Die kleine Geschichte einer großen Liebe - Hubertus Meyer-Burckhardt - E-Book

Die kleine Geschichte einer großen Liebe E-Book

Hubertus Meyer-Burckhardt

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Beschreibung

Susan, 54, hat mit der Liebe abgeschlossen. Nach ein paar großen und vielen kleinen Enttäuschungen, ist sie überzeugter Single und gut darin, ihr Herz vor emotionalen Verwirrungen zu bewahren. Glaubt sie. Ein italienisches Restaurant in Hamburg belehrt sie eines Besseren: Dort trifft sie Simon, 56, der seiner zahlreichen emotionsarmen Affären überdrüssig ist, und gerade erst anfängt, nach echter Liebe zu suchen. Simon und Susan kommen bei Rotwein und Seezunge ins Gespräch - und verlieben sich ...

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Inhalt

CoverTitelImpressumZitatDIE KLEINE GESCHICHTE EINER GROSSEN LIEBEDanksagung

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Das Zitat von Dick Francis stammt aus folgender Ausgabe: Dick Francis, Handicap. Ein Sid-Halley-Roman, Zürich, Diogenes, 1991, siehe S. 115f. Das Zitat von Osho stammt aus folgender Ausgabe: Osho, Being in Love. Achtsam lieben und vertrauensvoll miteinander umgehen, München, Goldmann Arkana, 2008, siehe S. 165f.

Originalausgabe

Copyright © 2014 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Marion Hertle, München Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München Umschlagmotiv: © getty images/smartboy10 E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-838-75875-6

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

»Komm’, Hoffnung, lass’ den letzten Stern

der Müden nicht erbleichen!«

Ludwig van Beethoven

Fidelio 1. Akt, 6. Auftritt

Ich hab einen spannenden Job für dich, bei dem du ganz hübsch verdienen kannst, Spesen inklusive!« – der Anruf ihrer ehemaligen Kollegin kam für Susan gerade richtig. Rettend richtig, um genau zu sein. Sie war mal wieder am oberen Rand ihres Dispo-Limits angekommen und konnte einen neuen Auftrag gut gebrauchen. Wäre es technisch möglich gewesen, hätte sie Anne durch die Leitung umarmt.

Aber warum die Frauenzeitschrift sie – ausgerechnet sie – nach Hamburg schickte, um Leserinnen zu interviewen, die ihre große Liebe erst um die fünfzig getroffen hatten, war ihr ein Rätsel. Denn sie, Susan Knight, die seriöse Journalistin und Sachbuchautorin, glaubte weder an die große Liebe noch daran, dass Männer ernsthaft etwas Sinnvolles dazu beitragen konnten. Nur das Alter stimmte – gerade war sie einundfünfzig geworden.

Sie hatte mal geliebt, sehr geliebt, und einen hohen Preis dafür bezahlt – im wahrsten Sinne des Wortes. Die sogenannte »Liebe ihres Lebens« hatte nicht nur ihre emotionalen Ressourcen aufgebraucht, sondern auch ihre finanziellen. Guido – der bescheuerte Name hätte sie eigentlich schon stutzig machen müssen – hatte exakt so lange an ihre Beziehung geglaubt, bis Susan mit ihrem Journalistengehalt seine gesamte Berufsausbildung mitfinanziert hatte. Den Magister und einen guten Job in der Tasche, ließ Guido Susan mit einem leer geräumten Konto und einem tief verletzten Herzen zurück, dessen Narben zwar verheilt, aber noch deutlich spürbar waren. Auch ihr Konto hatte sich noch nicht vollständig wieder erholt, Ersparnisse gab es jedenfalls keine – nicht zuletzt deshalb saß sie nun an diesem herbstlichen Sonntagnachmittag im Flugzeug von Zürich nach Hamburg.

Und jetzt das: Turbulenzen. Sie mochte keine Turbulenzen, weder im Flugzeug noch im Privatleben. Guidos Abschied war jetzt über zwanzig Jahre her, und seitdem kam sie ganz gut ohne emotionale Turbulenzen aus. Dank eines Jobangebots war sie damals nach Zürich gezogen, einen in jeder Hinsicht neutralen Ort, unbelastet von irgendwelchen Erinnerungen, und hatte das Thema Liebe in dem bombensicheren Panic Room ihres Herzens verschlossen.

In einer halben Stunde würde die Maschine der Swiss, in deren 14. Reihe Susan auf Fensterplatz F saß, in Hamburg landen. Neben ihr las eine Frau Ildikó von Kürthy. »Nur schlafende Frauen sind zufrieden« stand auf der Rückseite des Buches. Stimmt, dachte Susan, aber nur, solange ihnen kein kitschiger Traum in die Quere kommt.

Die Maschine setzte zum Landeanflug auf Hamburg an. In Zürich ließ Susan mittlerweile eine weitere gescheiterte Beziehung und ein paar Liebeleien zurück. Nichts davon war so eng gewesen, dass sie jetzt jemanden vermissen würde. Und das wollte was heißen, wenn man sich an einem regnerischen, trüben Nachmittag Ende Oktober im Anflug auf Hamburg befand, um dort eine Weile zu bleiben. Immerhin wird der Auftrag unterm Strich deutlich besser bezahlt als mein letztes Sachbuch, tröstete sich Susan und ließ den Sicherheitsgurt einrasten.

Die Maschine setzte hart auf und bremste so heftig ab, dass Ildikós Werk von Mittelplatz 14 E unter allen Reihen bis nach vorne durchschlidderte und von einem Herrn in Reihe 1 mit spitzen Fingern und ebensolchem Mund über die Gänge zurückgereicht wurde – und bei Susan landete! »Da denkt tatsächlich jemand, ich lese ›Nur schlafende Frauen sind zufrieden‹«, empörte sie sich. Gut, es stimmte – sie hatte in der Tat auch schon mal Ildikó gelesen, denn Sachbücher trocknen einen auf Dauer emotional aus – aber sah sie nun schon so aus, als würde sie auf Frauenliteratur stehen? Voller Plattitüden über den großen Herzschmerz und das Verliebtsein? Andererseits – was war so verkehrt daran? Wollte sie sich nicht auch verlieben, bis über beide Ohren? Und dasselbe zurückbekommen? – schoss es Susan plötzlich, unvermittelt und unerwünscht durch den Kopf, während die Passagiere unruhig darauf warteten, dass sich endlich die Türen der Maschine öffneten. Und wenn schon, dachte sie und schob gedanklich diese ganze Gefühlsduselei gleich wieder beiseite.

Hamburg empfing Susan mit dem für die Stadt so typischen Dauerregen. Der Himmel hing tief – und Susans Mundwinkel bald auch. Ihre alte Freundin Anne, die ›für das Verlagshaus die Knochen hinhielt‹ (ihre Formulierung) kannte wohl Susans schamhaft verborgene Seite und hatte sie deshalb zu diesem Happy-Couple-Thema im Herbst nach Hamburg geholt. Aber leider nicht vom Flughafen ab – was sie hoch und heilig versprochen hatte. Susans Stimmung verdüsterte sich zusehends. Als sie vor dem Flughafengebäude durch Regen und Sturm zum Taxi rannte, übersah sie sehr zum Leid ihrer neuen Stiefeletten eine gefühlt metertiefe Pfütze und ärgerte sich auf dem Rücksitz nicht nur über das ruinierte Wildleder, sondern vor allem über ihre nassen Füße.

Um das Desaster komplett zu machen, entpuppte sich der Taxifahrer auch noch als Valentino für Arme: Kaum saß sie im Wagen, raunte er auch schon im Barry-White-Timbre: »Ich stehe auf Frauen über vierzig!« Dabei stierte er sie siegessicher über den Rückspiegel an. Typ Robinson-Club-Animateur im Sommer, Skilehrer im Winter. Jetzt war Oktober, also weder noch. »Heiße Chris«, setzte er nach.

»Und richtig?«, versuchte Susan ihm einen verbalen Kinnhaken zu verpassen.

Chris schaute verblüfft aus der Wäsche, an die sie ihm bestimmt nicht wollte.

»Christian.«

»Aha. Aber Chris kommt besser an bei der Akquise im Taxi, oder?«

»Klar. Und das mit den über vierzig auch«, setzte er frech nach.

»Verstehe ich nicht«, sagte Susan.

»Na, Frauen zehn Jahre jünger schätzen. Das kommt extrem gut. Die schönsten zwanzig Jahre im Leben einer Frau sind die zwischen dreißig und vierzig. O-Ton mein Vater.«

»Na vielen Dank auch.« Hamburg, November, Regen, Chris – auf diesem Boden gedeihen Depressionen. Nichts als raus aus diesem Wagen, dachte Susan. An einer Ampel mit nervtötend langer Rotphase wischte sie die beschlagene Scheibe frei, um Chris’ scheelen Rückspiegel-Blicken auszuweichen, und entdeckte das leuchtende Schild eines italienischen Restaurants: »La Bruschetta« stand dort, und das orangerote Licht, das durch die Fenster des Restaurants schien, verhieß Wärme und Gemütlichkeit. Tropfen an den Souterrain-Scheiben, Weinregale, Marcello Mastroianni schwarz-weiß an der Wand. Vor der Tür, die einen Spalt offen stand, unterhielten sich rauchend zwei Kellner.

»Lassen Sie mich hier raus, Chris«, rief Susan plötzlich entschlossen.

»Nicht zum Hotel?«, fragte Chris entgeistert.

»Nein, ich brauche etwas Luft.«

Der Taxifahrer widersprach nicht und unternahm keine weiteren Flirt-Versuche. Entweder hatte ihn Susans herb abweisende Art verschreckt, oder lag es an der mittlerweile eingeschalteten Innenbeleuchtung des Wagens, die ihm eine etwas realistischere Einschätzung ihrer physischen Verfassung ermöglicht hatte?

Die Sachbuchautorin in ihr war erleichtert, Susans andere Hälfte indes ein wenig enttäuscht. Keine Akquise-Bemühungen mehr abwehren zu müssen war schal. »Sparen macht Spaß, wenn du Geld hast«, pflegte ihre Mutter in passenden, bisweilen auch unpassenden Momenten zu sagen. Wie auch immer. Links eine Reisetasche voller Manuskripte, rechts einen Koffer mit Klamotten in gedeckten Farben für eine Woche Hamburg, stolperte Susan direkt in die Arme von »Ich bin Sandro!«, einem gutgelaunten, prallen Glatzkopf mit sympathischen Lachfältchen um die Augen. Schon vor Betreten des spärlich besetzten Restaurants nahm der »Padrone« ihr beide Gepäckstücke ab. »Du kriegst beste Tisch«, sagte der kompakte Südländer, dem die Brusthaare aus dem stramm sitzenden Hemd quollen, und geleitete sie in sein Reich.

Susan strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht und beschloss, ihren Ärger über die ruinierte Frisur, die triefende, halbgare Anmache und die nassen Stiefeletten augenblicklich in einer Flasche Rotwein zu ertränken. Bereitwillig ließ sie sich deshalb von Sandro aus dem Mantel helfen.

In protestantisch geprägten Gegenden waren italienische Restaurants wie eine Oase in der Wüste, und so empfand Susan es auch jetzt. Die höhlenartige Souterrain-Trattoria hatte etwa zwanzig Tische, an den weiß gekalkten Wänden hingen großformatige Schwarz-Weiß-Fotos italienischer Ikonen wie Sophia Loren und Adriano Celentano vor einem dampfenden Teller Spaghetti. Paolo Conte sang zu all dem, und Susan entdeckte eine Pinnwand mit Promi-Fotos, von denen sie allerdings keinen erkannte.

»Valerio, die Dame hat Appetit …«, rief Sandro in die Küche.

»Ich hätte lieber eine Flasche Rotwein. Primitivo. Ich esse später«, sagte Susan, setzte sich und atmete einmal tief durch, bevor sie die Manuskripte für ihren Artikel vor sich ausbreitete. Zehn Paare hatte ihre Freundin Anne bereits recherchiert, und alle lebten in oder nahe bei Hamburg. Alle hatten nach eigenen Angaben die große, ja die größte Liebe ihres Lebens erst mit fünfzig oder später getroffen.

Susan sah sich die Fotos und Lebensläufe der Frauen und Männer an, denn sie musste eine Auswahl treffen – alle zehn würde sie sicher nicht schaffen. Die Paare blickten klar und offen in die Kamera. Wie Kinder es taten, wenn sie zeigen wollten, dass sie sehr glücklich sind. Niemand kokettierte. Mag sein, dass sich in ihren Augen Hoffnung oder Dankbarkeit spiegelten, vielleicht auch Melancholie. Susan fiel auf, dass die Männer im Alter der Frauen zu sein schienen, keiner wirkte deutlich älter. Im Gegenteil.

Wie ein Mosaik legte Susan die Fotos vor sich auf dem Tisch aus: So unterschiedlich diese Männer auch waren, sie alle hatten eines gemeinsam: Lachfalten! »Er hat mich zum Lachen gebracht.« Das war die Antwort einer der Frauen auf die Frage, warum sie sich ausgerechnet in diesen Mann verliebt hatte. War es so einfach?

Aus einem Hinterzimmer des Restaurants drangen laute Geräusche, Zucchero kam mit seiner Domenica kaum dagegen an. Es hörte sich an wie eine Fußball-Übertragung. Stimmen italienischer Männer, die den Sieg irgendeiner Mannschaft zu feiern schienen. Sandro schlenderte an Susan vorbei: »Bari hat gewonnen. Es war knapp, weißt du, die Verteidigung ist schwach.«

Wie selbstverständlich ging der Padrone davon aus, das Susan sich a) für Fußball und b) für das Schicksal seines Heimatclubs interessierte. »Wenn Bari gewinnt, geht das Risotto auf mich. Ist immer so!« Ungefragt stellte er einen Teller dampfendes Trüffelrisotto auf ihre Unterlagen und setzte sich selbst mit einem Teller Risotto Funghi dazu. Er begann darüber zu philosophieren, dass Bari in seiner Jugend die Defensiv-Strategie der Nationalmannschaft von Uruguay übernommen habe, was wohl zum Erfolg geführt hatte. Aber lang sei es her.

»Bist du zum ersten Mal hier?« Charmant war er nicht, aber herzlich. »Was machst du?«, bohrte er weiter. Er betrachtete die Fotos, die nicht von den Risotto-Tellern verdeckt waren. »Bist du Personal-Chefin? Sind das Bewerberinnen?«

Susan war sich unsicher, ob sie als Sachbuchautorin oder als Susan antworten sollte. Gerade als sie die Entscheidung getroffen hatte, öffnete sich die Tür zum hinteren Raum. Mittelalte Italiener, die sie ansahen wie ihre gleichaltrige Schwester, strömten heraus. Sandro war aufgesprungen und eilte ihnen entgegen. Den jungen Freundinnen der mittelalten Italiener schenkte Sandro zum Abschied je eines seiner Kochbücher mit Widmung – und bekam von jeder einzelnen einen Kuss dafür. Wie einst Hans Rosenthal sprang der kleine Südländer nach jedem »Bacio« vor Freude in die Luft. Susan begann ihn zu mögen. Die Antworten auf seine Fragen von vorhin schienen ihn nicht mehr zu interessieren.

»Glauben Sie, dass man mit fünfzig noch die Liebe seines Lebens finden kann?«, fragte Susan Sandro, als der sich wieder gesetzt hatte, und sortierte ihre Unterlagen.

»Als Mann ja, als Frau nein«, antworte er. Damit war der Fall für ihn erledigt, und er wandte sich dem anderen Kellner zu. Draußen auf der Terrasse saßen ein paar Raucher, und Sandro war aufgefallen, dass sie nichts mehr zu trinken hatten. Die Bedürfnisse der Nikotin-Junkies waren ihm offenbar wichtiger als die Klärung der Wahrscheinlichkeit einer großen Liebe mit fünfzig, ging es Susan durch den Kopf. Aber sei’s drum, sie fühlte sich hier ganz gut aufgehoben, besser jedenfalls als im Taxi und jetzt allein im Hotel zu sitzen.

Also widmete sie sich wieder ihren Paaren, von denen jetzt ein paar Risotto-Spuren im Gesicht hatten. Der Tisch sah inzwischen aus, als ob sie seit Tagen an ihm gearbeitet, gegessen und getrunken hätte. Mittlerweile war Sandro zurück und wollte ihr eine Seezunge andrehen. »Fisch, frisch!«

An einem Sonntag, klar, dachte Susan und schaute sich ein wenig um. Das Lokal füllte sich langsam, es war schon fast halb acht. Die Gäste kannten sich offenbar zum Teil untereinander und schienen von Tisch zu Tisch Gespräche fortzusetzen, die beim letzten zufälligen Aufeinandertreffen in diesem Restaurant aus welchen Gründen auch immer ein abruptes Ende gefunden hatten.

»Ich möchte nicht mehr ohne ihn sein« – das hatte Ulla aus Hamburg, Tierärztin, zwei Mal geschieden, Interesse an amerikanischer Literatur, sofort gewusst. Susan blätterte weiter. »Als ich aufhörte, mich nach Nähe zu sehnen, stellte sie sich ein. Ich stieg in ein Taxi und nahm gar nicht wahr, dass außer dem Fahrer noch jemand drin saß – Jörn. Er wollte gerade bezahlen. Wir fuhren zusammen weiter. Den Taxifahrer haben wir einige Monate später ausfindig gemacht und mit seiner griechischen Freundin zu unserer Hochzeit eingeladen.«

Am Abend vor Susans Abreise aus Zürich hatte Eckhard von Hirschhausen im Schauspielhaus gastiert. Ein gewisser Torsten hatte Susan vor einiger Zeit die Karten geschenkt und sich kurz danach aus ihrem Leben verabschiedet, oder genauer: Susan hatte ihn verabschiedet. Jedenfalls war er weg, die Eintrittskarte aber noch da.

Hirschhausen hatte das Publikum auf amüsante Weise darauf aufmerksam gemacht, dass wir nur Liebesfilme sehen, bei denen sich künftige Paare treffen bzw. kennenlernen. Äußerst selten dagegen sehen wir in Filmen, was passiert, wenn Paare sich bereits haben. ›Boy meets girl‹ heißt das Genre, nicht ›Boy has girl‹. Wie war es also mit Ulla und Jörn weitergegangen? Was war passiert, nachdem das erste Kribbeln, die Schmetterlinge und die rosarote Verliebtheit verflogen waren? Was war für Ulla diesmal anders als bei den beiden Ehen zuvor? Was machte die große Liebe aus?

Susan ließ ihren Blick hinaus auf die Terrasse schweifen. Die rauchenden Gäste gaben dem Herbstabend eine tröstliche Note.

»Kann ich Ihnen beim Ablegen behilflich sein?« – Eine schöne Stimme, durchfuhr es Susan.

»Sie geben mir Rätsel auf. Sie sind kein Stammgast. Sie waren noch nie hier. Sandro setzt Sie aber allein an diesen Vierertisch. Das ist ein Privileg. Mysteriös …«

»Woher wissen Sie, dass ich noch nie hier war?«, fragte Susan die Stimme und blickte endlich auf. Ein entspannter Typ, dachte sie. Tony Bennet vor dreißig Jahren.

»Ich bin jeden Abend hier. Nahezu. Ich finde, Sie sollten mir hier, wo Ulla liegt, einen Platz anbieten.«

»Sie kennen Ulla?« Hektisch sammelte Susan die vertraulichen Unterlagen ein. Wie peinlich und unprofessionell!

»Nein, es ist nur wegen ihrer Augen.«

»Meiner?«

»Nein, Ullas! Und wegen ihres Interesses an amerikanischer Literatur.«

»Hören Sie mal, es ist frech, in den Unterlagen von Fremden zu stöbern! Wissen Sie das?«

»Tut mir leid. Ich stand allerdings zwei Minuten neben Ihrem Tisch und hatte Sie taktvollerweise auch angesprochen. Aber Sie haben nicht reagiert.«

»Äh, tut mir leid.«

»Worüber haben Sie denn nachgedacht, als Sie mich nicht gehört haben?«

»Geht Sie nichts an.«

»Stimmt«, sagte die Stimme, und der dazugehörige Mann setzte sich. Mit ihm nahm eine verführerische Wolke aus Rotwein und Aftershave Platz. Ein Mann mit so schönen Händen kann kein schlechter Mensch sein, dachte Susan, und die Sachbuchautorin schlug ihr dafür auf die Finger, dass es wehtat.

»Ich interessiere mich übrigens auch für amerikanische Literatur«, murmelte er. »Dos Passos, Hemingway, Faulkner. Vor allem Faulkner. Musste für Hollywood schreiben, um seine Familie durchzubringen. Sein frühes Werk war komplett durchgefallen bei den Lesern. Qualität will keiner lesen.«

Die Sachbuchautorin Susan fühlte sich mit Faulkner sofort solidarisch. Und ihr Gegenüber hatte sich offenbar warm geredet. Seine grünen Augen waren irgendwie fröhlich, heiter.

»Wer sind Sie denn eigentlich?«, fragte sie ein wenig unwirsch.

»Kanstatt, Simon Kanstatt!« Er erhob sich noch einmal leicht.

Wow, alte Schule, stellte Susan mit einem winzigen Kribbeln im Bauch fest, während Sandro ihrem Gegenüber unaufgefordert und ohne weiteren Kommentar ein Glas hinstellte, in das er wortlos einen Vecchia Romagna goss.

Simon nahm einen kleinen Schluck, betrachtete Susan sorgfältig und sagte dann ganz ruhig: »Schön, dass Sie da sind.«

»Ist das Ihre Art? Sich den Platz zu suchen, der Ihnen attraktiv erscheint, und sich dann einfach ungefragt zu setzen?«

»Welchen sollte ich sonst nehmen?«

Susan sah sich um. Mittlerweile waren alle Tische besetzt. Das bemerkte sie erst jetzt. Ein älteres Ehepaar am Nebentisch prostete ihnen augenzwinkernd zu. So als ob sie sich alle schon seit Jahren kennen würden. Daneben drei junge Frauen, die unvorteilhaft vor dem riesigen Schwarz-Weiß-Foto von Sophia Loren saßen – ein unfairer Wettbewerb. Am Ende des Gastraumes hatte Sandro drei Vierertische zusammengestellt: Irgendeine Rechtsanwaltskanzlei feierte irgendwas, so sah es zumindest aus. Der Chef war offenbar dabei, denn Susan registrierte eine eindeutige Hierarchie des Lachens.

Aber bevor Susan etwas entgegnen konnte, meldet sich Sandro wieder zu Wort: »Simon, dasselbe wie immer?«, dröhnte er.

»Dasselbe wie immer«, bekräftigte Simon und entschied, dass Susan das auch probieren sollte: »Wenigstens probieren!« Und Sandro entschwand Richtung Küche.

Susan empfand diese Entmündigung in diesem Augenblick als ganz befreiend, die Sachbuchautorin in ihr aber natürlich nicht.

»Eigentlich wollte ich heute Abend nicht reden«, verriet Simon unaufgefordert. »Aber ich habe anders entschieden. Sagen Sie, was tun Sie in Hamburg?«    

»Woher wissen Sie denn, dass ich nicht aus Hamburg komme?«

»Es ist bei uns nicht Brauch, mit Koffern ins Restaurant zu gehen. Das mag in …?« Er lächelte Susan höflich an. »In …?«

»Zürich!«

»… vielleicht anders sein.«

»Wie haben Sie denn mitbekommen, dass ich mit Koffern hier bin?«

»Die Schiebetür zum Nebenzimmer im hinteren Teil des Restaurants war einen Spalt offen. Ich saß beim Fußballspiel, und als Sandros Zwillingsbruder mir gerade die desolate Verteidigungsstrategie von Bari auseinandersetzte, kamen Sie von draußen rein. Und traten in mein Leben.«

»In Ihr Leben?«

»Ja, dieses Restaurant hier ist zumindest ein wichtiger Teil meines Lebens. Mein Hang-out. Hier esse ich, treffe Agenten, Geschäftspartner, und manchmal flirte ich hier auch. Ein wenig«, schränkte er ein.

»Und, ist das jetzt ein Flirt?«

Er atmete tief durch.

»Hören Sie, unbekanntes Wesen ohne Namen. Wenn das für Sie jetzt schon ein Flirt ist, dann muss Ihr sonstiges Leben eine erotische Sahelzone sein.« Er setzte nach: »Aber ich tauge ohnehin nicht zum erotischen Leckerbissen, bin eher ein Auslaufmodell.«    

»Wieso das denn?« Komisch war er schon, keine Frage.

»Brauche viel Auslauf. Im wörtlichen und übertragenen Sinn.«

»Und wie geht Ihre Frau damit um?«

»Ging, nicht geht! Ging! Für sie war ich eher das Einlaufmodell, wenn Sie mir diesen drittklassigen Scherz nachsehen. Bekam jeden Tag einen. ›Wenn du die Einsamkeit fürchtest, dann heirate nicht‹, hat Tschechow gesagt. Hätte mal auf den guten Anton hören sollen.«

»Ich heiße Susan.«

»Ist das ihr Ernst?«

»Ja«, stotterte Susan.

Simon dachte nach. »Darf ich Sie Bianca nennen?«

»Klingt wie eine Katzenstreu-Marke.«

»Quatsch, Sie haben dieselben wunderschönen Augen wie Bianca Jagger.« Sagte es und widmete sich dem Pulpo-Salat »mit Knoblauch, ohne Kartoffeln«, den Sandro mittlerweile geräuschlos serviert hatte. »Guten Appetit.« Simon kam gar nicht auf die Idee, dass Susan Pulpo nicht mögen könnte. »Pulpo ist gut für die Linie! Kaum Kalorien.«

Um ein Haar hätte Susan ihm ihre Portion an den Kopf geworfen. Er verhinderte es haarscharf, indem er in letzter Sekunde sagte: »Aber Sie sollten zunehmen. Definitiv!«

»Noch so ein Spruch, und Sie stehen auf, und ich esse hier alleine weiter.«

Aber er kriegte die Kurve: »Wenn ich morgens ins Bad komme und mich hässlich, unausgeschlafen und zu dick finde, dann bin ich zutiefst davon überzeugt, dass der Spiegel daran schuld ist.«

»Und?«

»Sie dagegen kommen morgens ins Bad, sind schön, schlank und höchstens unausgeschlafen, haben aber trotzdem das Gefühl, Sie müssten abnehmen, und sind vermutlich deshalb nicht im Reinen mit sich.«

»Hm. Weiter …!« Er gefiel ihr. Und das ärgerte sie.

»Na, wenn Sie morgen Früh in mein Bad kommen, sind Sie gut gelaunt, denn Sie haben abends Pulpo gegessen. Kein schlechtes Gewissen.«

»Ihr Bad?«

»Sie schlafen im Gästezimmer. Keine Sorge.«

»Im Hotel!«

»Schade. Aber auch gut.«

Die Teller wurden abgeräumt.

»Kleine Pause?« Sandro bekam keine Antwort von Simon, der stattdessen anhob: »Susan, was machen Sie denn nun in meiner Stadt?«

Die Sachbuchautorin meldete sich zurück und grätschte böse dazwischen: »… die ich genauso unattraktiv wie Sie finde!«

Simon sah Susan lange an und blickte dann zum Nebentisch hinüber, wohl in der Befürchtung, Susans beleidigende Worte könnten mitgehört worden sein. Dann beugte er sich etwas nach vorn und sagte mit einem sehr weichen Timbre in der Stimme: »Schade.«

Mehr nicht.

Einfach nur »Schade«.

Pause.

Es dauerte ein wenig, aber dann kam Simon wieder aus der Deckung. »Ihre Ehrlichkeit ist zwar nicht besonders schmeichelhaft, aber ganz gut für den Fortgang des Gesprächs. Ich bin sechsundfünfzig. Glauben Sie, ich möchte noch Anstrengungen unternehmen, um jemandem zu gefallen? Ich bin Irland, nicht Ibiza. Ich trage weder ein Tattoo noch ein Toupet. Ich bin ich. Für Sie zwar offenbar der unattraktivste Knabe im ganzen Restaurant. Aber vermutlich auch der Unterhaltsamste. Im Übrigen« – er betrachtete das vor ihm liegende Besteck mit großer Aufmerksamkeit und mied so den Blickkontakt mit Susan für einige Sekunden – »im Übrigen: Sie haben den schönsten Hals, den ich je bei einer Frau gesehen habe!«

»Hals?« Das Kompliment war wunderbar. Und Susan bekam sofort ein schlechtes Gewissen, weil sie ihn so barsch angegangen war. Aber das ließ sie sich natürlich nicht anmerken.

»Hals! Geben Sie mir fünf Monate, dann sage ich statt Hals Dekolletee. Aber jetzt, im kühlen Herbst, ist das einfach schwierig zu beurteilen.«

»Filetiert?« Sandro war zurück.

»Wie immer!«

Zwei Seezungen, Simon, der schöne Hals … Susan geriet eindeutig ins Schleudern und versuchte einzulenken und einen kleinen Schritt auf ihn zu zu machen. Immerhin bewies er ganz schönes Durchhaltevermögen. »Ich schreibe eine große Geschichte für ein Frauen-Magazin.«

»Und das können offenbar nur Sie. Sonst hätte man Sie ja kaum nach Hamburg einfliegen lassen, mit Gepäck für vier Wochen.«

»Eine Woche.«

»Schade. Thema?«

»Frauen, die in ihren Fünfzigern ihre erste und einzige große Lebensliebe gefunden haben.« Susan atmete tief durch, sah nicht mehr auf, sondern konzentrierte sich stattdessen mit übertriebener Sorgfalt auf den Fisch, der bedauerlicherweise bereits filetiert war, also ebendieser Konzentration gar nicht bedurfte.

»Und warum hat man die Geschichte Ihnen angeboten?«

»Vermutlich weil die anderen Kolleginnen nicht verfügbar waren«, log sie.

»Nein, nein, bestimmt weil Ihre Kolleginnen hoffen, dass Ihnen genau das passiert!«