

Druckerfrau, heimliche Anhängerin der Brüder, Tante von Heck.

AUF DEM BESITZTUM DER GEYER VON GIEBELSTADT, SÜDLICH VON WÜRZBURG, 1517

SCHLOSS GEYER

ANNA VON SECKENDORF*

schöne Ehefrau des Dietrich Geyer, Mutter des Florian, fromme Christin, kann weder lesen noch schreiben.

LURA

Annas Dienstmagd.

IM DORF GIEBELSTADT

VATER MICHAEL

Geistlicher des Dorfes.

ALMUTH

Hörige, Weberin, Hebamme, Mutter von Fridel, Hermo und Greta.

GRETA

Hörige, Tochter von Almuth, Verlobte von Kaspar.

RUTH

Hörige, Mutter von Matthes, Kerzenmacherin.

MERKEL

Höriger, Grobschmied.

SIGMUND

Höriger, Müller, Vater von Kaspar.

GERHARD

Höriger, Schuster und Zeugmacher, Großvater des Ambrosius.

FRANZ

Höriger, Töpfer, Vater des Kleinen Götz.

BERTA

Hörige, Töpferin, Mutter des Kleinen Götz.

THOMAS

Höriger, Großvater von Linhoff.

HUBER

Höriger, Vogt.

DER ALTE KLAUS

Händler und Verteiler von Flugblättern.

Feder und Schwert

1.

KUNWALD, BÖHMEN, ANNO DOMINI 1517

Kristina

Seine Gestalt versperrte die offene Tür. Es gab kein Entkommen.

»Vergib mir, was ich dir antun muss«, sagte er.

Kristina bemühte sich nach Kräften, seinem Blick standzuhalten, wie sie auf der einfachen Holzbank saß, allein mit ihm in dem Holzschuppen, in dem es nach trockenem Heu roch. Angst stieg in ihr auf wie beißende Galle. Sie musste schlucken. Der süße Geschmack eines Apfels, den sie am Morgen gegessen hatte, brannte in ihrer Kehle. Sie war siebzehn; ihr junger Körper pulsierte vor Verlangen nach Leben, und nun war sie dem Tod so nahe.

»Bist du bereit, die Prüfung auf dich zu nehmen?«, fragte der düstere, hochgewachsene Mann.

»Ja.« Nein! Bin ich nicht. Werde ich nie sein.

Wieder musste sie schlucken. Ihre Stimme klang in ihren eigenen Ohren wie die eines Kindes. Schwach, dünn.

Irgendwo draußen krähte ein Rabe, als wollte er sie verspotten. Vor Angst zitternd, zwirbelte sie eine Strähne ihres braunen, lockigen Haares um den Zeigefinger, während sie gegen das Verlangen kämpfte, aufzuspringen und zu fliehen.

»Ausflüchte schützen dich nicht vor der Folter«, sagte der Mann, dessen lange braune Haare zu einem strengen Pferdeschwanz nach hinten gebunden waren. »Ebenso wenig deine Jugend. Und wenn du mich zu täuschen versuchst, machst du alles nur noch schlimmer.«

Kristina konnte es nicht fassen. Berthold Moser, ihr gütiger, sanfter Lehrmeister, hatte sich in einen erbarmungslosen Inquisitor verwandelt. Sein weißes Gesicht war eine Fratze der Herablassung. Kristina konnte seinen Anblick nicht mehr ertragen. War das der Mann, den sie so sehr zu lieben glaubte?

Sie schloss die Augen, atmete tief ein. Die Luft im Schuppen war erfüllt mit den Gerüchen von Leben, von sonnengedorrtem Heu, von Haustieren und eingelagerten Äpfeln. Doch unter alldem lag ein Hauch von Fäulnis und Verwesung, wie von einer längst gestorbenen Kreatur.

Kristina schauderte, atmete aus.

»Mach die Augen auf«, befahl Berthold.

Sie gehorchte. Er war jetzt näher gekommen, ein düsterer Schatten, der alles Licht zu verschlucken schien. In seinem langen schwarzen Umhang ging er auf und ab, ohne den Blick von ihr zu wenden, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Bei jedem Schritt wippte er auf den Zehen, sodass es aussah, als hüpfe ein riesiger schwarzer Rabe mit einem weißen Gesicht aus Stein durch die Hütte.

»Ich bin dein Inquisitor, mein Kind. Du wurdest verhaftet, weil du ketzerische Gedanken verbreitet hast. Weil du andere das Lesen gelehrt und ihren schwachen Verstand verwirrt hast, was unserem Heiland am Kreuz zusätzliche Qualen bereitet. Deshalb haben wir dich in dieses Verlies bringen lassen, wo du allein mit uns bist.«

Eisiges Entsetzen erfasste Kristina. Sie saß ganz still da, spürte die Blicke aus seinen kalten Augen wie einen Frosthauch auf der Haut.

Berthold blieb vor ihr stehen, beugte sich zu ihr hinunter. »Wir sind hier unter der Burg. Es gibt kein Entrinnen, es sei denn, wir erbarmen uns deiner. Wir haben dir die Werkzeuge gezeigt, die wir benutzen werden, wenn du versuchst, ausweichende Antworten zu geben …«

»Die Wahrheit ist meine einzige Verteidigung. Wenn Ihr so barmherzig seid, wie Ihr behauptet, warum benutzt Ihr dann solche Instrumente, um anderen Schmerz zuzufügen?«

»Um dich zu reinigen, zu läutern und zu erleuchten. Um dir zu helfen, damit du siehst.«

»Um mir zu helfen?«

»Ja. Auf dass du bereits hier auf Erden erkennst, welche Qualen eine verlorene Seele erdulden muss, wenn die Dämonen der Hölle sie für alle Ewigkeit bestrafen. Und nun suche in deinem Verstand und deinem Herzen und beantworte aufrichtig meine Fragen.«

Kristinas Hände lagen fest ineinander verschränkt im Schoß, als wollte sie sich ans Leben klammern, ihre Gedanken festhalten, ihre Entschlossenheit stärken. Sie nickte wortlos. Sie wollte, dass es schnell ging, wollte den Schmerz hinter sich bringen.

Die Zeit ihrer Ausbildung war fast zu Ende. Volle zwei Jahre, die ihr wie eine Ewigkeit erschienen, während ihr Körper und ihr Verstand gewachsen und herangereift waren.

Wir sind in Kunwald sicher, unserer kleinen Siedlung in einem Tal in den Bergen Böhmens, unserem Zufluchtsort fern vom Reich, geschützt vor Verfolgung. Das hier ist nur eine Übung. Die Gefahr ist nicht wirklich. Wenn ich will, kann ich aufstehen und nach draußen gehen, ins Sonnenlicht, aber das werde ich nicht. Ich unterwerfe mich, bereite mich auf die Missionsreise vor.

Kristina würde bald aufbrechen, zusammen mit einer kleinen Schar Brüder und Schwestern, angeführt von Berthold, der nun den Inquisitor spielte. Dies hier war nur eine Übung, auch wenn sie anders war als alle Übungen zuvor. Es war die letzte, furchterregendste Probe. Wie schrecklich es sein muss, überlegte Kristina, tatsächlich vor einem Inquisitor zu stehen, unaussprechliche Qualen und einen grauenhaften Tod vor Augen.

Nur eine letzte Übung, um dich vorzubereiten, hatte Berthold gesagt. Auf das, was dich draußen in der Welt erwartet. Genauso werden die anderen vorbereitet, die mit uns gehen.

Kristina dachte daran, wie sie Berthold zum ersten Mal begegnet war, vor fünf Jahren. Damals war sie zwölf gewesen. Sie war seine Schülerin geworden, war gereift in dieser Zeit. Sie war kein Mädchen mehr und Berthold kein Jüngling; sie war eine junge Frau, er ein Mann. Doch er war doppelt so alt wie sie, vierunddreißig, ein Gelehrter auf vielen Gebieten. Kristina empfand eine beunruhigende Angst, wie sie hier auf der Bank saß und sein Spiel über sich ergehen ließ. Berthold hatte eine befremdliche, harte Seite. Wenn er in die Rolle des Inquisitors schlüpfte, legte er eine beängstigende Perfektion an den Tag. Kristina konnte kaum glauben, wie überzeugend er eine bedrohliche Miene aufsetzen konnte, wie kalt seine Stimme wurde und wie leicht es ihm fiel, einen unbarmherzigen religiösen Fanatiker zu verkörpern.

Kristinas Zuneigung zu ihm erkaltete immer mehr. Sie spürte, wie sie auf der harten Bank erstarrte. Fröstelnd zog sie das Hemd aus ungefärbtem Flachs straffer um sich.

»Du stehst hier vor Gericht, Kristina. Ist dir das klar?«

»Bei allem Respekt, Herr, erlaubt Ihr mir eine Frage?«

»Nur zu.«

»Geht es diesem Gericht um Gerechtigkeit oder um Gewalt?«

Sie sprach die Worte aus, wie er es sie gelehrt hatte, und doch hörte sie das Beben ihrer Stimme und war überrascht, als sie bemerkte, dass sie zitterte. Sie umklammerte ihre Hände im Schoß, während sie ihre Panik zu verbergen suchte.

»Was für eine Frage. Wir vertreten die Gesetze Gottes und des Kaisers.«

»Dann sagt mir bitte, warum man mich festgenommen hat. Warum droht Ihr mir? Habe ich jemandem etwas getan? Was werft Ihr mir vor? Mord? Raub?«

»Nein, mein Kind, wir wissen nichts von einer solchen Tat.«

»Warum bin ich dann gefangen, Herr?«

»Du kennst den Grund sehr gut und wirst Rede und Antwort stehen müssen. Du bist eine Widersacherin unseres allerheiligsten Beschützers, des Kaisers. Oder bestreitest du das?«

»Ich bin niemandes Widersacherin, Herr.« Kristina zwang sich, diese Worte auszusprechen. Ihre Stimme klang belegt, ihr Mund war trocken.

»Du predigst deine Irrlehren in Hütten und Scheunen und verborgenen Winkeln, sogar in den Wäldern. Du lehrst unwissende Seelen das Lesen. Du druckst deine fehlerhaften Übersetzungen der Heiligen Schrift und bringst sie unter das Volk. Du behauptest, deine Gebete geradewegs an Gott zu richten, obwohl diese Gebete nichts anderes sind als Ketzerei. Du verhöhnst Gott, unseren Herrn! Du dichtest eigene Lieder, angeblich, um den Herrn zu preisen, dabei sind es Worte voller Spott. Es würde mich nicht wundern, wären sie an den Teufel gerichtet statt an Gott. Der Satan hat es dir eingeflüstert, nicht wahr? Oder streitest du das ab?«

»Soll ich Gutes abstreiten? Wenn ich kann, lehre ich. Wenn ich Gottes Liebe spüre, singe ich. Wenn ich Leid sehe, versuche ich es zu lindern. Was soll daran verkehrt sein?«

Er schüttelte den Kopf und lächelte abschätzig.

Kristina vergaß völlig, dass alles nur gespielt war. Zorn stieg in ihr auf und ließ sie ihre sorgfältig zurechtgelegten Antworten vergessen. Zugleich legte sich Angst wie ein eiserner Ring um ihre Brust, zog sich zusammen und brachte Schmerz und das schreckliche Gefühl der Verlorenheit.

»Du würdest sogar Hörigen das Lesen beibringen, ist es nicht so?«, fragte Berthold mit einem abschätzigen Lächeln. »Oder willst du das abstreiten?«

In diesem Augenblick kochte der Zorn in ihr über, und sie verließ endgültig den Pfad kühler Argumentation. Sie wollte doch nur das Gedenken an ihre Mutter ehren! Sie wollte hinausgehen in die Welt und sich selbst finden, indem sie das Werk weiterführte, für das ihre Mutter gestorben war! Es war wie die Suche nach einem Pfad, wenn man sich im tiefen Wald verlaufen hatte. Dem Pfad, den ihre Mutter beschritten hatte. Doch dieser Pfad hatte sie zu einem schrecklichen Ende geführt, und mit einem Mal fürchtete Kristina ihn fast so sehr, wie sie Berthold fürchtete. Doch ihr Zorn war stärker als die Furcht und verlieh ihr neue Kraft, nicht nur das eigene Leben zu verteidigen, sondern auch das Gedenken an ihre Mutter.

»Habt Ihr Angst, was die Hörigen entdecken könnten, wenn sie das Lesen und Schreiben beherrschen?«, fragte Kristina. Es war nicht das, was Berthold ihr vorgegeben hatte, und doch klangen die Worte wahr und richtig. »Fürchtet Ihr, die Leibeigenen, Unterdrückten, Gequälten könnten auf eigene Faust nach der Wahrheit suchen?«

»Du hast Versammlungen abgehalten, hast diese neuen … Lehrsätze verkündet«, er spie das Wort hervor wie eine Abscheulichkeit. »Es ist des Kaisers Wille, dass dies nicht gestattet sei!«

»Der Kaiser ist ein Mensch und steht nicht höher in Gottes Gunst als ein Höriger oder eine andere von Gott erschaffene Kreatur.«

»Was redest du!« Berthold war sichtlich schockiert. Seine dichten Brauen hoben sich, seine Augen weiteten sich vor Erschrecken.

»Ihr habt es gehört. Gott hat dem Kaiser nicht die Macht gegeben, solche Gebote zu erlassen. Er überschreitet die Befugnisse, die der Herr ihm verliehen hat. In dieser Frage erkennen wir die Hoheit des Kaisers nicht an.«

»Du fürchtest dich nicht vor der kaiserlichen Rache? Vor den Folterinstrumenten, die wir dir gezeigt haben? Oder gar dem Scheiterhaufen?«

Jetzt gab es kein Zurück mehr. »Unser Leben ist nur ein Wimpernschlag in der Ewigkeit, dann zerfällt unser Körper. Unsere Seele aber wird die Ewigkeit schauen, wenn es Gott gefällt, und die Seele könnt nicht einmal Ihr verbrennen!«

»Hättest du je einen Scheiterhaufen brennen sehen, würdest du dir deinen Trotz verkneifen.«

»Das habe ich«, sagte sie mit plötzlich dünner Stimme und heftig pochendem Herzen.

»Was hast du?«

»Es gesehen.«

»Was gesehen?«

»Wie Menschen verbrannt werden.« Es schnürte Kristina die Kehle zu. Je verzweifelter sie versuchte, die Tränen zurückzuhalten, desto stärker strömten sie. Doch es waren Tränen des Zorns, nicht der Angst. Abrupt erhob sie sich von der Bank. Das Möbel scharrte laut über den Steinboden. Sie funkelte Berthold an, wütend über sich selbst.

Alle gespielte Überheblichkeit, aller vorgetäuschter Zorn fielen von ihm ab. Mit einem Mal blickte er beschämt drein. Güte und Milde erschienen wieder in seinem Gesicht, und der Ausdruck seiner Augen wurde weich. Da war er wieder, der Berthold, den Kristina kannte und dem sie zu vertrauen gelernt hatte. Er versuchte, ihre Hand zu nehmen, doch sie zog sie zurück.

»Ich war einmal Priester«, sagte er leise. »Auch ich habe Scheiterhaufen brennen sehen. Bei Gott, ich habe Menschen brennen sehen. Ich wünsche mir, du hättest das nicht erleben müssen.«

»Sei doch still!«, sagte sie.

Sie kam sich kindisch vor, weil sie für einen Augenblick die Fassung verloren hatte, und setzte sich wieder auf die Bank, wo sie sich mit den Handrücken übers Gesicht wischte.

»Ich bin zu weit gegangen«, sagte Berthold.

»Nein. Alles ist wahr.«

Jetzt war er wieder Berthold, ihr kluger Lehrmeister, nicht der fanatische Inquisitor. Er wirkte bestürzt, als er sie aus seinen dunklen Augen anschaute, als wäre ihm bewusst, dass er versagt hatte. »O Gott …«, flüsterte er. »Vielleicht bist du zu jung für das alles.« Tränen standen ihm in den Augen.

Die erschreckten Kristina. Es war beängstigend, ihn so zu sehen, wie einen verschüchterten kleinen Jungen, wo er doch so viel wusste über Gott und die Welt.

Und nun bemerkte sie auch, dass er verlegen war.

»Zorn ist nicht die Antwort. Das hätte ich dich lehren müssen, aber ich habe versagt. Es ist allein meine Schuld.«

Kristina bemerkte einmal mehr, wie sehr er sie brauchte. Er war unvollkommen ohne sie, und diese Erkenntnis ließ ihren Zorn versickern wie Wasser in trockenem Sand.

Sie erhob sich, ging zu ihm und schloss ihn in die Arme. »Wir gehen hinaus zu den Menschen, gemeinsam, als wärst du bei mir, als wären wir eins«, sagte sie und tröstete ihn in ihrer Umarmung. »Bete für mich, Berthold. Hilf mir, dass ich mich noch mehr anstrenge.«

»Kristina … Schwester«, sagte er leise, streckte aber nicht die Arme aus, um sie an sich zu drücken, obwohl sie sich nichts sehnlicher wünschte. »Du bist noch so jung und hast schon so viel Schreckliches mit ansehen müssen. Wenn es dir nicht gelingt, deine Angst zu besiegen, kannst du dich meiner Gruppe nicht anschließen. Liebe kennt keine Angst. Vollkommene Liebe vertreibt alle Furcht aus dir.«

Er nannte sie oft Schwester, so wie sie ihn Bruder nannte; so hielten es alle bei ihren Gesprächen, es sei denn, sie waren verwandt oder verheiratet. Aber Kristina spürte jedes Mal, dass es Berthold nicht reichte.

»Liebe?«, erwiderte sie leise. »Liebe kann die Ungerechtigkeit nicht aufhalten. Das kann nur das Streben nach Wissen und Wahrheit. Dazu aber müssen die Menschen lesen und schreiben lernen. Nur dann können sie die Wahrheit sehen und weitergeben – und nur die Wahrheit wird sie befreien.«

»Du liebst die Wahrheit, aber es gibt viele Spielarten der Liebe«, erwiderte Berthold. »Die Liebe zu Gott. Die Liebe zwischen Bruder und Schwester. Die Liebe zwischen Ehemann und Ehefrau. Die Liebe zu deinem Nächsten. Ist es nicht so?«

Kristina schüttelte den Kopf. »Die Liebe ist zu kostbar, als dass man sie immer wieder für alles herhalten lassen darf. Das geht so lange, bis die Liebe kein Gewicht mehr hat und stirbt. Sie ist kein Apfel, in den man hineinbeißen und ihn dann achtlos zur Seite werfen kann.«

Sie verstummte, wappnete sich gegen Bertholds heftigen Widerspruch. Stattdessen blickte er sie schweigend an. Nickte. Für einen Moment richtete sein Blick sich nach innen.

»Das war eine kluge Bemerkung. Oft bin ich zu seicht, zu oberflächlich. Und ich weiß, dass du Schmerz leidest, der noch längst nicht versiegt ist – aus Wunden, die viel zu tief sind für einen so jungen Menschen wie du es bist.«

Kristina atmete langsam aus. Sie dachte an ihre Mutter, die sie in den Händen von Mönchen und Magistraten zurückgelassen hatte und die lieber in den Tod gegangen war, als zu widerrufen. Kristina hatte Berthold die Geschichte erzählt. Jetzt wünschte sie sich, sie hätte es nie getan. Sie empfand bitteren Hass auf diese Mörder, die Priester, Mönche und Magistrate mit ihren hohlen, auswendig gelernten Floskeln und ihrer falschen Frömmigkeit, die sie vor sich hertrugen wie Masken, während sie mit unfassbarer Grausamkeit ihre Privilegien schützten, ihre Scheinheiligkeit und ihr Leben im Überfluss.

Du warst so tapfer, Mutter, so wundervoll, dachte Kristina. Ihr Gesicht zuckte, und sie kämpfte gegen neue Tränen an. Ihre Mutter war eine schöne Frau gewesen, voller Sanftmut und Güte. Nicht einmal für ihre Folterer und Mörder hatte sie ein böses Wort gehabt.

Bertholds Stimme riss Kristina aus ihren süßen und zugleich schmerzhaften Erinnerungen.

»Lass es mich auf andere Weise sagen«, begann er, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Wie deine Familie vor dir wirst auch du dich zahlreichen Feinden gegenübersehen. Wie willst du dich vor ihren falschen Wahrheiten verteidigen? Es gibt nur einen wahren Weg, Kristina, den der Liebe. Du musst deine Feinde lieben. Du musst für die beten, die dich verfolgen, so wie Christus es uns gelehrt hat.«

»Ich hasse niemanden.«

Aber das war eine Lüge. Kristina war nicht wie ihre Mutter. Sie kannte die Angst, und sie kannte den Hass. Sie verdammte all jene, die ihre Mutter, ihre Schwester und ihren Vater verbrannt hatten, und wünschte sie in die tiefste Hölle. Es wäre unnatürlich, solche Peiniger zu lieben. Doch ihre Mutter hatte genau das getan.

Wenn ich doch ihre Kraft hätte, dachte Kristina. Ihre Liebe, ihre Güte, ihr Wissen. Vielleicht kann ich das alles ja finden in ihrem Werk.

»Ich will nicht hassen«, sagte sie, und diesmal sprach sie die Wahrheit. »Meine Mutter hat auch nicht gehasst. Sie war voller Liebe.«

»Siehst du?«, entgegnete Berthold. »Womit wir wieder bei der Liebe wären. Du liebst deine Mutter noch immer. Sie ist jetzt im Himmel, denn sie hat denen vergeben, die ihr so Schreckliches angetan haben. Kannst du ihnen nicht auch verzeihen?«

Kristina schwieg. Sie ist meine Mutter, dachte sie. Du hast kein Recht, sie gegen mich zu benutzen.

»Wenn du es nicht aus Liebe tust, warum erbietest du dich dann, hinauszugehen und die Menschen das Lesen zu lehren? Warum riskierst du dann, was deine Mutter riskiert hat?«

Genau darüber hatte Kristina lange und angestrengt nachgedacht, und sie hatte diese Frage erwartet – eine Frage, die sie sich selbst schon viele Male gestellt hatte.

»Weil die Menschen leiden«, antwortete sie. »Und sie leiden, weil sie nicht lernen können. Und sie können nicht lernen, weil sie nicht lesen können.«

»Mir wäre lieber, du würdest hinausgehen, um ihre Seelen zu retten«, sagte er.

»Es ist Sache des Einzelnen, sich um seine Seele zu kümmern, aber es ist Sache der Gemeinschaft, Wissen und Wahrheit zu verbreiten.«

Berthold lächelte. »Du bist die klügste Schülerin, die ich jemals hatte. Du versteckst dich vor mir, und doch fühle ich mich sehr zu dir hingezogen.«

Kristina hob den Blick, schaute ihm ins Gesicht und sah, dass er sich verändert hatte: Er blickte sie nicht mehr an wie ein Lehrer, sondern wie ein Mann.

Er beugte sich vor, sah ihr in die Augen. »Du bist zart und zierlich und bewegst dich voller Anmut, und dein Gesicht ist sehr hübsch. Doch deine Augen sind noch viel hübscher als alles andere.«

Sie starrte ihn an, erstaunt, verwirrt, und wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie spürte die Wärme seiner großen Hände, die sich behutsam auf die ihren legten, die sie noch immer im Schoß gefaltet hatte.

»Es gibt die Liebe von Brüdern und Schwestern in Christus«, sagte er. »Und es gibt die Liebe zwischen Mann und Frau.«

Sie blickte in seine Augen und sah, dass er sie liebte. Es war das erste Mal, dass er ihr auf diese Art und Weise die Hände gedrückt hatte. Und dann, unvermittelt, kniete er sich vor sie hin.

»Kristina, Liebste«, sagte er. »Darf ich hoffen, dass du den Namen Moser als deinen annehmen wirst?«

Da war es. In diesem Moment hatte sich ihr Leben verändert. Eine Tür hatte sich halb geöffnet, doch Kristina hielt sie fest, denn sie wagte sich noch nicht hindurch. Ihr war plötzlich warm und schwindlig.

Sie erhob sich, drückte Bertholds Arme von sich weg.

Auf seinem Gesicht zeigte sich Bestürzung. »Was muss ich tun?«, fragte er flüsternd. »Bitte, sag es mir.«

Sie wandte sich von ihm ab und ging über das schmutzige Stroh hinaus ins helle Tageslicht. Eine Hühnerschar und eine Ziege wichen vor ihr zur Seite. Sie überquerte den Hof. Dann stand sie in der frischen Brise, die von den Hügeln kam, und ihre Haare wehten im Wind und flatterten ihr ins Gesicht. Sie blickte über die Wiese hinweg in die Ferne.

Unter ihr öffnete sich das Tal zu einem schwindelerregenden Abgrund, eingefasst von grünen Hügeln. Sie sah die Schieferdächer des kleinen Dorfes Kunwald mit seinen Menschen, die in brüderlicher Nächstenliebe alles miteinander teilten. Sie blickte hinaus über das Tal und erschauerte angesichts der grünen Weite der Berge und der Welt dahinter, wo das Unbekannte wartete. Eine Kuh rief muhend nach ihrem Kalb. Schwalben flitzten durch die Luft und jagten pfeilschnell unsichtbare Insekten.

Kristina blickte nach vorn, ohne darauf zu warten, ob Berthold ihr folgte.

Wenn er jetzt wiederkommt und die Arme um mich legt, sage ich Ja.

In diesem Moment hörte sie seine Schritte. Spürte, wie er sich von hinten näherte. Spürte seine starken Arme. Spürte, wie er sie mit überraschender Kraft an sich drückte und das Gesicht in ihren Haaren vergrub. Für einen Moment wollte sie sich von ihm lösen. Noch war es nicht zu spät, um alledem Einhalt zu gebieten. Dann aber ergab sie sich in ein Gefühl überwältigender Erleichterung.

»Kristina«, flüsterte er. »Liebste. Wende dich nicht von mir ab. Ich könnte es nicht ertragen.«

Seine Stärke bot ihr Sicherheit, sein Begehren weckte ihr Vertrauen, und seine Klugheit machte die Welt zu einem sicheren Ort. Noch immer mit dem Rücken zu ihm, fragte Kristina: »Bist du sicher?«

»Oh, Kristina, liebste Kristina …« Seine kräftigen Arme hielten sie ganz fest. Sie spürte, wie er zitterte, während er ihr ins Ohr raunte: »Ich könnte nicht zulassen, dass du Kunwald verlässt und hinausgehst in eine Welt voller Hass und Grausamkeit, ohne eins mit mir zu sein.«

Sie drehte sich in seinen Armen um, und er war ihr so nah, dass sein Bart und seine Brauen ihr Gesicht berührten. Er wagte nicht, sie zu küssen. Dieser Moment gehörte ihr, nicht ihm.

Kristina gab sich ihren Gefühlen hin. Jetzt war er ein Mann, nicht bloß ein Lehrer. Sie sah, wie er ihren Blick suchte; sie spürte, wie sehr er sie begehrte, und sein Verlangen weckte ein Gefühl von Geborgenheit und tiefer Liebe in ihr. Sein Gesicht … so weich, so warm, so vertraut.

In diesem Augenblick erkannte Kristina, dass es dieses Gefühl war, das man Liebe nennt, und dass es nur eine Antwort darauf gab.

»Bitte«, sagte Berthold. »Lass uns eins sein.«

Kristina spürte, wie sich die Tür in ihrem Inneren ganz öffnete.

»Eins«, sagte sie.

2.

AUF DER ALTEN RÖMERSTRASSE INS DONAUTAL, WEIT SÜDLICH VON WIEN, IM UMSTRITTENEN GRENZGEBIET

Lud

Marsch der Heiligen Befreiung – so nannten die Priester und Adligen die Reise. Lud erinnerte sich an andere Feldzüge, andere Namen. Die Heilige Interventionskampagne, die Ewige Herrlichkeit und wie sie alle geheißen hatten.

Lud bewegte sich leise und bedächtig über den Höhenrücken oberhalb der Armee, die unten auf der Straße schlief. Immer wieder hielt er inne, um zu lauschen und seine Umgebung zu beobachten, kaum seines Körpers gewahr oder der alten Narben, die in der Kühle der Nacht schmerzten. Seine Wahrnehmung war schärfer geworden in den drei Jahrzehnten seines Lebens, in denen er so oft in der Nähe des Todes gewesen war. Was das anging, war Lud wie ein wildes Tier, hellwach und ungezähmt. Er hörte einen Kauz rufen – einmal, zweimal, dreimal. Der Ruf blieb ohne Antwort.

Die schlafende Armee lag unter ihm ausgebreitet mit ihren Karren und Zelten. Lud dachte daran, wie überheblich sie losmarschiert waren. Die Streitmacht von sechstausend Mann war mit großem Trara aus Würzburg losgezogen, voller Siegesgewissheit. Lud starrte von seinem Aussichtspunkt über einem felsigen Steilhang auf die Armee hinunter. Hier und da durchstach das Licht einer einzelnen Laterne oder eines erlöschenden Lagerfeuers die Dunkelheit. Die Nachtwache war voller schwarzer Löcher.

Sie liegt da wie ein Betrunkener, ging es Lud durch den Kopf, die Kehle ungeschützt, sodass man sie blitzschnell aufschlitzen kann.

Lud war ein einfacher Reisiger, unter dessen Befehl zwölf Spießträger standen, doch in dieser Nacht waren zwei seiner Jungen auf Horchposten, und er musste wissen, wie die Lage war.

Sein Ritter, der Herr Dietrich, hatte Lud hinausgeschickt, damit er ihm einen morgendlichen Bericht ablieferte. »Wir sind seit Wochen unterwegs«, hatte Dietrich gesagt. »Noch immer gibt es keine Spur von den Türken, und Erschöpfung schläfert die Aufmerksamkeit ein. Es ist die gefährlichste Zeit für Männer auf Posten, hier draußen, entlang der Grenze, wenn alle ermattet sind vom ständigen Marschieren und benommen von der Gleichförmigkeit der Tage.«

Die Männer marschierten durch das Land und zerstörten alles auf ihrem Weg, bis sie Befehl erhielten, umzukehren und nach Hause zu gehen. Die ganze Zeit bestand die Gefahr eines Angriffs durch die Türken. Der Streit zwischen Habsburgern und Türken schwelte schon länger, als irgendein lebender Mensch sich erinnern konnte. Je tiefer sie in feindliches Gebiet vordrangen, desto mehr war mit einem Angriff der Türken zu rechnen. Da half nur ständige Wachsamkeit.

Während Lud seinen Weg entlang des Hügelkammes fortsetzte, suchte er beständig das Lager ab und prägte sich die größten Lücken in der Aufstellung der Wachposten ein. Es war gut, sich mit dieser Aufgabe zu beschäftigen. Dann konnten einem keine störenden Gedanken die Zeit stehlen – nicht, wenn so viele Leben auf dem Spiel standen. Die Dunkelheit war Luds Freund. Er hatte das Kundschaften gelernt, als er dem Knabenalter gerade erst entwachsen war – durch die nächtliche Jagd, wenn Geduld und Geistesgegenwart im Wettstreit mit der Schnelligkeit und Kraft der Tiere standen.

Die rechte Hand griffbereit auf der Parierstange seines Schwertes, lauschte Lud dem Läuten der Mitternachtswache. Zwölf Schläge. Unter seinem gesteppten Umhang sammelte sich Schweiß. Er kratzte sich an den Rippen und unter den Armen. Der Kettenpanzer rieb und juckte an den Stellen, wo die Flöhe saßen und sich satt fraßen. Lud vermisste die schlichte Arbeitskleidung von zu Hause, das derb gewebte Hemd aus Flachs. Wenigstens hatte er seine kurze Wollhose mitgenommen und seine einfachen alten Bundschuhe aus Rohleder. Keine Stiefel. Ritter und Soldaten trugen Stiefel, nicht aber Männer wie er.

Die Wolken rissen auf, und eine Flut von Sternenlicht ergoss sich über das Land. Lud erstarrte inmitten der milchig weißen Felsen und wartete. Als er die Sterne sehen konnte, stellte er fest, dass sie die gleichen Muster bildeten wie zu Hause: ein riesiges Rad aus winzigen Punkten, das sich ganz langsam über ihm drehte. Doch das Land hier unten war fremd. Fremd und gefährlich.

Unten an der Straße standen die Zelte der Magistrate und Edlen. Die Laternen schimmerten durch die derb gewebten Wände. Lud wusste, dass die hohen Herren noch auf waren und Wein tranken.

Wie viele von ihnen könnte ich töten, bevor sie erkennen, wer ich bin?

Er hörte den Schrei einer Frau. Wahrscheinlich machte einer der Magistrate sich über eines der Mädchen her, die sie in den niedergebrannten Dörfern gefangen genommen hatten. Die Bewohner versuchten ihre Vorräte zu verstecken und ihre Töchter zu verbergen. Als Vorwand für die Gräuel und Plünderungen – falls überhaupt Ausreden erforderlich waren – wurden die Dörfler verhört, gefoltert und wegen Spitzeln, Mohammedanismus oder Satansanbetung hingerichtet. Das Ziel war, alles zu vernichten, was der Streitmacht in den Weg geriet.

Lud beteiligte sich nicht an den Gräueln. Er war Reisiger. Aber so war nun mal das Leben in der Armee, war es immer gewesen. Der Geist stumpfte ab, während der Körper seinen Dienst leistete.

Über ihm zogen Wolken dahin und verdeckten den Sternenhimmel. Nebel senkte sich ins Tal und über die Straße.

Ein guter Zeitpunkt, um weiterzugehen.

Im Schutz der tiefen Dunkelheit umrundete Lud das vordere Ende des Feldlagers, wo die Hügelkette sich absenkte. Verstohlen näherte er sich den flackernden Rändern des rauchenden Lagerfeuers. Schlüpfte durch den Dunst und behielt die nur verschwommen erkennbaren Gesichter der müden Wachposten im Auge, die auf allem saßen oder lehnten, was sich dazu benutzen ließ.

Ihr Narren. Seht ihr mich denn nicht?

Sobald sie die Köpfe in seine Richtung drehten, erstarrte Lud zur Reglosigkeit. Blickten sie in eine andere Richtung, huschte er weiter. Es war kinderleicht.

Römische Sklaven, so hatte man ihm erzählt, hätten diese Straße erbaut, vor mehr als tausend Jahren. Die Namen der geplünderten und niedergebrannten Dörfer klangen fremd, das gesamte Tal der Donau hinunter. Das Weinen der Kinder und Frauen jedoch klang immer gleich, genau wie die Schreie, die hin und wieder aus den Zelten der Magistrate drangen und bald darauf verstummten.

Denk nicht daran. Es ist nicht deine Sache, das zu begreifen. Du musst nur gehorchen. Gedanken, die dich quälen und dich von deiner Aufgabe ablenken, zählen nicht.

Bei Tag kroch die Armee über die Straße aus geborstenen Steinen wie eine gigantische, mit Eisen und Stahl gespickte Schnecke. Spießträger und Kanonen, Kavallerie und Karren, alles fein säuberlich nach Rängen geordnet, wirbelten dichten gelben Staub auf, der den Tross einhüllte, diesen zerlumpten, wilden Haufen der nachfolgenden Marketender und Lagerbummler und Huren, und ihn vor fremden Blicken verbarg.

Hinter der Riesenschnecke blieb eine Schleimspur aus Tod und Verwüstung, Ruinen und verbrannten Dörfern zurück. Wohin die Kreatur auch kam, sie fraß alles. Rauchsäulen stiegen in den Himmel, und der Schein der Feuer hinter ihr war in Nächten weithin sichtbar. Der Feind musste nur den Blick zum Horizont heben, um diese Fanale des Schreckens zu entdecken. Oder den riesigen Heerwurm, wenn sie einen Blick nach hinten warfen.

Lud kletterte über einen weiteren Kamm und sah in einiger Entfernung einen Lichtschein, ein stumpfes, schwaches Orange wie ein schwelendes Lagerfeuer.

Dann wurde ihm klar, dass der Horchposten, nach dem er suchte, direkt vor ihm sein musste. Im letzten Licht der Abenddämmerung hatte Lud dort zwei seiner Leute postiert und sich die Lage des Felsens und eines großen, umgestürzten Eichenstammes eingeprägt, sodass er den Posten auch in der Dunkelheit wiederfinden konnte.

Haltet die Augen offen, Männer, jetzt komme ich.

Hoffentlich bemerkten sie ihn. Aber er würde ihnen nicht dabei helfen, indem er absichtlich Geräusche machte. Er bewegte sich blind, nur nach der Erinnerung, an den Felsen vorbei, die jetzt als dunkle Schatten erschienen.

Da seid ihr ja. Ich sehe euch. Seht ihr mich auch? Hört ihr mich?

Vor einem helleren, undeutlichen Hintergrund sah Lud zwei dunkle Gestalten – die eine groß, die andere klein – auf dem umgestürzten Baumstamm sitzen. Sie stützten sich auf ihre Spieße. Verblüfft stellte er fest, dass er ihre jungen Stimmen hören konnte.

»Sie verschwindet hinter den Bergen im Westen.«

»Die Berge erheben sich, um sie zu verbergen?«

»Berge bewegen sich nicht, Dummkopf.«

»Nenn mich nicht Dummkopf! Am Morgen geht die Sonne im Osten auf. Wie kommt sie in der Nacht von Westen auf die andere Seite?«

Luds Gesicht brannte vor Scham. Schweigen war die wichtigste Verhaltensregel auf Horchposten. Die schrille Stimme des Fragers gehörte Kaspar, seinem jüngsten Spießbuben, dem Lud seinen alten abgelegten Brustpanzer zum Tragen gegeben hatte. Die tiefere Stimme war die von Götz, den alle spöttisch »Kleiner Götz« nannten wegen seiner großen, schlaksigen Gestalt. Lud hatte die beiden gemeinsam zur Wache eingeteilt in der Hoffnung, Kaspar würde Führungseigenschaften entwickeln. Doch wie alle zwölf Männer Luds waren sie zu jung; außerdem war es ihr erster Feldzug. Kaspar war gerade fünfzehn und der Kleine Götz noch keine siebzehn.

»Die Sonne schwimmt durchs Meer«, sagte Kaspar mit seiner hohen Stimme. »Die Priester sagen, Gott hat es so eingerichtet.«

»Müsste das Meer denn nicht das Feuer der Sonne löschen?«, entgegnete der Kleine Götz.

»Frag die Priester, nicht mich.«

Lud kauerte in den Schatten und lauschte den beiden über das heftige Pochen seines Herzens hinweg. Er kämpfte gegen seine Wut. Bevor sie aufgebrochen waren, hatte er sein Bestes gegeben, sie auf den Einsatz vorzubereiten, und jeder ihrer Fehler war auch sein Fehler.

Ich gebe euch noch eine letzte Gelegenheit, mich zu entdecken, ihr zwei Dummköpfe.

Fast lautlos arbeitete Lud sich durch die dunstigen Schatten bis hinter den Baumstamm. Dann kam er herum, in den schwachen Lichtschein vom Lagerfeuer, nah genug, um den beiden die Hälse durchzuschneiden. Sie redeten munter weiter.

»Wie können die Priester so etwas wissen?«

»Wie wohl? Weil sie lesen können.«

Lud war mit seiner Geduld am Ende. Er schnippte einen Stein in Richtung der Jungen. Sie zuckten zusammen, fuhren herum. Doch ehe sie ihn sahen, war Lud um den Stamm herum und versetzte beiden schallende Ohrfeigen.

Sie heulten vor Wut und Schmerz. Kaspar versuchte, seinen Spieß abwehrend herunterzunehmen, doch Lud schnellte vor und rammte ihn mit dem Ellbogen zur Seite. Kaspar taumelte rückwärts, ließ den Spieß fallen und landete mit dem Hintern auf dem Baumstamm.

»Bist du das, Lud?« Kaspars verblüffte Stimme war schrill wie die eines Mädchens.

Beide Jungen blinzelten Lud im flackernden Licht des Feuers an. Der Kleine Götz hielt sich die brennende Wange und ächzte angstvoll. Lud bemerkte einen dunklen Fleck, wo der Junge sich die Lederhose eingenässt hatte.

»Schwachköpfe!«, schimpfte Lud. Seine Hand schmerzte, so hart hatte er zugeschlagen.

»Lud!«, rief der Kleine Götz. »Du bist es wirklich! Gott sei Dank!«

»Was hat Gott mit eurer Nachlässigkeit zu tun?«, entgegnete Lud und musterte die beiden mit einer Mischung aus Mitleid und Zorn. Er machte sich Vorwürfe. Er war ihr Kommandant. Er hatte versucht, sie vorzubereiten, so gut er konnte, aber die Zeit hatte offensichtlich nicht gereicht.

»Wir haben geredet, weil wir Angst hatten, sonst einzuschlafen«, sagte Kaspar, wobei er sich hochstemmte. Er kämpfte um Würde, doch seine Stimme war schrill, und Verlegenheit schwang darin mit. »Wir haben unsere Pflicht getan.«

Lud starrte den Jungen an. Kaspar war der jüngste Sohn des Müllers Sigmund im Dorf Giebelstadt. Er führte ein träges, ereignisloses, vorhersehbares Leben als Sohn eines einflussreichen Vaters, Hunderte von Meilen entfernt; nun schien er zu glauben, dass er hier draußen auf dem Feldzug noch immer dieses Privileg besaß.

»Hör zu, Müllerjunge«, sagte Lud. »Hier draußen gibt es keine zweite Chance. Wäre ich jemand anders, wärt ihr jetzt tot.«

»Bitte verzeih, Lud«, sagte der Kleine Götz und meinte es aufrichtig. »Ich …«

»Maul halten! Alle beide!«

Lud blickte in ihren müden, ausgezehrten Gesichter und wusste, dass sie den ganzen Tag marschiert waren. Es war eine Dummheit des Obristen, eines adligen Herrn, dass er diese erschöpften Jungen zur Nachtwache abgestellt hatte. Doch Befehl war Befehl, und die Männer hatten zu gehorchen. Sie waren rechtlose Leibeigene, einfache Dorfbewohner, zum Dienst gepresst, und Lud kannte sie von Geburt an. Doch ein Reisiger stellte die Entscheidungen eines Edlen nicht infrage. Stattdessen tat er alles, um die Dinge in Gang zu halten.

»Wer auf Wache ist, trägt die Verantwortung für das Leben seiner Kameraden. Hätte ich eure nutzlosen Hälse durchgeschnitten, würden die anderen Wachen ihre Aufgabe gewiss ernster nehmen. Aber ich überlasse es den Türken, eure Mütter und Schwestern zum Weinen zu bringen.«

Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab. Die Jungen starrten ihm hinterher wie Fische am Haken. Leise stieg Lud zu der im Dunst liegenden Straße hinunter und kehrte in das Lager mit der langen Reihe von Maultierkarren zurück.

Er kam an zwei weiteren Wachposten vorbei, ohne dass er gesehen wurde.

Unglaublich. Wenn ich mich im Schatten halte und kein Geräusch mache … als wären sie taub und blind.

Lud erreichte das schlafende Lager. Seine Beine zitterten vor Müdigkeit, und es kostete ihn Mühe, sich leise zu bewegen. Doch auch hier schlug niemand Alarm. Niemand rief ihn an. Der Nebel war zu dicht.

Wenn doch nur der Regen endlich aufhören würde.

Es war Wahnsinn, in diesem Schmuddelwetter zu kämpfen.

Aus dem Dunst drang der vertraute Mief schlafender Männer hervor, vermischt mit dem Gestank des kalten Rauchs der Lagerfeuer vom Vorabend und dem Geruch gekochten Breis.

Es wurde Zeit, den Karren zu überprüfen, wo die zehn anderen Jungen schliefen. Sie waren allesamt junge Dörfler, die im Namen des Ritters Dietrich, ihres Herrn, den Langspieß trugen. Die meisten hatten bereits Wache geschoben. Lud hatte ihnen den Befehl erteilt, sich auszuruhen, doch in manchen Nächten war ihre Angst zu groß. Am nächsten Tag dann, ohne Schlaf, trotteten sie stumpfsinnig dahin wie Maultiere.

Leise bewegte sich Lud die lange Reihe der Karren entlang. An jeder Ladeklappe leuchtete eine gedämpfte Laterne. Die Männer schliefen unter ihren jeweiligen Gerätewagen. Jedes Dorf, jede zum Dienst verpflichtete Gruppe brachte eigene Vorräte mit – gesalzenen Fisch, Hafer, Gerste, Bohnen. Das Bier hielt nicht lange vor, und Wein war den Priestern und Magistraten vorbehalten. Wasser aus Bächen, Flüssen oder Brunnen musste vor dem Trinken abgekocht werden, damit niemand krank wurde oder sogar an blutigem Durchfall starb.

Lud erreichte den Karren von Giebelstadt und fand die Gestalten seiner jungen Truppe, nur schemenhaft erkennbare Bündel in der Dunkelheit unter der Pritsche.

Die Jungen aus Giebelstadt. Seine Jungen. Hier draußen bemühte er sich, sie als Soldaten zu sehen, nicht als die Jungen von den Höfen oder aus dem Dorf. Er versuchte ihre Eltern zu vergessen, ihre Mädchen, und sie als das zu betrachten, was sie nun waren – ein Trupp von Spießträgern. Spießbuben.

Die jungen Spießträger schliefen im Trockenen unter dem langen Maultierkarren, der ihre gesamten Vorräte und die Ausrüstung für den Feldzug enthielt. Jeder hatte eine Wolldecke um sich gewickelt, und sie lagen dicht an dicht, Arme und Beine um ihre langen Spieße geschlungen. Einige schnarchten, andere schmatzten. Lud schmunzelte liebevoll angesichts dieser Geräuschkulisse.

Sie waren alle Leibeigene – Hörige, genau wie er selbst: Söhne von Unfreien, von Bauern und Dörflern, die ihrem Grundherrn Zins und Arbeit schuldeten und an das Land gebunden waren. Schlechtes Wasser konnte sie krank machen. Wunde Füße konnten sie verkrüppeln. Schlechtes Essen konnte sie vergiften. Dumme Befehle ihrer Kriegsherren konnten ihnen den Tod bringen. Unachtsamkeit auf Horchposten jedoch konnte ihr Ende durch eigene Schuld bedeuten.

Lud drehte sich um und verharrte wie angewurzelt, als er Linhoff erblickte. Kaspar und der Kleine Götz hatten seinen Zorn geweckt und bereiteten ihm Sorge, aber das hier war noch schlimmer.

Teufel noch mal, wenn sie nicht auf Horchposten plappern, schlafen sie auf der Nachtwache ein.

Der junge Soldat, den Lud mit der Wache betraut hatte, saß zusammengesunken in der Nähe der Wagenlaterne auf dem Hintern, den Spieß an das Rad gelehnt. Sein Mund stand offen, sein Kinn war nass wie bei einem schlafenden Kind.

»Linhoff! Wach auf, zur Hölle!«

Linhoff war ein geschickter Handwerker, der alles reparieren konnte und sich als Bursche bei Merkel, dem Schmied, verdingt hatte. Außerdem war er ein notorischer Einzelgänger. Seine Eltern waren Ackerbauern, doch Linhoff träumte von Höherem. Außenseiter wie er wurden an das Ende einer Linie gestellt, wo sie für die anderen kämpfen mussten, trotz ihres einzelgängerischen Wesens.

»Ich habe gesagt, du sollst aufwachen! Hoch mit dir!«

Lud blickte hinunter auf die schlaffe Gestalt und zog den Langspieß aus den nachgebenden Fingern des Jungen. Lud war wütend, wusste aber, dass er Linhoff die Situation begreiflich machen musste. Ihm war danach, dem Jungen ins Gesicht zu treten, aber nur für einen Moment.

»Linhoff«, sagte Lud und beugte sich tiefer über den Jungen.

Linhoff hatte sich einen Bart stehen lassen, doch der dichte Flaum ließ ihn irgendwie noch jungenhafter aussehen, beinahe kindlich. Lud drückte ein paar Kinnhaare zwischen Daumen und Zeigefinger und riss sie dem Jungen mit einem Ruck heraus.

»Autsch!«, rief Linhoff, schrak hoch und klappte den Mund zu. Als er Lud sah, traten ihm die Augen aus dem Kopf, und er tastete blind nach seinem Spieß. »Ich … ich hab nur gedöst«, stammelte er, »nicht geschlafen …«

Lud drückte ihm ungehalten den Schaft des Spießes in die Hände.

»Junge«, sagte er. »Ich habe Männer für geringere Vergehen hängen sehen.«

»O Gott …«, flüsterte Linhoff. »Verzeih, Lud. Es wird nicht wieder vorkommen. Ich weiß gar nicht, wie ich eingeschlafen bin.«

»Ja! Und du hättest in der nächsten Welt aufwachen können!«, stieß Lud hervor. »Das Leben der anderen unter diesem Karren liegt in deiner Hand, wenn du Wache hast. Das nächste Mal werde ich auf dich pinkeln, um dich wach zu kriegen. Oder besser noch, ich schneide dir ein Ohr ab!«

»Ich verdiene beides«, sagte Linhoff eingeschüchtert. Seine vor Furcht geweiteten Augen schimmerten im flackernden Licht der Laterne.

»Leg dich schlafen. Ich übernehme deine Wache.«

»Ich hab den Schlaf nicht verdient.«

Lud packte den Jungen im Nacken und riss ihn zu sich hoch. »Schlafen ist alles, wozu du taugst! Bis zur Morgendämmerung sind es höchstens noch zwei Stunden.«

Lud wartete, bis Linhoff mit seinem Spieß unter den Karren gekrochen war, sich zwischen die protestierend murmelnden Kameraden drängte und zu einem Teil des schlafenden Knäuels geworden war. Dann setzte er sich auf die Heckklappe des Karrens und versuchte sich zu beruhigen, während er über den Bericht nachdachte, den er am Morgen abliefern sollte.

Wenn du ihm die Wahrheit sagst, wird er die Jungen hart bestrafen.

Sollte er seinem Herrn alles erzählen? Ritter Dietrich Geyer von Giebelstadt war der klügste Mann, dem Lud jemals begegnet war. Ja, er würde dem Ritter berichten müssen, dass die Nachtwache ein Witz war. Er musste nicht einmal übertreiben. Es würde den Druck von seinen eigenen Leuten nehmen, und es entsprach der Wahrheit. Er konnte Dietrich ohnehin nicht belügen, selbst wenn er wollte. Der Ritter schien ihn stets zu durchschauen.

Ich hätte ein Dutzend Kehlen durchschneiden können, ohne dass jemand etwas bemerkt hätte. Und an die Zelte der hohen Herren heranzukommen wäre noch einfacher gewesen.

Luds Brustpanzer quietschte und knarrte, als er die Arme reckte, und er löste ihn. Es war ein alter, gewöhnlicher Panzer, doch immer noch gut in Schuss: geschmiedeter schwarzer Stahl, nicht genietet, sondern geschweißt. Ein Geschenk Dietrichs, als der sich zögerlich einen neuen Panzer ausgewählt hatte, einen von der glänzend polierten Sorte, wie es heutzutage von höherrangigen Rittern erwartet wurde.

Lud hatte im Gegenzug seine eigene gehämmerte Brustplatte an Kaspar weitergegeben, weil Kaspar der Jüngste in seinem Trupp war. Lud trug seinen Brustpanzer stolz über dem Kettenhemd – die Glieder konnten zwar einen Armbrustbolzen oder eine Bleikugel stoppen, aber sie wurden dabei ins Fleisch getrieben.

Die älteren Jungen waren wegen des Panzers eifersüchtig auf Kaspar gewesen, doch Lud hatte ihnen erklärt, dass die Jüngsten seiner Überzeugung nach den besten Schutz haben sollten. Kaspar war begierig darauf gewesen, in den Kampf zu ziehen, und jetzt stand der arme Tropf draußen in der Dunkelheit auf Horchposten und kämpfte gegen niemand anderen als den Schlaf und seine eigene Müdigkeit.

Lud legte sich hin und dachte daran, wie Dietrich für ihn sorgte und wie er ihn schätzte. Lud wusste, dass er von anderen weder Fürsorge noch Wertschätzung erwarten konnte. Wie die meisten in seinem Dorf und überall im Land war er als Höriger geboren, als Leibeigener, durch das Gesetz an den Grund und Boden seines Herrn gebunden und ihm verpflichtet sogar für das Brot, das er aß. Dem Herrn gehörten das Land und alle, die darauf arbeiteten. Die meisten Hörigen besaßen kaum mehr als das eigene Leben. Und da Lud wusste, dass das Schicksal nichts als Unglück für ihn bereithielt, war es keine Überraschung für ihn gewesen, als die Mütter des Dorfes während der kaiserlichen Musterung für diesen Krieg an ihn herangetreten waren und ihn angefleht hatten: »Im Namen Jesu, Marias und Josefs, beschütze unsere Söhne, denn sie sind alles, was wir im Alter haben!«

Da war es also, sein Schicksal. Es legte ihm sämtliche Schuld auf, die die Zukunft brachte.

Wie beginnen Dinge wie diese?, fragte sich Lud. Wo nehmen sie ihren Anfang?

Als der Ruf nach Krieg aus Würzburg gekommen war (per Dekret des Bischofs und im Namen des Kaisers Maximilian in Wien – ein Name, so fern für die Bewohner von Giebelstadt, dass sie ihn beinahe mit Gott gleichsetzten), war Lud von Dietrich zum Reisigen ernannt worden. Es war nicht das erste Mal, dass sie gemeinsam in den Krieg gezogen waren, aus den üblichen vorgeblich patriotischen Gründen. Jedes Mal wurden Fußvolk und Spießträger von den Gütern verpflichtet. Was bedeutete, dass die Höfe und die Zurückgebliebenen leiden mussten. Auf der anderen Seite gab es für jede Einberufung Geld. So war es schon immer gewesen. Die Angelegenheiten von Reich und Kirche waren zu kompliziert und verwirrend, als dass sich der Versuch gelohnt hätte, sie auch nur im Ansatz zu verstehen.

Aber diese jungen Soldaten hier, das war eine andere Sache. Ihr Leben hing von ihm ab.

Und so hatte Lud die kräftigen jungen Männer in Form gebracht. Der Zensus hatte alles in allem zwölf Mann verlangt. Nur dass sie keine Männer waren, sondern Jungen, einfache Hörige, Freiwillige aus ihren Dörfern und von den Feldern. Der Herr bezahlte die Schmiede, die den Jungen Spieße fertigte, schwere Waffen aus Eisen, wie sie schon zur Römerzeit in Gebrauch waren. Spieße, die gegen Dreschflegel und Schaufeln getauscht wurden und deren Träger in den vorderen Reihen marschierten, um die kostbaren Schusswaffen dahinter zu schützen.

Was Rüstungen betraf, konnte Lud nicht viel für seine Jungen tun. Er musste nehmen, was die Waffenkammer der Burg hergab, ein Raum voller alter Brustpanzer und Topfhelme ohne Visier. Doch er hatte die Jungen gut gedrillt und ansonsten nichts weiter tun müssen, als ihnen einen Hauch von Vernunft einzubläuen. Die meisten von ihnen waren gute Jungen, die es liebten, miteinander zu raufen wie Brüder. Sie waren zwölf, und doch waren sie wie einer. Sie teilten alles miteinander – das Bier, die Fliegen, das Bettzeug, das Essen und die Flöhe. Sie alle trugen stolz den Widderkopf, derb gestickt in hellem Faden von ihren Frauen und Schwestern und Müttern auf ihre groben Leinenumhänge. Der silberne Widderkopf war das Wappenzeichen ihres Herrn, des Ritters Dietrich Geyer zu Giebelstadt. Das Wappenzeichen ihrer Heimat, des Besitzes, auf dem sie alle geboren und aufgewachsen waren und zu dem sie gehörten.

Wie alle Leibeigenen waren sie wie Tiere aufgezogen worden, und sie lebten, um die Arbeit von Tieren zu verrichten, seit sie laufen konnten. Man hatte sie nicht zu denken gelehrt, sondern zu schuften und zu gehorchen.

Ihre Väter erwarteten von ihnen, dass sie in den Krieg zogen, wie sie es selbst als junge Männer getan hatten. Ständig gab es irgendwo Krieg, und immer gab es junge Männer. Viele hatten verkrüppelte Väter, manche überhaupt keinen mehr. Es waren die Mütter und Schwestern, die Jungen gebaren und die Heilige Jungfrau anflehten, sie zu erretten und zu Männern werden zu lassen. Und es waren ihre Schwestern, die verheiratet wurden und Kinder bekamen – und alles ging von vorne los.

Lud lag auf der Pritsche des Maultierkarrens. Seine Gedanken ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Er hätte keinen Schlaf gefunden, selbst wenn er gewollt hätte. Die Sterne leuchteten und funkelten wie die Feuer eines Armeelagers.

Ob die Sterne wohl Engel sind?, fragte sich Lud. Oder Teufel? Blicken sie zu uns Menschen herunter und beobachten alles? Lachen sie über das, was sie sehen? Oder ärgern sie sich darüber? Oder ist dort oben am Ende gar nichts?

Lud spürte kalte Nässe an den Füßen. Seine Bundschuhe waren durchweicht von der nächtlichen Runde. Er setzte sich auf, um die Schnürung des Schuhwerks zu lösen, das aus derbem Rohleder bestand und mit einer dünnen Lage Stroh gepolstert war. Die edlen Herren trugen weiche, gewienerte Stiefel. Ein Blick allein genügte, um die Herkunft eines Mannes zu enträtseln. Luds Herr hatte neue Bundschuhe aus zähem Harnischleder für ihn anfertigen lassen. Lud musste sie tragen; er durfte sie nicht für festliche Gelegenheiten aufheben, weil er und seine Jungen vielleicht nie mehr nach Hause kamen. Die neuen Schuhe waren in den Steigbügeln einigermaßen erträglich, waren aber noch nicht richtig eingelaufen und hatten Lud eine Menge neuer Blasen an den Fersen eingebracht.

Er zog das nasse Stroh aus den Schuhen und schnürte sie wieder zu. Seine jungen Soldaten trugen die gleichen derben Rohlederschuhe wie alle Hörigen – die gleichen Schuhe, wie Lud sie früher getragen hatte.

Dann saß er da und dachte an die Füße seiner Jungen. Er schaute sich ihre Füße jeden Tag an – manchmal mehrmals, wenn der Weg steinig war – und untersuchte sie auf Blasen, Entzündungen, brandige Stellen. Die Jungen reagierten verlegen, doch er wusste, dass sie insgeheim stolz waren auf seine Fürsorge. Wenn ein roter Zeh aus einem neuen Loch lugte, ließ Lud sie das Loch mit einem Stück Leder flicken.

Kurz entschlossen schwang Lud sich vom Wagen. Wenn er schon nicht schlafen konnte, konnte er genauso gut die Füße der Jungen überprüfen. Das musste so oft wie möglich geschehen. Sie waren seine Jungen. Mit kranken Füßen konnten sie nicht marschieren.

Lud nahm die Laterne vom Haken am Heck des Wagens.

Die Füße seiner Leute schauten zu beiden Seiten unter dem Wagen hervor. Die Jungen lagen dicht an dicht unter dem trockensten Stück des Karrens – wie Pfähle, bereit zum Einschlagen. Der Herr Dietrich Geyer Ritter zu Giebelstadt kannte nur einen oder zwei von ihnen mit Namen. Lud kannte sie alle. Er kannte ihre Stärken und Schwächen, ihre Vorlieben und Abneigungen, ihre Ängste und Hoffnungen.

Ihr dummen, tapferen, prachtvollen Kerle, was um alles in der Welt macht ihr hier draußen? Warum seid ihr nicht zu Hause bei euren Mädchen oder Frauen? Warum seid ihr nicht auf den Feldern?

Einige stöhnten oder bewegten sich im Schlaf, als Lud ihnen die Socken auszog und ihre Füße im Laternenlicht hin und her drehte. Andere lagen da wie tot.

Zu viele Blasen. Viel zu viele. Sie haben das Stroh nicht gewechselt, wie ich es ihnen gezeigt und befohlen habe.

Nun, die Jungen würden es lernen, wie er selbst es gelernt hatte. Auf die harte Art. Manchmal wollten sie am Lagerfeuer Geschichten hören. Geschichten über ruhmreiche Siege.

Siege. Ruhm. Lud schüttelte den Kopf. Die Kriege, in denen er gekämpft hatte, hatten ihn ernüchtert. Krieg machte nicht härter. Er machte weich. Er beugte. Er bestrafte.

Lud hatte den Jungen erzählt, die Langspießtaktik sei älter als die Römer, älter sogar als die Griechen. Jedenfalls hatte Dietrich ihm das gesagt, als Lud noch ein Knabe gewesen war und die Erwachsenen manchmal zur Wildschweinjagd begleiten durfte. Ein Mann bewies seinen Mut, wenn ein Keiler angriff, und der Mann nahm diesen Angriff mit dem Spieß an, sodass ein zweiter Spieß dem Keiler den Garaus machen konnte. So ging das.

Seine schäumende Wut hatte den Keiler das Leben gekostet, seine Raserei, sein blinder Zorn, der ihn zum Angriff verleitet und dazu gebracht hatte, seine Deckung zu vernachlässigen.

Lud hatte den Jungen erzählt, wie er damals am Grillfeuer gesessen und beobachtet hatte, wie die traurigen kleinen Augen des Keilers verschrumpelten, wie sein Fett in die Glut tropfte und zischend verdampfte, und wie die Jäger große Stücke rauchenden Fleisches aus ihm herausgeschnitten hatten. Mit vollem Mund hatte der Herr Dietrich Geschichten erzählt, Geschichten von Cäsar beim Überqueren des Rubikon oder von Josua vor den Toren Jerichos, vom Kampf der Dreihundert gegen ganz Persien, von einer Frau so schön, dass eintausend Schiffe ihretwegen in See gestochen waren, und von der Begierde eines Königs, die den Tod großer Krieger zur Folge gehabt hatte zu einer Zeit, als Kriege noch eins gegen eins ausgefochten wurden wie in einem Duell. Genau wie der Keiler hatte dieser König seine Deckung vernachlässigt. Raserei und Begierde hatten ihn das Leben gekostet.