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Ein herzerwärmender Roman voller Kleinstadt-Charme, Sehnsucht nach Meer und einer Liebe, die zwischen den Zeilen beginnt
Lucy Sullivan liebt ihr Leben im malerischen Küstenort Heron Isle, Florida. Sie führt eine gemütliche Buchhandlung, spaziert täglich am Strand und pflegt mit Hingabe die Little Free Library. Dort können Leserinnen und Leser Bücher tauschen, und viele hinterlassen in den Romanen kleine, anynome Botschaften. Doch als Finanzexperte Logan Lancaster mit ehrgeizigen Expansionsplänen ins Dorf kommt, gerät Lucys Idylle ins Wanken. Sie ist mit seinen Vorschlägen überhaupt nicht einverstanden und beschließt, sich ihm für den Erhalt der traditionellen Hafenpromenade entgegenzustellen. Lucy und Logan könnten nicht unterschiedlicher sein – wäre da nicht eine Kleinigkeit: Ohne es zu wissen, haben sie sich längst heimlich über die Little Free Library ausgetauscht …
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Seitenzahl: 437
Veröffentlichungsjahr: 2025
Savannah Carlisle
Die kleine Inselbibliothek
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Annette Hahn
Insel Verlag
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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2024 unter dem TitelThe Library of Second Chances bei Harpeth Road Press (USA).
eBook Insel Verlag Berlin 2025
Der vorliegende Text folgt der xx. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 5130.
© der deutschsprachigen Ausgabe Insel VerlagAnton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2025© Savannah Carlisle, 2024
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Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Umschlagabbildungen: FinePic®, München
eISBN 978-3-458-78457-9
www.insel-verlag.de
Für meine Mom, die seit Vorschultagen alles, was ich schreibe, mit dem Rotstift überarbeitet. Und für meinen Dad, der Hallmark-Filme ebenso sehr liebt wie ich. Ich danke euch beiden für die Ermutigung, dass ich alles sein kann, was ich nur will!
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Kapitel 1. Lucy
Kapitel 2. Lucy
Kapitel 3. Logan
Kapitel 4. Lucy
Kapitel 5. Logan
Kapitel 6. Lucy
Kapitel 7. Lucy
Kapitel 8. Logan
Kapitel 9. Lucy
Kapitel 10. Logan
Kapitel 11. Lucy
Kapitel 12. Logan
Kapitel 13. Lucy
Kapitel 14. Logan
Kapitel 15. Lucy
Kapitel 16. Logan
Kapitel 17. Logan
Kapitel 18. Logan
Kapitel 19. Lucy
Kapitel 20. Logan
Kapitel 21. Lucy
Kapitel 22. Logan
Kapitel 23. Lucy
Kapitel 24. Logan
Kapitel 25. Lucy
Kapitel 26. Logan
Kapitel 27. Lucy
Kapitel 28. Logan
Kapitel 29. Logan
Kapitel 30. Lucy
Epilog. Lucy Ein Jahr später
Danksagung
Quellennachweis
Informationen zum Buch
Die kleine Inselbibliothek
Lucy
»Los, spuck's aus! Du hast noch eine gekriegt, oder?« Lucys beste Freundin Taylor Donovan quietschte so aufgeregt, dass sie drei Seemöwen aufscheuchte, die ein paar Meter vor ihnen am Strand gedöst hatten.
Lucy versuchte, das Kribbeln im Bauch zu ignorieren, und beobachtete mit vorgeschobenem Interesse einen Pelikan, der im Sturzflug nach seinem Frühstück tauchte.
»Ach, das sind doch nur Buchempfehlungen.« Sie bohrte einen Zeh unter die Spitze einer Meeresschnecke und drehte sie um in der Hoffnung, sie sei noch intakt. Doch der untere Teil war abgebrochen.
Taylor schnappte ihrer Freundin das Buch aus der Hand und blätterte darin. »Das sind nicht nur Buchempfehlungen.« Mit schwingendem Pferdeschwanz drehte sie sich zu Lucy um und ging rückwärts weiter. »Niemand sonst legt persönlich adressierte Nachrichten in die Bücher.«
Taylor bezog sich auf diejenigen, die am Büchertausch über die Little Free Library teilnahmen, die Lucy im Stadtzentrum eingerichtet hatte, nachdem die städtische Bücherei aufgrund mangelnder Finanzierung hatte schließen müssen. Als Buchhändlerin galt ihre Liebe zu Büchern nicht nur solchen, die sie in ihrer Buchhandlung verkaufte – sie wollte, dass Menschen sich auch ohne großen finanziellen Einsatz an schönen Geschichten erfreuen konnten. In ihrer kleinen Inselbibliothek tauschten die Leute ihre bereits gelesenen Bücher gegen andere ein. Zusätzlich hatte Lucy die Idee gehabt, Karteikärtchen und Stifte auszulegen, damit alle, die ein Buch brachten, anderen eine Empfehlung hinterlassen konnten.
Die Leute unterschrieben ihre Empfehlungen selten mit dem eigenen Namen, sondern dachten sich lustige Pseudonyme wie »Hoffnungslos romantisch« à la Schlaflos in Seattle aus. In ihrer Kleinstadt, in der fast jeder jeden kannte, war es zum Sport geworden, zu erraten, wer hinter welchem Pseudonym stecken könnte. War Schreiner und Baumarktbesitzer Bob Newhouse heimlich ein Fan von Liebesromanen? Zuletzt hatte Lucy über mehrere Monate Nachrichten mit einer männlich wirkenden Handschrift in Büchern von Nora Roberts und Nicholas Sparks entdeckt, also mussten sie von einem Einheimischen stammen.
Als sie Taylor das Buch wieder abnehmen wollte, löste sich plötzlich ein zwischen die Seiten geklemmtes Papier und flatterte in den Sand. Lucy hob es auf, während Taylor das Buch aufgeklappt am Einband festhielt und es schüttelte, um zu sehen, ob noch mehr Zettel darin lagen. Die Karteikarte mit der persönlichen Nachricht hatte Lucy schon vor ihrem Treffen mit Taylor herausgenommen, umso überraschter war sie deshalb, dass noch etwas im Buch versteckt war.
»Oh, was ist das denn?« Taylor stellte sich neben Lucy und stupste sie verschwörerisch mit der Schulter an.
»Ein Stadtplan von Paris …« Lucy versuchte, den Plan trotz des Windes auseinanderzufalten. Sie schob sich das schulterlange braune Haar hinter die Ohren, damit es ihr nicht mehr ins Gesicht wehte.
»Aber kein gewöhnlicher Stadtplan …«, Taylor tippte mit dem Finger auf eine handgeschriebene Anmerkung: Brasserie Flottes – beste Zwiebelsuppe der Stadt, »… das ist ein personalisierter Stadtplan von Paris.« Sie sah Lucy an und zog fragend eine Augenbraue hoch.
Taylor hatte recht. Der Plan war mit vielen kleinen Pfeilen und Anmerkungen versehen, die auf Restaurants, Buchhandlungen oder Galerien hinwiesen, und an einigen Stellen stand sogar: Hier nachmittags mit einem Buch hingehen.
Seit ein paar Wochen schon tauschten Lucy und der mysteriöse Besucher ihrer Little Free Library rege Nachrichten aus. Es hatte angefangen, als sie ein Exemplar von Gatsby's Girl einstellte, einem Roman über F. Scott Fitzgeralds erste Liebe, die als Inspiration für die Figur der Daisy Buchanan in seinem Klassiker Der große Gatsby galt. Als Lucy ihr Bücherhäuschen das nächste Mal besuchte, entdeckte sie überrascht, dass ein neu eingestelltes Buch per Post-it direkt an ihr Pseudonym Inselfee adressiert war. Im Buch selbst fand sie eine Karteikarte mit dem Wunsch, ihr möge Westlich des Sunset, ein Buch über F. Scott und Zelda Fitzgerald, ebenso gefallen wie ihm – oder ihr – der Roman Gatsby's Girl. Diese Lektüre sei augenöffnend gewesen, wenn man wisse, wie es sei, sich wie Zelda ganz in einer Beziehung zu verlieren. Unterschrift: Gatsby-Fan.
Lucy liebte historische Romane, daher hatte sie schnell eine neue Empfehlung parat: Hemingway und ich über Ernest und Hadley Hemingway. So ging es seitdem mit Büchern über die 1920er Jahre hin und her. Lucy hatte noch nie jemanden getroffen, der genauso schnell las wie sie. Einer der Vorteile, den sie als Buchhändlerin genoss, war der, viel Zeit zum Lesen zu haben.
»Was stand denn auf der Karteikarte?«, wollte Taylor wissen und las die kurze Inhaltsangabe auf der Buchrückseite. Es handelte sich um einen Reiseführer über die schönsten Spazierwege in Paris.
Widerstrebend zog Lucy die Karteikarte aus der Tasche. Sie Taylor zu zeigen, fühlte sich an, wie ein Geheimnis zwischen dem Verfasser und ihr zu verraten, aber dann fiel ihr ein, dass Gatsby-Fan seine Nachricht ja an einem öffentlichen Ort hinterlegt hatte, wo sie jeder hätte finden können. Laut las sie vor: »Hallo Inselfee, ich glaube nicht an sogenannte Bucket Lists. Wenn man etwas tun will, sollte man es einfach tun. Bis du also nach Paris reist – und das solltest du unbedingt machen –, kannst du dich mit diesen Rundgängen schon mal darauf einstimmen. Gatsby-Fan.«
»Das klingt, als wäre er gern dein persönlicher Reiseführer.« Mit einem fetten Grinsen nickte Taylor in Richtung des Stadtplans. »Woher weiß er denn, dass du noch nie in Paris warst?«
Lucy zuckte mit den Schultern. »Das stand auf der Karteikarte im allerersten Buch, das ich ihm hingestellt hatte.«
»Wow, ein aufmerksamer Mann! Den Kerl mag ich jetzt schon.«
»Eigentlich wissen wir gar nicht, ob es ein Mann ist.«
»Ach komm, ich hab doch die Handschrift gesehen. Und ›Gatsby-Fan‹? Das ist definitiv ein Typ, da bin ich sicher.« Taylor nickte entschieden. »Ist schon ziemlich romantisch, oder? Wie E-Mail für dich, aber in unserer kleinen Inselbibliothek.«
Lucy lachte. »Stimmt. Dann hoffe ich mal, dass er hier keine Filiale seiner großen Buchhandelskette eröffnen und mich arbeitslos machen will.« Kaum hatte sie das gesagt, begannen ihre Gedanken zu rasen. Was, wenn es tatsächlich jemand war, der bei der geplanten Umgestaltung des Jachthafens einen Geschäftsstandort witterte? Das Projekt lag momentan auf Eis, aber Lucy wusste, dass der Stadtrat zusätzliche Verkaufsflächen am Hafen erschließen wollte. Und nach dem, wie die letzten Konzepte dazu ausgesehen hatten, würden sich nur Luxusläden die Miete leisten können – oder eben große Handelsketten, deren Umsätze sich über das Gesamtvolumen aller Verkäufe in den einzelnen Filialen definierten.
Trotz der warmen Junisonne, die zu ihrer Linken immer höher über dem Ozean aufstieg, begann Lucy zu frösteln. »Das wird schon nicht passieren, oder?« Mit großen Augen sah sie Taylor an.
»Natürlich nicht.« Taylor rieb tröstend Lucys Arm, und die beiden setzten ihren Spaziergang fort. »Wir haben gegen die bösen Großinvestoren gekämpft, und wir haben gewonnen.« Wie ein Preisboxer schlug Taylor Haken in die Luft.
Taylors Herumalbern tat Lucy gut, und sie blickte etwas beruhigter aufs Meer hinaus. Die Sonne hatte sich binnen kürzester Zeit von einer feuerroten verschwommenen Masse zu einem großen gelben Ball gewandelt, der langsam den Himmel hinaufkroch. Die Freundinnen liebten es, frühmorgens am Strand zu spazieren. Sie starteten dann immer bei Lucy, gingen bis zum Jachthafen am Rand der historischen Altstadt von Heron Isle und wieder zurück. In letzter Zeit waren sie allerdings vor lauter Arbeit kaum noch dazu gekommen.
Sie gingen direkt am Ufer entlang, und die Wellen leckten ihnen hin und wieder mit ihrem schaumigen Rand an den nackten Füßen. Ihr sanftes Heranspülen bei Ebbe hörte sich ganz anders an als das donnernde Rollen bei Flut. In sechs Stunden war es wieder so weit. Manchmal hallte die Brandung so laut von den Dünen wider, dass sie das fröhliche Kreischen der Kinder übertönte, die unter den wachsamen Augen ihrer Eltern immer wieder in die heranrauschenden Wellen liefen.
Taylor blätterte erneut im Buch und hielt an einer Stelle inne, an der Gatsby-Fan einige Zeilen unterstrichen und etwas an den Rand geschrieben hatte. Zu Anfang war Lucy entsetzt gewesen, wie jemand ein Buch derart verunstalten konnte, aber mittlerweile gab es ihr das Gefühl, das Buch zusammen mit einem Freund durchzublättern.
Laut las Taylor den handschriftlichen Eintrag vor: »Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man eine Stadt genauso lieben kann wie einen Menschen. Paris war Liebe auf den ersten Blick. Als ich auf dem Pont Alexandre III stand und auf die Seine hinunterblickte, fing mein Herz an zu rasen wie verrückt, und ich hatte das Gefühl, die Zeit sei stehengeblieben.«
Taylor klappte das Buch zu und drückte es sich in dramatischer Geste aufs Herz. »Hach, der klingt ja so romantisch! Ich wünschte, Jack würde mir auch mal wieder liebevolle Botschaften schreiben.«
Taylor und Jack waren seit zwei Jahren zusammen. Während Taylor jetzt davon schwärmte, dass er ihr früher immer kleine Nachrichten im Haus versteckt hatte, bevor er auf Reisen ging, kam aus den Dünen eine große Dänische Dogge auf sie zugelaufen. Gleich darauf erschien Pam Beasly, eine Geschäftskollegin aus der Innenstadt und Besitzerin der Dogge Ava. Pam trug ein weites blaues Leinenkleid, einen Strohhut mit breiter Krempe und hielt ihre Sandaletten in der Hand.
Lucy winkte, und sie und Taylor änderten die Richtung, um Pam zu treffen. Die zwei Freundinnen trugen bei ihren morgendlichen Sommerspaziergängen immer kurze Sporthosen und Trägerhemdchen, aber die zwanzig Jahre ältere Pam legte auch um diese Uhrzeit schon Wert auf Stil. Ihre große Liebe zu Kleidung hatte sie dazu veranlasst, den einzigen Secondhand-Laden der Insel zu eröffnen, und ihr Sortiment fand großen Anklang.
Mit einem Tennisball im Maul kehrte Ava aus der Brandung zurück. Sie ließ den Ball vor Pam in den Sand fallen und wartete darauf, ihm wieder hinterherjagen zu dürfen. Pam schleuderte den Ball Richtung Meer, worauf Ava lossprintete und alle Vögel aufscheuchte, die nach ihrem Frühstück Ausschau hielten.
»Guten Morgen, die Damen …«
»Er hat schon wieder geschrieben!« Taylor winkte mit dem Buch in ihrer Hand, als wäre es ein Lottoschein.
»Eine neue Nachricht in der Little Free Library?« Pam begann zu strahlen und sah Lucy fragend an.
»Ja!«, rief Taylor. »Damit sind es dann schon … wie viele? Sechs? Oder noch mehr?«
Lucy verdrehte die Augen, um zu zeigen, dass sie das Ganze nicht annähernd so aufregend fand wie Taylor. »Wir haben einfach denselben Buchgeschmack.« Sie zuckte die Achseln. »Er könnte neunzig sein. Und vielleicht nicht mal ein Er.«
»Aber was, wenn er entsetzlich attraktiv und Single ist?« Taylor machte ein Gesicht wie die Grinsekatze aus Alice im Wunderland.
Lucy runzelte die Stirn. »Dann kann er nur auf der Durchreise sein.« In einer so kleinen Stadt, die über eine Stunde vom nächsten Ballungsgebiet entfernt lag, war es höchst unwahrscheinlich, dass es sich um einen alleinstehenden Mann in ihrem Alter handelte. So jemand konnte hier nur Urlaub machen oder vorübergehend in einer der Hotelanlagen außerhalb des historischen Stadtkerns arbeiten, bis er woanders hinbeordert würde.
Dass Lucy ihre verschlafene kleine Stadt so liebte, war Segen und Fluch zugleich. Die entspannte Atmosphäre und die überschaubare Einwohnerzahl bedeuteten, dass es für Männer wie Taylors Freund Jack – als Manager der größten Hotelanlage – oder ihren Ex-Verlobten Carter nur eine Zwischenstation darstellen konnte. Carter hatte die erste Gelegenheit wahrgenommen, nach Chicago zu gehen. Nur Lucys gebrochenes Herz hatte er dabei zurückgelassen und den Diamantring mitgenommen, den sie ihm an seinem letzten Abend wiedergegeben hatte.
»Ach, komm schon.« Taylor sah sie flehend an. »Gib der Sache eine Chance.«
»Da ist nichts, dem ich eine Chance geben könnte. Wir sind nur Book-Buddies.«
»Book-Buddies? Seid ihr etwa Grundschulkinder?« Taylor schüttelte den Kopf.
»Apropos Grundschulkinder … Ich muss jetzt nach Hause und mich fertig machen. Wir haben heute Morgen im Buchladen Vorlesestunde.« Lucy wandte sich an Pam, die zwar mit Ava gespielt, das Gespräch jedoch interessiert verfolgt hatte. »Sehen wir uns heute Abend?«
»Natürlich. Du hast von den Gerüchten gehört, oder?« Pam pfiff Ava zurück, die auf dem nassen Strandstreifen herumtollte.
In diesem Moment schob sich eine Wolke vor die Sonne und tauchte den Strand in Schatten. Lucy steckte die Hände in die Taschen ihrer Sportshorts.
»Nein. Was für Gerüchte?«
Am Abend fand die monatliche Stadtratssitzung statt, bei der die letzten sechs Male immer heftig über die Zukunft des Jachthafens diskutiert worden war. Obwohl das Thema auch für heute auf der Tagesordnung stand, war Lucy davon ausgegangen, dass es eher eine Art Nachruf auf das Bauvorhaben geben würde, für dessen Umsetzung nicht genug Stimmen zusammengekommen waren. Dass Pam von Gerüchten sprach, war beunruhigend.
»Bob hat gehört, sie hätten jemanden geholt, der darauf spezialisiert ist, Städte bei der Neugestaltung ihrer Hafenanlagen zu unterstützen. Er soll so was sein wie ein … Wie hat er ihn genannt? … Ein ›Spin-Doctor‹.« Pam nickte, als wäre damit alles erklärt, was sie vom Inhaber des Mini-Baumarkts gehört hatte.
»Was ist ein Spin-Doctor, und woran soll er herumdoktern?« Taylor beugte sich vor, um Ava zu streicheln, die jetzt im Sand lag, das Kinn auf den Tennisball gestützt.
Pam zuckte die Schultern. »Am Hafen, nehme ich an.«
»Vielleicht ist dieser Typ nur irgendein Buchhalter, der den Haushalt neu berechnet, nun, da ein Neubau vom Tisch ist.« Lucy war überzeugt, dass es eine vernünftige Erklärung gab. Alle drei bisherigen Umbau-Konzepte waren vom Stadtrat abgelehnt worden, der die Petitionen und Bittschreiben ihres Downtown Business Owners Council – dem Arbeitskreis der Geschäftseigentümer in der Innenstadt – gelesen und sich offenbar zu Herzen genommen hatte.
»Hm, vielleicht«, meinte Pam. »Ich hoffe es. Halt mir einen Platz frei, wenn du vor mir da bist.«
»Was für ein Pech, ich kann heute nicht. Ihr müsst mir dann später alles berichten.« Zu Pam gewandt erklärte Taylor: »Jack und ich machen uns nämlich gleich auf den Weg nach North Carolina, um ein paar Tage zu wandern.«
»Na, dann hoffe ich, dass es dort kühler ist als hier.« Pam wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Nicht zu fassen, dass es im Juni schon dermaßen heiß ist. Bring was von der frischen Bergluft mit.«
Taylor lachte. »Ich versuch's!«
Sie verabschiedeten sich von Pam und steuerten auf das Strandhaus zu, in dem Lucy aufgewachsen war. Dabei dachte Lucy an die vier Generationen von Sullivans, die hier auf Heron Isle, Florida, gelebt hatten. Wie hatten ihr Vater und seine Vorfahren es aufgenommen, als im Norden der Insel die Hotelanlagen gebaut wurden? Als neue Häuser immer näher am Strand errichtet wurden? Immerhin hatte man die Bauprojekte bislang vom historischen Stadtkern im Herzen der Insel fernhalten können. Hatte jede Generation den Eindruck, dass alles Neue die Ruhe und den Frieden der Insel bedrohte? Sie wünschte, ihr Vater wäre noch am Leben, damit sie ihn fragen könnte. Er würde sicher wissen, was zu tun war.
*
Zum Glück war den ganzen Tag über in der Buchhandlung so viel Betrieb gewesen, dass Lucy keine Zeit gehabt hatte, sich weiter Gedanken zur Stadtratssitzung zu machen. Immer wieder hatte die Ladenglocke geklingelt, und zur Vorlesestunde war der extra ausgerollte Teppich in der Kinderbuchabteilung bis auf den letzten Quadratzentimeter besetzt gewesen. Sie hatte kein festgesetztes Ziel, wie viele Bücher sie pro Tag verkaufen wollte, aber wenn sie genauso viel Zeit hinter der Kasse verbracht hatte wie im Ladenraum, um ihre Kundschaft zu beraten, dann wusste sie, dass es ein guter Tag gewesen war.
Jetzt, kurz vor Feierabend, räumte sie die Bücher wieder ein, die sie für die Vorlesestunde herausgesucht hatte, und summte dabei den Song mit, der über die schon etwas ältere Musikanlage lief. Sie liebte es, die Augen der Kinder leuchten zu sehen, wenn sie Geschichten über fliegende Teppiche vorlas oder über Prinzessinnen, die ihren Prinzen fanden. Natürlich war Lucy nicht so naiv zu glauben, dass das Leben wie im Märchen verlief; diese Lektion hatte sie gelernt, als sie kaum älter gewesen war als die Kinder, die heute Morgen im Schneidersitz vor ihr gesessen hatten. Aber sie wusste sehr wohl, dass ein gutes Buch an einen anderen Ort und in eine andere Zeit entführen konnte, in eine Welt, in der Eltern niemals stritten, Mütter ihre Kinder nicht im Stich ließen und stets das Gute über das Böse siegte.
Sie hob ein paar Romane auf, die vorn im Laden neben den großen blauen Lehnsesseln lagen, und schob die große Rollleiter vor die Bücherregale. Niemals ließ sie Kunden auf die Leiter, um Bücher aus den oberen Regalen zu holen; ihr Versicherungsberater hatte sie eindringlich gewarnt, dass sie im Falle eines Sturzes haftbar gemacht werden könne. Doch sobald das Geschäft leer war, kletterte sie selbst gern nach oben, das hatte sie schon als Kind geliebt. Annie, die frühere Besitzerin, hatte sie nach Ladenschluss hinaufklettern lassen und vor den Büchern hin- und hergeschoben wie Belle im Disney-Film Die Schöne und das Biest.
Lucy seufzte. Sie vermisste Annie, und jeden Tag stieß sie in der Buchhandlung auf etwas, das an sie erinnerte. Jedes Mal war das zugleich wunderbar tröstlich und herzzerreißend traurig. Die meisten Sachen setzte sie genau so fort, wie Annie sie eingeführt hatte – vom Duft der Kokos-Vanille-Kerze, die sie genau wie Annie früher neben der Kasse anzündete, bis hin zu der merkwürdigen Playlist, mit der sie sich immer wie im Märchen fühlte.
Im Sturm der Trennung ihrer Eltern waren Annie und ihre Buchhandlung für Lucy ein sicherer Hafen gewesen. Annie war nie verheiratet gewesen und hatte auch keine Kinder gehabt, und nun, da Lucy älter war, erkannte sie, dass Annie sie genauso gebraucht hatte wie sie Annie.
Der Buchladen war Annies letztes Geschenk an Lucy gewesen, ein Ankerpunkt auf ihrer Heimatinsel, als sie ihn am nötigsten brauchte. Damals hatte sich zwar ihr Traum in Rauch aufgelöst, irgendwann einmal ein Buch zu veröffentlichen, aber ihr war dennoch klar gewesen, dass ihr Leben sich um Bücher drehen würde. Allerdings hatte sie sich eher ausgemalt, in einer Bibliothek zu arbeiten und nebenbei Romane zu schreiben – und nicht, eine eigene Buchhandlung zu führen. Doch das Leben – und Annie – hatten andere Pläne gehabt. Nach Annies Tod war Lucy auf die Insel zurückgekehrt und hatte so zudem die Chance bekommen, noch ein paar gute Jahre mit ihrem Dad zu erleben, bevor auch er verstarb. Als Geschäftsinhaberin ein Teil der Stadtgemeinschaft zu sein, hatte ihr außerdem ein neues Gefühl von Stolz auf ihre Heimat vermittelt.
Lucy nahm die zwei Bücher, die sie an der Kasse deponiert hatte, schaltete das Licht aus, drehte das alte Holzschild an der Tür auf »Geschlossen« und verließ ihren Laden. Bis zur Stadtratssitzung, die ein paar Ecken entfernt im Rathaus stattfand, blieb ihr noch etwas Zeit, die sie nutzen wollte, um zum Marktplatz zu gehen und ihre neueste Empfehlung in die Little Free Library zu stellen. Außerdem hatte sie ein weiteres Buch für Gatsby-Fan ausgewählt.
Als sie gerade die Straße überqueren wollte, sah sie, wie ein Mann vor der Plakette stehen blieb, die das Haus mit ihrer Buchhandlung als historisches Gebäude auswies. Die meisten Touristen gingen einfach daran vorbei, achteten nur auf die neuesten Modetrends in den Schaufenstern oder sahen neugierig zu, wie im Bonbongeschäft die heiße Karamellmasse zum Auskühlen auf den Marmortisch gestrichen wurde. Lucy war schon immer stolz auf die Geschichte der Insel gewesen und liebte Erzählungen darüber, wie die ersten Stadtgründer die Hauptstraße geplant und wen und was die Gebäude ursprünglich beherbergt hatten.
»Sehen Sie das Erkerfenster da oben?«, fragte Lucy den Mann und deutete auf das angrenzende Gebäude.
Als er sich umdrehte und sie anlächelte, fielen ihr als Erstes seine grünen Augen auf. Sie hatten einen ähnlichen Farbton wie die Wiese im Park auf der anderen Seite der Straße. Doch schon hatte der Mann sich wieder abgewandt und spähte in die angezeigte Richtung.
»Ja?« Nun sah er sie erneut an und lächelte erwartungsvoll.
Gefesselt vom Grün seiner Augen musste sie kurz schlucken, ehe sie weitersprechen konnte. Trug er etwa Kontaktlinsen? Derart grüne Augen hatte sie noch nie gesehen. Sie leuchteten aus einem sommergebräunten Gesicht mit markantem Kinn, umrahmt von vollem dunkelbraunem Haar. Er sah aus wie die Vorlage zu einer Büste und war einer der bestaussehenden Männer, dem Lucy je begegnet war. Definitiv kein Einheimischer. Dieses Gesicht hätte Lucy nicht vergessen.
Sie musste sich regelrecht zwingen, den Blick von seinen smaragdgrünen Augen und dem mittlerweile amüsierten Lächeln zu lösen, und sah wieder zum Erkerfenster hinauf.
»Um 1870 herum war dort oben eine Zahnarztpraxis. Damals gab es ja noch kein elektrisches Licht, und der Zahnarzt hat einen Weg ertüftelt, um über dieses Fenster und eine Reihe von Spiegeln, die er rundherum im Zimmer aufhängte, ausreichend Licht in die Münder seiner Patienten zu leiten. Ziemlich genial, oder nicht?« Sie lächelte den Fremden an und freute sich, einem Urlauber ein wenig von der Geschichte ihrer geliebten Heimatstadt erzählt zu haben.
»Wow! Das ist ja interessant.«
Als er jetzt wieder lächelte, fiel ihr das Grübchen in seiner rechten Wange auf. In der linken hatte er keines, und obwohl sie sonst eigentlich viel Wert auf Symmetrie legte, fand sie in seinem Fall, dass es ihn sogar noch attraktiver machte. Als wäre er zugänglicher, weil er nicht perfekt war.
»Sie wohnen bestimmt auf dieser Insel«, stellte er fest.
»So ist es.« Sie nickte stolz. »Schon mein ganzes Leben. Na ja, die meiste Zeit zumindest …«
»Ein wirklich hübsches Städtchen.« Er blickte in Richtung Marktplatz. »Ich kann gut nachvollziehen, warum es letzten Monat in Vacations Today zum ›charmantesten Küstenort‹ gewählt wurde.«
»Ja, die meisten Leute sind sofort hin und weg. Man kann wunderbar entspannen und zur Ruhe kommen. Wie lange bleiben Sie?«
Er zögerte kurz, als müsste er überlegen, wie viel er von sich preisgeben wollte. »Im Moment steht mein Rückreisedatum noch nicht fest.«
Sie hätte gern mehr erfahren, wollte aber auch nicht indiskret sein »Tja, wie wir hier gerne sagen: ›Stell einen Stuhl in den Sand und genieß deine Zeit.‹«
»Vielleicht tue ich genau das.« Sein Lächeln wirkte ein wenig verhalten, aber es reichte, um sein Grübchen wieder hervorzulocken – wie ein Ausrufezeichen zu der stummen Aufforderung Seht nur, wie hübsch ich bin!. Er trat aus dem Schatten des Gebäudes in die Sonne und erinnerte Lucy mit den übernatürlich grünen Augen und der schlanken, durchtrainierten Gestalt an einen griechischen Gott.
Flirtete er etwa mit ihr? Er sah sie so eindringlich an, dass Lucy Herzklopfen bekam, und sie musste sich plötzlich ganz dringend mit dem Anhänger an ihrer Handtasche beschäftigen, um den Blick abzuwenden. Alle möglichen und unmöglichen Gedanken rasten ihr durch den Kopf, von denen sich keiner laut aussprechen ließ. Normalerweise war sie nicht auf den Mund gefallen, vor allem, wenn es um ihre geliebte Insel ging, aber sie hatte auch noch nie einen Mann getroffen, der so unbestreitbar umwerfend aussah. Das Beste war es wohl, sich zu verabschieden, bevor ihr Mund auf einmal schneller wäre als ihr Verstand.
»Tja, dann hoffe ich, dass Sie noch viel Spaß haben werden, unser kleines Städtchen zu entdecken.« Sie machte einen Schritt rückwärts, um weiterzugehen, aber genau in diesem Moment wurde sie von hinten geschubst und stolperte frontal in den Fremden hinein. Ihr erster Gedanke galt nicht der Frage, wer sie da angestoßen hatte, sondern der Tatsache, dass ihr Gesicht gegen den muskulösen Oberkörper des Mannes gedrückt wurde. Hätte er sie nicht an den Schultern gepackt und auf Abstand gebracht, um sie zu fragen, wie es ihr ging, wäre sie vielleicht einfach so in seinem betörenden Duft stehen geblieben.
Lucy rang noch nach Luft, deshalb nickte sie vorerst nur.
»Ich denke, hier ist eine Entschuldigung fällig, junger Mann«, sagte der Fremde über Lucys Schulter hinweg. Sein Ton war weder barsch noch einschüchternd, sondern freundlich und hatte nichts von der übertriebenen Machohaftigkeit, die manche Männer an den Tag legten, um maskuliner zu wirken.
»Tut mir leid, Ma'am«, hörte Lucy eine kleinlaute Stimme. Sie drehte sich um.
Ein Junge stand hinter ihr, vermutlich ein Urlauber, nicht älter als zwölf oder dreizehn. Er wich ihrem Blick aus und beugte sich vor, um sein Skateboard aufzuheben.
Sie versicherte ihm, dass nichts passiert sei.
»Fahr damit lieber nicht auf dem Bürgersteig«, sagte der Mann, wiederum ganz ruhig und freundlich. Lucy fragte sich, ob er wohl selbst Kinder hatte.
»Nein, Sir, mache ich nicht wieder. Tut mir leid.« Der Junge blickte kurz verschämt zu Lucy auf, dann drehte er sich um ging mit gesenktem Kopf an ihnen vorbei, das Skateboard unter den Arm geklemmt.
»Wer hätte gedacht, dass die Gehsteige auf Heron Isle so gefährlich sind?« Der Mann lächelte und entblößte dabei eine endlos wirkende Reihe strahlend weißer Zähne.
Lucy war nicht bewusst gewesen, dass sie bei dem Zusammenstoß ihre Tasche fallen gelassen hatte, und merkte es erst, als der Mann sich bückte und das Buch aufhob, das auf dem Boden lag. Er musterte es kurz, bevor er es ihr zusammen mit ihrer Handtasche entgegenhielt.
»Ein Leseexemplar, interessant. Sind Sie Verlegerin oder Rezensentin oder so etwas?«
Sie lachte ein wenig unsicher. »Nein. Mir gehört die Buchhandlung.« Sie deutete hinter sich. »Danke«, fügte sie leise hinzu, während sie ihre Sachen nahm.
»Gern geschehen.« Er tippte sich an einen nicht vorhandenen Hut. »Vielleicht sieht man sich mal wieder.«
Lächelnd und mit kleinem, halbherzigem Winken drehte sie sich gerade noch rechtzeitig um, bevor sie im Weggehen über den Kantstein gestolpert wäre. Allerdings rutschte ihr dabei die Sandalette vom Fuß. Hastig schob sie den Fuß wieder hinein und eilte über die Straße, um möglichst schnell von dem Fremden wegzukommen. Dabei unterdrückte sie den Impuls, sich umzudrehen und nachzusehen, ob er es bemerkt hatte. Sie war schon immer etwas tollpatschig gewesen, aber musste so etwas ausgerechnet vor den Augen des attraktivsten Mannes passieren, der ihr je begegnet war? Kopfschüttelnd überquerte sie die schmale Grünanlage, die mitten durch die Hauptstraße verlief. Einfach so einen Schuh zu verlieren! Abrupt hielt sie inne und begann zu lächeln, als ihr ein verrückter Gedanke in den Sinn kam. War es nicht genau das, was Aschenputtel passierte, als sie ihren Prinzen traf?
Lucy
Mit sicherem Abstand zum grünäugigen Mann ging Lucy nun den blätterüberdachten Weg entlang, der quer über den Marktplatz führte. Die über hundertjährigen Eichen boten einen wunderbaren Schutz vor der späten Nachmittagssonne. Louisianamoos hing von den Ästen und schwang in der frischen Brise, die vom nahegelegenen Ozean kam, sanft hin und her.
Mit Beginn der Touristensaison tummelten sich auf den Gehwegen jetzt überall Familien, und kleine Kinder liefen zum großen Springbrunnen mitten auf dem Platz. Durch die baumgesäumten Wege, die sich bis zur Main Street fortsetzten und an ihr entlangliefen, wirkte der Platz eher wie eine Lichtung als wie ein Marktplatz, aber »Städtische Lichtung« hätte komisch geklungen, also blieb es weiterhin ihr »Marktplatz«, auch wenn dort schon lange kein Markt mehr stattfand.
Lucy bückte sich, um ein Stück zerknülltes Papier aufzuheben. Sie musste nicht genau hinsehen, um zu erkennen, dass es sich um eins der Plakate für die Neubebauung des Hafengeländes handelte, die der letzte von der Stadt eingeladene Bauunternehmer überall aufgehängt hatte. Dass es hier offiziell verboten war, Laternenpfähle zu bekleben, war ihm egal gewesen – genau so, wie er die berechtigten Bedenken der Einheimischen gegen sein Konzept ignoriert hatte. Lucy drückte das Plakat zu einer Kugel und warf es in den nächsten Mülleimer.
Der Protest der Geschäftsleute von Heron Isle gegen größere Bauprojekte am Jachthafen war von der Bauunternehmerseite aus als anti-touristisch verurteilt worden, was natürlich lächerlich war angesichts der Tatsache, dass sie alle genauso auf Touristen wie auf einheimische Kunden angewiesen waren, um ausreichend Umsätze zu machen. Aber so reagierten Bauunternehmer nun mal – als wäre alles nur schwarz oder weiß. Entweder war man für Fortschritt und mehr Tourismus, oder man wollte rückschrittlich in der Vergangenheit verharren.
Das Planungskomitee hatte mittlerweile drei Baukonzepte vorgelegt bekommen, die für den Um- und Ausbau des Hafengeländes eingereicht worden waren. Bei jedem Konzept hätten die Docks und das Restaurant, die sich momentan am nördlichen Ende der Main Street befanden, abgerissen und durch neue, größere Geschäftsgebäude zu beiden Seiten des Hafenbeckens ersetzt werden sollen. Lucy, die zur Vorsitzenden ihres Arbeitskreises der Geschäftseigentümer gewählt worden war, als sie einmal nicht am Jahrestreffen hatte teilnehmen können, war auf jeder Stadtratssitzung gewesen und hatte jedes Konzept eingehend studiert. Nicht nur waren sie allesamt architektonische Albträume, sie ignorierten zudem auf schändliche Weise die negativen Auswirkungen auf die Umwelt oder die Menschen, die im Innenstadtbereich wohnten und arbeiteten. Vom Bau einer langen Molemauer ins Meer hinaus, die den Bestand der einheimischen Fische und Pflanzen nachhaltig stören würde, bis hin zur Schließung des seit 32 Jahren bestehenden Familienrestaurants am Jachthafen waren die Baukonzepte von vorn bis hinten ein einziges Desaster. Lucy war froh, dass keines davon angenommen worden war.
Der Anblick ihres kleinen Bücherhäuschens an der Seite des Marktplatzes beruhigte Lucy wieder, und die Anspannung in ihren Schultern ließ nach. Es war der Miniaturnachbau eines alten viktorianischen Stadthauses, das früher am Ende der Main Street gestanden hatte. Als Lucy auf die Idee kam, am Marktplatz ein öffentliches Tauschregal in Form eines Häuschens einzurichten, hatte Bob angeboten, es zu bauen. Zunächst hatte er eine etwa puppenhausgroße Replik des Stadthauses auf einem Pfosten errichtet, ähnlich anderen Tauschregalen, die oft auf Pfosten oder Säulen standen. Nachdem die Stadtbücherei dann aber schließen musste, wurde schnell klar, dass die Puppenhausversion nicht reichen würde, um die Nachfrage zu decken. Also holten Lucy und Bob die entsprechenden Genehmigungen ein, und Bob baute eine größere und begehbare Version des viktorianischen Stadthauses. Der Innenraum von etwa einem Meter achtzig mal zwei Meter vierzig war rundum mit Regalen ausgestattet und bot Platz für bis zu drei Personen.
Lucy öffnete die Tür und freute sich, dass sie allein war. An der hinteren Wand gab es ein Fach, in dem geliehene Bücher zurückgegeben oder neue eingestellt werden konnten, damit sie – als ehrenamtliche Bibliothekarin – sie wieder richtig einsortieren konnte. Zuerst hatte sie vorgehabt, ein Tauschregal in ihrer Buchhandlung einzurichten, aber die Leute schätzten es, dass sie das Buchtauschhaus zu jeder Tages- und Nachtzeit nutzen konnten. Lucy selbst ging fast täglich hin, um eventuell im Rückgabefach liegende Bücher einzusortieren.
Sie nahm eine der Karteikarten und einen Stift aus dem Holzkästchen neben dem Rückgabefach. Wenn sie ihre Lese-Empfehlungen schrieb, erinnerte sie sich immer an Annie – wie sie früher durch ihre Buchhandlung gegangen war, Bücher aus den Regalen gezogen und Lucy erzählt hatte, warum sie jedes davon liebte. Lucys Taschengeld hatte nie für mehr als ein Buch gereicht, aber oft hatte Annie ihr an der Kasse augenzwinkernd ein zweites Buch in die Tüte geschoben. »Lass dich von diesem Buch forttreiben, und wenn du wieder zurückkommst, bist du ein neuer Mensch«, hatte sie immer gesagt.
Als Kind hatte Lucy die Bedeutung dieser Worte nicht genau verstanden, aber als Teenager hatte sie sich regelmäßig danach gesehnt, an einem anderen Ort zu sein, und Bücher so schnell verschlungen, dass sie sie oft schon einen Tag nach der Ausleihe wieder in die Bibliothek zurückbrachte. In den letzten Jahren waren Buchtauschregale im ganzen Land populär geworden, aber Lucy hatte besonders die Idee gefallen, Nachrichten in den gelesenen Büchern zu hinterlassen. Sie betrachtete es als eine Hommage an Annie – als ihre eigene Art, das Wissen weiterzugeben, das Annie ihr vermittelt hatte.
Das letzte Buch, das sie gelesen hatte – eine Geschichte über zwei beste Freundinnen, die sich zu Beginn der Oberschule auseinanderleben, erzählt aus beider Perspektiven –, war perfekt für Jugendliche, die gerade selbst diese verunsichernde und aufrüttelnde Zeit vor ihrem Schulabschluss durchlebten. Lucy schrieb ihre Leseempfehlung und setzte als Pseudonym Auch mal jung gewesen darunter.
Als Nächstes nahm sie das Buch aus der Tasche, das sie ihrem neuen Brief- und Buchfreund hinterlassen wollte: eine relativ unbekannte Romanbiografie über Zelda Fitzgerald, die ihm vielleicht gefiel. Ihr eigenes Exemplar hatte sie schon vor langer Zeit verschenkt, sodass sie das Buch jetzt neu bei ihrem Sortimenter bestellt hatte. Sie wollte allerdings nicht, dass Gatsby-Fan das merkte – es fühlte sich ein bisschen komisch an, einem Unbekannten ein neu gekauftes Buch zu schenken. Als sie also am gestrigen Abend ihre Notizen für ihn an den Rand schrieb, blätterte sie alle Seiten durch und klappte das Buch einige Male vollständig auf, damit der Buchrücken die üblichen Gebrauchsspuren aufwies.
Während sie es jetzt ein weiteres Mal kurz durchblätterte, sprang ihr eine Textstelle ins Auge, die sie unterstrichen hatte.
Wer sich selbst neu erfinden will, muss den Wandel begrüßen und die Sehnsucht nach einer Welt spüren, die im Fluss begriffen ist – und weniger nach einem Selbst, das sich permanent verändert.
Die Passage hatte Lucy angesprochen, weil sie am eigenen Leib erfahren hatte, wie schwer es war, sich selbst neu zu erfinden. Gatsby-Fan hatte in einem anderen Buch eine Stelle markiert, die besagte, ein Fehlschlag könne so gravierend sein, dass er einem die Freiheit verlieh, zur eigenen Individualität zurückzufinden. Schon seit Tagen dachte sie darüber nach, was genau dies wohl bedeuten sollte. Für sie hatte sich noch kein Fehlschlag auf diese Weise angefühlt. Als es ihr damals nicht gelungen war, ihren Roman zu veröffentlichen, hatte sie sich einfach nur wie eine Versagerin empfunden.
Angeregt durch Gatsby-Fan überlegte sie nun, wie das Versagen einen Menschen befreien konnte. Wie genau sollte das funktionieren?
Seufzend klappte sie das Buch zu und stellte es in das Rückgabefach, wo Gatsby-Fan es hoffentlich sehen und seinen Namen auf dem Haftzettel am Einband entdecken würde. Danach sortierte sie die zurückgegebenen Bücher alphabetisch nach ihren Autorinnen und Autoren in die passenden Regale, die sie in etwa ein Dutzend Kategorien wie »Memoiren/Biografien«, »Liebes- und Frauenromane«, »Thriller/Mystery« unterteilt hatte. Ein paar der Buchtitel klangen interessant, und vor dem Einsortieren las sie kurz die Empfehlungen auf den jeweiligen Karteikarten.
Stellen Sie sich vor, jedes Geschäft in unserer Stadt würde mit dem Ausrichten von Hochzeiten zu tun haben und die ganze Insel wäre ein einziger Veranstaltungsort wundervoller Hochzeitsfeiern. Wäre das nicht traumhaft? Genau darum geht es in diesem Buch.
Viel Spaß beim Lesen!
Hochzeitsglocken läuten
Schmunzelnd schüttelte Lucy den Kopf. Dass eine Insel, die einzig und allein dem Zweck diente, Traumhochzeiten wahr werden zu lassen, ein Paradies sei, konnte nur ihre inseleigene Hochzeitsplanerin Caroline Cassidy denken.
Das nächste Buch gehörte zur Kategorie »Sommerlektüre«. Lucy liebte alle Arten von Büchern und las jedes Genre, um ihren Kundinnen und Kunden Empfehlungen geben zu können. Am meisten genoss sie es jedoch, mit Blick auf den Ozean in ihrem Adirondack-Stuhl auf der Veranda zu sitzen und sommerliche Liebesgeschichten zu lesen. Sie nahm die Karteikarte in die Hand.
Um die Erbschaft ihrer Tante ausgehändigt zu bekommen, muss Hallie Punkt für Punkt die Wunschliste ihrer Kindheit abarbeiten. Dafür kehrt sie in das Haus ihrer Tante zurück und findet etwas, das mehr wert ist als jede Erbschaft. Habe jede Seite genossen!
Viel Vergnügen,
Süchtig nach Sommerliebe
Lucy hatte keine Ahnung, wer das Buch abgegeben haben könnte, war aber sicher, dass sie sich mit dieser Person gut verstehen würde. Der Titel stammte von einer ihrer Lieblingsautorinnen, aber sie hatte noch keine Gelegenheit gehabt, ihn zu lesen, weil er binnen kürzester Zeit ausverkauft gewesen war. Sie steckte das Exemplar ein und sah auf die Uhr. Zeit, ins Rathaus zu gehen, um sich einen guten Platz zu sichern.
Als sie den Sitzungssaal betrat, war er bereits halb gefüllt. Die Umgestaltung des Jachthafens war zum langfristigen Streitpunkt geworden, und alle Interessengruppen wollten an den Sitzungen teilnehmen, um gehört zu werden. Bislang hatte noch kein Konzept bei den Bürgern eine Mehrheit finden können. Die Umweltschutzorganisation von Heron Isle beispielsweise, deren Vorsitzende und einige Mitglieder bereits rechts im Saal saßen, waren dafür, dass die Parkplätze an den Docks in Grünflächen umgewandelt wurden, quasi als Verlängerung des kleinen Stadtparks, der am Marktplatz begann. Die Charterboot-Unternehmen hingegen, die Touristen zu den Tiefseefanggründen schipperten, wollten die Parkplätze auf jeden Fall für ihre Kunden erhalten. Dann gab es die Generalunternehmer und Geschäftsleute aus der nahegelegenen Großstadt Jacksonville, die beim Bau eines großen Geschäftskomplexes mitmischen wollten, den zwei der Bauunternehmer in ihrem Konzept vorgeschlagen hatten. Lucy hatte den Eindruck, dass die verschiedenen Interessengruppen rivalisierenden Highschool-Cliquen glichen, die sich in unterschiedlichen Ecken des Speisesaals zusammenrotteten.
Auch wenn die Sitzordnung sie amüsierte, folgte Lucy dem Muster und gesellte sich zu ihren Geschäftskollegen. Immerhin war sie die Vorsitzende ihres Arbeitskreises, und die anderen erwarteten, dass sie während der allgemeinen Diskussion ihre Interessen vertrat. Sie ließ erneut ihren Blick durch den Saal schweifen, um zu sehen, ob sie ein unbekanntes Gesicht entdeckte. Dann hätte sie sich schon einmal auf einen potenziellen neuen Gegner einstellen können, aber es war kein Fremder zu sehen.
Bob saß direkt vor ihr. »Pam meinte, du hättest gehört, dass sie wieder jemand Neues geholt haben – einen Spin-Doctor?«, raunte sie ihm zu.
Er drehte sich um. Lucy kannte ihn schon ihr ganzes Leben als Inhaber des Mini-Baumarkts, und sein freundlich-verwittertes Gesicht verriet sein Alter. Wie gern war sie mit ihrem Vater in sein Geschäft gegangen, um die Sachen zusammenzusuchen, die sie für die Reparatur eines Geländers oder den Bau eines neuen Bücherregals für ihre ständig wachsende Büchersammlung gebraucht hatten!
»Ja. Pete erzählte, er hätte so was gehört, als er gestern die Genehmigung für seine neue Eingangstür abholte.«
Pete war der Besitzer des örtlichen Geschäfts für Herrenmode. Auch ihn kannte Lucy schon seit Kindertagen.
»Was macht so ein Spin-Doctor denn?«, wollte Lucy wissen.
Bob strich sich über den Bart und zuckte die Schultern. Als Kind hatte er Lucy immer an einen schwarzbärtigen Weihnachtsmann erinnert, aber mit seinen mittlerweile weißen Haaren sah er Santa jetzt noch viel ähnlicher.
»Scheint, als solle uns wieder mal jemand von einem Bauvorhaben am Jachthafen überzeugen.«
Lucy erschrak. Sie war davon ausgegangen, dass das Hafenprojekt jetzt erst einmal aufgeschoben werden würde, damit man alle Möglichkeiten überdenken könnte.
»Gibt es denn schon wieder ein neues Konzept?«
Bob schüttelte den Kopf und zuckte wieder mit den Schultern. Gerade, als er noch etwas sagen wollte, klopfte der Bürgermeister mit seinem Hammer, damit Ruhe einkehrte. Alle 75 Sitzplätze waren belegt, ein paar Leute standen sogar hinten vor den holzvertäfelten Wänden.
Während Bürgermeister Jenkins die Sitzung nun offiziell eröffnete, den Anwesenden das Treuegelöbnis abnahm und die ersten Tagesordnungspunkte durchging, schob Pam sich neben Lucy auf den Platz, den sie ihr freigehalten hatte. Lucy war immer noch dabei, die Nachzügler nach einem unbekannten »Spin-Doctor« abzusuchen, aber bislang waren ihr die Gesichter alle vertraut. Ungeduldig lauschte sie den nächsten Punkten der Tagesordnung – vom Gedenktag für einen kürzlich verstorbenen Brandmeister bis hin zur Vorstellung des neuen Projekts »Hund des Monats« ihres örtlichen Tierschutzvereins. Bei Letzterem stieß Pam sie grinsend an und raunte »Ava« – wahrscheinlich würde sie ihre Hündin jeden Monat aufs Neue vorschlagen, bis sie den Titel irgendwann gewonnen hätte.
Kurz vor dem letzten Punkt der Agenda schienen alle sich ein wenig gerader zu setzen. Nun wurde es ernst.
»Nächster Tagesordnungspunkt ist die potenzielle bauliche Weiterentwicklung des Hafengeländes von Heron Isle.« Der Bürgermeister räusperte sich und musterte die versammelte Menge. »Als Erstes möchten wir Mr. Logan Lancaster vorstellen. Die Stadt hat ihn als Berater engagiert, um eine Lösung zu finden, die die kommunalen Einnahmen erhöht und dabei die vielen Einwände berücksichtigt, die so viele von Ihnen in der Vergangenheit geäußert haben.«
Ein Raunen ging durch den Saal, doch Bürgermeister Jenkins schlug schnell mit dem Hammer. Sobald es wieder ruhig war, hob er entschuldigend die Hände.
»Ich weiß, dass das Bauvorhaben umstritten ist. Auch ich wohne hier, und ich will, was für den Ort und die Bürger das Beste ist. Aber wir haben ein gehöriges Haushaltsdefizit. Vor fast zwei Jahren haben wir die Stadtbücherei schließen müssen, in der Grundschule werden dringend neue Rohre und Klimaanlagen benötigt, ganz zu schweigen von neuer Technologie in den Klassenräumen. Von irgendwoher muss das Geld dafür kommen. Ich bitte Sie alle, sich anzuhören, was Mr. Lancaster zu sagen hat. Danach wird es ausreichend Zeit für Ihre Fragen und Anmerkungen geben.«
Wiederum wurde geraunt und getuschelt. Lucy reckte den Hals, um ihren Widersacher zu mustern … und da sah sie ihn. Mit forschen Schritten erklomm der Mann mit den grünen Augen das Podium. Ihr Mut sank. Er war nicht Aschenputtels Prinz.
Er war Logan Lancaster.
Logan
Logan betrat das Podium. Ihm war bewusst, dass alle Augen im Saal auf ihn gerichtet waren, dass jedes Tuscheln ihm galt. Es machte ihm nichts aus. Wenn er in eine neue Stadt bestellt wurde, reagierten die Leute immer so. Er stand für Veränderung, und das war nun mal nichts, dem Menschen mit offenen Armen entgegengingen. Allerdings hatte er mit eigenen Augen sehen müssen, was passierte, wenn man nicht bereit war, sich auf Neues einzulassen.
»Herr Bürgermeister, werte Mitglieder des Stadtrats, vielen Dank für die Einladung, mich heute Abend Ihnen und den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt vorzustellen.« Logan hatte gelernt, dass es wichtig war, auch die Stadtbewohner selbst anzusprechen, nicht nur die gewählten Vertreter. Er musste den Menschen das Gefühl geben, am Prozess teilzuhaben und mit ihren Meinungen gehört zu werden. Und das würden sie auch, selbst wenn er einige von ihnen im Laufe der Zeit zum Einlenken bewegen musste. Weil sie zu nah an der Situation dran waren, sahen sie oft den Wald vor lauter Bäumen nicht.
Immer wieder hatte Logan erlebt, wie eine Stadt sich zum Besseren entwickelte, nachdem man seine Konzepte umgesetzt hatte. Die kommunalen Einnahmen waren gestiegen, und das bedeutete bessere Straßen, bessere Schulen, bessere Infrastruktur. Gleichzeitig war ihm immer wichtig gewesen, nichts zu zerstören, das Geschichte oder Charakter hatte. Erhaltung und Fortschritt mussten einander nicht ausschließen – davon hatte er ein Dutzend andere Städte bereits überzeugen können.
»Sehr verehrte Damen und Herren«, fuhr er fort, »ich heiße Logan Lancaster und bin von Ihrer Stadt als Berater bestellt worden, um eine Lösung für die mögliche Umgestaltung des Hafenareals zu finden, von der jede und jeder Einzelne von Ihnen profitiert.« Er machte eine kurze Pause, um zu einigen Anwesenden Blickkontakt herzustellen. Sie sollten sich gesehen und verstanden fühlen. »Ich weiß, dass Sie bereits drei Konzepte präsentiert bekommen haben, von denen keines Ihren Bedürfnissen gerecht wurde.« Erneut hielt er inne, um dem allgemeinen Gemurmel der Missbilligung Raum zu geben. Dann hob er die Hand.
»Und das ist in Ordnung. Ich bin hier, um Sie dabei zu unterstützen, eine Lösung zu finden, die zu den einzigartigen Besonderheiten Ihrer Insel passt. Ich bin erst seit einigen Wochen vor Ort – und habe zwar den Großteil der Zeit in meinem Strandhäuschen verbracht, um die Protokolle Ihrer letzten Sitzungen samt den drei vorgelegten Baukonzepten zu studieren –, aber alles, was ich von Ihren sauberen Sandstränden und der historischen Architektur gesehen habe, finde ich ganz wunderbar. Ich verstehe, warum Sie Ihre Insel lieben und schützen wollen. Und ich verspreche, dass ich nicht hier bin, um an diesen Werten zu rütteln. Ich möchte nur einen Weg finden, um das, was Sie bereits haben, noch zu verbessern, damit Ihre Stadt finanziell davon profitiert und Ihre Insel weiterhin floriert.«
Und damit ich so schnell wie möglich von hier wegkomme, fügte er in Gedanken hinzu.
Dieser Auftrag war nicht seine erste Wahl gewesen, noch nicht einmal die dritte. Tatsächlich war er nach dem Fiasko in San Diego die einzige gewesen. Keine größere Stadt wollte direkt danach etwas mit ihm zu tun haben, und um diesen Job hatte er regelrecht betteln müssen, weil er mit Kleinstädten bislang noch keine Erfahrung vorweisen konnte. Er hatte seine eigene Herkunft in den Ring geworfen, und das hatte nur funktioniert, weil sein Lieblingsprofessor einen alten Freund – Bürgermeister Jenkins – um einen Gefallen gebeten hatte. Das wiederum war die Idee seiner Schwester gewesen, die darauf gedrängt hatte, dass er seinen Stolz vergessen und seine Verbindungen nutzen solle, um wieder richtig Fuß zu fassen. Es war erniedrigend gewesen, aber sie hatte wie immer recht gehabt. Sobald er hier einen Erfolg verbuchen konnte, wäre das letzte Debakel sicher schnell vergessen, und er würde wieder an große Aufträge herankommen.
Erneut ging Logan mit den Augen die Reihen ab, um hier und da Blickkontakt herzustellen – sein Ziel war es, am Ende seiner Rede mindestens die Hälfte der Anwesenden erreicht zu haben. Da der Saal nur etwa 70 bis 80 Sitzplätze hatte, sollte das nicht allzu schwer sein. Die Rothaarige vorne links in der ersten Reihe blitzte ihn erst böse an, doch als er sie anlächelte, konnte er erkennen, wie sich ihr Gesicht und ihre Schultern entspannten.
Er fasste in seine Aktentasche, zog einen Stapel Baukonzepte heraus und begann, sie auseinanderzufalten.
»Ich habe die drei Konzepte begutachtet, die bisher eingereicht wurden, und ich muss Ihnen zustimmen: Sie sind nicht das Richtige für Heron Isle.« Mit theatralischer Geste riss er die Pläne auseinander. »Haben wir einen Mülleimer da?«
Wie aufs Stichwort kam der Amtsdiener angewackelt, der neben dem Podium gestanden hatte, und brachte einen Papierkorb. Mit dramatischer Geste warf Logan die Papierfetzen hinein. Die Rothaarige klatschte aufgeregt. Ein Punkt für den Blickkontakt, aber er merkte, dass der Rest des Saals noch skeptisch war.
»Wir fangen ganz neu an. Gut, vielleicht gibt es einige Elemente, die wir aus den einzelnen Konzepten verwenden können, aber wir beginnen sozusagen mit einem leeren Blatt. Wir können alles tun, was wir wollen.« Er betonte das »Wir«, um den Eindruck zu untermauern, dass sie ein Team waren – der Stadtrat, die Bürgerinnen und Bürger und er selbst. »Aber ich verstehe schon … Sie trauen mir noch nicht. Lassen Sie mich also ein bisschen von mir erzählen, damit wir uns besser kennenlernen. Ich bin Regierungsberater für Stadtentwicklung mit fast fünfzehnjähriger Erfahrung. Ich habe Jura studiert mit Schwerpunkt Flächennutzung, ein weiterer Schwerpunkt war Stadtplanung. Ich habe Städte, denen es finanziell weitaus schlechter ging als Ihrer, dabei geholfen, ihre Einnahmen zu vergrößern und Räume zu schaffen, die auch noch von nachfolgenden Generationen genutzt werden können.«
Er suchte Augenkontakt zu einem gut gekleideten Mann zu seiner Rechten, der offensichtlich der einzige Mann im Anzug war. Logan gratulierte sich innerlich zu der Entscheidung, seinen üblichen formellen Anzug gegen khakifarbene Slacks und ein kariertes Freizeithemd eingetauscht zu haben. Beide betonten sein hervorstechendstes Merkmal: die grünen Augen.
Als Nächstes berichtete er von seinen erfolgreichen Neubauprojekten in Baltimore, Phoenix und St. Louis. San Diego erwähnte er nicht. Er musste ja niemandem unter die Nase reiben, was dort geschehen war, am wenigsten sich selbst. Er ließ seinen Blick weiterwandern und entdeckte plötzlich ein bekanntes Gesicht mit braunen Augen, umrahmt von schimmernden Locken: die charmante Buchhändlerin, die ihm von dieser Zahnarztpraxis erzählt hatte. Gut, das Thema selbst war eher unangenehm gewesen – wer dachte schon gern an Zahnarztbesuche? –, aber wie sie es erzählt hatte, war geradezu hinreißend gewesen. Danach hatte ein Skateboarder sie beinahe umgefahren, und als sie so dicht an ihn gedrückt dagestanden hatte, hätte ihn der leichte Kokosduft ihrer braunen Haare durchaus länger innehalten lassen, wäre nicht in genau diesem Moment der Vibrationsalarm seines Handys losgegangen, um ihn an das Meeting zu erinnern. Er war geschäftlich hier und nicht zum Vergnügen. Dass man beides nicht vermischen sollte, hatte er auf die harte Tour lernen müssen.
Allerdings war im Moment ohnehin kein bisschen an Vergnügen zu denken, denn die vorhin so warmen braunen Augen fixierten ihn jetzt mit derart kaltem Blick, dass er das Gefühl bekam, direkt unter dem Gebläse einer Klimaanlage zu stehen. Die Frau hielt die Arme fest über der Brust verschränkt und presste die Lippen zusammen. Er schenkte ihr sein strahlendstes Lächeln und nickte kurz, um zu zeigen, dass er sie wiedererkannte. Doch ihr Gesichtsausdruck blieb unverändert, und die Mienen um sie her waren gleichermaßen kalt.
Er hatte sich wohl verschätzt. Diese Leute beeindruckte nicht, was er in großen Städten vollbracht hatte. Diese Leute lebten hier, weil sie sich bewusst gegen das Leben in einer Großstadt entschieden hatten. Er hätte es besser wissen müssen, vor allem vor dem Hintergrund, dass sein Heimatort noch kleiner war als Heron Isle. Nur war es lange her, seit er Zeit in einer Kleinstadt verbracht hatte.
Doch nicht umsonst besaß er die Fähigkeit, die Schwingungen in einem Raum zu erkennen und sich anzupassen.
»Aber Heron Isle ist natürlich anders.« Er breitete die Arme aus, als wollte er den ganzen Saal umfassen. »Dies ist keine Großstadt, in der wir neue Apartmenthäuser hochziehen und Unternehmen der ›Fortune 500‹ anziehen wollen. Ich bin hier, um Ihre Vision für den Hafen zu ergründen und sie dann zum Leben zu erwecken.« Er sah, wie sich ein paar mehr Gesichter entspannten. Die Leute hingen ihm nicht gerade an den Lippen, aber sie sahen zumindest nicht mehr so aus, als wollten sie ihn mit faulen Tomaten bewerfen.
»Ich hatte bereits Gelegenheit, einige Menschen von Heron Isle kennenzulernen, und in den kommenden Wochen möchte ich noch mehr von Ihnen treffen.« Er sah der Buchhändlerin direkt in die Augen und hoffte auf ein Lächeln, doch ihre Miene blieb weiterhin unbewegt. Er fuhr fort: »Ich werde die Geschäfte in der Innenstadt der Reihe nach aufsuchen und auch den Rotary Club, den Lions Club und jeden anderen Club, der mich nicht rausschmeißt.« Er lachte, um die Stimmung aufzulockern, und versuchte zu erfühlen, was er sonst noch tun könnte, um das Vertrauen der Leute zu gewinnen.
Unweigerlich kehrte sein Blick zu der Frau zurück, die ihm mit sichtlichem Vergnügen die Geschichte zu dem Erkerfenster erzählt hatte und die nach dem Zwischenfall mit dem Skateboarder so durcheinander gewesen war, dass sie am Straßenrand ihren Schuh verloren hatte. Als er sie aufgefangen und ihr in die Augen gesehen hatte, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung war, hatte er ein gewisses Kribbeln gespürt. War es ihr ebenso ergangen? Doch selbst wenn, schien sie zumindest in diesem Moment gegen seinen Charme vollkommen immun zu sein. Sie saß da wie eine Statue, die Arme immer noch verschränkt, den hübschen kleinen Mund fest zusammengepresst. Es wurde Zeit, zum Schluss zu kommen.
»Meine Damen und Herren, fürs Erste war es das. Ich freue mich darauf, in nächster Zeit mehr mit Ihnen allen über das Hafenprojekt zu sprechen.« Er drehte sich zu den Ratsmitgliedern und legte mehr Zuversicht in sein Lächeln, als er in ihren Blicken lesen konnte. Er gemahnte sich selbst, sich nicht unter Druck zu setzen. Jedes Projekt fing auf diese Weise an, und bislang hatte er es immer geschafft, die Stimmung zu drehen und bald das nächste Projekt in Angriff zu nehmen.
Nun wurden die Sitzungsgäste eingeladen, ihre Meinungen zu äußern und Fragen zu stellen. Logan ging zur hinteren Saalwand, um von dort aus zuzuhören, was die einzelnen Bürgerinnen und Bürger zu sagen hatten. Schnell wurde klar, dass es durchaus einige Leute gab, die den Bau von Häusern und Geschäftsgebäuden außerhalb des historischen Stadtkerns unterstützten und die liebend gern ein neues Projekt in Angriff nehmen würden, doch die wurden von den zwei Gruppen überstimmt, vor denen Bürgermeister Jenkins ihn bereits gewarnt hatte: der Naturschutzorganisation und dem Arbeitskreis der Geschäftseigentümer.
Als die Buchhändlerin zum Podium ging, wartete er ungeduldig darauf, ihren Namen zu hören, den sie für das Protokoll angeben musste.
»Lucy Sullivan, Inhaberin von Beachside Books und Vorsitzende des Downtown Business Owners Council.«