Die Kirchen und der Nationalsozialismus - Olaf Blaschke - E-Book

Die Kirchen und der Nationalsozialismus E-Book

Olaf Blaschke

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Beschreibung

Das Verhältnis der beiden christlichen Kirchen zum NS-Staat und seiner Ideologie ist eines der großen prominenten Themen der deutschen Zeitgeschichtsforschung. Arbeiten zu diesem Thema steigen oft sehr tief in die Details, es gibt nur wenige Überblicke, und diese leiden dann in der Regel unter einer für den jeweiligen Autor bezeichnenden konfessionellen Schlagseite. Dieses Buch unternimmt es, die Entwicklungen zwischen Anpassung oder gar Gefolgschaft und Widerstand paritätisch nachzuzeichnen und immer wieder, trotz umfassender Trennung der Kirchen und ihres institutionellen Verhältnisses zum NS-Staat, miteinander zu vergleichen.

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Seitenzahl: 319

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Olaf Blaschke

Die Kirchen und der

Nationalsozialismus

Reclam

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen

Made in Germany 2014

RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-960560-9

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019211-5

www.reclam.de

Inhalt

Einleitung

I.  Europas Kirchen in Europas Diktaturen (1917–1945)

Kontroverse 1: Christentum und Faschismus: Unvereinbarkeit oder Affinität?

II.  Kirchen und Konfessionalismus in der Weimarer Republik (1919–1933)

1. Konfessionelle Milieus in der Demokratie ohne Demokraten

2. Ende des Parlamentarismus 1930, Führersehnsucht und Brünings autoritäres Regime

3. Hitlers christliche Wähler

Kontroverse 2: Der Nationalsozialismus als Ersatzreligion?

III.  »Nationale Revolution« und Umwälzung in den Kirchen (1933)

1. Kehrtwende im Katholizismus und Reichskonkordat

2. Überanpassung im Protestantismus: Die Deutschen Christen

3. Die Verfolgung von Regimegegnern, Sozialisten, Christen und Juden

Kontroverse 3: Das Reichskonkordat: »Teufelspakt« oder Verteidigungslinie?

IV.  Orientierungssuche und »Kirchenkampf« (1933–1935)

1. Angriff auf die Milieustrukturen und kirchlichen Vorfeldorganisationen

2. Die Verfolgung von Geistlichen, kirchentreuen Beamten und Politikern

3. Auseinandersetzung mit Rosenbergs Mythus und dem Neuheidentum

4. Der »Kirchenkampf«

Kontroverse 4: Entkonfessionalisierung der Volksgemeinschaft – Vorwand oder Faktor?

V.  Die Zurückdrängung der Kirchen in der Prominenzphase des Regimes (1935–1939)

1. ›Adolf-Kurve‹ und Kirchenaustritte

2. Schärfere Pfarrerverfolgung

3. Geschlechtergeschichtliche Prägungen des »Kirchenkampfes«

4. Amtskirchliche Proteste

5. Der »Anschluss« und das Christentum in Österreich

6. Judenverfolgung und brennende Synagogen

Kontroverse 5: Christentum, Antisemitismus und Judenverfolgung

VI.  Vier christliche Positionierungsmöglichkeiten

1. Christlich-antiklerikale Gottgläubige

2. Nationalsozialistische Christen

3. Konsens, Anpassung und Ambivalenz

4. Resistenz

Kontroverse 6: Widerstand und Resistenz – oder Kollaboration und Konsens?

VII.  Die Kirchen im Krieg (1939–1941)

1. Hoffnung auf den Burgfrieden

2. Der gerechte und der Vernichtungskrieg

3. Protest gegen Eugenik und Euthanasie

4. Weitere Zurückdrängung der Kirchen

Kontroverse 7: »Endlösung der Kirchenfrage« – Intention oder Radikalisierung?

VIII.  Die Kirchen im Weltkrieg (1941–1945)

1. Kämpfen für das Vaterland bei wachsender Distanz zum Regime

2. Der Genozid und die Wannsee-Konferenz

3. Christen im Widerstand vom 20. Juli 1944

Kontroverse 8: Die Christen und die Judenvernichtung – Mittäter, Opfer, schweigende Zuschauer?

IX.  Triumphieren und Vertuschen: Kirchliche Vergangenheitspolitik seit 1945

1. Schuldbekenntnisse in Trümmern

2. Hilfe für NS-Täter und Verurteilte

3. Die schleppende Aufarbeitung

Kontroverse 9 und Resümee: Versagen oder Bewährung der Kirchen?

Anmerkungen

Verzeichnis der Karten

Abkürzungen

Zitierte Quellen und Literatur

Register

Zum Autor

Hinweise zur E-Book-Ausgabe

Einleitung

Bald wird er 100 Jahre alt sein, der Streit über die Beziehung von Kirche und Faschismus. Wie sollten sich gläubige Europäer gegenüber dieser nach dem Ersten Weltkrieg anschwellenden Bewegung verhalten? Wenn kluge Zeitgenossen und Historiker so lange schon mit dem Thema ringen, ist dann nicht längst alles gesagt und geklärt? Wozu noch ein weiteres Buch? Seit langer Zeit ist einmal ein mittlerer Überblick fällig, der beide Konfessionen im Blick behält und einen Pfad durch das Forschungsdickicht schlägt. Er geht zurück auf die Vorlesung »Widerstand oder Kollaboration? Die Christen im Dritten Reich«, gehalten im Sommer 2008 an der Universität Trier. Jedes Themenkapitel schloss mit einer damit verbundenen Kontroverse ab. Die Vorlesung in Heidelberg weitete die Perspektive 2012 international aus. Die Ergebnisse liegen hiermit vor.1

Leider lässt sich nicht das eine vortreffliche Werk empfehlen, in dem alles steht. Entweder sind die Bücher unverdaulich dick oder winzige Appetithappen von 120 Seiten. Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, kam in zwei Bänden nur bis 1934. Nach seinem Tod 1985 setzten seine Schüler das Großprojekt fort. Gerhard Besier erreichte 2001 das Jahr 1937. Der Rest fehlt bis heute. Kann man Studierenden »den Scholder« in drei Bänden mit 2610 Seiten oder gar Eberhard Röhm und Jörg Thierfelder (3387 Seiten) zumuten? Eher empfiehlt sich als Einstieg Heinz Hürten, Deutsche Katholiken 1918–1945 – trotz des apologetischen Obertons immer noch wertvoll –, daneben für die evangelische Kirche Kurt Meier, Kreuz und Hakenkreuz.

Viele Bücher täuschen nur vor, es ginge um die Kirche und den Nationalsozialismus. Die aufreizend schmalen Bändchen von Alexander Gross und Gerhard Hartmann handeln ausschließlich vom Katholizismus, während bei Christoph Strohm 2011 der Protestantismus dominiert. Die meisten Bücher beschränken sich auf eine einzige Konfession, meist diejenige, der die Autoren angehören. Hier kennen sie sich aus und wollen verteidigend oder kritisch wirken. Werden beide Kirchengemeinschaften untersucht, dann in abwechselnden Kapiteln streng voneinander getrennt, wie in Scholders Inhaltsverzeichnis auf den ersten Blick ersichtlich.2

Kein Tag vergeht ohne ein neues Buch zum Nationalsozialismus. Für seinen dritten Band verwendete Besier über 1300 Titel. Synthesen bündeln die unzähligen Einzelforschungen, denen sie sich verdanken. Im Verlauf der Zeit verändern sich die Perspektiven. Neu erschlossene Quellen, wie aus den 2003 geöffneten Archiven des Vatikans, erlauben bessere Einsichten in vergangenes Geschehen.

Synthesen können neue Interpretationen anbieten und Akzente setzen, ohne dem manchmal akkusatorischen Ton bestimmter Medien oder der überwiegend apologetischen Literatur zu folgen. In Hunderten von Bänden der 1955 gegründeten Evangelischen Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes und der 1962 entstandenen (katholischen) Kommission für Zeitgeschichte konnten konfessionell gebundene Historiker jeweils ihre Position verteidigen. Anhänger von Großgruppen möchten diese gerne in einem positiven Licht erscheinen lassen. Das ist überaus verständlich. Während Fachhistoriker ihre Kirche gegen Vorwürfe kirchenkritischer Schriftsteller, Journalisten und Historiker abschirmen, leben Medien jedoch vom Verkauf skandalträchtiger Geschichten: Warum hat der Papst zur Judenvernichtung geschwiegen? Solche Fragen polarisieren. So geht es mit den neuesten »Wahrheiten« hin und her und sind ständig neue Überblicke notwendig, um das Dickicht zu lichten. Schnellen provokante Autoren wie Daniel J. Goldhagen in die Bestsellerlisten, beherrschen apologetische Titel den seriösen Buchmarkt. Der Autor dieses Buches bekennt an dieser Stelle, in der Tradition der historisch-kritischen Sozialgeschichte zu stehen, die den Auftrag der Aufklärung jeder Apologetik vorzieht.

Hier sollen nicht nur die Amtskirchenführer behandelt werden, sondern auch die Kirchen mit ihren normalen Anhängern. Viele Überblicke konzentrieren sich auf die Entscheidungen hoher Kirchenfunktionäre, auf Kirchenverfassungsgeschichte oder einen einzigen Papst. Die amtskirchliche Ebene ist unabdingbar für das Verständnis dieses Themas. Nimmt man jedoch das kirchliche Selbstverständnis von der Gemeinschaft der Gläubigen ernst, muss eine Geschichte der Kirchen auch die Kirchenmitglieder erfassen. Wer konfessionell vergleichen will, muss in der einen Hand immer ein Werk über Protestanten, in der anderen eines über Katholiken halten, muss Meier und Hürten lesen. Treten beide Konfessionen meist in getrennten Büchern oder Kapiteln auf, soll hier versucht werden, problemorientiert vorzugehen und sie nicht derart separat zu untersuchen. Freilich, wegen ihrer je unterschiedlichen Ausgangsposition und ihrer eigenen Geschichte mit dem und im Nationalsozialismus erlauben sich sinnvolle Trennungen. Der römische Katholizismus hatte einen Papst, eine hierarchische Kirchenstruktur sowie gewisse Milieutraditionen. Dagegen zeigten sich die 28 protestantischen Landeskirchen zersplittert und viel empfänglicher für NS-Parolen. Die offenkundigen Unterschiede lassen sich jedoch umso besser herausarbeiten, wenn man sich nicht nur mit einer Konfession alleine befasst. Unter den Bedingungen der totalitären Versuchung gab es auch Gemeinsamkeiten. Um ihnen auf die Spur zu kommen, muss man gelegentlich eine höhere Abstraktionsebene einnehmen. Die Frage nach Widerstand und Kollaboration stellte sich für beide Konfessionen.

Nicht nur der methodologische Konfessionalismus ist zu überwinden, sondern auch die konventionelle nationale Fixiertheit. Der Blick auf andere Diktaturen weitet den Horizont für mögliche Handlungsspielräume der Christen in Deutschland ab 1933. Lange vorher schon waren die Kirchen in der Sowjetunion, Ungarn, Italien und Portugal unter den Einfluss autoritärer Regime geraten. Die Bedrückung in sozialistischen, laizistischen und Räteregimen machte Angst. Deshalb lohnt der Vergleich mit anderen Regimen. Aus ihnen zogen Christen und Nationalsozialisten ihre Lehren, sei es als Orientierung, sei es als Warnung.

Unsere nach Themenschwerpunkten chronologisch gestaffelte und problemorientierte Analyse beginnt mit einem groben europäischen Überblick, durchmisst die Weimarer Republik, widmet sich in fünf Phasen der Diktatur und befragt am Ende die Vergangenheitspolitik ab 1945. Jedes Kapitel wird durch eine ihm verwandte Kontroverse vertieft und abgeschlossen.

Über allem schwebt gewissermaßen die Hauptkontroverse zwischen Unvereinbarkeit und Affinität, Ferne und Nähe zum Faschismus. Den Vertretern der Unvereinbarkeitsthese sind Kreuz und Hakenkreuz Gegensätze. Die Kirchen waren Opfer, die Täter unkirchlich. Diese Großkontroverse spiegelt sich in etlichen Unterkontroversen wider, die Varianten des Bemühens sind, den Abstand zwischen Christentum und Nationalsozialismus zu vermessen. Dagegen sieht die Affinitätsthese manche Überschneidungsflächen.

Diese Grundkontroverse trägt eminent zur Identität von Kirchenmitgliedern bei, die sich mit ihren Vorfahren auf der Seite der Guten sehen wollen. Beide Positionen werden in neueren Veröffentlichungen weitergetragen. Hartmann zog 2007 das Resümee: »Die katholische Kirche hat insgesamt die nationalsozialistische Herausforderung in Theorie – d. h. in der weltanschaulichen Auseinandersetzung – und in der Praxis gemeistert.« Die evangelische Historiographie ist bis heute geprägt von der Formel des »Kirchenkampfes«.

Andere Wissenschaftler sowie kirchliche Schuldbekenntnisse sprechen vom »Versagen« der Christen. Alexander Gross kam 2004 zu dem Schluss, insgesamt hätten auch die Katholiken zur »Stabilisierung des Dritten Reiches beigetragen«. Goldhagen behauptete sogar, beide Kirchen hätten über Jahrhunderte den Antisemitismus geschürt, der zum Holocaust geführt habe, folglich seien die Christen Mittäter. Papst Pius XII. (1939–1958) – »Kollaborateur der Nationalsozialisten« – habe trotz sicherer Informationen über den Massenmord geschwiegen.3

In Goldhagens unzumutbar unwissenschaftlichem Buch kommt der Begriff »Kollaboration« vor. Allgemein üblich ist aber der Begriff »Widerstand«. An ihn ist man gewöhnt. In allen Büchern über die NS-Diktatur gibt es ein Kapitel »Widerstand«. Sucht man nach den Kirchen, findet man sie genau dort und oft nur dort. Das Widerstandskapitel scheint der natürliche Ort für sie zu sein. Das erfahren schon die Schüler in den Informationen zur politischen Bildung. Im Heft über den Nationalsozialismus tauchen die Kirchen unter den Rubriken »Der Kampf gegen die Kirchen« sowie »Der Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime in Deutschland« auf.4 Auch die Multiplikatorenbücher der Bundeszentrale für politische Bildung, die Enzyklopädie des Nationalsozialismus sowie jüngste Studienbücher verhandeln die Kirchen im Kapitel über den Widerstand.5

Warum werden die Kirchen bis heute so selbstverständlich unter Widerstand und Unvereinbarkeit statt unter Kollaboration und Konsens einsortiert? Kirchenvertreter wie etwa Wilhelm Niemöller selber haben diese Zuordnung 1945 initiiert – mit anhaltendem Erfolg. Ähnliches gelang den Militärs, als sie nach Kriegsende die Legende von der sauberen Wehrmacht verankerten, die bis zur Wehrmachtsausstellung 1999 hielt. Auch das Auswärtige Amt präsentierte sich als halb im Widerstand, bis diese Chimäre im Oktober 2010 platzte. Und die saubere Kirche? Über 90 % der 69 Mio. Deutschen bildeten – trotz der bis 1939 steigenden Kirchenaustrittszahlen – als Kirchenmitglieder die von der Amtskirche geführte Kirche. Konnte eine winzige Minderheit gottloser Nazis diese Mehrheit terrorisieren? Dieses Bild gefiel vielen Deutschen sehr seit dem 8. Mai 1945, obwohl zwei Drittel der NSDAP-Mitglieder Kirchenmitglieder waren. Heute hat sich die Vorstellung vom Terrorregime zunehmend in Richtung Zustimmungsdiktatur verschoben. Konsenssituationen zwischen Nationalsozialismus und Kirchenmitgliedern werden identifiziert. Der Automatismus, mit dem Christen kurzerhand unter die Rubrik Widerstand fallen, steht in Frage. Die von der Literatur genährte Erzählung von Widerstand und Martyrium erhellt nur einen Bruchteil der komplexeren Realität.

Kollaboration oder Widerstand, Affinität oder Unvereinbarkeit, Täter oder Opfer, Mitverbrecher oder Mitverfolgte – die Debatte über diese Positionen hält an. Bis heute gehört die Bewertung des Verhaltens der katholischen Kirche gegenüber dem Nationalsozialismus zu den großen Streitfragen der Zeitgeschichtsforschung. Auch die schillernde Rolle des Protestantismus bleibt umstritten, wenn auch auf kleinerer Flamme. Der Kultstatus des heroischen »Kirchenkampfes« als Erinnerungsort für den kollektiven Seelenfrieden verblasst. Diese Kontroversen bieten ein vorzügliches geschichtswissenschaftliches Exerzierfeld, um in Schule und Universität den sachlichen Umgang mit zwei so gegensätzlichen Positionen zu üben.

I.  Europas Kirchen in Europas Diktaturen (1917–1945)

Rechtsautoritäre Regime entstanden in katholischen Gesellschaften, ob romanisch (Portugal, Spanien, Italien) oder nichtromanisch (Österreich, Litauen, Polen), im gemischtkonfessionellen Deutschland und Jugoslawien, im orthodoxen Griechenland unter Metaxas und der muslimischen Türkei unter Atatürk, nicht aber in stärker protestantisch geprägten Ländern wie den Niederlanden, Dänemark, Norwegen, Schweden, der Schweiz und Großbritannien.1

Waren Katholiken anfälliger für autoritäre Regime? Dem stehen Irland, Belgien und Luxemburg entgegen. Auch der deutsche Katholizismus gilt als relativ immun gegenüber den Verlockungen des Nationalsozialismus, obwohl er zunächst im katholischen Münchner Mikromilieu ausgebrütet wurde. Zur Erklärung ringen zwei große Thesen miteinander: Die eine besagt, diese menschenverachtende Ideologie und ihr totalitärer Anspruch seien mit den Moralprinzipien der Kirche unvereinbar gewesen. Aus Nächstenliebe und christlichem Antrieb heraus hätten Katholiken dem Rassismus und der Aushöhlung bürgerlicher Rechte widersagt.

Die Gegenthese betont, dass sich auch Katholiken mit den vielschichtigen Versprechungen und Erfolgen des Nationalsozialismus anfreunden konnten. Habe es Widerstand gegeben, dann nicht gegen das Regime als solches, sondern gegen die Gefährdung der Rechte der Kirche, etwa beim Religionsunterricht, gespeist nicht aus universal-menschenrechtlichen oder gar demokratischen, sondern aus milieuegoistischen Motiven. Gegenüber dem Leiden anderer und der Einschränkung zivilgesellschaftlicher Freiheiten sei man indifferent gewesen.

Obwohl das NS-Regime die Extremform europäischer Faschismen bildete, kann der internationale Vergleich erhellen, wie weit die gegensätzlichen Deutungen tragen. Ging es um Menschenrechte oder um Kirchenrechte und Selbstschutz? Galt Gläubigen die Allianz mit einem brutalen Regime generell als unchristlich oder nur dann, wenn es gegen die Kirche vorging? Wenn evangelische und katholische Christen sich gut in totalitären Regimen einrichten konnten, solange sie davon profitierten, ergeben sich Rückschlüsse auf Handlungsmotive im deutschen Kontext. Der Vergleich hilft, die Faktoren zu isolieren, die Christen in Deutschland zu ihrer je eigenen Position hinsichtlich der NS-Diktatur führten.

Dieser europäische Rundblick muss sich auf die Katholiken konzentrieren. Für sie gilt die Unvereinbarkeitsthese noch immer viel stärker als für Protestanten. Deren Hinneigung zur NS-Diktatur hat man längst eingesehen. Ferner lässt sich den in romanischen Ländern nachgerade winzigen evangelischen Minderheiten, in Italien 0,2 %, kaum anlasten, sie hätten diese in den Faschismus gestürzt. Umso wichtiger war die Rolle des Protestantismus in Deutschland.

Europa 1937: Dominierende Konfessionen und Regime

Zwei Schreckgespenster standen Gläubigen seit Beginn des 20. Jahrhunderts vor Augen: der radikalisierte bürgerliche Laizismus einerseits und der Kommunismus andererseits. Aus beiden Bedrohungen zogen sie Schlüsse für ihre Entscheidungen in den 1920er und 1930er Jahren. Seit den Kulturkämpfen drohte erneut die Gefahr der Trennung von Staat und Kirche. Frankreich hatte sie 1905 radikal durchgeführt, Portugal 1911, Russland 1918. Die Oktoberrevolution 1917 hatte eine neue Epoche eingeläutet. Die Bolschewisten verfolgten die Kirche, sie verhafteten, exilierten oder ermordeten Bischöfe. Zwar hatte es früher schon barbarische Priesterverfolgungen gegeben, etwa in Spanien, doch die Oktoberzäsur und der Bolschewismus bildeten das beste Argument, um Rechtsdiktaturen milder zu beurteilen.

Seit der dritten Revolution 1917 wurde in der Sowjetunion die Säkularisierung brutal durchgesetzt. Eigentlich wollte Lenin die russisch-orthodoxe Kirche ganz ausschalten. Sie stand mit den zaristischen Feinden im Bunde und konkurrierte um die Deutungshoheit. Die alte Religion sollte verderben, der Sozialismus sie ersetzen. Seit Jahrhunderten waren Staat und Kirche eng verbunden. 1721 hatte Zar Peter der Große die Kirche seinem staatskirchlichen Regiment unterworfen, aber im Zuge der zweiten russischen Revolution vom Februar 1917 befreite sie sich davon. Das landesweite Konzil im August 1917 wählte erstmals seit 1721 wieder einen Patriarchen. Die kurze Renaissance wurde von der dritten Revolution jäh überrollt. Schon im Januar 1918 verfügte ein Dekret die Loslösung der Kirche von Staat und Schule. Alle Privilegien wurden abgeschafft, aus amtlichen Dokumenten wurde jeder Hinweis über die religiöse Zugehörigkeit getilgt. Staatliche Personenstandsbücher registrierten Eheschließungen und Geburten. Das gesamte Vermögen der kirchlichen und religiösen Gesellschaften wurde »Volkseigentum«. Der Staat schaffte Klöster ab, kirchliche Zeitungen, Hochschulen und Priesterseminare. Verweigerten Metropoliten und Geistliche die Herausgabe von Kultgegenständen, wurden sie als »Konterrevolutionäre« verhaftet.

In einem Geheimbrief an die Mitglieder des Politbüros schrieb Lenin am 19. März 1922: »Je größer die Zahl von Vertretern der reaktionären Bourgeoisie und Geistlichkeit ist, die es uns bei dieser Gelegenheit zu erschießen gelingt, desto besser. Gerade jetzt muss diesen Leuten eine solche Lektion erteilt werden, dass sie auf Jahrzehnte hinaus nicht wagen, an einen Widerstand auch nur zu denken.«2 Patriarch Tichon wurde polizeilich observiert und von seinem Amt suspendiert. Als er 1925 starb, wurde das Patriarchat nicht neu besetzt. Der ehemalige Klosterschüler Stalin verschärfte den Druck noch und verbot 1929 der Kirche jegliches öffentliche Auftreten, außer bei Begräbnisfeiern auf Friedhöfen. Der Kollektivierung der Landwirtschaft folgte der Niedergang der Dorfgemeinschaft. Dorfkirchen wurden daher überflüssig. Zwischen 1929 und 1938 wurden 80 Bischöfe ermordet, von der Zahl der Priester nicht zu reden. Dies alles löste Angst und Schrecken in Westeuropa aus. Mehrfach brandmarkte der Papst den Bolschewismus als »Seuche« und als »satanisch«.

1939 waren nur noch 10 % der Priester und der Kirchen übrig. Es gab kein einziges Priesterseminar mehr und kein Kloster. Nirgends rollte die Säkularisierungswalze so gnadenlos wie in der Räteunion. Da war es kein Kunststück, den 1941 entfesselten Krieg gegen den Bolschewismus auch als Kreuzzug des christlichen Abendlandes auszugeben. Viele glaubten daran, sogar gut ausgebildete Jesuiten.3

Bolschewismus und Laizismus – beide Szenarien standen Gläubigen vor Augen, wenn sie entscheiden mussten, ob sie sich einem Regime anvertrauten, das versprach, sie vor beidem zu schützen. Autokraten überzeugten hier mehr als Demokraten. Nachdem der Weltkrieg und die Revolutionen zahlreiche Fürstenherrschaften und drei imperiale Kaiserreiche hinweggefegt hatten, setzte sich europaweit das Modell der Demokratie durch. Doch ihrer kurzen Blütezeit folgte die Herrschaft der großen und kleinen Führer.

Das erste Land, das vom demokratischen Pfad abkam, war Ungarn. Nach dem verlorenen Krieg büßte es riesige Gebiete und Bevölkerungsteile ein. Der Vertrag von Trianon besiegelte den Verlust von zwei Dritteln des Territoriums. Drei von zehn Millionen Ungarn lebten nun außerhalb des Landes. Daher setzte eine nationalistische Wiederherstellungspolitik ein, der Revisionismus, ähnlich wie in Deutschland. Ungarn war der einzige Fall, in dem sich wie in der Sowjetunion ein Rätesystem durchsetzte. Dem Vorbild getreu wurden Staat und Kirche voneinander getrennt. Die neue Verfassung verstaatlichte das katholische Schulwesen und Kirchenvermögen. Klöster wurden geplündert, neun Priester hingerichtet. Unter dieser Schreckensherrschaft litt vor allem die katholische Kirche, die 66 % der Bevölkerung repräsentierte.

Die Räterepublik dauerte nur 133 Tage. Miklós Horthy schlug sie im August 1919 mit seinen Truppen nieder. Der Admiral agierte von 1920 bis 1944 als Reichsverweser, quasi als Königsersatz, errichtete ein zunehmend autoritäres Regime mit gemäßigt faschistischen Zügen und bestimmte den jeweiligen Ministerpräsidenten. Außer der dominanten Einheitspartei waren auch andere Parteien zugelassen, doch das Parlament der Fassadendemokratie besaß ohnehin keine Macht. Der politische Katholizismus zerfaserte zwischen christlich-sozialen und pseudodemokratischen Parteien bis zu den faschistischen Pfeilkreuzern. Entscheidend für die Stabilität des Regimes war aber die katholische Amtskirche. Im Zeichen des »christlichen Nationalismus« suchte sie eine wahre »Symbiose« mit dem Regime. »Die Führung der katholischen Kirche kooperierte nicht nur mit der Regierung, sondern wurde ein Teil von ihr.« Auch das katholische Vereinswesen »kollaborierte mit Horthy«. Der christliche Nationalismus stiftete einen landesweiten Negativkonsens gegen äußere Feinde, Kapitalisten und Juden. Antisemitismus war in Militär, Gesellschaft und Kirche weitverbreitet. Schon 1920 beschränkte ein Numerus clausus die Zahl von Juden im höheren Bildungswesen und in der Bürokratie. Weitere Gesetze folgten in den 1930er Jahren, als Ungarn immer mehr an die Seite von Hitlerdeutschland rückte.4

Hatten die Rätemaßnahmen die Kirche traumatisiert, fand sie nun Schutz unter dem neuen Regime, das alle Gesetze der Räterepublik annullierte. Es war eine Win-win-Situation für beide Seiten. Die katholische Kirche hoffte, ihre privilegierte Position zu restaurieren, während Horthy, der eigentlich der reformierten Kirche angehörte, von der katholischen Amtskirche moralische und institutionelle Unterstützung erwartete. Die Regierung fertigte soziale und Bildungsgesetze arbeitsteilig mit den Bischöfen aus. Faschistische Gruppierungen, die zeitweise verboten wurden, verstanden sich als »gute Christen«. Sie gingen in ihren Grünhemden in den Gottesdienst.

Der Schock für den italienischen Katholizismus lag deutlich länger zurück als in Ungarn. Als Italien 1861 gegen den Widerstand von Pius IX. gegründet wurde, dezimierte der neue Nationalstaat den Kirchenstaat rigoros. Prompt exkommunizierte der Papst den König und sein gesamtes Kabinett. Auch die unter Rechtlosigkeit, sozialem Elend und Analphabetismus leidende Romagna wurde von der repressiven Papstherrschaft befreit und Italien einverleibt. Hier, in der Romagna, wurde 1883 Benito Mussolini geboren. Nach allem, was die Untertanen des Papstes dort erdulden mussten, verwundert es nicht, dass er antiklerikal erzogen wurde. Im Schlafzimmer seiner Eltern hing statt einer Madonna das Bild des Nationalhelden Giuseppe Garibaldi. Im Oktober 1870 wurde der Kirchenstaat ganz aufgelöst, Rom endlich zur Hauptstadt Italiens. Der Papst zog sich grollend zurück und erklärte sich zum »Gefangenen im Vatikan«. 1874 untersagte er den Katholiken, sich am politischen Leben der Nation zu beteiligen, sonst würden sie exkommuniziert.

Die liberale Regierung kümmerte das wenig. Sie betrieb eine laizistische Politik, zog Kirchengüter ein und machte den Religionsunterricht zum freiwilligen Fach. Strenggläubige brauchten lange, um sich mit Italien zu arrangieren. Die zu 99 % katholische Bevölkerung zerfiel in ein papstloyales und in ein laizistisches Lager. Letzterem gehörte auch Mussolini an. Als 20jähriger Sozialist schwang er scharf kirchenfeindliche Reden. Der Vatikan sei ein »großer Kadaver«, der aus Mangel an frischer Luft bis in die Gegenwart konserviert worden sei.5 Seine 1919 gegründeten Fasci di combattimento (1921 als Partitito Nazionale Fascista) forderten die Trennung des Staates von der Kirche und die Abschaffung ihrer Privilegien. Doch schon vor der Machtübertragung 1922 korrigierte Mussolini seine Einstellung. Eigentlich konnte er mit Religion nicht viel anfangen. Aber aus reinem Machtkalkül und um größere Teile der Bevölkerung auf seine Seite zu bringen, näherte er sich der Kirche an. 1923 wurden wieder Kruzifixe in staatlichen Gebäuden aufgehängt, in Schulen, Gerichten und Ämtern. Der Religionsunterricht wurde verpflichtend gemacht, 1925 die Beleidigung des Papstes und die Herabsetzung des Katholizismus mit Strafen belegt. Der Papst vermutete schon, Mussolini rolle den Teppich für eine Rekatholisierung Italiens aus. Pius XI. (1922–1939) ließ sogar Don Luigi Sturzos Partito Popolare Italiano, die katholische Partei, fallen. 1929 endlich schmiedete ein Vertrag in der Lateranbasilika die Allianz zwischen Staat und Vatikan. Er diente 1933 als Vorbild für das Konkordat mit Deutschland. Das Problem, wie man zugleich fromm und faschistisch sein konnte, entspannte sich.

Wirklich gezeichnet von bitteren Verfolgungserfahrungen war eher die Kirche in Spanien. Verheerend für das spanische Selbstbewusstsein und den Respekt vor der Restaurationsmonarchie von 1875 war die Niederlage im Krieg gegen die USA 1898. Mit dem Verlust Kubas, Puerto Ricos und der Philippinen hatte Spanien als Kolonialmacht ausgedient. Intellektuelle machten die Kirche dafür zum Hauptschuldigen. Sie habe Spanien dumm und dekadent gemacht. Die Monarchie versuchte indes, das Jahrhundertdebakel und den Niedergang des Reiches zu kompensieren: Das neue Ziel hieß Marokko. 1909 kam es aus Protest gegen die Entsendung weiterer Truppen nach Marokko zur »tragischen Woche«. Streikende und Demonstranten brannten 21 Kirchen und 40 Klöster nieder. Allein in Barcelona verheerte ein Arbeiteraufstand 17 Kirchen und 23 Klöster. Aus der Stadt flüchtende Mönche und Nonnen wurden niedergeschossen.

Woher rührte diese Wut auf die Kirche? Schon im 19. Jahrhundert war es zur Schändung von Kirchen, Bombenanschlägen auf Fronleichnamsprozessionen und Priestertötungen gekommen. Man darf nicht vergessen, welche Privilegien der Katholizismus seit dem Konkordat von 1851 genoss. Als Staatsreligion stand er aufseiten der reaktionären Kräfte und kontrollierte das Bildungswesen. Das Ergebnis klerikaler Schulausbildung: 1900 lag die Analphabetenquote noch bei 64 %. In manchen Regionen hatte die Kirche den schulischen Leseunterricht abgebrochen, damit die Kinder keine sozialistischen Pamphlete lesen könnten.6 Arbeiter, aber auch Bürger, Liberale, republikanische und laizistische Kräfte fühlten sich von der Kirche unterdrückt.

Die heftigen, auch antiklerikalen Sozialkonflikte, die Spanien seit 1917 ins Chaos stürzten, beruhigten sich erst nach dem Staatsstreich Miguel Primo de Riveras. Unter seiner Diktatur von 1923 bis 1930 konnte die Kirche ihren Einfluss auf die Gesellschaft wieder ausbauen. In der Nationalversammlung wurden zehn Bischöfen Plätze garantiert. Andererseits standen die Priester in Katalonien und im Baskenland aufseiten der Autonomiebewegung, was zu Spannungen mit den Anhängern eines Nationalkatholizismus und mit der Militärdiktatur führte. Es gelang dem autoritären Regime nicht, die vielfältigen sozialen, regionalen und ökonomischen Probleme zu lösen. Als der Ruf der Straße nach einer Republik immer lauter wurde, zogen sich Primo de Rivera und König Alfons XIII. ins Ausland zurück. Im April 1931 wurde die Zweite Spanische Republik ausgerufen. Ihre Verfassung orientierte sich stark an der Weimarer Verfassung, machte die Kirchen aber zu Vereinen.

Erneut entlud sich der Zorn gegen die Kirche. Nun zahlte sie den Preis für ihre Kollaboration mit der Diktatur. Im Mai 1931 eskalierten die Ausschreitungen. In Madrid, Valencia, Alicante und anderen Orten brannten Kirchen, Klöster und katholische Schulen. Die Nation spaltete sich wie während der Dreyfus-Affäre in Frankreich. Zwei Prinzipien rangen miteinander, folgt man der zeitgenössischen Rhetorik: Kirche gegen Welt, Christ gegen Antichrist, Geist gegen Materialismus, Rom gegen Moskau, Klerikalismus gegen Laizismus. Der Kampf tobte zwischen den Vertretern des »wahren«, des katholischen Spaniens, und »Anti-Spanien«.7

Radikal trennte die Republik Kirche und Staat voneinander, führte die Zivilehe ein, verbot Kreuze in Schulen, Prozessionen und den Jesuitenorden. Konservativen ging das zu weit, ebenso wie die gerechte Landumverteilung. 1933 gewannen sie die Wahlen und machten die meisten Reformen rückgängig. Bei den Neuwahlen 1936 standen sich zwei große Lager gegenüber: Die Nationale Front fasste katholische Konservative, Monarchisten, Rechtsrepublikaner und faschistische Falange zusammen. Noch zersplitterter aber war die Volksfront. Das von Anarchisten und Kommunisten über die Sozialisten bis zur republikanischen Linken reichende Bündnis gewann jedoch die Wahlen. Um diese Regierung zu verhüten, blies General Franco mit seinen Truppen von Marokko aus zum Angriff. Der spanische Bürgerkrieg 1936–39 wurde häufig auch als »Religionskrieg« bezeichnet. Katholiken begrüßten Franco als Retter von Kirche und Christentum vor der roten Gefahr.

So abweichend die Positionen innerhalb der Volksfront waren, in einem Punkt kamen sie doch auf einen Nenner: im Kirchenhass. Eine Welle der Gewalt ergoss sich über die Regionen, die in ihrer Hand waren. Allein in den ersten Wochen des Bürgerkrieges wurden 13 Bischöfe, über 4000 Priester und mehr als 2600 auch weibliche Ordensangehörige massakriert. »Im Bürgerkrieg eskalierten die Kulturkämpfe des 19. Jahrhunderts.«8

Kein Wunder, dass die meisten Katholiken alle Hoffnung auf die katholisch-konservative Partei CEDA und Franco setzten, der 1937 die falangistische Partei übernahm. Francos Herrschaft stützte sich auf die Eintracht mit der katholischen Kirche. Nach anfänglichem Zögern – die Falangisten verfolgten selber Priester, etwa im separatistischen Baskenland – stellten sich die spanischen Bischöfe im Juli 1937 auch offiziell auf die Seite der Aufständischen, die den Krieg zu gewinnen schienen. Im Oktober erkannte der Vatikan Francos Regime diplomatisch an.

Der wütende Kampf beider Spanien war 1939 entschieden. Der Jesuitenorden wurde wieder zugelassen, Kirche, Partei und Militär bildeten zusammen mit den herrschenden Großgrundbesitzern die Säulen des Systems. 1941 bestimmte ein Vertrag mit dem Vatikan, dass die katholische Religion »unter Ausschluss jedes anderen Kultes die einzige Religion der spanischen Nation bleibt und dass sie immer […] alle Rechte und Vorrechte behalten wird, die ihr nach dem Gesetz Gottes und den Vorschriften des Kirchenrechts zukommen müssen«.

Zu Konflikten kam es nicht etwa wegen der mehr als hundert Konzentrationslager mit über 300 000 politischen Gefangenen oder wegen der 150 000 Hinrichtungen zwischen 1939 und 1944, sondern dann, wenn die Kirche ihre Rechte in Gefahr sah. Im Konkordat von 1953 sicherte sie ihre Stellung. Jetzt wurde Franco nicht mehr nur als Führer bezeichnet, sondern als »Gottessohn«. Bald zogen Opus-Dei-Minister ins Kabinett ein. In den ersten Jahrzehnten des Regimes von Franco, der 1975 starb, herrschte ein drückendes Rekatholisierungsklima. Wie in Ungarn und Italien gingen autoritäres Regime und katholische Kirche Hand in Hand.

Im Nachbarland Portugal hatte das Militär bereits im Mai 1926 die Republik von 1910 weggeputscht. Professor António de Oliveira Salazar, als Finanzminister eingesetzt, übernahm 1932 selber die Regierung. Wie Franco war auch dieser gläubige Katholik erstaunlich lange als Ministerpräsident tätig: bis 1968. Wie in Ungarn, Italien und Spanien hatte die katholische Kirche schlechte Erfahrungen mit der republikanischen Volksherrschaft durchlebt. Das trieb sie in die Arme der Diktatoren. Die Verfassung der Republik hatte 1911, dem Vorbild Frankreichs folgend, Kirche und Staat voneinander separiert. Ehescheidung war nun erlaubt. Renitente Bischöfe wurden aus ihren Diözesen vertrieben, viele Priester und Ordensleute ausgewiesen, der Religionsunterricht an Volks- und Mittelschulen verboten. Aber die antiklerikale Republik war instabil. In ihren 16 Jahren gaben sich 44 verschiedene Regierungen die Klinke in die Hand.

Salazars System war nicht klerikal-faschistisch, sondern korporatistisch. An die Stelle des zahnlosen Parlamentarismus und pluralistischen Wettbewerbs sollte die in Korporationen vereinte Nation treten: Familien, Berufsstände, Kirche und Universitäten unter dem gemeinsamen Dach der beratenden Korporativkammer. Der Kirche gefiel der Korporatismus, den auch der Papst in seiner Enzyklika Quadragesimo anno 1931 favorisierte. Als Alternative zum Klassenkampfprinzip verfochten katholische Politiker auch in Österreich, Deutschland und andernorts solche Vorstellungen vom wohlgeordneten Ständestaat.

Einfach war die Beziehung zwischen katholischer Kirche und Salazar-Regime dennoch nicht. Die Trennung der Kirche vom Staat blieb bestehen. Salazar wehrte sich gegen den Anspruch, er vertrete die Interessen der Kirche. Eher war sie »Vasall« seiner Diktatur. Insgesamt jedoch herrschte, zumal seit dem Konkordat 1940, eine enge Beziehung zwischen Kirche und Salazarismus, obwohl Salazar sein System immer deutlicher nach italienischem und deutschem Vorbild ausrichtete, etwa mit Pressezensur und Gewerkschaftsverboten. Seit dem Bürgerkrieg im Nachbarland 1936 geriet Portugal zusehends in faschistisches Fahrwasser: Salazar errichtete eine politische Polizei, einen Propagandaapparat und eine nach dem Vorbild der HJ organisierte Staatsjugend.9

Zwei Wochen vor dem Fall der Republik Portugal hatte Josef Piłsudski gegen das in seinen Augen korrupte parlamentarische System in Polen geputscht. Faktisch war der General von 1926 bis zu seinem Tod 1935 der Alleinherrscher, auch wenn er nur das Amt des Kriegsministers kontinuierlich behielt. Gelegentlich fungierte er als Ministerpräsident, zog es aber vor, andere für diesen Posten zu bestimmen. Auch Piłsudskis Polen war eine korporatistische Diktatur, die seit der Weltwirtschaftskrise noch härter durchgriff. Am 23. März 1933, am selben Tag wie in Deutschland, wurde ein Ermächtigungsgesetz verabschiedet: der Staatspräsident konnte ohne den Sejm, das Parlament, Verordnungen mit Gesetzeskraft erlassen. Auf Goebbels Empfehlung richtete Piłsudski das Konzentrationslager Bereza Kartuska ein.

Im Vergleich zu allen anderen genannten Ländern trat die katholische Kirche ins 1916/19 neu gegründete Polen mit den wenigsten Belastungen ein. Von einem Laizismus wie in Frankreich oder Spanien, der Priester verfolgt hätte, fehlte jede Spur. Die nationalistische Erneuerung geschah ganz im Zeichen des Katholizismus. Das Konkordat besiegelte 1925 die enge Beziehung. Ein guter Pole war ein guter Katholik und ein guter Katholik Pole, und beide hassten die Juden. Dabei lebten in Polen (röm.-kath.: 75 %) nur 66 % Polen. Ein Drittel war anderer Nationalität. Polen hatte sich dank des Versailler Vertrages sowie seines Überfalls auf die Sowjetunion 4 Mio. Ukrainer, 1,1 Mio. Weißruthenen und ebenso viele Deutsche einverleibt. Den polnischen Nationalkatholizismus bekamen »fremde« Katholiken – die Deutschen in Oberschlesien, die Litauer in Wilna – sowie die 2 Mio. Juden schmerzhaft zu spüren. Die Kirche unterstützte die Polonisierungspolitik, den Antisemitismus sowie das Regime, obwohl Piłsudski selber, wie Mussolini, religiös indifferent war. Polentum und Katholizismus waren kaum voneinander zu unterscheiden.10

Während die Sowjetunion, die ungarische Räterepublik, die Zweite spanische und Erste portugiesische Republik die Kirchen das Fürchten lehrten, demonstrierten die Diktaturen in Ungarn, Spanien, Portugal, Italien und Polen, wie eng die Bande zwischen antidemokratischem Katholizismus und antirepublikanischen Regimen geknüpft waren.

Österreich schloss sich als Reaktion auf Hitlers Machtübernahme dem Trend der Zeit an und mutierte ebenfalls zur Diktatur. Vom Habsburgerreich war durch den Versailler Vertrag nur ein kleines deutschsprachiges Rumpfterritorium übriggeblieben. Millionen ehemalige Habsburger deutscher Herkunft mussten außerhalb Österreichs leben, vor allem in der Tschechoslowakei (3,5 Mio.). Österreich war 1919 verwehrt worden, sich Deutschland anzuschließen. Es sollte »in dieser verstümmelten Form ein erniedrigtes Bettlerdasein« führen, klagte Stefan Zweig. »Einem Lande, das nicht existieren wollte, wurde – Unikum in der Geschichte! – anbefohlen: ›Du mußt vorhanden sein!‹«11 Schwer geprüft durch Reparationen und eine Hyperinflation 1922, entwickelte Österreich langsam eine eigene Identität mit einem künstlich wirkenden Nationalismus. Die Sozialdemokratie blieb der Hauptgegner beider Kirchen, aber ansonsten konnte sich die katholische Kirche mit dieser Republik vergleichsweise gut arrangieren, weil sie im Unterschied zu den Republiken in Portugal oder Spanien nicht verfolgt wurde. Vielmehr führte die Österreichische Volkspartei, von 1921 bis 1930 unter Ignaz Seipel, das Land. Der Prälat war in den 1920er Jahren zweimal Bundeskanzler. Dennoch träumten katholische Kirchenführer und Autoren wie Josef Eberle und Karl Vogelsang von einem anderen, einem ständestaatlich-korporatistischen System. Im umstrittenen Korneuburger Programm verlas im Mai 1930 der christlich-soziale Bundesführer der Heimwehr, Richard Steidle, einen Eidestext, der zur Heimatliebe, zur Idee des Ständestaates und zum Führerprinzip verpflichtete, zur Abwehr der Sozialdemokratie und des demokratischen Parlamentarismus. Das im Juni 1933 unterzeichnete Konkordat stärkte die Rolle der Kirche in Schule und Gesellschaft. Unterrichtsminister Kurt Schuschnigg verfügte im August, dass die Behörden den Geisteszustand von Personen, die aus der katholischen Kirche austreten wollten, zu prüfen hätten. In Salzburg wurden Kirchenaustritte sogar mit sechs Wochen Arrest bestraft.12

Als sich die NSDAP in Österreich zunehmend ausbreitete, proklamierte der christlich-soziale Bundeskanzler Engelbert Dollfuß im September 1933 ein christlich-soziales Österreich auf ständischer Grundlage. Im November wurde die Todesstrafe wieder eingeführt. Dies und den »echt katholischen Bekennermut« des Bundeskanzlers priesen die österreichischen Bischöfe im Weihnachtshirtenbrief 1933: »Wir – ein kleines deutsches Land – haben den Ehrgeiz, das erste Land zu sein, das dem Rufe der herrlichen Enzyklika ›Quadragesimo anno‹ wirklich im Staatsleben Folge leistet.« Der Papst freue sich über Dollfuß, der »den Staat auf den Grundlagen der katholischen Lehre neu aufbauen« wolle. Zugleich warnte der Hirtenbrief vor der Revolution und vor Attentaten auf die Staatsautorität. Sie dürfe ungerechte Gewalt nötigenfalls mit der Todesstrafe ahnden. Denen, die zum Widerstand gegen die Autorität verführen wollen, dürfe kein Gehör geschenkt werden. Das zielte auch auf den Nationalsozialismus. Der »wahre christliche Nationalismus ist von Gott gewollt und wird von der Kirche gebilligt«, darum »predigen wir die Tugend des christlichen Patriotismus, verurteilen den Verrat am Vaterland und verurteilen den radikalen Rassenantisemitismus«.13

Nach seinem Staatsstreich im März 1934 löste Dollfuß alle Parteien mit der parlamentarischen Verfassung auf, die er durch eine berufsständische ersetzte. Truppen bekämpften die Sozialdemokratie und überfielen in Wien die Arbeiterviertel. Nachdem Dollfuß 1934 von Nationalsozialisten ermordet worden war, folgte ihm Schuschnigg als Kanzler, der wiederum 1938 dem großdeutschen Reichskanzler Hitler weichen musste. Davor hatte das autoritär-klerikale Regime Österreich schützen wollen. Deshalb waren 1933 die NSDAP wie auch die sozialistische Partei verboten worden. Andere Schutzmaßnahmen schwebten Bischof Alois Hudal vor. Er versuchte 1937, einen guten von einem schlechten Nationalsozialismus zu unterscheiden.14 Der Linzer Bischof Johannes Maria Gföllner meinte, dass »auf arischer und auf christlicher Seite« die Gefahr des jüdischen Geistes bekämpft werden müsse, weshalb die Nationalsozialisten den von der Kirche seit jeher geförderten Antisemitismus aufnehmen sollten. 1938 schließlich, nach der umjubelten Vereinigung mit dem Reich, mussten die Kirchen in Österreich umdenken. Die neuen Machthaber fassten sie nämlich anders an als im Altreich, wo die katholische Kirche zumindest formal unter dem Schutz des Konkordates stand.

1938 lebte die Mehrheit der Europäer in nunmehr 14 Diktaturen. Von Lissabon bis Kaunas waren diese Länder allesamt dominant katholisch, bis auf Bulgarien, Estland, Lettland und Deutschland.

Republiken bargen für die Kirchen ein gewisses Risiko. Damit hatten sie in Frankreich, Portugal und Spanien üble Erfahrungen gemacht, ebenso mit räterepublikanischen Experimenten wie in München, Ungarn und der Sowjetunion. Dagegen standen die guten Erfahrungen mit rechten Diktaturen wie in Ungarn, Portugal und Spanien, wo die »kirchenfeindlichen« Systeme überwunden wurden, ferner mit Polen, Italien und Österreich. Dieser europäische Hintergrund erleichtert es, zu verstehen, wie sich die Kirchen in Deutschland gegenüber den autoritären Verlockungen verhielten. Herrschte blanke Angst vor Verfolgung? Oder gab es ein christlich-nationalsozialistisches Komplott, das an die Verhältnisse in anderen Ländern erinnerte? Keine der beiden Varianten trifft zu.

Kontroverse 1: Christentum und Faschismus: Unvereinbarkeit oder Affinität?

Kontroversen bestehen aus mindestens zwei gegeneinander aufgestellten Positionen, auch wenn es in Wirklichkeit immer ein Spektrum mit verwirrend vielen Verästelungen an Expertenmeinungen über bestimmte Unterpunkte gibt. Bei der Frage nach dem Verhältnis von Christentum und Faschismus lassen sich grob die beiden Positionen der Unvereinbarkeit und der Affinität unterscheiden.

Wer Faschismus und Christentum für unvereinbar miteinander hält, steht vor dem Problem, dass die evangelische Kirche mit fliegenden Fahnen ins Hitlerlager strömte und die katholische Kirche mit Mussolinis faschistischem Italien, mit Francos Spanien und Österreich unterm Kruckenkreuz kooperierte. Im spanischen Bürgerkrieg betonte Pius XI. seine Neutralität und erklärte sich nicht offiziell, wie die spanischen Bischöfe 1937, mit Franco solidarisch. Allerdings machte die Enzyklika Divini redemptoris 1937 klar, wo seine Sympathie lag. In Österreich lehnte die Kirche »faschistische Importe« ab, unterstützte aber einen »Kopiefaschismus«. Ihr Austrofaschismus kann auch als eine Variante des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus gelten. Zeigen diese Beispiele »eine größere Geneigtheit der Kirche autoritären Staaten gegenüber, […] steht demgegenüber doch festzuhalten, dass von einer bedingungslosen Unterstützung faschistischer Regime durch den Heiligen Stuhl nirgends die Rede sein kann. Der Heilige Stuhl focht mit dem falangistischen Franco-Regime jahrelang Konflikte über die Besetzung der Bischofsstühle in Spanien aus; in den vom nationalsozialistischen Deutschland kontrollierten ›Satellitendiktaturen‹ in Ungarn (Horthy/Szálasi), der Slowakei (Tiso, laut Unterstaatssekretär Tardini ›ein Verrückter‹) und Kroatien waren die gegenseitigen ›Beziehungen‹ von permanenten Auseinandersetzungen über die Rolle der Kirche und über die Verfolgung der Juden geprägt.«15

Diese Analyse der päpstlichen Position während der Kriegszeit, die in keinem Verhältnis zu den guten Beziehungen zu Diktaturen und zu den Mentalitäten von Gläubigen in den zwanzig Jahren vor 1941 steht, findet sich im Buch Die Katholiken und das Dritte Reich. Kontroversen und Debatten. Das 2009 von Karl-Joseph Hummel und Michael Kißener herausgegebene Werk behandelt zehn Kontroversen: über den Rassenantisemitismus, die Haltung der Bischöfe, die Kirche und die Juden, katholisches Milieu und Nationalsozialismus, Widerstand, den Papst und den Weltkrieg, schließlich die Schulddiskussion nach 1945.16 Manche Überschriften lassen bereits erahnen, was im Buch vorgeht, wenn sie über »Irreführung« aufklären wollen; die Gegenüberstellung »Kollaboration oder weltanschauliche Distanz?« legt schon nahe, wie die richtige Antwort ausfallen muss.

Was ist die Absicht dieses an Erkenntnissen reichen Buches über »eines der umstrittensten Themen« der Zeitgeschichte? »Namhafte Historiker führen jetzt durch das kaum noch überschaubare Gemenge von gesicherten Fakten und hartnäckigen Geschichtsklischees, von historischen Einsichten und moralischen (Vor-)Urteilen« und verdeutlichen »Hintergründe und Irrwege der fortdauernden Diskussion um Kirche und Nationalsozialismus. Sie erleichtern so auch breiteren Leserschichten die eigene Urteilsbildung. […] Wer ernsthaft über die katholische Kirche im Dritten Reich reden will, wird auf diesen Überblick nicht verzichten können.«

Ernsthaft Interessierte würden jedoch bei diesem erklärtermaßen umstrittenen Thema auch erwarten, dass Vertreter beider Seiten zu Wort kommen und nicht eine Partei sämtliche Kontroversen im Alleingang entscheidet. Was die Lesenden nicht wissen können: Wer verbirgt sich hinter den »namhaften Historikern«, die der »eigenen Urteilsbildung« helfen wollen? Es sind ausschließlich katholische und kirchenloyale Historiker, die der Kommission für Zeitgeschichte verbunden sind.17 Die »hartnäckigen Geschichtsklischees« und die »moralischen (Vor-)Urteile« stammen von anderen. Sie wandeln auf Irrwegen. Die »gesicherten Fakten«, die »geschichtliche Wahrheit« garantieren gutkatholische Forscher, die sich als solche aber nicht zu erkennen geben. Es mag einzelne Verfehlungen der Kirche gegeben haben, insgesamt stand sie jedoch nicht auf seiten der Kollaboration und der Täter, sondern aufseiten des Widerstandes und der Opfer.18

Wie konnte es passieren, dass ein Autorenkollektiv mit gemeinsamen Grundannahmen alleine unter sich die Kontroversen austrägt? Dahinter steht die Vorstellung, die Kirche werde von ungerechten »Vorwürfen« heimgesucht, gegen die man sich mit gezielter Vergangenheitspolitik zur Wehr setzt. Mehr Redlichkeit und wissenschaftliche Transparenz statt verschleierter Parteilichkeit und Selbstreferentialität hätte dem an breite Leserschichten gerichteten Buch und den Leistungen des Netzwerks kirchenloyaler Geschichtsforscher sicher nicht geschadet.19

Wer den katholischen Antifaschismus in den Vordergrund spielen will, vermeidet gerne, auf die Enzyklika Quadragesimo anno einzugehen. Ihr Name Im vierzigsten Jahr erinnerte 1931 an die vier Jahrzehnte vorher verabschiedete Sozialenzyklika Rerum novarum