Die kleine Dorfbäckerei in Himmelbach – Puderzuckerträume - Marie Bernstein - E-Book

Die kleine Dorfbäckerei in Himmelbach – Puderzuckerträume E-Book

Marie Bernstein

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Beschreibung

Nach einigen Rückschlägen muss Nina unbedingt raus aus Zürich. Sie reist in das kleine Örtchen Himmelbach, wo Rentnerin Ruth eine Betreuerin sucht. Die resolute Lady ist zwar ziemlich bärbeißig, doch Nina spürt, dass sie im Dorf ein nettes Zuhause finden könnte. Dabei fällt ihr auch die leerstehende Bäckerei auf - und weil sie für ihr Leben gern backt, findet sie neben der schönen Arbeit für Ruth immer mehr Gefallen an dem Gedanken, das kleine Geschäft selbst mit Kuchen und anderen Backkreationen zu neuem Leben zu erwecken. Leider fehlt ihr dafür das Geld, und noch dazu gibt es einen anderen Interessenten: ausgerechnet Ruths Enkel Ben, der Ninas Herz schon beim ersten Aufeinandertreffen aus dem Takt bringt. Doch aus zarten Gefühlen wird ein erbitterter Konkurrenzkampf ... mit Happy End?

Ein zauberhaftes Örtchen in der Schweiz, leckere Backkreationen und ganz viel Gefühl. Dieser warmherzige Roman von Marie Bernstein lässt die Herzen von Feel-Good-Fans höher schlagen.

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Epilog

Danksagung

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

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Über dieses Buch

Nach einigen Rückschlägen muss Nina unbedingt raus aus Zürich. Sie reist in das kleine Örtchen Himmelbach, wo Rentnerin Ruth eine Betreuerin sucht. Die resolute Lady ist zwar ziemlich bärbeißig, doch Nina spürt, dass sie im Dorf ein nettes Zuhause finden könnte. Dabei fällt ihr auch die leerstehende Bäckerei auf – und weil sie für ihr Leben gern backt, findet sie neben der schönen Arbeit für Ruth immer mehr Gefallen an dem Gedanken, das kleine Geschäft selbst mit Kuchen und anderen Backkreationen zu neuem Leben zu erwecken. Leider fehlt ihr dafür das Geld, und noch dazu gibt es einen anderen Interessenten: ausgerechnet Ruths Enkel Ben, der Ninas Herz schon beim ersten Aufeinandertreffen aus dem Takt bringt. Doch aus zarten Gefühlen wird ein erbitterter Konkurrenzkampf ... mit Happy End?

MARIE BERNSTEIN

Die kleine Dorfbäckereiin Himmelbach

  PUDERZUCKERTRÄUME

Für alle, deren Herzblut für den Beruf der Altenpflege schlägt.

Kapitel 1

»Leo! Felix!«

Eine aufgebrachte Stimme durchbricht meinen viel zu echt wirkenden Traum und befördert mich in die Wirklichkeit zurück. Fast meine ich noch, den Geruch des Rauchs in der Nase zu haben, als ich die Augen öffne. Panik ergreift mich, als ich das Gefühl habe, wieder in meiner alten Wohnung zu sein. Das gleißend helle Sonnenlicht, das durch die bodentiefen Fenster dringt, erinnert mich daran, wo ich mich wirklich befinde. Das und das Kinderlachen meiner zwei Neffen, das in mein Bewusstsein dringt und mich trotz des Lärmpegels erdet.

Während ich mir an die Brust fasse, den hämmernden Herzschlag unter meinen Fingern spüre, ruft meine ältere Schwester Anja erneut nach den beiden, die im Wohnzimmer herumtollen und sich gegenseitig bis aufs Blut triezen.

»Es tut mir leid, Ninchen, ich weiß, dass du Nachtdienst hattest, aber ...«, wendet sich Anja mir zu und verstummt, als Leo hinfällt und wie eine Sirene anfängt zu weinen.

Anja schüttelt den Kopf und geht auf ihren Sohn zu, während ich mich aus der Decke schäle und die Beine über den Rand der Couch schwinge. Sogar der minimale Temperaturunterschied beschert mir eine Gänsehaut, die mich frösteln lässt, sodass ich mir über die Arme reibe und damit die letzten Fetzen des Traums vertreibe.

Ich spüre jeden Knochen in meinem Körper und in meinem Kopf macht sich der Schlafmangel bemerkbar. Ein ganzer Schwarm Bienen scheint sich dort eingenistet zu haben, was durch das Weinen meines Neffen verstärkt wird. Noch immer leicht benommen und geschafft von der anstrengenden Schicht im Altenheim stehe ich auf.

»Schon okay. Ich war sowieso schon wach«, murmele ich und gähne hinter der vorgehaltenen Hand. Dabei fallen mir einige Strähnen meines rotblonden Haares ins Gesicht und nehmen mir für einen kurzen Augenblick die Sicht auf den Tumult, der sich vor mir abspielt. Felix beteuert seine Unschuld am Stolpern seines kleinen Bruders, der sich noch immer an den Hals seiner Mutter klammert.

»Sie sollten eigentlich noch schlafen, aber die beiden kommen ständig auf dumme Gedanken«, erwidert Anja und streichelt Leo über den Lockenkopf, der von heftigen Schluchzern geschüttelt wird, bis er sich langsam beruhigt.

»Ich habe ihn nicht geschubst, Tante Nina«, wispert Felix und sieht mich mit großen Augen an.

»Ich weiß.« Ich streichle ihm über den Rücken und weiß, wie ich die beiden Racker auf andere Gedanken bringen kann. »Kommt, wir gehen in die Küche und machen Pfannkuchen. Was haltet ihr davon?«

»Au ja!«, rufen nun beide im Chor und schon sind Leos Tränen vergessen, die er sich mit dem Pyjamaärmel vom Gesicht wischt und dann seinem Bruder hinterherrennt.

»Bitte denk daran, dass sie ungesüßt sein müssen. Die beiden sind sowieso schon so aufgedreht, da brauchen sie nicht noch eine Portion Zucker«, meldet sich meine Schwester zu Wort, die mühsam auf die Beine kommt.

Ich atme tief durch und nicke, obwohl ich, wie in vielerlei Hinsicht, nicht mit ihr übereinstimme. Ich wohne unter Anjas Dach und ich muss mich nun mal an ihre Regeln halten.

»Klar, ich denk dran. Vergiss bitte nicht, dass sie Kinder sind und Pfannkuchen einfach dazugehören.«

»Du musst sie nicht rund um die Uhr betreuen, Ninchen.«

Anja hebt ein Spielzeug auf, das seit gestern Abend herumliegt, ehe sie das Zimmer verlässt.

Erneut atme ich tief durch und gehe anschließend ins Badezimmer, um mich frisch zu machen, bevor ich mich mit meinen beiden Neffen ans Pfannkuchen backen mache.

Der Wohnungsbrand vor ein paar Wochen hat mein Leben komplett aus den Angeln gehoben. Nie hätte ich gedacht, dass ich mit achtundzwanzig Jahren bei meiner Schwester und ihrer Familie einziehen muss, damit ich ein Dach über dem Kopf habe. Unsere Mutter ist schon vor einigen Jahren verstorben und zu unserem Vater haben wir keinen Kontakt. Also blieb mir nur, Anjas Angebot anzunehmen. Und nun backe ich ungesüßte Pfannkuchen mit meinen Neffen und frage mich, wie lange ich es noch aushalte, auf ihrer Couch zu schlafen.

»Die Eier müssen gut verrührt werden«, erkläre ich Felix und Leo, die auf zwei Schemeln neben mir vor dem Herd stehen und mir zur Hand gehen.

»Jetzt kannst du die Milch reingeben und weiterrühren. Ja, genau so. Und ich gebe das Mehl langsam dazu.«

»Ich möchte das Mehl reinschütten«, mischt sich Leo ein und schiebt die Unterlippe vor, was ihn noch niedlicher aussehen lässt.

»Klar, wieso nicht.«

Zusammen halten wir die Packung fest und wiegen die genaue Grammzahl ab, bevor Leo den Inhalt in die Schüssel befördert.

»Und jetzt rühren«, erklärt Felix seinem Bruder und gibt ihm den Schneebesen in die Hand. Das Lächeln auf Leos Gesicht ist unbezahlbar, doch es verschwindet ganz schnell, als er viel zu hastig umrührt und eine weiße Staubwolke nach oben geschleudert wird.

Für einige Sekunden ist nichts mehr zu sehen, bis sich das Mehl lichtet und Felix in schallendes Gelächter ausbricht. Leo stimmt mit ein, genau wie ich. Und zwar so lange, bis mir der Bauch wehtut und ich Tränen in den Augen habe. Sanft wische ich die Spuren auf seiner Wange weg und spüre, wie mir das Herz vor Liebe aufgeht.

»Vielleicht ein bisschen langsamer«, sage ich zwinkernd. Mit der Zunge zwischen den Lippen startet Leo einen zweiten Versuch und rührt konzentriert in der Schüssel herum. Wann immer ich Zeit mit den Jungs verbringe, fühlt es sich so an, als wäre ich noch klein und unsere Mutter würde noch leben. Der kurze Gedanke an die Vergangenheit hinterlässt einen dumpfen Schmerz in meiner Brust, der aber durch Mias Auftauchen schnell verfliegt.

»Was ist denn hier für ein Krach?«, fragt die älteste von Anjas Rasselbande motzig. Sie steht mit ihrem Kuscheltuch in der Hand im Türrahmen und reibt sich den Schlaf aus den grauen Augen.

»Wir machen mit Tante Nina Pfannkuchen.« Leo hört sich für mich wie eine näselnde Schlange an. Eine süße Schlange mit kreisrunder Brille auf der Nase und einer Fliege um den Hals.

»Mama hat gesagt, dass wir nicht zu viel Zucker essen dürfen.« Mia sieht mich genauso mahnend an, wie es Anja schon getan hat, was mich innerlich ein klein wenig ärgert.

»Wir haben nur Salz reingetan.«

Nun ist es Felix, der sich zu Wort meldet und zu mir aufschaut. Ich nicke und zwinkere Mia zu, die ihre Lippe kräuselt und die Küche mit schlurfenden Schritten verlässt.

Das Verhältnis zu ihr ist etwas angespannter als das zu meinen beiden Neffen. Was wahrscheinlich an der Ähnlichkeit mit Anja liegt, oder Mia schaut sich das Verhalten ihrer Mama zu stark ab.

So oder so, es fällt mir schwer, mich mit Mia zu beschäftigen, ohne dabei an meine Kindheit erinnert zu werden. Diese war zwar behütet, jedoch von vielen Streitereien geprägt, die nicht immer gut ausgegangen sind. Und nach dem frühen Tod unserer Mutter haben wir uns aus den Augen verloren. Jeder hat sich in seiner Trauer vergraben und während Anja Kinder bekommen hat, habe ich mich auf meinen Beruf konzentriert. Und viel zu viel Zeit in eine Beziehung gesteckt, die von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen ist.

Ganz in Gedanken versunken, bekomme ich gerade noch rechtzeitig mit, wie sich die beiden Brüder mit Mehl bewerfen und bereits eine mittelgroße Katastrophe angerichtet haben. Ich beiße mir auf die Lippe und greife ein, bevor es zu einem Schlachtfeld ausartet, das es aus Anjas Sicht nicht geben darf. Ich schaffe es sogar, dass das Ganze friedlich und ohne weitere Tränen über die Bühne geht.

Nachdem die Pfannkuchen alle gebacken sind, versammelt sich die ganze Familie am Tisch.

Über die einkehrende Ruhe bin ich erleichtert. Es ist nicht so, dass ich den Trubel nicht mag, der in der Familie meiner Schwester herrscht. Ich liebe sie alle, aber manchmal fühle ich mich als Störenfried, als Eindringling, der ihr Leben schon lange genug strapaziert hat. Weshalb ich mir vornehme, die Wohnungssuche voranzutreiben, die ich in den letzten Tagen irgendwie habe schleifen lassen. So schwer kann es nicht sein. Oder?

»Ich wollte mich bei dir bedanken. Bei dir und Daniel«, sage ich, als Anja und ich den Tisch abräumen. Sie hält mitten in der Bewegung inne und pustet sich eine Strähne ihres braunen Haares aus dem Gesicht. Im Gegensatz zu Anja gleiche ich unserem Vater, von dem ich den Rotstich geerbt habe. Den Grund seines Weggangs habe ich nie erfahren. Lange habe ich es nicht wissen wollen und heute, nach all den Jahren, ist es mir egal. Er ist verschwunden, hat die Familie im Stich gelassen und nun ist er kein Teil meines Lebens mehr. So einfach ist das.

»Wofür?«

»Dafür, dass ihr mich hier willkommen geheißen habt und ich eure Couch schon viel zu lange in Beschlag nehme.«

Ich zucke mit den Schultern und versuche, die aufkommenden Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Zwischen Dankbarkeit, Trauer um meine geliebte Dachwohnung und der aussichtslosen Situation ist alles dabei. Und der Schlafmangel der letzten sechs Nachtschichten macht es nicht gerade besser. Im Gegenteil, er sorgt dafür, dass ich regelmäßig kurz davor bin in Tränen auszubrechen.

Ich versuche, gegen den Kloß in meinem Hals anzukämpfen, doch er wird mit jeder Sekunde größer, sodass ich mich räuspere und meine Schwester anlächle.

»Dafür ist Familie da«, erwidert Anja und stapelt die restlichen Teller aufeinander.

»Es ist nicht selbstverständlich, dass ihr mich bei euch aufnehmt«, beharre ich und endlich lässt Anja die Arbeit sein und nimmt mich in den Arm. »Ich sage es viel zu selten, aber ich hab dich unendlich lieb.«

»Und ich dich.«

Ich tippe auf das Display meines Handys, stoppe das Youtube-Video einer meiner Lieblingsbäckerinnen und spüre wieder diesen Drang, gleich in die Küche zu stürzen und das angesehene Rezept direkt nachzubacken.

Weil ich vollkommen allein in der Wohnung meiner Schwester bin und sie mich nicht daran hindern kann, mache ich genau das. Ich gehe in die Küche, sammle alle Zutaten zusammen und da sie keine frischen Kirschen haben, nehme ich einfach Tiefkühlhimbeeren und erwärme sie kurz auf dem Herd.

Daniel, mein Schwager, ist mit den Kindern ins örtliche Freibad gefahren und Anja trifft sich mit einer Schulfreundin, die ihr zweites Kind bekommen hat.

In der Zwischenzeit rühre ich den simplen, aber leckeren Rührteig an und streiche die Hälfte danach in eine Auflaufform. Darüber verteile ich die eingedickten Himbeeren und gebe dann noch den restlichen Rührteig darüber.

»Und jetzt werd was«, sage ich zu meinem Schützling, den ich in den vorgeheizten Ofen schiebe und dann die Tür zumache. Ich stelle den Timer und fange an, die Küche aufzuräumen.

Währenddessen kann ich meinen Gedanken nachhängen, die sich in der letzten Zeit kaum eine Pause gegönnt haben. Ich stehe ständig unter Strom, was meine Arbeit, die Situation hier bei meiner Schwester und den Wohnungsbrand betrifft.

Die freie Zeit in der Küche zu verbringen, lässt meinen Herzschlag ruhiger werden, und ich spüre diese innere Ruhe, die mir nur das Backen gibt. So etwas kann ich viel zu wenig machen, obwohl ich nichts lieber tun würde, als den lieben langen Tag zu backen.

Als kleines Mädchen habe ich von einer eigenen Bäckerei geträumt, aber als Teenie hat mich die Ausbildung abgeschreckt. Nicht einmal das frühe Aufstehen, sondern mehr die Tatsache, dass man in seiner Kreativität so eingeschränkt ist.

Man muss für die Kundschaft backen, muss ihren Wünschen und den Ansprüchen des Chefs entsprechen. Das hat dann dazu geführt, dass ich den Traum vergessen habe.

Nur manchmal kommt er wieder, und ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn ich mein eigener Herr wäre. Ich wäre unabhängig, frei und könnte backen, was immer ich wollte.

Das Piepsen des Timers reißt mich aus meinen Gedanken. Ich hole den fertiggebackenen Kuchen heraus und stelle ihn zum Abkühlen auf ein Gitter.

Um das herrliche Wetter auszukosten, mache ich es mir auf dem großzügigen Balkon gemütlich. Ich höre dem Gezwitscher der Vögel zu, die in den nahegelegenen Bäumen sitzen und sich gegenseitig messen, wer die schönsten Töne hervorbringt.

Die Sonnenstrahlen wärmen mein Gesicht und hinter meinen geschlossenen Lidern tanzt ein orangefarbenes Licht. Der freie Tag ist dringend nötig, denn im Altenheim gibt es ständig Situationen, die psychisch wie physisch fordernd sind. Manchmal ist es unvermeidbar, die berührenden Geschichten der Bewohnenden und ihrer Angehörigen mitzunehmen und erst im eigenen Bett – in meinem Fall auf der schwesterlichen Couch – zu verarbeiten. Nichtsdestotrotz fühlt es sich jedes Mal schwer an, so schwer, dass ich oft nicht darüber nachdenken möchte.

Eine flauschige Wolke schiebt sich über die Sonne und verdunkelt die Welt um mich herum, was ich nutze, um auf mein Handy zu schauen. Keine Nachricht von Vreni, meiner Freundin und Arbeitskollegin, was mich zwar enttäuscht, aber auch erleichtert. Sie scheint keinen Grund zu haben, sich bei mir auszuweinen, weil Stationsleiterin Klara sich mal wieder wie die Heimleitung aufspielt.

Gerade als ich das lästige Ding weglegen will, ploppt eine Mail von einer dieser Jobplattformen auf, die ich, aus einem frustrierten Impuls heraus, abonniert habe. Aus Zeitgründen und mangelndem Mut, etwas an der Situation zu ändern, habe ich die Mails bislang nicht geöffnet.

Heute scheint mir eine leise Stimme zuzuflüstern, dass ich es tun soll. Seufzend setze ich mich auf, tippe auf Öffnen und schon wird mir eine Annonce angezeigt.

»Himmelbach? Wo soll das denn sein?«, murmele ich und runzle die Stirn. Innerlich noch immer damit beschäftigt, nach dem richtigen Kanton zu suchen, lese ich weiter:

Durch einen bedauernswerten Sturz muss ich, eine rüstige Rentnerin in den Siebzigern, nach einer freundlichen und Pflegekraft suchen, damit ich mein sonst sehr ausgefülltes Leben nicht in einem Altenheim fristen muss. In meinem Haus gibt es genügend Platz, sodass ich ein Gästezimmer zur Verfügung stellen kann. Wer sich angesprochen fühlt, sollte sich schnellstens melden, denn mein Enkel drängt mich immer mehr zu einer Entscheidung, die ich, so gut es geht, hinauszögere. Außerdem bin ich viel zu jung, um mich auf die Spaziergänge in der Gartenanlage zu freuen, die den Höhepunkt des Tages markieren sollen. Überlegen Sie also nicht, handeln Sie und helfen Sie mir unbekannterweise.

Mit jedem weiteren Wort, das ich lese, breitet sich ein breiteres Lächeln auf meinen Lippen aus. In meinem Herzen beginnt sich etwas zu regen. Etwas, das sich nach Abenteuerlust anfühlt und mich dazu treibt, den Ort in die Suchmaschine einzugeben. Sofort werden hunderte Vorschläge präsentiert und mir sticht eine Beschreibung ins Auge.

Himmelbach ist ein Dreihundert-Seelen-Dorf im Kanton Schwyz am Fuße der Rigi. Es bietet einen mittelalterlichen Ortskern sowie eine alte Kapelle direkt am Seeufer und ist geradezu malerisch.

»Das klingt nicht einmal schlecht«, flüstere ich und sehe zu, wie ein Vogel sich zum Abheben bereit macht. Vielleicht ist das genau das Zeichen, auf das ich schon so lange gewartet habe. Nun bin ich es, die die Flügel ausbreiten muss, um in ein neues Leben zu starten. Ich könnte dabei abstürzen, mich verletzen oder schlimmeres. Doch ich bin entschlossen, den Schritt in meine Zukunft zu wagen und allen Widrigkeiten zu trotzen. Auch solchen, die ich nicht kommen sehe, die jedoch unweigerlich auf mich zukommen werden.

Kapitel 2

Eine Woche später bin ich unterwegs nach Himmelbach, nachdem ich mit Ruth Kontakt aufgenommen habe. Sie hat mir gleich ans Herz gelegt hinzufahren, da sich noch andere auf die Anzeige gemeldet hätten. Ob das der Wahrheit entspricht, kann ich nicht sagen, aber ihre Stimme ist mir auf Anhieb sympathisch gewesen.

Irgendwie hat mich Ruth an meine Großmutter erinnert, auch sie hat diese gewisse Art an sich gehabt. Die kecke Stimme und das ansteckende Lachen, doch bei Ruth hat es mehr nach Kaschieren geklungen, als wäre sie unheimlich einsam und wünsche sich sehnlichst Gesellschaft.

Die Hitze macht mir ganz schön zu schaffen, sodass ich das Fenster meines alten Opels vollständig runterlasse, bis mir der Fahrtwind ins Gesicht weht.

Seufzend fahre ich die Landstraße entlang, komme an einigen Bauernhöfen und Feldern mit Weizen und Mais vorbei. Auf der Wiese grasen Schafe und Pferde friedlich nebeneinander. Kein Vergleich zu Zürich und dem Verkehrschaos, das zu jeder Tages- und Nachtzeit herrscht.

Während mich hier der Geruch nach frisch gemähtem Gras, Kuhdung und anderen ländlichen Ausdünstungen umgibt, sind es in der Stadt Smog und an jeder Ecke andere Essensdüfte. Obwohl ich nicht oft dazu komme, mich an einer Imbissbude anzustellen, verfolgt mich der penetrante Frittengestank gedanklich, sodass ich einen tiefen Atemzug nehme, um ihn zu vertreiben.

Dazu drehe ich das Radio lauter und genieße die Zeit für mich. Es war gar nicht so leicht, übers Wochenende freizubekommen, aber Vreni hat ein gutes Wort bei Klara eingelegt, und diese hat wiederum mit der Heimleitung gesprochen, weshalb ich jetzt drei Tage am Stück Zeit für mich habe.

Danke Vreni!

Ich passe mich dem Tempolimit an und kann einen kleinen Teil des Vierwaldstättersees bereits erkennen. Auch die Rigi taucht mit ihrem imposanten Gipfel bereits zwischen den Schleierwolken auf, die am sonst babyblauen Himmel zu sehen sind.

Als Kind bin ich mit der Schule einmal dort gewesen, allerdings hatte und habe ich immer noch ziemliche Höhenangst, weshalb es kein allzu schöner Tag für mich gewesen ist. Für Menschen ohne dieses Handicap ist der Ausblick gigantisch und faszinierend. Es fährt sogar eine eigene Bahn hinauf, also kann wirklich jeder bequem die Königin der Berge, wie die Rigi auch genannt wird, erklimmen.

Viel zu plötzlich muss ich auf die Bremse treten, weil ein rot-weiß gestreiftes Fellknäuel über die Straße schlendert und das in einer Kurve!

»Pass doch auf!«, stoße ich panisch aus, während mein Herz fast den Dienst quittiert und danach nur stolpernd weiterschlägt. Die Katze ist stehen geblieben, miaut protestierend und sieht mich mit einem abschätzigen Blick an, ehe sie weitergeht und zwischen zwei Büschen verschwindet.

Kopfschüttelnd und mit schweißnassen Händen, die ich mir zuerst einmal an der Hose abtrocknen muss, starte ich den Motor erneut und fahre weiter.

Laut meinem Navi sind es noch zwanzig Kilometer, bis ich in diesem Himmelbach ankomme. Also noch etwas Zeit, mich auf das erste Treffen mit Ruth vorzubereiten. Wenigstens gedanklich, denn die Kontaktaufnahme kam aus einem ziemlich spontanen Impuls heraus, den ich kurze Zeit später schon nicht mehr verstehen konnte.

Aber dieser Vogel, der seine Flügel ausgebreitet hat und in die Luft gestiegen ist, hat mich daran erinnert, dass ich mehr im Leben möchte, als jeden Tag zur Arbeit zu fahren und danach völlig erledigt nach Hause – das ich nicht mehr habe – zu gehen, nur um wieder und wieder dasselbe zu tun.

Ich liebe meine Arbeit und würde die Zeit mit den Bewohnern nicht missen wollen, aber manchmal wird es mir zu viel. Zu viel körperliche Arbeit, zu viel psychische Belastung und zu viel Verantwortung, die auf meinen Schultern lastet. Innerlich sehne ich mich nach etwas, das mich erfüllt, jedoch nicht auslaugt. Wahrscheinlich gibt es das nicht, denn alles im Leben hat mit harter Arbeit zu tun. Das habe ich schon früh gelernt und vielleicht ist es auch das, was mich die ganze Zeit davon abgehalten hat, meine Träume zu verfolgen.

Die Bäckerei aus meiner Kindheit.

Passend dazu habe ich für Ruth etwas Kleines gebacken. Kleines Japonaisgebäck mit einer leckeren Füllung aus einer Kaffeecreme. Diese habe ich gut verpackt hinten auf dem Rücksitz gelagert, damit die Sonne der Cremefüllung nichts anhaben kann. Es ist das Lieblingsrezept meiner Oma gewesen und da Ruth mich an sie erinnert hat, habe ich mir gedacht, dass es ihr vielleicht auch schmecken wird.

Während ich dem Ziel immer näher komme, drossle ich das letzte Mal das Tempo. Ich passiere das blau-weiße Ortsschild von Himmelbach und sehe mich interessiert um.

Die Häuser sehen alle ähnlich aus, einige sind älter, weisen Fachwerk auf oder alte Schilder, die eine Gaststätte oder ein anderes Geschäft kennzeichnen.

Immer wieder sehe ich Menschen davorstehen, sie reden miteinander, lachen und scheinen sich zu mögen. Kleine Orte wie diese habe ich sonst nur im Vorbeifahren gesehen und dann habe ich meistens nicht auf so etwas geachtet.

Aber sind hier wirklich alle glücklich?

Wahrscheinlich ist das ein Klischee, das ich als Stadtmensch habe, das jedoch nicht zutreffend ist. Niemand ist immer glücklich, das ist medizinisch schon gar nicht machbar, außer man leidet unter einem gewissen Syndrom, das auf eine Genbesonderheit zurückzuführen ist, bei der man ständig lachen muss. Das kommt meistens bei Kindern vor und ist auch unter dem Happy-Puppet-Syndrom bekannt.

Ich biege nach rechts ab und komme in eine Sackgasse, sodass ich mich frage, ob ich hier richtig bin.

»Ihr Ziel befindet sich auf der rechten Seite«, bestätigt mir mein Navi. Da ist nichts, nur ein alter Dorfbrunnen, der wieder einmal eine Säuberung nötig hätte.

Stirnrunzelnd sitze ich da und überlege, was ich jetzt machen soll. Am besten steige ich aus und sehe mich um, zu Fuß findet man versteckte Häuser besser. Also tue ich genau das.

Auch ohne Auto verbringe ich eine gefühlte Stunde damit, mich im Kreis zu drehen. Die Julihitze macht es nicht besser und treibt mir den Schweiß aus allen Poren.

Sind vorher nicht mehr Menschen unterwegs gewesen? Und warum ist jetzt keiner mehr da, den ich nach dem Weg fragen könnte?

Genervt wische ich mir über die Stirn und versuche zu schlucken, was mit ausgetrockneter Kehle fast unmöglich ist. Ich will gerade zurück zum Auto, als ich aus dem Augenwinkel jemanden sehe. Es ist ein Jogger, was ich fast schon ungewöhnlich für diese Temperaturen finde. Trotzdem ist es jemand, den ich um Rat fragen kann, also gehe ich auf den Typen zu, der in schwarzer Jogginghose und passendem Trainingsshirt auf mich zukommt.

Ich hebe die Hand, damit er merkt, dass ich ihn ansprechen möchte, doch er schaut in diesem Moment auf seine dämliche Uhr und rennt mich beinahe um. Ich kann gerade noch rechtzeitig ausweichen, bevor er volle Kanne in mich hineingerannt wäre.

»Kannst du nicht aufpassen?«, brülle ich ihn erschrocken an und sehe nur, wie er kurz den Kopf in meine Richtung dreht und entschuldigend die Hand hebt, um dann weiterzulaufen.

»Das hilft mir auch nicht weiter.« Das kann nicht wahr sein, oder?

Ich setze mich auf den Rand des Dorfbrunnens und tauche meine Finger in das Wasser. Die Abkühlung ist genau das, was ich jetzt brauche. Wie gern würde ich mir die Klamotten vom Leib reißen und in den Brunnen steigen. Dazu bin ich dann doch nicht bereit, außerdem ist mir der Brunnen zu fest mit Moos überwuchert. Also nehme ich mein Handy hervor und gebe noch einmal Ruths Adresse ein. Die Internetverbindung ist ziemlich mies, sodass sich das Rädchen dreht und dreht und dreht.

»War ja klar«, murmle ich und unterdrücke ein gequältes Stöhnen.

»Das erste Mal in Himmelbach?«

Ich hebe den Kopf und blicke in die amüsierten Augen einer jungen Frau mit dunkelbraunen Locken, die ihr zierliches Gesicht umrahmen. »Sieht man mir das an?«

»Ein bisschen vielleicht, aber es ist mehr das Nummernschild«, erwidert sie und deutet mit einem breiten Lächeln auf meinen Wagen.

»Klar«, murmle ich und stecke das Handy wieder in meine Tasche.

»Könnten Sie mir vielleicht sagen, wo ich diese Adresse finde?« Ich halte ihr den Zettel hin, auf dem ich mir die Straße aufgeschrieben habe, in der Ruths Haus steht.

»Sie wollen zu Ruth?« Ihr Blick gleitet über mich, und ich fühle mich ein klein wenig unwohl.

»Ja, ich wollte mich bei ihr vorstellen. Für die ausgeschriebene Stelle als Pflegerin. Ich bin Nina«, erkläre ich mit fester Stimme und gleite vom Brunnenrand runter.

»Freut mich, ich bin Melanie. Da hast du dich aber auf etwas eingelassen«, sagt sie und streckt mir ihre Hand entgegen. Ich ergreife sie lächelnd und schüttle sie kurz. »Na dann, bringe ich dich mal zu Ruth.«

Ich nicke und folge Melanie, die mit beschwingten Schritten in die Gasse tritt, die von zwei Fachwerkhäusern gebildet wird und die ich offenbar übersehen habe.

»Gibt es keinen offizielleren Weg?«, erkundige ich mich bei Melanie, die mich grinsend ansieht.

»Seit ich hier aufgewachsen bin und Ruth kenne, gibt es nur diesen. Du kannst sie danach fragen, wenn du das Kennenlernen überlebt hast.«

»Du meinst überstanden oder bestanden habe«, korrigiere ich Melanie. Ihr Lachen wird von den Steinwänden verschluckt, aber ist dennoch laut genug, um mich zu irritieren. Wie meint sie das? Ist Ruth etwa ein Albtraum?

»Das war ein Spaß. Eigentlich gibt es einen kleinen Schotterweg, der auch zu ihrem Haus führt, aber der hier hat mich schon immer an ein Märchen erinnert. Du weißt schon, wie Hänsel und Gretel, die zum Haus der Hexe laufen. Nur ist Ruth keine Hexe, wobei ... manchmal vielleicht schon.«

Wir treten endlich aus der Gasse und folgen einem kleinen Sträßchen, das zu einem Haus führt. Es ist winzig und sieht uralt aus. Efeu rankt sich an der Vorderseite bis zum Giebel hoch und die Fensterläden aus Holz hängen etwas schief in den Angeln.

»Da wären wir«, meint Melanie und präsentiert mir Ruths Haus. Häuschen, denke ich für mich und atme tief durch.

»Dann wünsche ich dir viel Glück.«

Ich will etwas sagen, mich bei ihr bedanken, doch sie hat sich bereits umgedreht. Die Luft entweicht langsam aus meiner Lunge, während Melanie sich nach ein paar Schritten noch einmal umdreht. Vielleicht sagt sie mir jetzt, dass alles nur ein Scherz gewesen ist.

»Ach, und dein Auto solltest du schnellstmöglich an einen anderen Ort stellen, weil sonst Kari kommt und dir einen Strafzettel gibt. Unser Polizist ist vielleicht alt, aber ein Gesetzeshüter durch und durch. Nur so als Tipp.«

Melanie winkt mir zum Abschied und verschwindet dann aus meinem Sichtfeld.

Als könnte es nicht schlimmer kommen, sehe ich aus dem Augenwinkel, wie die Tür geöffnet wird. Eine alte Dame steht auf der Türschwelle und stützt sich schnaufend auf einen genauso antiken wie instabil wirkenden Gehstock.

»Sie müssen Nina sein, ich bin Ruth«, stellt sie sich vor und streckt ihre knochige Hand nach mir aus. Will sie mich gleich in ihr Hexenhäuschen ziehen und mit Haut und Haaren verschlingen? Nein, sie packt mich am Arm, weil ihre Beine anfangen zu schlottern und sie keine Kraft mehr hat, sich aufrecht zu halten.

»Wow«, presse ich hervor, als sich ihre Nägel in meinen Unterarm bohren und ich mir ein »Aua« verkneifen muss.

Wo bin ich hier nur gelandet?

Kapitel 3

»Möchten Sie zum Zvieri einen Schluck selbst gemachten Eistee? Und dazu ein paar Plätzchen?«, fragt mich die ältere Dame in aufgeregtem Tonfall. Sie schaut mich hinter den flaschendicken Brillengläsern an, dabei hält sie noch immer meine Hand fest. Die Finger drücken so fest zu, dass sie mir fast das Blut abschnürt und es unangenehm zu kribbeln beginnt. So wie jedes Mal, wenn man den Blutdruck gemessen bekommt und das Gefühl hat, dass der Arm gleich abfällt.

»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie einfach so mit Fragen löchere wie einen gut gereiften Emmentaler, aber ich bin schon so gespannt darauf, Sie kennenzulernen, dass ich gar nicht anders kann.«

»Nein, nein schon gut. Ich nehme gern von beidem etwas«, antworte ich schnell und lächle sie an. Der Griff um meine Hand lockert sich etwas, weshalb ich erleichtert ausatme, dennoch lässt sie mich nicht los. Ob sie sich so sicherer fühlt? Oder vielleicht ist es auch nur der Aufregung geschuldet.

»Dann kommen Sie bitte rein.«

Ruth winkt mir zu und angelt sich ihren Gehstock wieder, den sie vorhin kurzzeitig an die Wand gelehnt hat. Mit einem heiseren Ächzen läuft sie hinkend vor mir in den kleinen Flur, der mit einer hölzernen Kommode und einem Herrendiener eingerichtet ist, der bestimmt genauso alt wie Ruth selbst ist. Es riecht nach Kräutern und etwas, das ich nicht beschreiben kann, doch es erinnert mich an meine Großmutter.

Auf einmal überkommt mich ein sentimentales Gefühl, das mein Herz auf diese dumpfe Art erfüllt, die ich immer wieder in meinem Leben verspüre. Wenn die eigene Familie bis auf die Schwester und wenige entfernte Verwandte schrumpft, dann wird man mit der Zeit einsam und dieses Loch wird größer. Man füllt es zwar immer wieder mit anderen, schönen Erinnerungen auf, aber weggehen wird es nie.

»Haben Sie gut hergefunden?«, höre ich Ruths Stimme einige Meter entfernt.

Ich habe überhaupt nicht bemerkt, dass ich stehen geblieben bin. Kaum merklich schüttle ich den Kopf und gehe geradeaus, direkt zur Küche. Auch sie ist klein und hat schon bessere Jahre gesehen. Braune Küchenschränke mit abgenutzten Griffen, eine Arbeitsplatte aus Chromstahl und ein beinahe antiker Herd mit Platten stechen mir ins Auge.

»Die Beschreibung auf den Karten in diesem Intrenet-Dings ist nicht wirklich zuverlässig, oder?«, unterbricht sie erneut meine Gedanken.

»Ja, nein«, stammle ich und reiße mich zusammen. »Es ist das reinste Ratespiel gewesen. Ich musste am Dorfplatz halten und jemanden nach dem Weg fragen, bevor ich Ihr Haus gefunden habe.«

Dass mich diese Person auch hierhergeführt hat, lasse ich gekonnt unter den Tisch fallen, obwohl mir dieses Eingeständnis auch keinen Zacken aus der Krone brechen würde.

»Ach, lassen wir diese Förmlichkeiten. Ich bin Ruth.« Inzwischen hat sie sich gegen die Küchenzeile gelehnt und atmet sichtlich angestrengt ein und aus. Ihre Hand zittert genauso wie ihre Knie, weshalb ich sie ergreife und sanft schüttle.

»Freut mich sehr. Ich bin Nina, das weißt du ja schon«, sage ich lächelnd. »Besser, wir setzen uns ein bisschen hin, dann können wir uns unterhalten.«

Ruth nickt erleichtert und lässt sich von mir zu dem Stuhl helfen, auf den sie sich plumpsen lässt. Dabei geben die dünnen Stuhlbeine aus Holz gefährlich nach, doch am Ende bleiben sie heil. Genau wie Ruth. »Danke, die Hitze macht mir heute mehr zu schaffen als sonst. Man wird eben nicht jünger«, scherzt sie und fächelt sich mit der Hand Luft zu.

Ich schaue mich um, entdecke auf der Anrichte zwei Gläser, die neben der Karaffe mit Eistee stehen. Daneben befindet sich eine Blechdose mit Blumendekor darauf, in der sie bestimmt die Plätzchen aufbewahrt.

Mist! Ich zucke zusammen, als ich an die armen Japonaisgebäcke auf der Rückbank meines Opels denke. Aber jetzt kann ich sie auch nicht mehr retten. Wieso habe ich sie auch vergessen? Ich nehme die Dose in die Hand, rüttle kurz daran und dem gedämpften Rascheln, das erklingt, nach zu urteilen, habe ich recht.

Ich gieße Ruth ein Glas ein. Die Eiswürfel darin schlagen klackernd aneinander. »Ich bin einfach so frech und habe dir mal ein Glas eingeschenkt.«

»Ah, Sie ... ich meine du, du bist ein Schatz.«

Ruth trinkt gierig, bis es zur Hälfte leer ist. Dabei entstehen glucksende Geräusche, die mich zum Schmunzeln bringen. Bis jetzt gefällt mir Ruth sehr, wobei der erste Eindruck auch täuschen kann, was ich aus Erfahrung kenne. Viele betagte Menschen verändern sich, je nachdem wie die Schmerzen ihre Psyche beeinflussen.

»Ist doch selbstverständlich.« Mit dem kühlen Getränk, von dem ich mir ebenfalls etwas nehme, in der einen und der Keksdose in der anderen Hand setze ich mich ihr gegenüber.

»Nicht für jeden.« Sie leert ihr Glas ganz, ehe sie es auf den Tisch stellt. Ruth leckt sich über die schmalen Lippen. »Könntest du mir noch die Keksdose reichen? Nimm dir auch ruhig welche, sie werden sonst alt. Ben hat eine Nussallergie und fasst das Ding nicht einmal mit der Kneifzange an.«

Durch das kleine Fenster dringt trotz des Spitzenvorhanges mit Bienen- und Blütenmuster genügend Licht herein. Es erhellt so die Küche in einem angenehmen, warmen Licht.

»Ben? Ist das dein Sohn?«

Ruth lacht kopfschüttelnd. In ihren Augen glitzern Stolz und das warme Lächeln, das ihre Lippen umspielt, spricht Bände. »Nein, mein Sohn Konrad hat sein eigenes Leben. Ben ist mein Enkel. Er arbeitet als Banker in Zürich und besucht mich oft.«

Ich öffne den Deckel der Keksdose und zum Vorschein kommen Haselnussstangen, besser gesagt selbstgemachte Totenbeinli. Warum man diese Leckerei so nennt, weiß ich nicht, aber vielleicht kommt es daher, dass die Dinger immer so hart wie Knochen sind.

»Das klingt nach einem sehr netten Mann.« Und ein weiser, denn ich kann durchaus verstehen, dass er die Finger davonlässt. Nicht nur wegen der Allergie, die natürlich der wichtigere Grund ist, sondern weil diese Art von Gebäck nur mit einer Tasse Kaffee genießbar ist.

Die geöffnete Dose stelle ich zwischen uns auf den Tisch und schenke Ruth gleich noch einmal nach, damit sie etwas zu Kräften kommt. Ihr Gesicht ist auch nicht mehr so fahl wie vorhin. Ihre Atmung hat sich normalisiert, was jetzt nicht unbedingt vom Eistee kommt, aber dennoch erfreulich ist.

Während sie an einem der länglichen Kekse knabbert, ruht ihr Blick leicht prüfend auf mir.

»Dein Haus ist wirklich schön, es erinnert mich an das meiner Oma. Leider lebt sie schon seit ein paar Jahren nicht mehr, aber es hat fast schon eine tröstende Wirkung auf mich.«

»Oh, das tut mir leid. Es ist immer schwierig, wenn man jemanden verliert, den man liebt. So geht es mir mit meinem Oskar. Er hat mich schon vor zwanzig Jahren zur Witwe gemacht.«

Betroffen schaue ich sie an und lege meine Hand aus einem Impuls heraus auf ihre. Ruth zuckt nicht zurück, sieht allerdings einige Sekunden lang darauf, ehe sie meine mit ihrer eigenen sanft tätschelt.

»Du musst mich nicht so anschauen, mir geht es gut. Zumindest in diesem Sinne.«

Ruth liefert mir die perfekte Überleitung zum eigentlichen Zweck meines Besuchs. »Wie ist es denn überhaupt zu dem Sturz gekommen?«

Sie kräuselt die Lippen und lehnt sich seufzend nach hinten. Ihre Hände faltet sie im Schoß, fast so, als würde sie beten. Vielleicht ein Stoßgebet, dass sie den Sturz ohne schlimmere Verletzungen überstanden hat, aber vielleicht interpretiere ich auch zu viel hinein.

»Na ja, das ist eigentlich ganz schnell erzählt, weil es auch schnell passiert ist.« Trotz des Unglücks sehe ich, dass in ihren Augen ein Funke aufblitzt, der von Lebenswillen zeugt. »Ich habe diesen dämlichen Vogel zum Schweigen bringen wollen, der mich jeden Morgen um punkt fünf Uhr aus dem Bett holt. Dazu habe ich jedoch eine Flinte gebraucht, die meines Großvaters, die ich auf dem Dachboden verstaut habe, als es mir noch besser gegangen ist. Wie es halt so ist, überschätzt man im Alter dann doch die eigenen Kräfte, sodass ich mich an der Wand abgestützt habe und dann abgerutscht und gestürzt bin«, sie macht eine Pause und zuckt mit den Schultern. »Dieses dämliche Vieh hat mich fast umgebracht, obwohl ich ihm den Hals umdrehen wollte«, schimpft sie weiter, verdreht die Augen jedoch immer noch mit einem Schmunzeln auf den Lippen.

»Es muss für dich ziemlich verrückt klingen, aber ich habe wirklich vorgehabt, die Flinte vom Dachboden zu holen, um damit auf einen Specht zu schießen!« Über ihre eigene Idee lachend greift sie zum Glas und setzt es an ihre Lippen. Dabei fällt mir das leichte Zittern der Hand auf, das sich nach wie vor hält. Ich gehe nicht weiter darauf ein und höre ihr aufmerksam zu.

»Aber ich muss zu meiner Verteidigung auch sagen, dass mich diese Kreatur schon seit Jahren in den Wahnsinn treibt. Seit einer Weile ist es besonders schlimm. Er hämmert, als gäbe es kein Morgen mehr, also ist es die logische Konsequenz, dass er wegmuss.«

Sie zuckt mit den Schultern und knabbert erneut an ihrem Keks. »Ich weiß, jeder Tierschützer schreit jetzt wieder rum, aber zu meiner Zeit war das Schießen noch ein gefeierter Sport. Du sitzt der Schützenkönigin gegenüber, die ihren Titel fünf Jahre in Folge halten konnte.«

Der Stolz in ihrer Stimme und das Leuchten in Ruths Augen verrät mir noch so viel mehr, sodass ich ihr die Aktion auch nicht übelnehme. Selbst wenn sie es geschafft hätte, auch ich verteufle so manches Vogelgezwitscher, das mich eine Stunde vor Klingeln des Weckers daran hindert, noch einmal einzuschlafen.

»Na, dann hab ich mit dem Gesicht nach unten gelegen und bin unfähig gewesen, mich zu bewegen. Gebrochen ist nichts, das habe ich gespürt, aber dafür hat mir der Kopf auch noch Wochen später wehgetan.«

»Hat dich jemand gefunden, oder wie konntest du dich aus dieser schrecklichen Situation befreien?«, hake ich vorsichtig nach. Es ist schon schlimm genug, dass ihr so etwas passiert ist, da will ich nicht noch mehr in der Wunde herumstochern.

»Ben hat mich am Boden liegen sehen. Er hat mir später erzählt, dass er ein komisches Gefühl gehabt hat und einfach nach der Arbeit losgefahren ist. Er ist es auch gewesen, der den Rettungsdienst gerufen hat.«

Ich nicke mitfühlend, streichle ihr noch einmal über die faltige Hand, was Ruth mit einem schwachen Lächeln erwidert.

Plötzlich ist das Geräusch eines Schlüssels zu hören, der im Schloss herumgedreht wird. Keine zwei Sekunden später folgen Schritte und ein tiefes »Hallo Oma, ich bin wieder da!«

»Ben?«, ruft Ruth erfreut zurück. Sie will aufstehen, doch ihre Beine geben wieder nach und sie sackt zurück auf den Stuhl. Schnell greift sie zum Glas, leert es in einem Zug, als würde sie dadurch zu Kräften kommen.

Die Schritte nähern sich schnell. Und schon bevor ich diesen Ben zu Gesicht bekomme, fängt mein Herz an, schneller zu schlagen. Es pocht gegen meine Rippen. Als ich aufstehe und mich umdrehe, erkenne ich auch den Grund. Es ist der Jogger von eben, derjenige, der mich fast umgerannt hat.

»Sie!?«, sagen wir beide im Chor. Wir schauen uns in die Augen. Seine schimmern in einem angenehmen Blauton. Ein Ausdruck von Verwunderung liegt in ihnen.

»Ihr kennt euch?«, krächzt Ruth und stemmt sich auf den Tisch gestützt hoch.

»Nur flüchtig«, sage ich, während von Ben ein deutliches »Nein« kommt.

»Ja was denn nun? Flüchtig oder kennt ihr euch nicht?«, will die resolute Dame mit hochgezogenen Brauen wissen.

»Nun ja, wir ...«, wieder reden wir beide zur selben Zeit, was mich zum Schmunzeln bringt. Und ihn dazu, sich verlegen am Nacken zu kratzen.

Schweißperlen rinnen seinen Hals hinunter und verschwinden im Kragen seines Shirts, das ziemlich eng an seinem Bauch anliegt und zwar keinen Waschbrettbauch erkennen lässt, aber dennoch definierte Linien.

»Sie zuerst.« Er schenkt mir ein Lächeln, das mein Herz zum Stolpern bringt. Es ist die Art von Lächeln, die echt und nicht erzwungen wirkt. Ben ist mir auf Anhieb sympathisch.

»Als ich ihn nach dem Weg gefragt habe, hat dein Enkel mir nicht einmal zugehört und mich fast umgerannt.«

»Ja, das war keine Glanzleistung von mir. Dafür entschuldige ich mich auch aufrichtig bei Ihnen«, erwidert Ben. Er reicht mir seine Hand. Seine Finger sind lang und schmal, kurzgeschnittene Nägel unterstreichen den gepflegten Eindruck.

Ich ergreife sie und in diesem Moment habe ich das Gefühl, dass Funken zwischen uns sprühen. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, aber auch Ben sieht für einige Sekunden auf unsere Hände. Erst danach in meine Augen.

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Ben«, sage ich überraschenderweise mit fester Stimme. Dieser Moment des Kennenlernens nimmt mich vollkommen in Beschlag, was erst durch Ruths Räuspern beendet wird. Ben geht es genauso, denn er blinzelt hektisch und beginnt meine Hand zu schütteln.

»Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite, ...«

»Nina«, murmelt seine Oma.

»Nina«, wiederholt Ben schließlich. Ich muss sagen, dass es mir gefällt, wie mein Name aus seinem Mund klingt.

»Ich möchte euch ja nicht stören, aber ich denke, du solltest eine Dusche nehmen.« Ruth mischt sich ein und beendet somit unser Kennenlernen. Dabei rümpft sie die Nase, während sie sich noch immer auf dem Tisch abstützt. Ihre Knöchel treten bereits weiß hervor, weshalb ich einen Schritt nach hinten mache, um etwas Abstand zwischen Ben und mich zu bringen.

»Klar, natürlich. Entschuldige, Oma. Ich geh dann mal nach oben und lasse euch weiterreden.« Ben lächelt mich noch einmal an, ehe er sich umdreht und aus der Küche in den Flur verschwindet. Die knarrenden Stufen verraten mir, dass er nach oben hastet.

»Ist er nicht reizend?« Ruth sieht mich fast schon auffordernd an, deshalb nicke ich. Ich habe keine Ahnung, wie ich mich verhalten soll.

»Er scheint sehr nett zu sein, wenn er nicht gerade mit Laufen beschäftigt ist«, antworte ich und fühle mich etwas befangen.

»Ja, das ist leider sein einziges Hobby, abgesehen davon, mich noch immer ohne Urenkel hier in Himmelbach schmoren zu lassen.«

Jetzt wird es mir zu intim, weshalb ich sie zum Sitzen bewege, damit sie sich nicht überanstrengt. Die Sonne wandert langsam gen Westen. Auf einmal merke ich, wie die lange Fahrt und der wenige Schlaf ihren Tribut fordern.

»Ich sollte langsam aufbrechen«, sage ich, nachdem wir uns noch etwas unterhalten haben. Small Talk, dennoch amüsant.

»Jetzt schon? Du könntest hier übernachten. Ich habe zwar nur ein Gästezimmer, aber Ben kann sicher auch auf dem Sofa schlafen.«

»Das ist wirklich lieb, aber ich werde mir hier ein Zimmer im Gasthaus nehmen.«

Ruths Lachen irritiert mich ein wenig, doch die Erklärung folgt gleich darauf: »Ach Schätzchen, wir haben hier zwar ein Gasthaus, aber die paar Zimmerchen sollten wir den wenigen Touristen überlassen, die sich hierher verirren. Ich bin mir sicher, dass Ben bestimmt nichts dagegen hat.«

»Wogegen?«, höre ich plötzlich Bens tiefe Stimme hinter mir. Obwohl ich das nicht will, drehe ich mich zu ihm um und schaue ihm direkt in die Augen. Dieses Mal haben sie einen tieferen Blauton angenommen, fast schon so, als würde sich ein Sturm in ihnen ankündigen. Sein Lächeln ist noch immer freundlich und aufgeschlossen, ganz anders als bei unserer ersten Begegnung.

»Eine Nacht auf der Couch zu schlafen, mein Junge. Nina wollte doch tatsächlich bei Fritz im Gasthaus absteigen.«

Ich komme mir jetzt auf einmal etwas überflüssig vor, doch das ändert sich, als Ben sich an mich wendet.

»Ich überlasse Ihnen gern das Gästezimmer. Ich muss sowieso morgen früh zurück nach Zürich.«

Er trocknet sich die noch nassen Haare mit einem bunten Handtuch. Jetzt trägt er ein Shirt mit Markenaufdruck und eine kurze Jogginghose, die einen Blick auf seine langen Beine preisgibt.

»Nun lasst doch die Förmlichkeiten, ihr kennt euch bereits.« Ruth kräuselt erneut die Lippen und zieht eine Braue nach oben.

»Es ist unsere Entscheidung, wann wir zum Du wechseln, Oma. Aber ich muss sagen, dass mir das Du auch besser passen würde.« Er sieht mich fragend an, weshalb ich nicke.

»Klar, du klingt gut«, erwidere ich.

»Mein Junge, vielleicht zeigst du Nina mal das Gästezimmer? Ich muss mich ein wenig hinlegen, die Hitze und das nette Gespräch haben mich mehr erschöpft, als ich zugeben möchte«, sagt Ruth.

»Sicher, Oma. Ruh dich aus und ich kümmere mich um das Abendessen.« Er streichelt ihr sanft über den Rücken.

Ächzend erhebt sie sich, greift nach ihrem Gehstock und humpelt langsam aus der Küche, sodass wir allein zurückbleiben. Die Frage, ob ich hier eine Zukunft habe, mischt sich unter die ganzen anderen Eindrücke, die ich in den letzten Stunden gesammelt habe. Vielleicht kehre ich schon bald in mein altes Leben zurück. Jetzt, da ich die Flügel ausgebreitet und den Versuch gewagt habe, in die Lüfte zu steigen, fühlt es sich falsch an, wieder zu landen.

Kapitel 4

»Das Gästezimmer liegt im oberen Stockwerk«, erklärt Ben mir mit seiner melodischen Stimme, der ich kurz darauf durch die Küche in den Flur folge. Dabei schaue ich mich nach Ruth um, doch ich kann sie nirgends entdecken.

»Sie ist wahrscheinlich im Garten und ruht sich in ihrem Schaukelstuhl aus.«

»Kannst du Gedanken lesen?«, erwidere ich lächelnd. Ich sehe, wie sich sein Gesicht aufhellt, was den Ton seiner Augenfarbe verändert.

»Nein, aber ich habe mir gedacht, dass du nach ihr suchst. Dein sorgenvoller Blick hat dich auch verraten.«

Sorgenvoll?

»Habe ich etwas Falsches gesagt?«, fragt er, als ich gedankenversunken dastehe und ihm nicht antworte.

»Nein, alles gut«, wiegele ich ab, lächle ihn zur Bekräftigung an. Bens Stirn legt sich in Falten, dann glättet sie sich wieder. Er steigt mit einer Leichtigkeit die Stufen hinauf, die mich beeindruckt. Durch meine Arbeit bin ich schnelles Gehen gewohnt, manchmal eilt es eben und dann muss man schnell sein, aber seine Sportlichkeit übertrifft meine bei Weitem. Als eine Stiege besonders laut knarrt, zucke ich zusammen, was Ben amüsiert. Er verkneift sich nur mit Müh und Not ein Prusten.

»Alte Häuser.« Ich nicke, weil ich keine Ahnung habe, was ich sonst dazu sagen sollte.

Oben angekommen begrüßt uns eine alte Blumentapete aus den Siebzigern, die an einigen Stellen bereits durch die Sonneneinwirkung verblasst ist oder gar abblättert. Auch hier riecht es nach dieser eigenen Mischung aus Zitrone und Kräutern.

»Rechts geht es ins Badezimmer und hier ins Gästezimmer, daneben liegt das Schlafzimmer meiner Oma«, erklärt mir Ben, der auf eine Tür deutet, die nur angelehnt ist.

»Dir macht es wirklich nichts aus, auf der Couch zu schlafen? Weil ich mir genauso gut ein Zimmer bei diesem Fritz nehmen kann.«

Ben steht vor mir und greift nach der Klinke, hält aber bei meiner kleinen Rede inne. Er kneift die Augen leicht zusammen, wirkt fast so, als würde er noch etwas sagen wollen, tut es aber nicht. Was schade ist, denn ich hätte gern gewusst, was er gerade denkt.

»Nein, mir macht es nichts aus. Ich fahre sowieso morgen früh los. Alles gut, Nina.«

Ben drückt die Klinke runter, und ich mache automatisch einen Schritt auf die Tür zu, doch dann dreht er sich wieder zu mir herum, sodass ich gegen seine Brust pralle. Für einen Moment vergesse zu atmen.

Mein Herz pocht wild in meiner Brust. Ich spüre die Wärme seines Körpers, die auf mich übergeht. Der Duft nach Seife und etwas Erdigem, Frischem steigt mir in die Nase. Es erinnert mich an einen Sommertag im Wald.

Auch Ben sieht mich an. Zum ersten Mal erkenne ich, dass er einen Kopf größer ist als ich. Er sieht auf mich hinunter und ist meinen Lippen so verdammt nah, dass ich mir sicher bin, dass es für uns beide ein leichtes Unterfangen wäre, den anderen zu küssen.

Warum soll er dich küssen? Er kennt dich doch nicht einmal!

Der Weckruf meiner inneren Stimme hält mich davon ab, mich noch länger wie in Trance zu verhalten. Hektisch blinzelnd mache ich einen Schritt zurück, bringe genügend Abstand zwischen uns und atme tief durch. Meine Lunge füllt sich zwar mit Sauerstoff, doch sein Geruch haftet immer noch daran, sodass mir beinahe schwindlig wird.

»Ich wollte eigentlich fragen, ob du Gepäck mitgenommen hast?«

Was?

»Ja, ja, das habe ich im Auto gelassen«, stammele ich, hoffe, dass mein Gesicht nicht die Farbe einer überreifen Tomate angenommen hat, denn die Vorstellung, dass er mich gar nicht hätte küssen wollen, was an sich schon eine dämliche Vorstellung ist, lässt mich vor Schamesröte anlaufen.

»Dann hole ich es schnell, natürlich nur, wenn du möchtest.«

»Klar, also das wäre sehr nett von dir.« Ich lächle schwach und beiße mir auf die Lippe.

Tief durchatmen, Nina. Tief durchatmen.

»Die Schlüssel sind in meiner Tasche.«

Und die liegt auf der Kommode im Flur, also gehen wir wieder runter. Ich krame so lange in diesem verfluchten Ding herum, bis ich sie gefunden habe.

»Danke, Ben«, sage ich und gebe sie ihm.

Er verlässt das Haus. Dann stehe ich wie bestellt und nicht abgeholt im Flur herum und weiß nichts mit mir anzufangen.

»Großartig, Nina, wirklich großartig.« Ich wippe mit dem Fuß auf und ab, habe keine Ahnung, wie lange Ben schon weg ist, aber irgendwie komme ich mir noch dümmer vor, wenn ich hier herumstehe, also gehe ich ins Wohnzimmer.

Es ist, wie jedes Zimmer in diesem Häuschen, überraschend klein. Dennoch hat eine wuchtige Wohnwand darin Platz, die zwei Vitrinen voll mit Fotos und anderen kleinen Andenken beherbergt.