Die kleine Hundepension an der Küste - Laura Schoner - E-Book

Die kleine Hundepension an der Küste E-Book

Laura Schoner

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Beschreibung

Von Chaos, Glück und einem Neuanfang auf vielen Pfoten. Romantisch-witziger Sommerroman für Fans von Sophie Kinsella und Meike Werkmeister  »Sein Gesicht nähert sich meinem und mein Herz pocht wie wild an meine Brust. Unsere Lippen berühren sich sanft … In einem sich äußert realistisch anfühlenden Déjà-vu prallt die gesamte Hundepower von Ouzo in mich hinein.«  Job weg, Perspektive weg: Notgedrungen krempelt Jennifer ihr Leben um und wagt einen Neuanfang an der Ostsee. Dass sie hier kurzentschlossen eine Hundepension aufbaut, hatte sie dabei selbst nicht erwartet. Zwar hat sie wenig Ahnung von Hunden, aber wie schwer kann das schon sein? Ziemlich schwer, wie sie feststellen muss. Aber das braucht der süße Amerikaner Nick mit seinem herausfordernden Hund Ouzo nicht unbedingt zu wissen … Schon bald bringt der Vierbeiner Jennifers Pension ganz schön durcheinander, während sein Herrchen dasselbe mit ihrem Herzen tut. 

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© Piper Verlag GmbH, München 2024

Redaktion: Redaktionsbüro Diana Napolitano, Augsburg

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Alexa Kim »A&K Buchcover«

Covermotiv: depositphotos.com (Foto.Jagodka, koya979, alfotokunst)

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für meinen kleinen Terror-Twix

Ich war bereit für einen Hund –aber nicht für den, der kam.

Kapitel 1

Kann man eine versendete Mail löschen?

Wo finde ich einen guten Hacker?

Wie melde ich mich arbeitslos?

Verdammt, verdammt, verdammt!

Ich habe es versaut. Wenn selbst Google mir nicht weiterhilft, muss es ernst sein. Tief durchatmen. Krisen bin ich gewöhnt. Wobei das nie meine eigenen sind, sondern die meiner Klienten. Okay, ich darf kein großes Aufsehen erregen. Diesen Fehler muss ich diskret und schnell ausbügeln, bevor Oliver das rausbekommt.

»Geht’s dir nicht gut?«, fragt Daniel mich. »Du siehst blass aus.«

Noch ehe ich reagiere, springt Tabea von ihrem Bürostuhl auf und ihre vielen Armreifen fangen zu klackern an. »Soll das eine Anspielung sein, dass sie heute kein Make-up trägt? Dass alle Frauen hässlich sind, die sich für einen natürlichen Look und entgegen dieser gesellschaftlich auferlegten Konvention entscheiden, sich Tonnen von Farben ins Gesicht zu klatschen? Möchtest du das wirklich sagen?«

Ihre schrille Stimme schallt durch das Büro und erreicht selbst Tim, den neuen Praktikanten, der seine Kopfhörer aus den Ohren zieht.

Das war’s mit dem Kein-Aufsehen-Erregen.

»Nein!« Daniel steht mit hoch erhobenen Händen auf, als hätte Tabea ihm eine Knarre vors Gesicht gehalten. »Um Himmels willen, nein! Das wollte ich nicht sagen.«

Sie mustert ihn abschätzig. »Frauen tragen Make-up für sich und nicht für die Blicke von Männern. Und wenn Jennifer sich heute dagegen entschieden hat, ist das allein ihre Entscheidung.«

»Ich trage Make-up«, werfe ich ein.

»Ich wollte nur sichergehen, dass es ihr gut geht und ihr meine Hilfe anbieten, falls es nicht der Fall sein sollte.« Daniels Wangen färben sich in ein tiefes Rot. Jetzt wünscht er sich wahrscheinlich doch, die Abteilung vor einem Monat gewechselt zu haben, als es ihm angeboten wurde.

»Natürlich.« Tabeas Augen blitzen hinter ihrer übergroßen Brille angriffslustig hervor. Unter den Blicken der Redaktion zieht sich der sonst so entschlossen wirkende Daniel stammelnd in die Küche zurück.

Ich nutze die Gunst der Stunde, wo keiner mich mehr beachtet und schleiche mich in den Meetingraum hinter meinem Schreibtisch, den wir nur für unsere Abteilungstreffen oder Kundenpräsentationen nutzen. Die Luft steht träge im Raum und ich reiße das Fenster auf, um einen tiefen Atemzug aus Smog, Frittengeruch und Schweiß zu nehmen.

Schweiß? Automatisch fasse ich unter meine Achseln und wünschte, es nicht getan zu haben. Iih, alles nass. Ich muss mich zusammenreißen. Wie schlimm kann es schon sein? Wahrscheinlich halb so wild.

Entschlossen zücke ich mein Handy und wähle fast lässig Jonas Nummer. Nach dem zweiten Klingeln nimmt er ab. »Rheinische Post Düsseldorf, Jonas Stegner …«

»Hast du meine Mail schon gelesen?«

Hoppla, das klingt nicht mehr so lässig.

»Jennifer Ahrns.« Ich kann sein Grinsen förmlich hören. »Dir auch hallo. Wie du weißt, bin ich ein vielbeschäftigter Mensch und deswegen noch nicht dazu gekommen …«

»Nimm die Füße vom Papierkorb und guck in dein Postfach.«

»Woher weißt du, dass ich …? Wie auch immer. Warte …«

Stille. Das Klicken der Maus, Tippgeräusche auf der Tastatur. Stille.

Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Wie ein Tiger im Käfig fange ich an, im langen Meetingraum auf- und abzuwandern. Das Klackern meiner Absätze macht mich noch wahnsinnig, aber stehen bleiben ist auch keine Option. Wie lange braucht ein Mensch, um eine Mail zu lesen? Oder sind Sekunden schon immer so langsam vergangen?

»Und?«, platzt es aus mir heraus, bevor ich den Verstand verliere.

»Ja«, setzt er vage an. »Das ist … verdammt übel.«

Was nicht mehr so vage ist.

Der letzte Funke Hoffnung in mir erlischt. Ich umklammere gewaltsam mein Handy, versuche, mich darauf zu besinnen, was ich hier bei Sturmstopper vom ersten Tag gelernt habe: cool bleiben, hoch pokern, gewinnen.

Ich wähle als Fixpunkt ausgerechnet das hässliche Bild an der Wand mir gegenüber, das mich immer an den Versuch eines Dreijährigen erinnert, einen Orang-Utan auf einem Segelboot zu malen. Es hilft, um meinen Atem wieder unter Kontrolle zu bringen. »Kannst du die Mail löschen?«

Jonas reguliert seine Emotionen nicht ganz so gut und prustet los, was wie Husten und Lachen gleichzeitig klingt. »Von allen Rechnern aus deinem Journalistenverteiler? Eher unwahrscheinlich.«

Meine Hand fängt wild zu gestikulieren an. »Ich könnte sagen, dass der Text ironisch gemeint ist. Ein Aprilscherz. Er soll die Leute zum Lachen bringen. Menschen lachen gern.«

»Wir haben Anfang Juni.«

Genervt stöhne ich auf. »Logische Argumente helfen mir nicht weiter, falls du es nicht bemerkt hast.«

Aus der Leitung ertönt Menschengemurmel im Hintergrund. Ich höre eine Frau schrill lachen und sofort entwickle ich die Paranoia, dass sie mich damit meint. Jonas senkt seine Stimme und klingt viel dumpfer, als halte er seine Hand an den Lautsprecher. »Jetzt mal ganz im Ernst: Was hat dich geritten, so was zu schreiben? Das kann man sich in deinem Job vielleicht denken und dann genau das Gegenteil behaupten, aber nicht andersherum.«

»Ich weiß, ich weiß, ich weiß!« Ich schlage im Takt mit meinem Kopf gegen die Wand und komme mir wie eine Comicfigur vor.

All die Jahre, all die Überstunden, all die Arbeit bei der besten Agentur für Krisenkommunikation. Alles für die Katz. Wie eine kleine Göre stampfe ich wütend auf dem Boden auf und unterdrücke den Drang zu schreien.

»Ich störe deinen Nervenzusammenbruch wirklich ungern, aber stimmt es?«, hakt Jonas vorsichtig nach. »Ist Carter&Connor ein, und ich zitiere, Pharmakonzern, der mehr nach Geld lechzt als eine Prostituierte in der Rethelstraße, bevor die Großbordelle in Düsseldorf Champagner gegen billigen Sekt tauschten?«

Eine Hitzewallung nach der anderen durchströmt mich. Mit dem leichten Stoff meiner Bluse wedle ich mir verzweifelt Luft zu, aber es kommt in diesem stickigen Raum nicht mal ein Lüftchen zu mir an. »Damit kritisiere ich mehr die Kommerzialisierung von Prostitutionsstätten als unsere Kundinnen und Kunden.«

»Und was ist mit dem Absatz, wo du schreibst, dass Carter&Corner Trump den Titel ›Herr der Lügen‹ bereits mit ihrem ersten Twitter-Beitrag streitig machen? Kritisierst du da nur das amerikanische Wahlsystem? Oder wie möchtest du dich da rausreden?«

Ich stocke in meiner Bewegung. »Meinst du, damit käme ich als Begründung durch?«

»Nein!« Am anderen Ende der Leitung höre ich ein schweres Seufzen. »Verdammt, Jennifer. Egal, wie sehr mir dein Schreibstil gefällt, aber das bekommst selbst du nicht mehr zurechtgebogen. Hast du die Mail als eine Art therapeutischen Stressausgleich verfasst? An wen wolltest du sie schicken?«

»An Anna«, gebe ich kleinlaut zu.

»Vielleicht solltest du deinen Arbeitslaptop nicht für Privatgespräche mit deiner Freundin nutzen. Egal, wie scharf sie ist.«

Den letzten Teil überhöre ich. »Danke, das weiß ich auch. Hilf mir lieber!« Ich presse das Telefon an mein Ohr, aber am liebsten würde ich es mitsamt meiner Mail aus dem Fenster werfen.

»Kann ich nicht.« Jonas zögert kurz. »Und auf die Gefahr hin, dass du mich tötest: Ich muss darüber schreiben. Bevor es die hundert anderen Journalisten tun. Die Story ist zu gut.«

Mein Puls schnellt in die Höhe, mein Kreislauf verabschiedet sich. Sterne tanzen vor meinen Augen und ich lehne mich an die Fensterbank. Meine Stimme klingt weiterhin ruhig. »Es gibt keinerlei Beweise für diese Aussagen.«

»Wirklich nicht?«

»Kein Kommentar.«

»Dafür ist es zu spät, Liebes. Spätestens, nachdem du Kim das geschickt hast. Wusstest du, dass sie seit zwei Wochen bei der BILD arbeitet?«

Just in dem Moment klopft es an der Tür und ich lege reflexartig auf. Oliver tritt mit seinem gewohnt geschäftsmäßigen Gesichtsausdruck ein, den es zu seiner Beförderung als Abteilungsleiter inklusive gab. »Brauchst du den Raum gerade?«

Ich schüttle nur den Kopf, weil ich meiner Stimme nicht traue.

Er schließt die Tür hinter sich. »Gut, denn gleich kommt noch eine potenziell neue Kundin. Wenn wir das Unternehmen für uns gewinnen, dann regnet es für alle Boni.«

Ich lächle und verziehe mich Richtung Tür, während Oliver seinen Laptop an den Bildschirm anschließt und seine Präsentation überträgt.

Bloß weg hier!

»Jennifer? Warte noch kurz, bitte.«

Ich verharre in meiner Bewegung. »Hm?«

Oliver wendet sich mir in seinem Maßanzug zu, der ihm eine gewisse Autorität verleiht, die es nicht gebraucht hätte, um mich noch mehr zu verunsichern. »Nach der angenehmen Zusammenarbeit mit dem Schauspielhaus ist dein jetziges Projekt ein ganz schöner Brocken.« Seine Worte klingen wie aus einem Lehrbuch für Mitarbeitermanagement und sein Gesichtsausdruck strahlt Mitgefühl aus. »Mir ist bewusst, dass sich deine Überstunden stapeln und Carter&Corner einen Kurs für Höflichkeit belegen sollten, aber du schlägst dich hervorragend. Superprofessionell. Dein verfasstes Statement für den CEO gefällt mir so gut, dass ich es unverändert an den Konzern geschickt habe.«

Jetzt sind wir scheinbar bei dem Teil angelangt, seine Mitarbeiter zu motivieren, damit sie weiter am Ball bleiben.

»Wenn morgen die Medienansprache reibungslos über die Bühne geht, kannst du dir erst einmal eine Woche Urlaub nehmen. Hoffentlich ist das ein kleiner Trost für dich. Okay?«

Ich nicke und lächle.

Lächle und nicke und schließe die Tür hinter mir.

Dann stürme ich aus der Agentur.

Kapitel 2

»In wenigen Minuten erreichen wir Rostock. Dieser Zug endet hier. Wir bitten Sie, alle auszusteigen.«

In einer Art Phantomschmerz greife ich zum Tisch des Vierersitzes, aber mein Laptop liegt nicht drauf. Warum auch? Ich benötige ihn nicht mehr. Nicht mal mein Handy ist an.

Die anderen Passagiere bilden eine Schlange, während ich mit einem Ruck meinen Koffer aus der Ablage ziehe. Zu meiner Überraschung schlage ich ihn niemandem auf den Kopf. Er platzt auch nicht samt Inhalt auf. Es würde gerade zu meinem Leben passen.

Das Treiben am Gleis ist für einen Donnerstagmittag beträchtlich. Ich bahne mir meinen Weg durch die Menschenmenge, umgehe das Kind, was sich vor mir zu Boden wirft und die Zeitungsstände, die mich vorwurfsvoll mustern. Mein Bus kommt in zehn Minuten und ich trage eindeutig die falschen Schuhe, um auf unebenen Pflastersteinen zu warten. Meine Augen fallen immer wieder zu, meinen Morgenkaffee habe ich zu Beginn der Fahrt um halb sechs Uhr morgens im Zug getrunken. Und es stehen mir noch zwei Stunden Fahrt bevor.

Nur wenige Menschen folgen mir in den Bus, auch drinnen sitzt kaum jemand. Ich pfeffere meinen Koffer halb unter den Sitz, denn für mehr reicht der Platz nicht. In einer akrobatischen Meisterleistung verrenke ich meine Füße, um meinen Bleistiftrock nicht an die Grenzen seiner Nähte zu führen. Ich hätte meine Bürokleidung von gestern wirklich wechseln sollen, aber das hätte vorausgesetzt, dass ich noch zu irgendeinem klaren Gedanken fähig gewesen wäre.

Das Ruckeln des Busses lässt mich schnell eindösen, während das Fluchen des Fahrers und dessen abrupte Bremsversuche einen dauerhaften Schlaf verhindern. Nach über dreißig Haltestellen verlasse ich halb komatös den Bus und stehe da – am Bahnhof Rerik.

Wie lange war ich nicht mehr hier?

Ich kann es gar nicht sagen, aber ich spüre förmlich, wie das Salz des vertrauten Windes meine Naturkrause zum Vorschein holt, die ich sonst täglich mit einem Glätteisen bändige.

Ich ziehe meinen Koffer hinter mir her und gehe vorbei an der kleinen Bäckerei, bei der ich mir jeden Morgen in den Sommerferien frische Croissants besorgt habe. An dem Angelladen, wo ich meine ersten Gummistiefel gekauft habe. Und an der Fahrradwerkstatt, die mein Rad mehr als einmal flicken mussten, nachdem ich in die Blumenfelder gerast war. Doch erst als ich das rostige Tor beiseiteschiebe und auf das Holzhäuschen meiner Oma schaue, wo früher Rosen auf den Fensterbrettern standen und Lichterketten den Balkon schmückten, zieht sich mein Magen zusammen. Nach ihrem Tod bin ich nicht mehr hier gewesen und mir wird bewusst, warum.

Schritt für Schritt nähere ich mich der Eingangstür und meinen Erinnerungen, die ich bis heute in einer kleinen Schachtel in meinem Herzen verstaut habe. Das Knacken des Bodens beim Eintreten erinnert mich genauso an den Verlust meiner Oma wie der fehlende Geruch von selbst gebackenem Brot.

Alles steht noch an seinem Platz, wie damals. Meine Eltern halten das Haus gut in Schuss, das muss ich ihnen lassen. Auch nach unzähligen Vermietungen büßt es nicht an Charme ein. Ich fasse an die Vorhänge, die meine Oma selbst gestrickt hat. Sie sind noch warm von der hereinscheinenden Sonne, die am Horizont auf das Blau des Meeres trifft.

Der Anblick macht mir Lust auf mehr, deshalb streife ich die Schuhe ab, schnappe mir ein Handtuch und marschiere geradewegs zum Strand. Besonders Mütter mit kleinen Kindern tummeln sich auf ihren Handtüchern. Bälle fliegen durch die Gegend, Drachen steigen auf und Babys weinen. Aber ich höre nur das Rauschen des Meeres und spüre den warmen Sand zwischen meinen Zehen. Das weiche Handtuch lässt meine erschöpften Glieder entspannen und es dauert nicht lange, bis meine Augenlider langsam schwerer werden.

Als ich aufwache, steht die Sonne um einiges tiefer. Viele sind gegangen, der Strand ist weniger voll. Ich recke die Arme nach oben und drehe mich wie eine Robbe auf meinem Handtuch herum auf den Bauch. Irgendwann nach der Wasserschlacht der zwei Mädchen und dem vorbeifahrenden Eiswagen muss ich eingeschlafen sein. Ich gähne, um den restlichen Schlaf aus meinen Gliedern zu verjagen und frage mich, wann ich mich das letzte Mal so ausgeschlafen und entspannt gefühlt habe.

Die Entspannung findet ihr jähes Ende, als ich zu Hause in den Spiegel schaue. Mein Gesicht gleicht einer Tomate und auch meine Schultern und der Nacken glühen. Nichts, was ich nicht mit zwei Packungen Quark und einer Weinflasche lösen könnte, die ich mir kurzerhand aus dem nächstgelegenen Supermarkt schnappe. Wobei das, was der Quark mir an Röte aus der Haut zieht, mit dem Wein bestimmt wiederkommt. Wenn alles in meinem Leben so ausgeglichen wäre …

Der Anblick meiner bereits nach einer Stunde geleerten Weinflasche lässt mich schuldbewusst zum Altglas-Container laufen. Dabei entdecke ich an der Straßenecke an einem unauffälligen Haus ein Schild mit der gelben Aufschrift »Bar«, mehr nicht. Ob in Rerik alle Inhaber vor solcher Kreativität strotzen? Mir reicht das Marketing, niemand muss mich heute zum weiteren Trinken überreden. Wie zu erwarten, sitzen an den Tischen nur zwei Besucher, ältere Herren, die mich neugierig mustern. Ich nicke ihnen zu und setze mich an die Theke.

Die Barkeeperin schiebt mir die verlotterte Karte zu. »Lübzer und Rostocker sind vom Fass.«

Ich massiere mir die Schläfe. »Bitte einen Gin Tonic.«

»Haben wir nicht.«

»Dann gern einen Tequila Sunrise.«

»Keine Cocktails.«

»Gut, dann einen Weißwein. Irgendeinen.«

Ich schaue in die Augen einer verärgerten Walküre, die mich ohne Probleme samt Weinfass aus der Bar katapultieren könnte. Kleinlaut schrumpfe ich auf meinem Sitz zusammen. »Dann nehme ich gern ein Pils. Die klingen lecker.«

Keine Ahnung, welches der Biere sie mir einschenkt und sich in meinem Glas schäumt, aber ich leere es auf Anhieb um die Hälfte, wodurch ich mir ein wenig Respekt in der Bar zurückgewinne. Zumindest bilde ich mir das ein.

Zwei Schlucke später traue ich mich, mein Handy aus der Tasche zu holen und es auf die Theke zu legen.

»Scheiß drauf«, murmle ich und mache es an. Sechs verpasste Anrufe, fünfzehn Nachrichten. Das hält sich fast noch im Rahmen. Wer sagt mir, dass das nicht einfach Versuche waren, mir zum Geburtstag zu gratulieren, statt mich wegen der Story zu terrorisieren?

Ach ja, die Tatsache, dass ich im Februar Geburtstag habe.

Mit zusammengekniffenen Augen blende ich alle anderen Nachrichten aus und scrolle hektisch zum Chat mit Anna. Ich schreibe ihr, wo ich bin und dass sie sich keine Sorgen machen muss, ich aber für einige Zeit abtauche, um den Schlamassel hinter mir zu lassen. Anna weiß wahrscheinlich besser als ich, dass ich Abstand zur Situation brauche. Wie ich sie kenne, wird sie das respektieren. Bis es ihr zu bunt wird und sie mich mit Vollkaracho zwingt, mich alledem zu stellen.

Kaum fasse ich den Entschluss, meine weiteren Nachrichten anzusehen, da reißt der Stuhl unter mir weg und – wusch! – knalle ich mit dem Hintern auf den harten Steinboden. Mein Bier verteilt sich in alle Richtungen, die Flugkurve meines Handys verfolge ich, bis es an der Wand aufprallt. Auf einmal stürzt etwas Sabberndes auf mich zu und drückt mich zu Boden. Schreiend halte ich mir die Hände vors Gesicht und versuche, mich herauszuwinden.

»Runter von der Frau, Ouzo!«

Durch meine Finger schaue ich in braune Augen, umgeben von Fell, Fell und Fell. Sobald sich unsere Blicke kreuzen, richten sich seine spitzen Ohren nach hinten und ein kehliges Bellen schallt mir entgegen. Wie versteinert starre ich auf das Fellknäuel, das ein Mann im nächsten Moment am Halsband packt und hinter sich zieht.

Mein Überlebensinstinkt meldet sich zu Wort, ich springe in einem Satz auf und bringe so viel Abstand wie nur möglich zwischen mir und dem Kläffer.

»Es tut mir wahnsinnig leid! Mir fiel die Leine aus den Händen und schon war er weg. Sind Sie verletzt?«, fragt der Mann mit amerikanischem Akzent.

Automatisch taste ich mich ab, mein Herz rast. Überall auf dem Boden sind Glassplitter von meinem Bier verteilt, aber keiner steckt in meinem Körper.

Ich nicke erleichtert und reibe mir das Steißbein. »Den Adrenalinschub hätte ich heute zwar nicht gebraucht, aber alles gut. Alles noch dran. Wie geht es Ihrem …«

Ich betrachte das rötliche Fell, den weißen Bauch und den puscheligen Schwanz dieses Tieres, bei dem ich nicht sicher bin, was es genau ist. Auf jeden Fall ein unglaublich süßer Kerl. Wenn er mich nicht hätte umbringen wollen.

»… Fuchs?«

Der Mann lacht. »Fast. Ouzo ist wahrscheinlich ein Border-Collie-Mix. Mitarbeiter aus dem Tierschutz fanden ihn auf einer Straße in Griechenland. Von Fuchs war nie die Rede, aber ich könnte schwören, dass in ihm auch eine Katze steckt. Er macht diesen Buckel und kann seine Krallen gut ausfahren.«

Zur Bekräftigung bellt Ouzo mich noch mal an. Vielleicht doch ein Hund.

»Offensichtlich.«

Ich löse den Blick vom Fuchshund und nehme erst jetzt den Mann vor mir richtig wahr. Und wow, noch ein unglaublich süßer Kerl.

»Mir ist das so unangenehm. Ich schwöre Ihnen, wir machen einen großen Bogen um Sie. Und das ist an einem so kleinen Ort wie Rerik gar nicht leicht. Hier trifft man immer dieselben Leute. Manchmal glaube ich, der ganze Ort besteht nur aus Rentnern. Und Hunden.«

Wozu er glücklicherweise zu beiden nicht zählt.

Er holt einmal tief Luft und fährt sich verlegen durch das kastanienbraune Haar, das modisch wirr absteht. »Es tut mir wirklich leid, dass Ouzo Sie so erwischt hat.«

Dieser Mund. Gibt es Mund-Models? Er könnte definitiv eines sein, so voll und perfekt geschwungen sind seine Lippen.

Mir mein schmerzendes Steißbein nicht anmerkend, winke ich dümmlich lächelnd ab. »Kein Problem. Ich bin das gewöhnt.«

»Hunde?«, versteht er mich falsch, aber ich bin noch zu sehr auf sein viel zu hübsches Gesicht fixiert, dass ich den Moment verpasse, das klar zu stellen.

»Das ist ja toll!«, fährt er begeistert fort. »Es gibt hier viele Hundebesitzer, aber ich bekomme den Eindruck, dass keiner seinen Begleiter so richtig versteht.«

Ich beiße mir auf die Lippen. Eigentlich meinte ich, dass ich Kummer und Leid gewöhnt bin, nicht Hunde. Aber spielt das eine Rolle, wenn vor mir ein Mann mit schokoladenbraunen Augen und einem Zahnpastalächeln steht?

Ich lächle zurück. »Genau, ich bin Hunde gewöhnt. Egal, welche Rasse. Große, kleine, dicke, dünne. Ich liebe alle.«

»Wie kommt das?«, fragt er mich ehrlich interessiert.

»Ähm, das kommt daher, dass ich …« Ich streiche über meinen Rock, um Zeit zu schinden, räuspere mich und höre mich selbst sagen: »Ich bin Hundetrainerin.«

Kapitel 3

Was zum Teufel habe ich da gerade gesagt?

»Also gelernte Hundetrainerin. Seit einer Weile praktiziere ich nicht mehr. Deswegen bin ich vielleicht etwas eingerostet«, rudere ich ungeschickt zurück, aber die unendlich braunen Augen des Mannes leuchten weiterhin.

»Gelernt ist gelernt! Genau jemanden wie Sie brauchen wir hier. Und eine Hundepension. Okay, wir sind an einem Urlaubsort und die meisten Menschen sind Touristen, aber auch die wollen mit ihren Hunden eine gute Zeit verbringen und wissen nicht, wie. Oder sie wollen auch Freizeit ohne Hund. Da kann ich nur von mir sprechen. So lieb ich den Kleinen auch habe, er ist eine Nervensäge.«

Er lacht wieder, ein warmes Lachen, das seine Augen erreicht und ihn noch zehnmal attraktiver wirken lässt. Was wirklich eine Kunst ist. In meinem Magen krampft sich etwas zusammen und unweigerlich ziehen sich meine Mundwinkel nach oben.

»Ach, so schlimm kann er nicht sein.«

Er hebt gespielt warnend den Finger. »Unterschätzen Sie meinen Fuchs nicht. Hinter seinem lieben Aussehen verbirgt sich ein Tyrann.«

Ouzo legt wie aufs Stichwort den Kopf zur Seite und schaut mit großen Augen zu seinem Herrchen hoch.

Ich gehe einen Schritt zurück, als betrachtete ich fachmännisch ein Gemälde. »Meine Instinkte sagen mir, dass er zu den Guten gehört.«

»Bedenken Sie, dass er Sie im wahrsten Sinne des Wortes vom Hocker gerissen hat.«

»Touché.«

Die Barfrau drängt sich mit Kehrblech und Besen zwischen uns und murmelt dabei etwas Unverständliches. Beim Zusammenfegen der Scherben wirft sie mir verärgerte Blicke zu. Ich gehe einen Schritt zurück und trete in eine Bierpfütze.

»Auch das noch«, stöhne ich.

»Setzen Sie sich ruhig. Ich habe das Chaos angerichtet und beseitige ich es auch.« Der Mann geht um die Theke herum. »Ist der Abstellraum offen, Uli?«

Die Barkeeperin ruft über die Schulter: »Nein, aber den Schlüssel findest du …«

»…im unteren Schrank. Alles klar, danke!«

Ouzo folgt seinem Herrchen nach hinten und ich beneide diesen Hund dafür.

»Sie arbeiten hier?«, frage ich den Unbekannten, als er kurze Zeit später mit einem Eimer und Wischmopp zurückkommt.

»Nein, aber das ist wie mein zweites Zuhause.« Krachend stellt er den wassergefüllten Eimer ab. »Das klang jetzt wie jemand mit einem Alkoholproblem. Ich kann aber zu einem guten Bier oder Brandy Nein sagen. Auch, wenn es mir schwerfällt.«

»Also wohnen Sie hier in Rerik?«, frage ich, konzentriert darauf, die Dringlichkeit zu verbergen.

Bitte, sag jetzt nicht, dass dein Urlaub morgen endet und du abreist. Bitte, bitte.

»Sozusagen.« Seine geraden Augenbrauen ziehen sich in der Mitte zusammen. »Also fürs Erste. Ich nehme quasi eine … eine Auszeit von meinem bisherigen Leben. Und was verschlägt Sie hierher?«

Erst weiß ich nicht, was ich darauf antworten soll. Dass ich ins Exil flüchten musste? Dass ich nicht wusste, wohin und mich im Haus meiner Großmutter verstecke? Dass ich keine Ahnung habe, was ich jetzt mit meinem Leben anstellen soll?

Ja, was verschlägt mich hierher?

Mein Blick schweift zu meinem zertrümmerten Handy und ich spüre Erleichterung. Keiner kennt mich an diesem Ort, niemand weiß, was geschehen ist oder erwartet etwas von mir. Zum ersten Mal seit Jahren kann ich mich entscheiden, wer ich sein möchte.

Auf einmal rücken meine Probleme in weite Ferne.

»Das mache ich auch. Ich nehme eine Auszeit. Obwohl, nein. Ich beginne neu, alles auf Anfang.«

In mir breitet sich ein warmes Gefühl aus und ich fasse einen Entschluss: Nimm deine Energie und mach was draus. Das ist dein Neustart.

»Gut«, sagt er und es kommt mir so vor, als wisse er genau, wovon ich spreche. Für einen Augenblick herrscht Ruhe in meinem Kopf, doch mein Herz macht einen Satz.

Was passiert hier?

Ich wende mich ab, bevor das Blut in meine Wangen schießt, und tue so, als ob ich etwas wahnsinnig Spannendes an der Wand entdecke. Und dann tue ich das auch: In einem der unzähligen Blechschilder reflektiert sich mein Spiegelbild. Wie konnte ich vergessen, dass meine Haare durch die salzige Luft aussehen, als hätte ich in eine Steckdose gefasst? Selbst der Quark lässt meine Haut und mich im Stich. Ungeschickt kämme ich mit den Fingern meine unordentlichen Strähnen so gut es geht glatt und versuche gleichzeitig, mein Gesicht mit ihnen zu verdecken.

Der Mann wischt um meinen Stuhl herum und ich riskiere einen Blick auf seinen gut gebauten Körper, den wohldefinierten Armen, die sich unter dem olivfarbenen Hemd abzeichnen und seiner leicht gebräunten Haut, die er im Gegensatz zu meiner wahrscheinlich eincremt.

Stopp, du denkst nicht ans Eincremen. Du benimmst dich, als wärst du noch nie einem gut aussehenden Mann begegnet. Dabei kennst du viele, mit einigen von ihnen hast du dich verabredet. Aber machte deren Nähe dich auch so nervös wie seine? Ich fühle mich wie mit Jan in der neunten Klasse, als er auf dem Pausenhof zum ersten Mal nach meiner Hand griff.

Als ich begreife, wie ich den Mann anstarre, reiße ich mich zusammen.

Er beendet seine Putzaktion und Uli nimmt ihm im Vorbeigehen die Sachen ab. Sie kassiert die beiden älteren Herren am Nebentisch ab und verschwindet dann in den Hinterraum.

»Ich schulde Ihnen ein Bier«, sagt der Mann mit einer Stimme zu mir, die wie Honig in warmer Milch klingt und bestimmt jeden Therapeuten neidisch macht.

»Unsinn …«, setze ich an, da steht er schon hinter der Theke und zapft mir gekonnt ein Glas mit perfekter Bierkrone.

»Sie sagten doch, Sie arbeiten nicht hier.«

»Tue ich auch nicht«, antwortet er grinsend. Schnell schiebt er mir das Glas zu und setzt sich auf den Hocker neben meinem.

Das entlockt mir ein Lachen. »Ach, kriminell sind Sie also auch noch?«

»Sie etwa nicht?« Seine Bestürzung klingt beinahe echt.

»Kommt auf das Gerichtsverfahren an«, erwidere ich lachend und kaschiere dabei hoffentlich die Tatsache, dass ich gar nicht weit davon entfernt bin. »Ich bin Jennifer.«

»Ich heiße Nick und falls Sie das nächste Mal einen Komplizen suchen, dürfen Sie sich gern an mich wenden.«

»Und Sie stammen aus Amerika?«, frage ich nach.

Er lässt seine Augenbrauen tanzen. »Denken Sie, dass alle Amerikaner Verbrecher sind? Oder spreche ich zu schlecht Deutsch?«

Ich kaufe ihm die Empörung nicht ab und schmunzle. »Weder noch. Es ist aber unmöglich, so etwas nicht herauszuhören. Ich wünschte, ich wäre mehrsprachig aufgewachsen. Oder hätte mich zumindest mehr bemüht, platt zu lernen. Dann könnte ich hier besser mit den Einheimischen reden. Oder sie verstehen.«

Nick runzelt die Stirn. »Platt?«

»Meine Großmutter sagte immer: Hochduutsch kann jeden Dösbaddel snacken. Platt is för de plietschen«, bringe ich in der Hoffnung hervor, genauso wie sie zu klingen.

Nick entgleisen alle Gesichtszüge. Dabei sieht er unglaublich niedlich aus. »Das verstehe ich zwar nicht, aber ich habe das Gefühl, beleidigt worden zu sein. Und wenn wir schon bei Beleidigungen sind, können wir uns auch duzen. Abgesehen davon fühle ich mich furchtbar alt, wenn man mich siezt. Was ich mit vierunddreißig auch bin.«

»Das kommt mir bekannt vor. Ich steuere auch mit voller Kraft auf die dreißig zu«, gestehe ich und gönne mir dabei einen ordentlichen Schluck Bier.

»Man gewöhnt sich dran«, versichert Nick mir grinsend. »Trotzdem sollte man nicht wildfremde Menschen verärgern. Befürchtest du nicht, dass ich eine Waffe ziehe und Vergeltung übe?«

»Zum einen möchte ich klarstellen, dass ich viel verärgerter sein müsste, weil dein Hund es auf mich abgesehen hat. Zum anderen: Meine Instinkte sagen mir auch hier, dass du zu den Guten zählst.«

Ein Schmunzeln huscht über sein Gesicht und mir wird ganz anders. »Vielleicht.«

Er schnappt sich mein Glas und trinkt es in einem Zug leer.

»Hey!«, protestiere ich. »Ich nehme alles zurück. Du gehörst definitiv zu den Bösen. Für Bierdiebstahl könnte ich dich verhaftet lassen. Gib es lieber zurück.«

Als Nick erneut zum Trinken ansetzt, beuge ich mich vor, um ihm das Glas aus den Händen zu nehmen, aber er dreht sich auf seinem Hocker herum, sodass ich danebengreife. Beim zweiten Versuch bekomme ich das Glas zu fassen, aber Nick hält es weiterhin am Griff fest.

Gleichzeitig fangen wir zu lachen an und ich weiß nicht, wann ich mich das letzte Mal bei einer anderen Person auf Anhieb so wohl gefühlt habe.

Ein lautes Klirren holt mich in die Realität zurück. Ouzo rennt mit irgendetwas Dunklem im Maul aus dem Hinterzimmer heraus. Ulis Fluchen bestätigt meinen Verdacht.

»Nein, Ouzo! Aus! Gib es her!«, befehlt Nick streng.

Doch Ouzo denkt nicht dran. Stattdessen nutzt der Hund seine Chance und schlüpft durch den Türspalt nach draußen.

»Oh oh.« Nicks Augen weiten sich. »Da muss ich hinterher. Hoffentlich sieht man sich bald wieder. Hat mich gefreut, Jennifer!«

Dann ist er bereits aus der Tür hinaus.

Kapitel 4

Ich mache das nicht wegen Nick. Auf keinen Fall. Ich mache das für mich. Nur für mich.

Denn wann habe ich das letzte Mal was für mich getan? Sturmstopper sollte immer mein Sprungbrett sein. Wohin konkret, wusste ich nicht genau. Die Leute bekamen große Augen, wenn ich von Krisenkommunikation sprach, von der Außenwirkung eines Unternehmens, der Reputation und all den anderen wichtig klingenden Begriffen, die in diesem Job zum Alltag zählen. Irgendwie hat mir die Arbeit natürlich Spaß gemacht, aber war es mein Herzenswunsch? Wenn ich in etwas gut bin, mache ich damit weiter. Egal, ob es mich glücklich macht.

Als ich so auf das Gebäude schaue, merke ich, dass ich nicht völlig verlernt habe, auf mein Gefühl zu hören. Sofort schleichen sich Bilder von Hunden in meinem Kopf und meinem Herzen ein, die um das vor mir liegende Anwesen herumtollen.

Dieses Gebäude ist nahezu perfekt. Inmitten von Feldern voller bunter Blumen, im Schatten der Baumkrone einer hochragenden Eiche und dem Geruch vom Salzhaff ist es der ideale Ort. Die Stadt erreiche ich von hier fußläufig und dennoch liegt das frei stehende Fachwerkhaus mit seinen roten Balken auf weißen Wänden abgeschieden von Menschenlärm. Vom ersten Moment an wollte ich stehen bleiben, verweilen, hineingehen. Es versprüht unglaublich viel Charme und ich stelle mir vor, dass hier einst Schafe und Kühe zu Hause waren. Am Gebäude grenzen eine Scheune und eine Reihe von Gehegen aus Holzzäunen. Es sieht unbewohnt aus, aber ich finde kein Schild, dass es zum Verkauf steht. Baufällig scheint es nicht zu sein, obwohl ich auf diesem Gebiet nicht zu den Experten zähle.

Gerade als ich mich entscheide hinüberzugehen, kommt mir eine Gruppe von älteren Menschen mit Nordic-Walking-Stöcken entgegen. Sofort denke ich an Nicks Kommentar über alte Leute und muss schmunzeln.

Um die Gruppe passieren zu lassen, weiche ich einen Schritt auf dem kleinen Feldweg zurück. Sie nicken mir freundlich zu und laufen im Schneckentempo an mir vorbei. Ich nutze die Zeit und hole aus meiner Tasche eine kleine Wasserflasche heraus. Die Sonne knallt unbarmherzig auf mich herab, aber dieses Mal trage ich Creme auf der Haut und einen Sonnenhut auf dem Kopf.

Von der Seite tippt mir jemand auf den Arm. »Entschuldigen Sie, aber ich sterbe vor Durst. Könnte ich bitte einen Schluck nehmen?«

Vor mir steht eine kleine, stämmige Rentnerin mit Tanktop und Leoparden-Leggings, die verboten gehören.

»Natürlich«, antworte ich und reiche ihr die Flasche.

Sie leert sie in einem Zug und sieht mich entschuldigend an. »Da war der Durst doch mehr als gedacht. Zum Glück war da Wasser und kein Wodka drin. Vielen Dank, Liebes.«

Mit einigen Metern Rückstand wackelt ein Hund an uns vorbei, der im Schatten des nächsten Baumes Schutz sucht. Er ist klein und weiß und ich kenne die Rasse aus der Cesar-Werbung.

»Marlin, hiiiiiier«, ruft die Dame den Hund, aber er bewegt sich keinen Millimeter, weswegen sie wie in einem Gespräch mit ihrem Vierbeiner nickt. »Stimmt, ist auch viel zu warm. Die kleine Prinzessin ist beleidigt, weil sie von der Couch aufstehen und mitkommen musste. Doch wenn ich dieses Sportprogramm durchziehe, dann auch sie. Der Tierarzt meinte, sie müsse etwas abspecken. Genauso wie ich also und geteiltes Leid ist halbes Leid, nicht? Wenigstens muss sie ihr Essen nicht selbst kochen und mir hilft keiner, das richtige Maß zu finden. Wenn die Schokolade aus dem Schrank ruft oder ich einfach zufällig genau die Zutaten für einen leckeren Apfelkuchen zu Hause habe, wie soll ich mich da beherrschen? Sie müssen wissen, dass in meinem Garten ein Apfelbaum und ein Kirschbaum stehen. Da muss ich selbstverständlich auch was mit anfangen, oder nicht? Seitdem mein Mann nicht mehr lebt, lagere ich das Ganze sogar zu meinen Nachbarn aus. Fred, mein Nachbar von gegenüber, meint ständig, ich soll das einfach auf dem Markt anbieten, aber Kirsten verkauft schon ihr Obst dort. Ich will ihr da nicht in die Quere kommen. Und Beate, sie wohnt in der gleichen Straße drei Häuser weiter, bietet ihren Früchtekuchen an. Zwar backe ich viel besser, aber das ist ein offenes Geheimnis. Man sollte es sich nie mit Nachbarn verscherzen. Stimmt’s?«

Die Frau redet schneller, als Wasser von einer Klippe fließt. Ich nicke nur wie ein Wackel-Dackel und lächle dabei freundlich.

Sie begutachtet mich von der Seite. »Sie kommen nicht von hier, richtig? Das sieht man sofort. Solche Kleider wie Ihres bekommt man hier nicht. Nicht mehr, seitdem Isabel sie nicht mehr schneidert.«

Der Name meiner Großmutter lässt mich sofort aufhorchen. »Sie kannten Isabel?«

»Liebes, ich kenne jede und jeden hier. Isabel und ich waren Freunde. Sie gehörte zu den herzlichsten Menschen, denen ich begegnen durfte. Einfühlsam und lebensbejahend. Manchmal unterschätzte man sie wegen ihres sanftmütigen Wesens, aber sie trug Power in sich. Hinter ihren Strickgardinen pfefferte sie ihr Brot und sahnte beim Doppelkopf ab wie keine Zweite. Jeder kam zu ihr, wenn man ein besonderes Kleidungsstück brauchte.«

Ich sehe sie noch vor mir an ihrer Nähmaschine, die Ruhe selbst. Stundenlang saß sie dort und zauberte in mühseliger Kleinstarbeit das Beste aus jedem Stoff.

»Sie war meine Großmutter«, erzähle ich und eine Welle an Gefühlen überrollt mich. »Das Bild, was Sie von ihr gerade zeichneten, hätte ihr gefallen.«

»Du bist Jennifer«, begreift die Frau mit großen Augen. »Wie blöd ich bin! Das sieht man doch auf Anhieb. Die gleiche weiße Haut, obwohl Isabel ständig in der Sonne war. Dieselbe zierliche Figur, die euch für schwere körperliche Arbeit ungeeignet macht. Hatte sie früher auch blonde Haare wie du?«

Ich schüttle den Kopf. »Nein, braune.« Dann zucken meine Mundwinkel. »Aber ich habe mal ein Bild gefunden, da waren ihre Haare blondiert. Bis zum Schluss stritt sie ab, dass jemals getan zu haben.«

»Eine versteckte Rebellin.« Die Frau zwinkert mir verschwörerisch zu und ich komme nicht umhin zu denken, dass ich sie mag. »Es kommt mir vor, als würde ich dich schon ewig kennen. Isabel hat pausenlos von dir gesprochen.«

Unweigerlich frage ich mich, was sie schon alles von mir weiß und ob ich geschmeichelt oder peinlich berührt sein soll. Ich denke an all die Menschen, von denen meine Oma geschwärmt hat, und erinnere mich, wie sie von der einen Freundin sprach, die kein Blatt vor den Mund nimmt. Die sich, einmal etwas in den Kopf gesetzt, nicht davon abbringen lässt. Die nicht in dieses verschlafene Örtchen passt. Wenn ich mich nur an ihren Namen erinnern könnte …

»Ruuuuuuth«, ruft einer aus der Seniorengruppe und beantwortet damit meine stille Frage. »Jetzt schwing deinen Hintern hierher.«

»Mein Hintern geht dich rein gar nichts an! Lauft ihr mal weiter. Ich hole euch ohnehin ein.«

Als die Gruppe ihren Weg fortsetzt, sagt sie leise zu mir: »Niemals hole ich die ein. Marlins und meine Motivation reichen dafür nicht aus.«

Marlin pflanzt sich auf den Boden und wälzt sich genüsslich im Gras. Ich gehe auf den Cesar-Hund zu, beuge mich nach unten und tätschle ihr den Kopf. Ihr Fell fühlt sich wie Samt an und glänzt im Licht. »Du süße Kleine. Wenn mir alle meine zukünftigen Kundinnen so freudig begegnen, schwebe ich im siebten Himmel.«

Marlin richtet sich zuckend auf und wedelt frenetisch mit dem Schwanz. Ihr hohes Kläffen klingt putzig.

»Was schwebt dir denn vor, wenn du Hunde als Kundinnen haben willst?«, fragt mich Ruth.

Unweigerlich schaue ich auf das Anwesen vor uns. »Ich möchte eine Hundepension eröffnen.«

Denke ich, füge ich innerlich hinzu, aber mein Mund verschließt meine Zweifel. »Meinst du, es gäbe genug Interesse dafür in Rerik?«

Ruth überlegt nicht lang. »Das kann ich mir gut vorstellen. Verstehst du denn etwas von Hunden?«