Die kleinen Lügen der Ivy Lin - Susie Yang - E-Book
SONDERANGEBOT

Die kleinen Lügen der Ivy Lin E-Book

Susie Yang

0,0
12,99 €
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

So abgründig und eindringlich wie Yellowface – das messerscharfe Psychogramm einer Frau, deren Ehrgeiz tödlich ist

Ivy Lin ist eine ausgesprochen talentierte Lügnerin. Doch das würde niemals jemand erahnen. Ihre Lügen erlauben es Ivy, ihre ungeliebte Vergangenheit für immer hinter sich zu lassen und in ein Leben zu schlüpfen, das reicher und auch viel schöner als ihr eigenes ist. Niemand verkörpert diese Zukunft, nach der sie sich so sehr verzehrt, besser als Gideon Speyer. Und so arbeitet Ivy mit jeder Lüge darauf hin, endlich Gideons Ehefrau zu werden. Bis plötzlich ein Mann aus ihrer Vergangenheit auftaucht und ihr gesamtes Leben infrage stellt. Im Alleingang könnte er Ivys Lügengerüst ins Schwanken bringen. Dennoch kann sich Ivy ihm nicht entziehen.

Für alle Fans von:

•Rebecca F. Kuang und der Netflix Serie Ripley
•emotionalen YA und Coming-of-Age-Geschichten
•TikTok Büchern

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 590

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Susie Yang wurde in China geboren und kam als Kind in die Vereinigten Staaten. Nach ihrer Promotion im Bereich Pharmazie gründete sie in San Francisco ein erfolgreiches Tech-Start-up. Sie studierte Kreatives Schreiben in Tin House, Sackett Street, und der 92nd Street Y. Ihr Debüt Die kleinen Lügen der Ivy Lin schaffte es auf Anhieb auf die New York Times-Bestsellerliste.

Susie Yang

Die kleinen Lügen der Ivy Lin

Roman

Aus dem Amerikanischen von Kristina Lake-Zapp

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel White Ivy bei Simon & Schuster.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2020 der Originalausgabe by Susie Yang

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe by Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Claudia Wuttke

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München, nach einem Entwurf von Grace Han of Heeyah Design

Umschlagabbildung: © Yuji Karaki / Getty Images

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-28696-5V002

www.penguin-verlag.de

Für Alex, in jedem Leben

Die Schneegans muss nicht baden, um sich weißzuwaschen.

Chinesisches Sprichwort

Teil eins

1

Ivy Lin war eine Diebin, aber darauf würde man niemals kommen, wenn man sie sah. Vielleicht war genau das das Problem. Keiner ahnte etwas, und das machte sie leichtsinnig. Ihre Gesichtszüge waren so durchschnittlich und unscheinbar, dass das Gehirn nur den Bruchteil einer Sekunde brauchte, um sich ein vollständiges Bild von ihr zu machen: dünnes, asiatisches Mädchen, ruhig, übermäßig fügsam in Gegenwart von Erwachsenen in Uniform. Sie hatte einen bestimmten Gang, der sie für ahnungslose Dummköpfe und Hausmeister unsichtbar machte: die Schultern nach vorne gebeugt, das Kinn eingezogen, die Arme kaum schwingend.

Ivy hätte ihre äußere Erscheinung liebend gern gegen die blauäugige, blonde Version der Satterfield-Zwillinge eingetauscht; auch die roten Haare und Sommersprossen von Liza Johnson hätten ihr gefallen – nur nicht ihr eigenes, chinesisches Aussehen mit den zu schmalen Lippen, der unerhört hohen Stirn und den fleischigen Wangen, die an reife Äpfel vor der Herbsternte erinnerten. Wegen dieser Wangen wurde sie mit ihren vierzehn Jahren oft für eine Fünft- oder Sechstklässlerin gehalten – ein unglückliches Hindernis bei allem, außer beim Stehlen. Dabei war ihr kindliches Aussehen eine nützliche Tarnung.

Ivys einziger Quell der Eitelkeit waren ihre Augen – ansprechend rund, symmetrisch angeordnet und braun wie Kakao. An den äußeren Winkeln liefen sie halbmondförmig zusammen wie die Kanten einer gefüllten Teigtasche. Als sie ein Baby war, hatte ihre Großmutter ihre Wimpern gekürzt, um »das Wachstum zu stimulieren«. Es schien funktioniert zu haben, denn nun war sie mit einem dichten schwarzen Wimpernkranz gesegnet, für den andere Mädchen schichtenweise Mascara benötigten – und meistens schafften sie es nicht einmal damit. Auf jeden Fall hatte sie schöne Augen – vor allem für ein chinesisches Mädchen –, und die bewahrten sie vor einem sonst eher reizlosen Gesicht.

Wie genau war dieses bescheidene, großäugige Mädchen also zur Diebin geworden? So wie steter Tropfen selbst den härtesten Stein höhlt, hatte die Ausbildung ihrer Persönlichkeit unter der Knute ihrer chinesischen Erziehung teils absonderliche Wege genommen.

Als Ivy zwei Jahre alt war, waren ihre Eltern in die Vereinigten Staaten immigriert und hatten sie in der Obhut von Meifeng, Ivys Großmutter mütterlicherseits, in ihrer Heimatstadt Chongqing zurückgelassen. An die nächsten drei Jahre in China erinnerte sie sich kaum, nur eines hatte sie noch sehr lebhaft vor Augen: dass sie ihr Gesicht in den kratzigen Mantel ihrer Großmutter gedrückt und immer wieder gerufen hatte: »Du hast mich reingelegt! Du hast mich reingelegt!«, als Meifeng sie bei einer Nachbarin abgeben wollte, um eine zusätzliche Büroschicht zu übernehmen. Schon damals hatte Ivy nichts von der unkritischen Freundlichkeit anderer Kinder; ihre Liebe war leidenschaftlich und extrem: völlige Ergebenheit oder gar keine.

Als Ivy fünf wurde, hatten Nan und Shen Lin endlich genug Geld gespart, um ihre Tochter nachkommen zu lassen. »Du wirst von hier fortgehen und in einem wundervollen Bundesstaat in Amerika leben«, teilte Meifeng ihr mit. »In Ma-sa-zhu-sai.« Ivy hatte die Fotos gesehen, die ihre Eltern nach Hause schickten: ländlich-idyllische Orte mit Teichen, quadratischen Rasenflächen, blauem Himmel und Bäumen, die leuchtend rosa- und fuchsienfarbige Blüten austrieben und deren Zweige Ivy an die Stäbchen mit den gezuckerten Pflaumen erinnerten, die sie an Neujahr aß. Auf den Bildern hielt ihre blasswangige Mutter, an die sie sich nicht mehr erinnern konnte, stets solche Zweige in den Händen. All das sorgte für viel Aufregung, die bevorstehende Reise betreffend – Ivy liebte es, Ausflüge mit ihrer Großmutter zu machen –, doch in letzter Minute, nachdem diese ihre Enkelin einer elegant gekleideten Flugbegleiterin mit faszinierenden Goldknöpfen an der Weste übergeben hatte, verschwand Meifeng in der Menge am Flughafen.

Ivy erbrach sich im Flieger und weinte beinahe den ganzen Flug über. Sie heulte bei der Landung auf dem Logan Airport, und sie heulte, als die Flugbegleiterin sie auf zwei asiatische Fremde zuschob, die auf sie warteten, mit einem schreienden Baby, das nicht größer war als der Daikon-Rettich, den Ivy mit Meifeng aus der Erde gezogen hatte. Die weißen, zu Fäusten geballten Händchen des Babys waren voller verkrusteter Schlieren. Ivy schlurfte auf sie zu, stolperte über einen Schnürsenkel und landete auf den Knien.

»Steh auf«, sagte der Mann und streckte ihr die Hand entgegen. Die Frau wiegte das Baby auf dem Arm. Mit müder Stimme wandte sie sich an ihren Ehemann: »Wo sind ihre Koffer?«

Ivy wischte sich das Gesicht ab und nahm die Hand des Mannes. Sie hatte bereits geahnt, dass Tränen keinen Platz haben würden bei diesen Menschen mit den versteinerten Gesichtern, die so anders waren als die geselligen Tanten in China, die sie mit einer neuen Schachtel Kreide oder White-Rabbit-Toffees aufheiterten, sobald sie das leiseste Anzeichen von Unmut bekundete.

Und so verankerte sich Ivys früheste Erinnerung an ihre Familie in ihrem Gedächtnis: Shen Lins kräftige, schwielige Finger, die sich um ihre schlossen; sein ganz spezieller Geruch nach Tabak und Zahnpasta mit Minze; das helle Winterlicht, das durch die vom Boden bis zur Decke reichenden Fenster der Ankunftshalle hereinfiel, hinter denen Flugzeuge abhoben und landeten; ihr Bruder Austin, nicht mehr als ein kleines Bündel in übel riechenden Windeln auf Nans Arm. Mit ihnen zu gehen, ohne zu ihnen zu gehören, löste ein seltsames Gefühl der Dissoziation in Ivy aus. Sie hatte den Eindruck, als tauchte sie in einer Badewanne unter, und alles um sie herum wäre unermesslich weit und gleichzeitig verdichtet. In den folgenden Jahren beschwor sie jedes Mal, wenn ihr nach Weinen zumute war, dieses Gefühl des Untergetaucht-Seins herauf, und die Tränen überzogen ihre Augen mit einem dünnen, glänzenden Film, der im Badewasser verschwand.

Nans und Shens Erziehung war mehr auf körperliche Strafen ausgerichtet als auf die Erledigung häuslicher Pflichten. Das bedeutete, dass Ivy zwar nie ein Bett machen musste, doch dafür eine hohe Schmerztoleranz entwickelte. Wie viele Immigranten hatten auch Nan und Shen für ihre Tochter nur einen einzigen Wunsch: Sie sollte Ärztin werden. Ivy musste nur behaupten: »Ich möchte Ärztin werden!«, und schon leuchteten die Gesichter ihrer Eltern voller Anerkennung auf, was Liebe gleichkam, die im Hause Lin nur selten gezeigt wurde.

Meifeng war eine liebevolle, wenngleich barsche Großmutter gewesen, doch Nan war nicht so. Ivy bekam mütterliche Wärme nur dann zu spüren, wenn Gesellschaft zugegen war. Für gewöhnlich handelte es sich dabei um Nans jüngere Schwester Ping und deren Ehemann oder einen von Shens chinesischen Kollegen bei der kleinen IT-Firma, für die er arbeitete. Während dieser fröhlichen Samstagnachmittage mit Sonnenblumenkernen und Litschis richteten sich Nans nach unten gezogene Mundwinkel auf wie Segel im Wind, und sie verwandelte sich in eine gütigere, entspanntere Mutter, eine Mutter ohne diese kleine Falte zwischen den Augenbrauen. Ivy wartete den ganzen Nachmittag auf den einen Moment, in dem sie auf dem Sofa an Nan heranrücken konnte … näher … näher …, um sich dann mit einer winzigen Bewegung auf deren Schoß zu schieben.

Manchmal legte Nan ihre Hände um Ivys Taille. Andere Male strich sie ihr abwesend über den Kopf, mechanisch, als sei sie sich dessen gar nicht bewusst. Ivy gab sich Mühe, sich so still wie möglich zu verhalten. Es war ein schockierendes, gestohlenes Vergnügen, aber sie sehnte sich so sehr nach der Berührung einer weiblichen Brust, eines weichen Schoßes, auf dem sie sich ausruhen konnte. Sie hielt sich für ausgesprochen clever, dachte, ihre Mutter habe keinen blassen Schimmer, was sie da trieb. Doch als sie sechs war und zum gleichen Manöver ansetzte, versteifte sich Nans Körper. »Bist du jetzt nicht ein bisschen zu alt dafür?«

Ivy erstarrte. Die Erwachsenen um sie herum kicherten. »Sieh nur, wie ni-ah deine Tochter ist!«, riefen sie. Ni-ah bedeutete im Sichuan-Dialekt so viel wie »anhänglich«. Ivy zwang sich, die Augen so weit aufzureißen, wie sie sich öffnen ließen. Es war zwecklos. Sie konnte das Salz auf ihren Lippen spüren.

»Aber, aber«, schimpfte Nan. »Sie necken dich nur! Ich kann nicht glauben, wie dünnhäutig du bist. Du bist eine große Schwester, du solltest tapferer sein. Jetzt sei brav und ting hua. Putz dir die Nase.«

Bis zu ihrem Tod würde sich Ivy an dieses Gefühl erinnern: Scham, Verwirrung, Schmerz, Trotz und eine schreckliche Einsamkeit, die dazu führte, dass sie sich völlig in sich selbst zurückzog. Als Meifeng ihr später erzählte, was für ein zugängliches, vertrauensvolles Baby sie gewesen war, dachte sie, ihre Großmutter würde sie mit Austin verwechseln.

Ivy wurde zu einem verschlossenen Kind, das sein Innenleben mit niemandem teilte, außer gelegentlich mit Austin, dessen Zuneigung im Gegensatz zu der der anderen Familienmitglieder bedingungslos war.

Es genügt zu sagen, dass weder ihre Mutter noch ihr Vater als Quell für Ivys ausgeprägte Fantasie herangezogen werden konnten. Ivy fragte sich oft, welches Leben sie später führen, ob sie Liebe erfahren würde. Was würde ihr die Zukunft Spannendes bringen? Da ihr der Blick auf Nan und Shen keine Antwort bot, ergänzte sie die subtileren Details aus Büchern.

Sie lernte leicht Englisch – tatsächlich konnte sie sich gar nicht mehr vorstellen, dass sie irgendwann kein Englisch verstanden hatte –, und sie wurde eine frühreife Leserin. Die winzige, vernachlässigte West Maple Library, geleitet von einer halb tauben Bibliothekarin, war Nans Variante einer kostenlosen Kinderbetreuung und Ivys absoluter Lieblingsort. Sie fühlte sich von düsteren Büchern angezogen, von Büchern über Waisen, unglücklich Verliebte, Gefangene von lüsternen Onkeln und bösen Stiefmüttern, magersüchtige Cheerleader, Außenseiter. In jeder Geschichte sah sie sich selbst. Doch all diese Heldinnen hatten eines gemeinsam, und das war ihre Schönheit. Ivy gewann den Eindruck, dass äußerliche Schönheit als Ursprung aller anderen wünschenswerten Eigenschaften galt: Intelligenz, Mut, Willenskraft, Herzensreinheit.

Sie durchlief die Grundschule, zählte weder zu den Besten noch zu den Schlechtesten, auch wenn Nan sie gern bei den Besten gesehen hätte, war weder beliebt noch unbeliebt. Als sie nach der fünften Klasse an die Grove Preparatory Day School wechselte – ihr Vater war dort nun als Computertechniker angestellt, weshalb sie auf dieser gehobenen weiterführenden Privatschule kein Schulgeld bezahlen musste –, stieß sie endlich auf das zentrale Objekt ihrer Sehnsucht: einen bestimmten Jungen-Typ, der ihr bis dahin unbekannt gewesen war, adrett, durch und durch amerikanisch. Der Typ Junge, der die Sonntagsschule besuchte und am Muttertag Gänseblümchen für seine Mama pflückte. Sein Name war Gideon Speyer.

Ivy begriff bald, dass ein kolossales Wunder vonnöten war, damit jemand wie Gideon sie bemerkte. Er war freundlich zu ihr, sie hatten sogar ihre Telefonnummern wegen eines Projekts in Amerikanischer Literatur ausgetauscht, aber die anderen Mädchen an der Grove, die Gideon umschwärmten, trugen braune Collegeschuhe mit weißen Baumwollkniestrümpfen, während Ivy eine altmodische schwarze Strumpfhose und Nans klobige Schnürstiefel mit Gummisohle anziehen musste. Sie versuchte, den Kleidungsstil und das Verhalten ihrer Klassenkameradinnen mit ihren begrenzten Mitteln so gut wie möglich nachzuahmen, hielt ihre Haare mit einem Stirnband zurück, das sie aus einem alten Seidenschal genäht hatte, warf Kupferpennys auf die efeubewachsene Statue des heiligen Markus auf dem Schulhof, aß im Frühling ihren fettarmen Joghurt und Skittles unter den Pappeln – und gehörte trotzdem nicht dazu.

Wie sollte sie jemals bekommen, was sie sich vom Leben erhoffte, wenn sie schüchtern, arm und hässlich war?

Sie dachte an das Mantra ihrer Eltern: Je härter man arbeitet, desto glücklicher ist man.

Sie dachte an das Mantra ihrer Lehrer: Behandle die anderen stets so, wie du selbst behandelt werden möchtest.

Der einzige Mensch, der ihr je praktische Fertigkeiten vermittelt hatte, war Meifeng.

Als Ivy sieben wurde, erhielt ihre geliebte Großmutter endlich die US Greencard. Doch was in der Kindheit zwei Jahre sind, kommt bei Erwachsenen einer Dekade gleich. Ivy liebte Meifeng noch immer, aber die Liebe war zu einer Art Abstraktum geworden, geboren aus nostalgischen Erinnerungen, tränendurchtränkten Kissen und Sehnsucht. Die reale Meifeng wirkte einschüchternd auf Ivy, brüsk und laut, zu laut. Da sie viel von ihrem chinesischen Vokabular vergessen hatte, antwortete Ivy langsam und unbeholfen auf die unablässigen Fragen ihrer Großmutter; wenn sie nicht in der Bibliothek war, rollte sich wie eine Schnecke auf dem Sofa ein und las, ein Auge auf die alte Chinesin geheftet.

Meifeng erkannte, dass sie keine Zeit zu verlieren hatte. Sie betrachtete es als ihre Pflicht, ihrer Enkelin die beiden Eigenschaften zu vermitteln, die zum Überleben notwendig waren: Eigenständigkeit und Opportunismus.

Zu Hause in China hatte das bedeutet, bei ihrer Arbeit als kaufmännische Angestellte bei einem gut situierten Händler für Lederschuhe und -handschuhe die Bücher zu frisieren. Der Händler betrog seine Kunden, indem er für seine Artikel einen Aufpreis verlangte, sogar für die Kunstlederprodukte; seine Kunden glichen die Differenz mit Falschgeld und Taschenspielertricks aus. Selbst die Ehefrau des Händlers stibitzte Geld aus der Ladenkasse, das sie ihren Eltern und Geschwistern zusteckte. Es war Meifeng, die all diese Zahlen aufschrieb, die vierstellige Summen im Kopf so schnell addierte wie andere mit einem Taschenrechner, und bei jeder Transaktion wanderten ein, zwei Münzen in ihre eigene Tasche.

In Massachusetts angekommen, fand Meifeng keine Arbeit, doch sie war voller Tatendrang und wandte dieselben Fertigkeiten an, die ihr als kaufmännische Angestellte zu Geld verholfen hatten. Sie klaute in den Geschäften, vertauschte Preisschilder und verlangte Nachlässe für Dinge, die sie selbst beschädigt hatte. Sie versteckte mehrere Produkte in einer großen Packung und bezahlte nur diese.

Das erste Mal rekrutierte Meifeng ihre Enkelin im örtlichen Goodwill für eine dieser Aufgaben, dem günstigsten Discounter der Stadt. Ivy kramte in einer Holzkiste mit Modeschmuck und Blumenbroschen, als ihre Großmutter sie mit ihrem Kosenamen »Baobao« zu sich rief und ihr einen Wollpulli reichte, der nach Mottenkugeln roch. »Hilf mir, den Preisaufkleber zu entfernen«, wies Meifeng ihre Enkelin an. »Achte drauf, dass du ihn nicht kaputt machst.« Sie warf Ivy einen strengen Blick zu.

Ivy schob den Fingernagel unter eine Ecke des weißen 2,99 $-Aufklebers auf dem Preisschild. Mit winzigen Bewegungen arbeitete sie sich weiter vor, bis sie ein Stück abgelöst hatte, das groß genug war, um es mit Daumen und Zeigefinger zu fassen zu bekommen. Anschließend zog sie den Aufkleber ab, ungemein langsam, sorgfältig darauf bedacht, dass nicht das kleinste Fitzelchen kleben blieb. Sie reichte ihn Meifeng, die ihn auf ein hässliches gelbes T-Shirt klebte. Dasselbe wiederholte Ivy bei dem 0,25 $-Aufkleber auf dem T-Shirt. Sie drückte ihn auf das Preisschild für den Pulli und achtete darauf, dass auch die Kanten gut hafteten.

Meifeng war zufrieden. Ivy wusste es, weil ihre Großmutter das Gesicht zu einer schiefen Grimasse verzog – das einzige Lächeln, das sie jemals aufsetzte. »Auf dem Heimweg kaufe ich dir einen Donut«, versprach Meifeng.

Ivy stieß einen Freudenschrei aus und drehte sich übermütig im Kreis. Vor Aufregung warf sie einen Ständer mit Schals um. Blitzschnell schnappte sich Meifeng einen davon und stopfte ihn in ihren linken Ärmel. »Steck dir einen in die Jacke – egal, welchen. Schnell!«

Ivy schnappte sich einen Schal mit Rosenmuster (denselben, den sie Jahre später zerschnitt, um sich daraus das Haarband zu nähen), knäuelte ihn hastig zusammen und ließ ihn in ihrer Tasche verschwinden. »Ist der für mich?«

»Pass auf, dass er nicht rausschaut«, mahnte Meifeng und zog Ivy am Arm zur Kasse, einen glänzenden Vierteldollar in der Hand, mit dem sie den Wollpullover bezahlte. »Versteh das als deine erste Lektion: Du musst mit einer Hand geben und mit der anderen nehmen. Niemand wird auf beides gleichzeitig achten.«

Der Goodwill-Discounter schloss ein Jahr später, aber bis dahin hatte Meifeng etwas entdeckt, was sogar noch besser war: eine Veranstaltung, die die Amerikaner »Garagenverkauf« oder »Flohmarkt« nannten – einen Privatverkauf im Vorgarten, der mit handgemalten, an den Bäumen im Viertel befestigten Pappschildern angekündigt wurde. Jedes Wochenende suchte Meifeng die Bäume entlang der Gehsteige nach diesen handgemalten Schildern ab, schleppte ihre Enkel zu Häusern mit weißen Zäunen, aus deren Fenstern amerikanische Flaggen wehten und deren Rasenflächen von Holzapfelbäumen gesäumt waren. Meifeng handelte in gebrochenem Englisch, hielt ihre arthritischen Finger in die Höhe, um die Beträge anzuzeigen, während sie unablässig »Billiger, billiger!« forderte, bis die Besitzer, zu genervt, um dem etwas entgegenzusetzen, mit einem Kopfnicken zustimmten. Dann griff sie in ihre Hosentasche und zog Münzen und zerknitterte Dollarnoten aus einem Stoffbeutel, den sie mit einem Band an ihrer Unterwäsche befestigt hatte.

Andere, wertvollere Gegenstände, die bei solchen Flohmärkten zum Kauf angeboten wurden, reichte Meifeng heimlich Ivy, die sie in ihrem rosa Nylonrucksack verschwinden ließ. Tafelsilber. Gürtel. Eine Timex-Uhr, die noch funktionierte. Niemand achtete auf die Kinder, die durch den Vorgarten rannten, und wenn der Besitzer später feststellte, dass ein, zwei Dinge unbezahlt verschwunden waren, würde er dies schlichtweg seinem nachlassenden Gedächtnis zuschreiben.

Als sie nach einer dieser Exkursionen an dem kleinen Fluss entlang nach Hause gingen, setzte Meifeng Ivy darüber in Kenntnis, dass alle Amerikaner dumm und bequem waren. »Sie sind sogar zu faul, auf ihre eigenen Sachen aufzupassen. Sie ai shi ihren Besitz nicht. Nichts ist für sie wertvoll.« Sie legte eine Hand auf Ivys Kopf. »Denk daran, Baobao: Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen manche Mauern. Andere bauen Windmühlen.«

Ivy wiederholte das Sprichwort. Ich bin eine Windmühle, dachte sie und stellte sich vor, wie sie sich am Himmel drehte, während eine milde Brise über ihre glänzenden, mechanischen Arme strich.

Austin drängte sich zwischen sie. »Darf ich etwas Süßes haben?«

»Was hast du mit dem Lutscher gemacht, den deine Schwester dir gegeben hat?«, fragte Meifeng unwirsch. »Hast du ihn wieder fallen gelassen?«

Und Austin, an seinen Verlust erinnert, verzog das Gesicht und fing an zu weinen.

Ivy wusste, dass ihr Bruder die Wochenenden mit ihrer Großmutter hasste. Mit seinen fünf Jahren hatte Austin nichts von der klugen Zurückhaltung, die seine Schwester in diesem Alter an den Tag gelegt hatte. Er brüllte sich die Lunge aus dem Leib und trommelte mit seinen dicken Fäustchen auf den Boden, bis Meifeng ihn mit dem Versprechen besänftigte, ihm ein Spielzeug – »Für einen Dollar?« – zu kaufen oder zu McDonald’s zu gehen, was sie nur zu ganz besonderen Gelegenheiten taten. Ein derartiges Benehmen hätte Meifeng bei Ivy niemals geduldet, doch alle im Haushalt der Lins hatten Nachsicht mit Austin, dem jüngeren Kind, das noch dazu ein Junge war. Ivy wünschte sich, sie wäre ebenfalls als Junge zur Welt gekommen. Nie wünschte sie sich das sehnlicher als mit zwölf, an dem Morgen, an dem sie aufwachte und feststellte, dass ihre Unterwäsche mit einer matten rostroten Farbe verschmiert war.

Das Frau-Sein war genauso unangenehm, wie sie befürchtet hatte. Nan besaß weder Make-up noch Hautpflegeprodukte. Sie schnitt sich die Haare selbst und wusch ihr Gesicht jeden Morgen mit Wasser und einem ganz normalen Waschlappen. Einmal im Monat trug sie eine Stoffvorlage – verstärkt mit Papiertüchern, wenn ihre Tage am stärksten waren –, die sie jede Nacht im Waschbecken auswusch und auf dem Balkon zum Trocknen aufhängte. Damit unterschied sie sich erheblich von den amerikanischen Frauen, die nach Wegwerfbinden, Tampons, BHs, Rasierern und Pinzetten verlangten. Für Ivy war es undenkbar, um diese Dinge zu bitten. Die Vorstellung, sich die Haare an den Beinen oder unter den Armen aus ästhetischen Gründen zu entfernen, hätte ihre Mutter ähnlich entsetzt wie die Vorstellung, sich die Haut aufzuschneiden. In dieser Hinsicht waren Nan und Meifeng einer Meinung. Ivy wusste, dass sie sich nur auf sich selbst verlassen konnte, wollte sie so etwas besitzen. Das war der Zeitpunkt, an dem sie von Flohmärkten zu den beiden großen Kaufhäusern in der Stadt wechselte: Kmart und T. J. Maxx.

Zu ihren ersten Errungenschaften zählten Tampons, Lipgloss, eine Schachtel mit Valentinskarten und ein Beutel Einwegrasierer. Später, als sie dreister wurde, kamen Gummisandalen, ein Sport-BH, Wimperntusche, ein aquamarinfarbener Stimmungsring und ein ledergebundenes Tagebuch mit goldenem Schnappverschluss hinzu – ihr bisher wertvollstes Diebesgut. Diese verbotenen Dinge versteckte sie in den hintersten Winkeln ihrer Kommode, fernab der sittenstrengen Augen ihrer Familie. Nachts holte Ivy ihr Tagebuch hervor und schrieb wunderschöne Sätze aus ihren Romanen hinein – Denn was man sieht, das vergeht; was aber unsichtbar ist, das bleibt ewig –, und in der siebten und achten Jahrgangsstufe verfasste sie Liebesbriefe an Gideon Speyer: Ich hatte heute Morgen einen lebhaften Traum, der so leidenschaftlich war, dass ich voller schmerzlicher Sehnsucht erwachte … Ich hielt dein Gesicht in meinen Händen und zitterte … hätte ich doch nur nicht so große Furcht, dir nahezukommen … wärst du doch nur nicht ganz so perfekt …

Und so wuchs Ivy wie ein eigenwilliger Ast. Versehen mit denselben Wurzeln wie ihre Familie, doch nach etwas greifend, was außerhalb ihrer Reichweite lag. Das jahrelange Bemühen, die Lehren ihrer Großmutter mit ihren amerikanischen Werten zu vereinbaren, gipfelte in der konfusen, aber festen Überzeugung, dass sie »clevere« Methoden anwenden musste, um den Erwartungen der anderen gerecht zu werden und ein »gutes«, ein folgsames ting hua-Mädchen zu sein. Allerdings gestand sie sich nie ein, wie viel Freude ihr diese Methoden bereiteten und wie perfekt sie sie bald beherrschte. Sie wurde nie zu gierig. Sie wurde nie nachlässig. Und – das Wichtigste: Sie wurde nie erwischt. Der Gedanke, dass ihr Wort gegen das ihres Beschuldigers stehen würde, sollte man ihr jemals irgendein Fehlverhalten vorwerfen, beruhigte sie. Es gab nur eine Sache, die sie noch stolzer machte, als eine Diebin zu sein: Die Tatsache, dass sie eine erstklassige Lügnerin war.

2

Außer Meifeng wusste nur Roux Roman, ein Junge aus dem Viertel, von Ivys Diebstählen. Er war siebzehn und gebaut wie ein Telefonmast, hatte schwarze Haare und graublaue Augen, die er stets leicht verengte, wenn er all die Idioten um ihn herum voller Verachtung musterte: die lärmenden Latinos, die auf den Stufen vor den Hauseingängen lungerten (schwule Wichser); die Arbeitsunfähigen, die Lebensmittelmarken sammelten (faule Schmarotzer); seine nutzlosen Lehrer in der Schule, die ein meritokratisches Weltbild vermittelten, das sie noch dazu für gerecht hielten; und allen voran seine eigene unverheiratete Mutter, die allgemein als Hure verschrien war, obwohl es niemand wagte, dieses Wort in Roux’ Hörweite zu benutzen.

Sie hatten sich vor vier Jahren kennengelernt, als Ivy ihn dabei erwischt hatte, wie er in Ernesto Morettis Schuppen einbrach. Die Morettis machten jeden Sommer auf Cape Cod Urlaub, ein Ereignis, mit dem Ernesto schon Monate im Voraus prahlte. Die glänzende rote Limousine der Morettis war bereits aus der Zufahrt verschwunden, als Ivy auf Roux stieß, der die Schrauben aus dem Scharnier des dicken schwarzen Vorhängeschlosses an der Holztür herausdrehte. Anstatt sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern, wie Meifeng es ihr beigebracht hatte (Der geradeste Baum wird als Erster gefällt),rief sie laut: »Was machst du da?«

Roux fluchte, als er sie sah, aber er leugnete nicht, dass sie ihn auf frischer Tat ertappt hatte. Das gefiel ihr auf Anhieb an ihm. Sie war schon lange fasziniert von Roux Roman, spürte, dass sich hinter der rauen Schale eine verwandte, geschäftstüchtige Seele verbarg. Er ging immer um den Block und versuchte, sich ein paar Münzen zu verdienen, indem er den Leuten die Lebensmittel hereintrug oder die Autos von Schnee befreite – auch wenn er nie versucht hatte, den alten Ford der Lins freizuschaufeln. Offenbar wusste er, wann ein Unterfangen aussichtslos war. Und tatsächlich: Sein Blick wurde trotzig, und er grinste schief, als wollte er sagen: Wonach sieht es denn aus?

Ivy überlegte, das Wort »Polizei« fallen zu lassen, aber niemand in Fox Hill, einschließlich der Lins, vertraute darauf, dass die Behörden ihre Probleme lösen konnten. »Ich kann für dich Schmiere stehen«, schlug sie stattdessen vor.

Roux zog die schwarzen Augenbrauen bis zum Haaransatz in die Höhe. »Wer bist du noch mal?«

Sie nannte ihm ihren Namen. »Wir sind Nachbarn«, fügte sie hinzu.

»Stell dich da drüben hin, und gib mir Bescheid, wenn ein Auto kommt.«

Ivy setzte sich ins Gras und tat so, als würde sie in ihrem Der Babysitter-Club-Sammelalbum blättern, das sie von zu Hause mitgebracht hatte. Sie hatte an dem Nachmittag eigentlich in dem kleinen Wäldchen hinter dem Grundstück der Morettis »picknicken« wollen, um sich ungestört damit beschäftigen zu können. Verstohlen schweifte ihr Blick die kurvenreiche Straße hoch und runter, auf der Suche nach Autos, die doch nie erschienen. Fünf Minuten später kam Roux mit den Reifen von Ernestos Fahrrad aus dem Schuppen – »aus Rache«, behauptete er, aber als sie ihn fragte, was Ernesto ihm denn getan habe, wollte Roux es ihr nicht erzählen. Sie sah zu, wie er das Vorhängeschloss wieder befestigte und seine Fingerabdrücke abwischte (ein Detail, das sie beeindruckte, da es ihn wie einen erfahrenen Kriminellen erscheinen ließ). Anschließend riss er ihr unvermittelt das Sammelalbum aus den Händen und blätterte durch die abgegriffenen Seiten, bevor er sie spöttisch und ein wenig mitleidig anblickte. »Mein Gott, du bist echt unheimlich.« Unter die aus Hochglanzmagazinen ausgeschnittenen Fotos von den Mitgliedern des Babysitter-Clubs – Kristy, Stacey, Mary Anne, Dawn und Mallory –, hatte Ivy ein anderes gemischt: Sie hatte die einzige Asiatin, ein japanisches Mädchen namens Claudia Kishi, durch eine Aufnahme von sich selbst in ihrem blauen Lieblingskleid ersetzt. Das Kleid hatte Spitzenärmel und eine Schärpe, die so breit war wie ihre Handflächen.

»Das ist nur ein Scherz«, behauptete sie.

»Klar«, erwiderte Roux. »Und ich bin Santa Claus.«

Ivy kam an jenem Tag nicht dazu, ein Lager im Wäldchen hinter dem Grundstück der Morettis aufzuschlagen und sich mit ihrem Sammelalbum zu beschäftigen. Roux und sie verbrachten den Rest des Nachmittags auf dem heruntergekommenen Spielplatz von Fox Hill mit seiner Plastikrutsche und der rostigen Schaukel, wo sie Ivys Picknick, bestehend aus Fleischwurst in Kartoffelbrot, an die Tauben verfütterten. Den restlichen Sommer über trafen sie sich täglich, als hätten sie sich wortlos abgesprochen. Sie trafen sich im Park. In der Bibliothek. Im 7-Eleven. Am Fluss. Am Fox-Hill-Spielplatz, wo sie viele träge Stunden damit verbrachten, Brombeeren in sich hineinzustopfen, die sie direkt von den Sträuchern auf der anderen Seite des Maschendrahts pflückten. Eines Nachmittags zeigte Roux ihr sein schäbiges Ringbuch mit Tuschezeichnungen von Häusern mit Propellern; Fahrrädern, die auf Seifenblasen trieben; Autos, denen riesige schwarze Flügel wuchsen, die Ivy an die Flügel einer Fledermaus erinnerten. Ivy wusste, dass das seine Art war, sich ihr gegenüber zu öffnen. Im Gegenzug lieh sie ihm ihre Lieblingsbücher aus der Bücherei und übertrug sogar ein Gedicht von Sylvia Plath, das sie besonders gern mochte, auf einen rosa Bogen Papier, den sie ihm mit großer Geste reichte. Mit einer Hand geben und mit der anderen nehmen. Über die Launen ihrer Mutter, die chinesische Lebensweise ihrer Familie, ihre Diebstähle schwieg sie vorerst. Es war dumm, Wissen – genau wie Geld – einfach so wegzugeben, denn womöglich bekam man nie etwas zurück.

Im darauffolgenden Sommer entdeckte Ivy ein weiteres von Roux’ Geheimnissen. Als sie in Morettis Deli die üblichen fünf Pfund Fleischwurst für Austins und ihre Schulmahlzeit kaufte, ließ sie bei den Limonaden versehentlich einen Vierteldollar fallen. Er rollte durch den Gang zu einer rot lackierten Tür mit einem Messinggriff, die ein kleines Stück offenstand. Dahinter waren Leute. Sie hörte drängendes Flüstern, gefolgt von einem Keuchen, dann das tiefe Stöhnen eines Mannes. Ivy, die die Geräusche mit Schmerzlauten verwechselte, spähte durch den Spalt. Vor einem massiven schwarzen Schreibtisch sah sie Roux’ Mutter, die vor Ernestos Vater kniete. Mrs. Roman hatte ihre knochigen Arme um seine ausladende Mitte geschlungen und die Wange gegen seinen Oberschenkel gepresst.

Zunächst dachte Ivy, sie würden miteinander kämpfen – sie bäumten sich auf, stießen und rempelten und schnaubten wie zwei chinesische Ochsen, die sich mit ineinander verkeilten Hörnern das kärgliche Weideland streitig machten –, doch dann wurde ihr klar, dass diese Geräusche der Entrückung geschuldet waren. Mr. Morettis Bauch war gebräunt und vorgewölbt, eine Linie aus schwarzen Haaren zog sich über die dunkle Haut wie eine Baumreihe auf einem ansonsten kahlen Berg, und wenn er schauderte, wogten alle Bäume in der sanften Brise. Sie musste den beiden minutenlang zugesehen haben, gebannt von einer Mischung aus Furcht und heimlicher Neugier, die sie wie angewurzelt an Ort und Stelle verharren ließ. Mrs. Roman brachte zu Ende, was immer sie da tat. Mr. Moretti stieß einen tiefen Seufzer aus. Dann schaute er auf und begegnete direkt Ivys Blick. Langsam, ohne den Kopf zu bewegen, griff er nach unten und tätschelte Roux’ Mutter die Wange, fast so, als würde er sie ohrfeigen, aber Ivy sah nicht, was als Nächstes passierte, denn da hatte sie sich schon umgedreht und war geflüchtet.

Draußen stand Roux und rauchte eine Zigarette. Er trug noch immer seine Badehose, weil sie den Nachmittag am Fluss verbracht hatten. Er hatte sich geweigert, das Deli zu betreten, hatte behauptet, dort lauerten überall Schlangen. Außer sich vor Aufregung platzte sie durch die Tür, fasste ihn am Arm und versuchte, ihn wegzuzerren – »Lass uns abhauen! Komm schon!« –, aber es war zu spät. Sekunden später eilte Mrs. Roman zur Tür hinaus und strich sich die dunklen Haare glatt. Zwei tiefe Falten verliefen von ihren inneren Augenwinkeln seitlich nach außen, was ihr einen Ausdruck permanenter Erschöpfung verlieh. Sie sagte etwas in schnellem Rumänisch. Roux sah seine Mutter an. Er sah Ivy an, warf seine Zigarette auf den Asphalt und trat sie mit dem Absatz aus. »Lass uns gehen.« Sein Ton war ausdruckslos, sein Gesicht starr. Mrs. Roman zeterte auch dann noch, als sie schon um die Ecke gebogen waren. Ivy fand es seltsam, wie ähnlich Mrs. Roman und Nan klangen, wenn sie jemanden anschrien, obwohl Mrs. Roman Rumänisch sprach und Nan Chinesisch. Sie klangen wie ein wütender Krähenschwarm, die Konsonanten abgehackt und hart vor Zorn. Vielleicht war Zorn die einzige allgemeingültige Sprache.

Auf dem Weg zurück nach Fox Hill war Roux äußerst schweigsam. Ivy fühlte sich beschmutzt von dem, was sie gesehen hatte, doch ein Teil von ihr war gleichzeitig erregt. Es rührte etwas in ihr an, das in ihr aufstieg wie ein leiser Seufzer. Sie blickte auf ihre Hand, die noch immer die gekühlte, mit Kondenswasser beschlagene Plastikflasche umklammert hielt. »Oh! Ich habe vergessen, meine Limo zu bezahlen!«

»Darüber machst du dir Gedanken?«, fragte Roux abschätzig.

Ivy öffnete den Mund – um was zu sagen? Dass sie genauso verlegen war wie er? Dass ihre Mütter klangen wie zornige Krähen? Stattdessen erzählte sie ihm von den Diebstählen.

Roux’ Miene hellte sich auf. »Ich wusste,dass du mir etwas verheimlichst. Ich wusste,dass ich bei dir richtiglag.«

»Okay, aber …«

»Und deine Großmutter?«

»Sie hat nur …«

»Aber in welchen Häusern?«

Ivy versuchte, ihm zu erklären, dass sie nicht wirklich stahlen, dass sie nur Kleinigkeiten einsteckten, die die Amerikaner nicht wertschätzten. Roux war das gleich. Er betrachtete sie bereits mit neuem Respekt – und noch etwas flackerte in seinen Augen auf, etwas Eindringliches, Begieriges. Sie bemerkte ein Grübchen in seiner rechten Wange, wie ein Komma auf einer ansonsten leeren Buchseite, und sie fragte sich, warum er sich so wenig für sein Äußeres interessierte. Mit etwas Mühe würde er bestimmt süß aussehen. Er müsste nur die richtigen Klamotten tragen, sich die Haare schneiden lassen, ab und an lächeln – bam!,schon wäre er wie verwandelt, sähe aus wie ein typisch amerikanischer Junge, doch das schien er gar nicht zu wollen. Sie hingegen konnte sich noch so quälen mit ihrer Kleidung und dem richtigen Auftreten – sie würde immer gelbe Haut und schwarze Haare und eine platte Nase haben. Ihr äußeres Ich verbarg die Tatsache, dass sie Amerikanerin war. Amerikanerin! Amerikanerin! Diese Ungerechtigkeit machte ihr schwer zu schaffen.

»Dieser russische Junge ist kein guter Umgang für dich«, sagte Nan eines Tages aus heiterem Himmel.

Ivy wusste sofort, von wem Nan sprach. »Er ist Rumäne«, stellte sie richtig.

»Der Junge ist dumm. Wie könnte es auch anders sein ohne Vater? Und was tut seine Mutter für ihn? Nichts. Ich sehe, wie sie morgens nach Hause kommt mit ihren hochgesteckten Haaren. Lächerlich. Wo treibt sie sich die ganze Nacht lang rum? Und dann lässt sie auch noch ihren Sohn allein … Nachts sind nur zwei Sorten von Menschen unterwegs: Einbrecher und leichte Frauen. Du hältst dich von ihm fern, hast du mich verstanden?«

Ivy stocherte in ihrem Reis.

»Außerdem sind sie arm«, fügte Nan hinzu. »Sonst würden sie wohl kaum hier leben.«

»Genau wie wir.«

»Wir sind anders«, entgegnete Nan scharf. »Baba hat einen Master-Abschluss.«

Ivy wies darauf hin, dass Roux’ Vater genauso gut einen Doktortitel haben könnte.

»Hör auf, solchen Unsinn zu reden. Hilf deiner Großmutter lieber mit dem Abendessen. Ich muss lernen.« Jede Stunde, die Nan nicht mit dem Einpacken von Lebensmitteln im Hong-Kong-Markt an der Route 9 verbrachte, brütete sie nach einem selbst ausgearbeiteten Lehrplan, den nur sie verstand, über ihrem kleinen blauen Chinesisch/Englisch-Wörterbuch. Einmal hatte Ivy beim Abendessen gescherzt, dass Nan vielleicht schneller Englisch lernen würde, wenn sie Lebensmittel in einem amerikanischen Supermarkt einpackte. Es war das einzige Mal gewesen, dass ihr Vater sie geschlagen hatte – auf den Hinterkopf, wortlos, fest genug, dass Ivys Ohren noch Stunden danach klingelten.

In jenem Herbst fing Shen seinen neuen Job als Computertechniker an der Grove an, und Ivy wechselte auf ihre neue Schule. Ihre Eltern sagten nicht, dass es wegen Roux war, aber natürlich konnte sich Ivy ihren Teil denken.

»Was hast du denn da an?«, spottete Roux, als er sie zum ersten Mal in ihrer Uniform sah, die so frisch aus der Einschweißfolie kam, dass sie noch nach Plastik roch. »Ist das eine Clipkrawatte?« Er griff nach ihrem Hals – er schnappte sich immer alles von ihr, was er haben wollte –, und Ivy war nicht schnell genug, um seinen fettigen Fingern zu entkommen, mit denen er sich gerade noch ein Stück Pizza in den Mund geschoben hatte. Schon hatte sie einen Fleck auf ihrem blütenweißen Kragen.

»Sieh, was du angestellt hast!«, rief sie, doch er grinste nur auf seine übliche herablassende Art. Sie leckte an ihrem Daumen und wischte über den Fleck. »Das ist die Uniform von der Grove«, teilte sie ihm schnippisch mit. Instinktiv wusste sie, dass sie ihn damit verletzen würde. »Ich gehe jetzt dort zur Schule, drüben, in Andover.«

»Hat deine Familie im Lotto gewonnen?«

»Ich habe ein Stipendium bekommen«, log sie. Sie hatte jede Menge Romane über Stipendiaten an schicken Internaten gelesen, die die soziale Kluft mittels einer Mischung aus Schneid, Charme und Schönheit (in erster Linie Schönheit) überwanden, um inmitten von Heidekraut und Pferdeställen die Liebe zu finden. Bis dahin war sie absolut zufrieden damit gewesen, die örtliche öffentliche Schule zu besuchen, so wie die anderen Kinder in Fox Hill. Nun allerdings war das unter ihrer Würde.

Danach gab sich Ivy alle Mühe, Roux aus dem Weg zu gehen. Sie spürte die breiter werdende Kluft zwischen ihnen, doch er, der so geschickt war, wenn es darum ging, herauszufinden, wofür sie sich schämte, war erstaunlich unsensibel, was ihn selbst betraf, und verwechselte ihre Zurückhaltung mit Schüchternheit. Er kapierte es nicht, bis er sie eines Tages zum fünften Mal fragte, ob sie nicht Lust habe, mit »seinen Jungs« abzuhängen – denselben Jungs, die er einst »schwule Wichser« genannt hatte.

»Ich würde mich niemals mit solchen Leuten abgeben!«, entgegnete Ivy, entrüstet über seinen Vorschlag.

»Ach, so angsteinflößend sind die nun auch nicht.«

»Sie sind mittelloser Abschaum.« Nans Worte. So weit war Ivy schon gekommen.

Sämtliche Farbe wich aus Roux’ Gesicht, nur seine Ohren wurden glühend rot. Sie konnte den Schweißfilm auf seiner Oberlippe sehen, dort, wo sich ein erster Bartschatten zeigte.

»Seit wann bist du so ein eingebildetes Miststück?«

»Seit wann bist du so ein Loser?«

Er hob die Hand – Ivy zuckte instinktiv zurück –, aber er griff nur in seine Hosentasche, zog etwas Kleines, Gelbes daraus hervor und warf es nach ihr. Es traf sie mitten auf die Brust und fiel vor ihre Füße. Sie hob es auf. Es war ein altes Foto von ihr, in einem abgetragenen blauen Kleid – definitiv eines von Meifengs Flohmarktschnäppchen – mit weißen Spitzenärmeln und einer breiten Schärpe. Es war ihr schleierhaft, woher Roux das Foto hatte, bis sie es umdrehte und die getrockneten Klebeflecken sah. Sie erinnerte sich an ihr altes Der Babysitter-Club-Sammelalbum mit den aus Hochglanzmagazinen ausgeschnittenen Fotos und an die Lücke zwischen Stacey und Kristy. Sie hatte angenommen, dass sich das Bild von ihr irgendwie gelöst haben und verloren gegangen sein musste.

Ohne Roux hatte Ivy gar keinen Freund mehr. Sie war einsam, aber das, wonach sie sich sehnte, war keine Freundschaft. Mädchen und Jungs hingen zwar in den Pausen zusammen ab, doch richtig zur Sache ging es außerhalb der Schule, auf Partys. Ivy wurde nie zu einer Party eingeladen. Sie hatte gelernt (theoretisch), wie die beliebten Spiele gingen: Kartenkuss, Flaschendrehen, Sieben Minuten im Himmel, Apfelbeißen, Mord im Dunkeln oder das klassische Wahrheit oder Pflicht. Sie hatte auch andere Dinge gelernt – keine Spiele, sondern das echte Leben betreffend. In der Mädchenumkleide bekam sie mit, wie Liza Johnson den anderen mit gespieltem Entsetzen berichtete, dass Tom Cross seinen Reißverschluss geöffnet und ihre Hand in seinen Schritt geschoben hatte – »während mein Dad vorne am Steuer saß«. Ivy fragte sich, ob auch Gideon solche Dinge tat. Tom und er waren beste Freunde, sie machten alles zusammen. Was würde sie tun, wenn Gideon ihre Hand nähme und sie auf die mysteriöse, leicht groteske Männlichkeit unter seinen Shorts legte, oder wenn er sich zu ihr beugen und ihr die Zunge in den Mund schieben würde – so wie Henry Fitzgerald, der Nikki Satterfield in ihrer Cheerleader-Uniform vor der letzten Sportveranstaltung geküsst hatte. Die herabhängenden Puschel in ihren Händen hatten ausgesehen wie ein blau-weißer Konfettiregen.

Ivy hatte nie die Hand eines Jungen gehalten und erst recht keinen geküsst. Sie hatte sich nur ein einziges Mal begehrenswert gefühlt: als sie das Foto von sich selbst in dem kindischen blauen Kleid mit den Spitzenärmeln betrachtete (Warum hatte Roux es die ganze Zeit über behalten?) und anschließend ein sehnsüchtiges Verlangen in ihrem Körper spürte, das sie in der Nacht lange wach gehalten hatte, sodass sie mit tiefen Rändern unter den Augen aufgewacht war und Meifeng in der Früh ihre Stirn fühlte, um festzustellen, ob sie Fieber hatte.

Und dann rief eines Morgens, zwei Wochen nach Beginn der Sommerferien, Gideon Speyer an und lud sie zu seinem vierzehnten Geburtstag ein – »bloß eine kleine Feier, eine Übernachtungsparty mit Freunden« –, und obwohl sie nur stammelte und kicherte, gelang es Ivy irgendwie, herauszubringen, dass sie kommen würde. Nachdem sie aufgelegt hatte, stürmte sie in das Zimmer, das sie sich mit Meifeng teilte (»Wohin willst du denn so eilig?«), und vergrub ihr Gesicht im Kissen, bis ihr Mund voller Baumwolle war, die ihre panischen Glücksschreie erstickte. In jener Nacht schrieb sie in ihr Tagebuch: Von jetzt an wird alles anders.

Doch da war das Problem, Nans Erlaubnis einzuholen. Ivy erzählte ihrer Mutter, sie sei bei ihrer Klassenkameradin Una Kim zum Übernachten eingeladen. Sie benutzte sogar den Satz, den sie sich als Druckmittel für Notfälle aufgehoben hatte: Wenn ihr nicht wollt, dass ich Freundinnen finde, warum habt ihr mich dann auf diese Schule für Reiche geschickt? Es war pures Glück, dass Una drei Blocks von Gideon entfernt in der neuen Siedlung in Andover wohnte. Nans Gesicht verfinsterte sich, und sie sagte weder Ja noch Nein – ein schlechtes Zeichen, da Nan mit der Zeit immer paranoider wurde.

Vor der Party (Ivy hatte beschlossen, sich notfalls aus dem Haus zu schleichen, was durchaus klappen konnte, da sich Meifeng eines tiefen Schlafs erfreute) durchstach Ivy ihre Ohrläppchen mit einer Nähnadel. Einige Tage zuvor hatte sie ein Paar Ohrhänger mit Herzen daran gestohlen und sie unter dem Wäschestapel in der untersten Schublade ihrer Kommode versteckt. Es war schwierig, den Bügel durch das neue Ohrloch zu stecken, und sie zuckte vor Schmerz zusammen, als sie das Metall hierhin und dorthin schob, um die Öffnung auf der Rückseite des Ohrläppchens zu finden. Als endlich beide Ohrhänger an Ort und Stelle waren, war das Fleisch rund um die Löcher heiß und tat weh, wenn man es auch nur berührte. Aber Ivy war glücklich.

Zu ihrem Pech hatte sich das Schloss an der Badezimmertür ausgerechnet an jenem Nachmittag gelockert, und Nan platzte mitten in Ivys Vorbereitungen hinein. Als sie ihre Tochter sah, die mit einem Kussmund in den Spiegel blickte, die Nähnadel noch in der Hand, wurde Nan fuchsteufelswild. Sie schlug Ivy ins Gesicht, einmal, zweimal, dann versuchte sie, Ivy die Ohrringe aus den frisch durchstochenen Ohrläppchen zu reißen – woraufhin Meifeng ins Badezimmer stürmte und sich mit der Fliegenklatsche auf Nan stürzte, während sie durchdringend kreischte: »Du reißt ihr ja die Ohren ab! Du reißt ihr ja die Ohren ab!«Der Kampf dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Austin und Shen – der eine verängstigt, der andere stoisch, da an diese Art von Darbietung gewöhnt – suchten unterdessen Schutz im Schlafzimmer.

Nach dieser Attacke verlor Nan kein Wort mehr über die durchstochenen Ohrläppchen. Außerdem war sie an den darauffolgenden vier Tagen weitaus nachsichtiger mit ihrer Tochter. Das war die chinesische Art: körperliche Züchtigung, gefolgt von einem Übermaß an Freundlichkeit. Nan schlug Shen andauernd, und dann kochte sie ihm seine Lieblingssuppe oder veranstaltete einen großen Wirbel um seine Gesundheit. Wenn sie es zu weit trieb, schlug Shen auch Nan. Anschließend versprach er ihr, mit dem Rauchen aufzuhören. Meifeng schlug Ivy nie, aber sie schlug Austin fast täglich, was angeblich nur zu seinem Besten war. Er könne dankbar sein, behauptete sie, dass sie sich die Mühe mache, ihn, ihren Enkel, zu disziplinieren. Die bedauernswerten amerikanischen Kids mit ihren bequemen Großeltern wüchsen allesamt zu Hooligans heran, ungezügelt und ungeliebt. Danach nahm sie ihn mit zu McDonald’s und kaufte ihm ein Happy Meal. Im Haushalt der Lins wurde man dafür belohnt, bestraft zu werden. Und so erhielt Ivy die Erlaubnis, bei Una Kim zu übernachten.

Sie ging zu Kmart, um ein Geburtstagsgeschenk für Gideon »abzuholen«. Die große Mall in West Maplebury wäre ihr lieber gewesen, aber dann hätte sie Shen bitten müssen, ihr Geld zu geben und sie zu fahren, und er hätte wissen wollen, welches Geschenk ihr für »Una« vorschwebte. Daher drückte sie sich stattdessen bei Kmart in dem Gang mit Elektroartikeln herum und beobachtete die Kassiererin, die in der People blätterte. Fünf Kunden gingen an ihr vorbei, ohne dass sie auch nur ein einziges Mal aufsah. Ermutigt trat Ivy ans Regal und nahm das wasserfeste Fernglas, das sie ins Auge gefasst hatte, in die Hand. Daran war eine Bedienungsanleitung befestigt, aus der hervorging, dass es mit beschlagfreien Gläsern ausgestattet und aufgrund einer speziellen Gummiarmierung stoßsicher war; außerdem hatte es mehrfach beschichtete Linsen für die optimale Lichtdurchlässigkeit. Es war das perfekte Geschenk für einen Jungen, der gern segelte. Ivy hatte gesehen, dass Gideon Fotos von Segelbooten in seinen Spind geklebt hatte und das Segelmagazin Yachting World verschlang wie andere Jungen den Playboy. Gerade als sie das Fernglas in ihrem Rucksack verschwinden lassen wollte, entdeckte sie Roux. Die Überraschung beruhte auf Gegenseitigkeit. Seit dem Vorfall mit dem Foto vor fast einem Jahr hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen. Roux trug ein rotes Polohemd mit dem Kmart-Logo, an seiner Brusttasche war ein weißes Namensschild befestigt. Wie alle Uniformen verdrängte es seine Individualität, während es gleichzeitig sein wahres, essenzielles Selbst zu enthüllen schien.

Ohne Eile schlenderte er auf sie zu. »Was hast du da?«

»Ich hab versucht zu erkennen, was die Kassiererin liest.« Ivy hielt sich das Fernglas wie ein Spion vor die Augen, dann stellte sie es mit gespielter Gleichgültigkeit zurück ins Regal.

Roux verzog die Lippen zu einem ironischen Grinsen. »Ich arbeite jetzt hier – nur für den Fall, dass du es nicht bemerkt hast –, du solltest also besser nichts mitgehen lassen.«

»Entspann dich. Ich schaue mich bloß um.« Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und marschierte aus dem Laden. Vor Enttäuschung bildete sich ein Kloß in ihrer Kehle, hart und zäh wie halb garer Reis.

Am nächsten Morgen um Punkt neun Uhr war sie erneut im Kmart.

»Schaust du dich wieder bloß um?«

Ivy fuhr zusammen. Da stand er, in demselben billigen roten Polohemd, wie ein hartnäckiger, lautloser Schatten. Es war bizarr, wie schnell er sie entdeckt hatte. Das Problem war, dass sie im selben Gang stand wie gestern, dasselbe Fernglas in den Händen. Und tatsächlich fragte Roux nur einen winzigen Moment später: »Warum willst du das Ding eigentlich haben?«

»Verfolgst du mich etwa?«

»Na klar. Du bist schließlich eine Diebin.«

»Das ist nicht für mich. Es ist ein Geburtsgeschenk für meinen Freund.«

Roux nahm das Fernglas und warf einen Blick auf das Preisschild – 38,99 $. Ein Vermögen. Er reichte es ihr zurück. »Muss ja ein toller Freund sein.«

Das Fernglas in der Hand, schlenderte Ivy in Richtung Ausgang. Ihr Herz hämmerte. Hatte sie wirklich die Nerven, einfach aus dem Laden zu spazieren und auf Roux’ Wohlwollen zu vertrauen, oder sollte sie das Fernglas neben dem Zeitschriftenständer abstellen, als hätte sie es sich anders überlegt und wollte es nun doch nicht kaufen? Sie sah den Kassierer an. »Ich bin noch nicht so weit«, sagte sie mit überheblicher Stimme. Der alte Mann, der heute an der Kasse saß, warf ihr einen abschätzigen Blick zu. Zu teuer, hm?

Eine Hand griff über Ivys Schulter und hielt ihr zwei zerknüllte Zwanziger hin. Sie drehte sich um.

»Was ist das?«

»Geld«, antwortete Roux verächtlich. »Für das Geschenk für deinen Freund.«

»Leihweise?« In der Familie Lin waren Schulden gleichbedeutend mit Sklaverei.

Roux’ finsterer Gesichtsausdruck wurde noch finsterer. »Du musst es mir nicht zurückgeben.«

Ivy war sprachlos. Abgesehen von Nan, war Roux der geizigste Mensch, den sie kannte; sie hatte gesehen, wie er seine eigene Mülltonnen nach abgelaufenen Mikrowellenmahlzeiten durchforstete – vorzugsweise Hot Pockets mit verschiedenen Füllungen –, die selbst Mrs. Roman für ungenießbar erachtet hatte; und auf dem Gehsteig entging kein Fünf-Cent-Stück seinem scharfen Blick.

Roux wedelte mit den Scheinen vor ihrem Gesicht herum. »Nimmst du das Geld jetzt oder nicht?« Als sie sich noch immer nicht rührte, blaffte er: »Herrgott, dann eben nicht …«

Ivy schnappte sich die Dollarnoten und reichte sie dem alten Kassierer, der das kurze Gespräch mitbekommen hatte.

»Mensch, Mädchen, heute ist dein Glückstag. Wenn mal nicht jeder Tag ein Glückstag für dich ist. Wie alt bist du eigentlich? Du siehst nicht älter aus als meine Enkelin, und die lernt gerade das Multiplizieren.«

Du kleiner Saukerl, dachte Ivy und sah dem Alten direkt in die Knopfaugen. Du hast vermutlich dein ganzes Leben hier verbracht und wirst auch noch hier sterben, in deiner Kmart-Uniform. Auf deinem Grabstein wird stehen: Hier ruht ein glücklicher Mann.

»Was ist denn so komisch?«, fragte Roux.

Ivy fing an zu grinsen. »Ich hatte keine Ahnung, dass du so nett sein kannst.« Meifeng pflegte zu sagen, dass ein Tiger einem Kaninchen nicht aus lauter Herzensgüte Karotten gibt, doch als der Kassierer ihr das Fernglas einpackte, dämmerte es Ivy, dass es ein noch besseres Gefühl war, etwas ganz offen mit Geld zu bezahlen, als etwas heimlich mitgehen zu lassen.

Roux verdrehte die Augen und sagte, er müsse sich wieder an die Arbeit machen. Doch sie sah, dass er sich über ihr Kompliment freute – seine leuchtend roten Ohren verrieten ihn.

3

Shen setzte sie vor Una Kims Haus ab. Ivy wartete, bis sein Wagen aus der Siedlung verschwunden war, dann machte sie sich auf den Weg zu Gideon. Das Haus der Speyers lag in einer breiten Sackgasse – ein schöner Bau aus Glas und Stein. Draußen zirpten die Grillen.

Gideon öffnete die Tür. Freude explodierte in Ivy wie ein Feuerwerk. Er trug ein weinrotes T-Shirt, dessen Ärmel Bizeps umspannten, die noch vier Wochen zuvor nur Haut und Knochen gewesen waren. Der ordentlich gestutzte Bürstenschnitt war verschwunden; federweiches Haar ergoss sich über seine Schläfen und bedeckte den oberen Teil seiner Ohrmuscheln.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, sagte sie mit leiser, belegter Stimme.

»Du schaust anders aus.«

»Anders? Inwiefern?« Ja! Ja! Ja!

»Ich glaube, ich habe dich noch nie außerhalb der Schule gesehen.« Einer von Gideons Schneidezähnen stand etwas schief und höher als der andere, was ihm etwas Verschmitztes verlieh, wenn er lächelte, obwohl er gar kein verschmitzter Mensch war. Er nahm das Geschenk, das sie ihm überreichte, mit verlegener Überraschung entgegen. »Du hättest mir doch nichts mitbringen müssen.«

Beschämte Röte breitete sich in ihrem Gesicht aus wie Ausschlag.

Gideon sagte, sie würden unten im Keller abhängen, und bat sie herein, er bot ihr sogar an, ihr den Rucksack abzunehmen, so kultiviert, so dressiert, und das mit vierzehn. Sie zog ihre Schuhe aus – »Lass sie ruhig an«, sagte er in demselben verlegenen Ton –, und sie folgte ihm durch einen Flur mit elektrischen Wandfackeln. Die steifen Fasern des Teppichs mit Leopardenmuster knirschten unter ihren Zehen. »Was ist das für ein Zimmer?« Ivy deutete auf einen Raum und konnte nicht widerstehen, sich in alle Richtungen umzublicken. Sie wollte versuchen, sich sämtliche Details von Gideons Haus einzuprägen, um sie sich zu Hause in ihrem Zimmer noch einmal ins Gedächtnis zu rufen.

»Das ist das Arbeitszimmer.« Gideon, der ihren erwartungsvollen Blick bemerkte, zeigte ihr den Raum, dann folgten das Wohnzimmer, die Küche und das Familienzimmer mit der wuchtigen Standuhr, die jede einzelne ihrer Bewegungen mit ihrem Glasauge zu verfolgen schien.

Ihre eigene Wohnung in Fox Hill hatte Ivy stets für einen Ort gehalten, an dem sie aß und schlief, ein Ort, der niemandem gehörte, nicht ihr, nicht ihrer Familie. Gideon schien diese Sichtweise nicht zu teilen. Sämtliche Zimmer, die Möbel, der Krimskrams, den die Familie von ihren Urlaubsreisen mitgebracht hatte, waren »meins« oder »unser«. Alles schien sein Eigentum zu sein. Besitz, dachte Ivy, hatte einen ganz speziellen Klang. Man konnte einer Person die Respekt einflößende Eigenschaft von Besitz an der Stimme anhören, und sie hörte sie in Gideons gleichmäßig modulierten Sätzen und seiner deutlichen Aussprache. Als sie in der Schule das letzte Mal Gedichte vorgetragen hatten, hatte Mr. Markle, der gleichzeitig den Debattierklub leitete, Gideon bei der Benotung für seine Vortragskunst gelobt, und Gideon hatte vor der ganzen Klasse erklärt, dass er früher gestottert hatte und zehn Jahre lang in logopädischer Behandlung gewesen war. »Dann sollten wir uns wohl alle mal bei einem Logopäden anmelden!«, hatte Mr. Markle gescherzt, und während die anderen lachten, hatte Ivy verblüfft geschwiegen, weil sie einfach nicht begriff, wie etwas so Einfaches wie Sprechen so viel Fleiß und Mühe erfordern konnte – genauso viel Fleiß und Mühe, wie Nan in ihr kleines blaues Wörterbuch investierte.

In der Diele begegneten sie Gideons älterer Schwester Sylvia, die ebenfalls an der Grove war, aber schon in der Abschlussklasse. Sylvia war auf dem Weg nach oben, ein Tablett mit einem Becher Häagen-Dazs-Eiscreme, einem Starbucks-Kaffee und einem kleinen Tumbler mit Eiswürfeln und einer gelblichen Flüssigkeit in den Händen.

»Wo hast du den Schlüssel zum Spirituosenschrank gefunden?«, fragte Gideon.

»In Dads Stifteköcher. Willst du auch was?«

»Nein.«

Sylvia bemerkte, dass Ivy sie anstarrte, und Ivy wandte rasch den Blick ab und tat so, als würde sie ein Foto an der Wand bei der Treppe betrachten, das die Geschwister in Badesachen zeigte. Sie fläzten sich auf Liegestühlen und blickten lachend in den Sonnenuntergang.

»Das ist Finn Oaks«, sagte Sylvia, die Ivys Blick bemerkt hatte.

»Und was ist das?«

»Unser Sommerhaus in Cattahasset.«

Sommerhaus, fügte Ivy ihrem Sprachrepertoire hinzu.

»Warst du schon mal dort?«

»Nein«, antwortete Ivy. Sie konnte Sylvia nicht direkt ansehen, ihre Schönheit war zu blendend.

»Nun, Giddy bringt im Sommer immer seine Freunde mit.«

Diese angedeutete Einladung, so sorglos dahingeworfen, ließ Ivys Herz vor Sehnsucht rasen, so heftig, dass ihr schwindelig wurde. »Ich bin Ivy«, flüsterte sie.

»Wie die Pflanze«, stellte Sylvia fest.

»Dad wird bald heimkommen und selbst einen Whiskey trinken wollen«, sagte Gideon. »Du solltest den Schlüssel also schleunigst zurücklegen.«

Sylvia verdrehte die Augen. »Entspann dich. Er wird schon nichts mitbekommen.« Sie schwebte geräuschlos die Treppe hinauf. Zurück blieb ihr Parfum: ein herber Duft nach Zitrone und dem Ozean.

Niemand begrüßte Ivy, als sie den Keller betrat, zumindest nicht offen; sie musste sich mit Seitenblicken und coolem Lächeln begnügen. Ein Zeichen des Willkommens. Größerer Wirbel hätte bedeutet, dass sie nicht dazugehörte. Gideon zeigte Ivy den Platz für die Schlafsäcke und bot ihr an, ihre Sachen dort abzustellen. Tom Cross schnappte ihm die Geschenktüte aus den Händen – »Was ist das?« –, und las in gedehntem Ton Ivys Karte vor: Ich hoffe, wir haben im nächsten Jahr ein paar Kurse zusammen, Gideon … Tom war der geborene Performer: kastanienbraune Locken, so viele Sommersprossen, dass er aussah, als wäre er das ganze Jahr über gebräunt, stets umgeben von Publikum, das er unterhalten konnte. Als er zu Ende gelesen hatte, zog er das Fernglas aus der Tüte und warf es auf einen Berg Kissen. »Hat dein Dad nicht auch so eins?«

»Ja, aber ich nicht«, antwortete Gideon.

»Und wo ist mein Geburtstagsgeschenk?«, wollte Tom von Ivy wissen.

»Wann hast du denn Geburtstag?«

Tom riss die Augen auf. »Sie spricht!«

Nur Una Kim wirkte aufgebracht, Ivy zu sehen. Die beiden Mädchen waren tatsächlich einmal so etwas wie Freundinnen gewesen: zwei asiatische Eigenbrötlerinnen, Ivy still und arm, Una reich und mopsig. Dann verbrachte Una den Sommer vor der siebten Klasse in Korea und kehrte fünfzehn Pfund leichter zurück, die Haare gelockt, mit Kontaktlinsen und höherem Nasenrücken. Sie verlor keine Zeit, Ivy in die Wüste zu schicken, die dämliche Schnepfe. Liza Johnson gegenüber behauptete sie, Ivy habe sie eine »dumme Kuh« genannt (gelogen), die »kein Wort mit mehr als fünf Buchstaben aussprechen könne« (wahr). Das Ärgerlichste an der ganzen Sache war jedoch, dass Ivy überlegt hatte, Una in die Wüste zu schicken. Sie hatte sich sogar schon einen Platz überlegt, an dem sie zu Mittag essen würde (am Springbrunnen, wo sie sich in ihre Lektüre vertiefen wollte, umgeben von einer Aura kultivierter Rätselhaftigkeit), aber Una war ihr zuvorgekommen. Diese Erfahrung erteilte Ivy eine wichtige Lektion: Es kam einzig und allein auf das richtige Timing an.

Liza und die Zwillinge ließen die Jungs stehen und schlenderten zu Ivy. Una folgte ihnen zögernd. Sie setzten sich in einen Kreis. Violet Satterfield bot Ivy an, ihr die Haare zu kreppen. Ivy stellte fest, dass die anderen Mädchen tatsächlich so krisselige Locken hatten, als hätten sie einen Stromschlag bekommen. »Okay«, willigte sie mutig ein. Jetzt war sicher der Zeitpunkt, an dem Violet ihr Haar in Brand stecken oder ihr den Kopf kahl scheren würde. Sie verbarg das leichte Zittern ihrer Unterlippe, indem sie Blasen mit ihrem Kaugummi machte, das nach gar nichts mehr schmeckte.

Violet kehrte mit dem Kreppeisen zurück und blaffte Una an, sie solle ein Stück rüberrutschen. Una gab zurück: »Rutsch du doch rüber«, aber sie tat, was ihr gesagt wurde, und rückte nach links, bis sie leicht außerhalb des Kreises saß. Ivy sah, dass Una unter ihrem Kleid keinen BH trug. Ihre Nippel, groß wie Vierteldollar-Münzen, zeichneten sich unter dem dünnen Baumwollstoff ab. Henry Fitzgerald und Blake Whitney versuchten herauszufinden, ob Una kitzelig war. Sie stürzten sich abwechselnd auf ihre Rippen, wie hypnotisiert von ihren üppigen Brüsten, die wie Wasserbomben wabbelten.

»Wie nennt man noch gleich diesen Affen?«, fragte Liza in die Runde. »Den mit dem knallrosa Gesicht?«

»Einen Mandrill?«, schlug Henry vor.

»Ja, genau den meine ich! Una sieht aus wie ein riesiger, draller Mandrill.« In diesem Moment sah Una mit ihrem vor Scham geröteten Gesicht tatsächlich so aus. Und plötzlich verstand Ivy, warum Liza und die Zwillinge so freundlich zu ihr waren: Sie bestraften Una, weil sie Brüste hatte. Diese Erkenntnis erfüllte Ivy mit Hoffnung. Es war das älteste physikalische Gesetz: Das System selbst kann sich nicht ändern, es kann nur umgestaltet werden.

Nachdem sie die Hände mit der nach Pfefferminz duftenden Seife der Speyers gewaschen hatte, nahm sich Ivy Zeit, durch ihre Haare zu wuscheln, ihre Bluse zurechtzuzupfen und sich in die Wangen zu kneifen, damit sie leicht gerötet wirkten. Nebenbei öffnete sie den Spiegelschrank und betrachtete den Inhalt: Schmerztabletten, Wattebäusche, Seife mit Peeling-Funktion. In der Ecke entdeckte sie eine halb leere Flasche mit französischem Parfum. Sie gab einen Spritzer auf ihren Hals und auf die Handgelenke. Anschließend schob sie eine Packung Pflaster zur Seite und entdeckte weiter hinten ein altes Haarband; silbrig-goldene Haare hatten sich um das schwarze Gummi geknotet. Ivy schob es über ihr Handgelenk. »He, Gideon«, flüsterte sie, bemüht, Sylvias ätherische Erscheinung nachzuahmen. Dann schloss sie die Schranktür und ging wieder nach unten.

Um einundzwanzig Uhr kamen Gideons Eltern mit vier Pizzakartons, frisch gebackenen Schokosplitterkeksen und zwei Bechern Vanilleeis in den Keller. Man weiß alles über einen Menschen, sobald man seine Familie sieht, und Ivy meinte, gerade eben den Schlüssel zu der Person Gideon Speyer entdeckt zu haben: Da war seine jugendliche Mom mit der abgeschnittenen Baumwollhose und der grünen, ärmellosen Bluse, die zwei leuchtend weiße Arme freigab; da war sein Dad, ein würdevoller, ansehnlicher Mann, Senator des Bundesstaats Massachusetts, der alle Freunde von Gideon mit Namen kannte – »Ich glaube, wir haben uns noch nicht kennengelernt«, sagte er und drückte ihr herzlich die Hand. Auf Ivys bewundernden Blick hin fügte er hinzu, dass sie jederzeit in ihrem Haus willkommen sei.

Gegen ein Uhr morgens dimmte Gideon die Lichter und legte Die Rache des Kettensägenmörders in den Videorekorder ein. Ivy wartete, bis er sich auf dem Sofa niedergelassen hatte, dann beeilte sie sich, den Platz neben ihm einzunehmen. Die Welt jenseits des Sofas löste sich in Luft auf. Alles, was sie noch wahrnahm, waren Gideons Atem, die kleinen Bewegungen, wenn er sein Gewicht verlagerte, das sanfte Kaleidoskop aus Farben, das die flackernden Bilder auf sein nach oben gewandtes Gesicht warfen. Während einer ganz besonders grausamen Metzelszene tat sie so, als würde sie sich die Ohren zuhalten, wobei sie absichtlich gegen seinen Ellbogen stieß. Er sagte: »Ups!«, und platzierte seinen Arm auf der Sofalehne. Wenn sie den Kopf zurücklegte, streiften die Haare auf seinem Unterarm ihren Nacken.

»Gefällt dir der Film bisher?«, flüsterte sie und schloss die Lücke zwischen ihren Köpfen so weit, dass sie das Popcorn in seinem Atem riechen konnte.

»Er ist ziemlich vorhersehbar«, flüsterte er zurück.

Der Film plätscherte vor sich hin – dunkler Wald, verlassene Schuppen, Blut, das aus der Badewanne tropfte. Liza, Una und die Zwillinge fanden enormes Vergnügen daran, sich jedes Mal an die Jungs im Zimmer zu klammern, sobald der Mann mit der Kettensäge auftauchte. Ivy wagte es nicht, sich an Gideon zu klammern, doch sie rutschte unauffällig an ihn heran, bis sich ihre Knie berührten. Ein heißer Stromstoß durchfuhr ihren Körper. Gideon reagierte, indem er sein Bein gegen ihres drückte, warm und schwer, vom Schenkel bis zum Knöchel. Jetzt war er gekommen, der Moment, von dem sie drei Jahre lang geträumt hatte. Sie hielt die Augen auf den Bildschirm gerichtet, entschlossen, lässig zu wirken und ihn nicht mit einem Seitenblick in Verlegenheit zu bringen. Ab und zu spürte sie, wie sein Bein leicht zuckte und sich dann wieder gegen ihres drückte, als wolle er sie an seine Anwesenheit erinnern. Sie erwiderte den Druck, um zu zeigen, dass sie verstand. So blieben sie während der letzten Stunde des Films sitzen.

Als der Abspann lief, schaute Ivy mit rotem Gesicht vorsichtig zu Gideon hinüber, gespannt, was er nun sagen würde. Sie hätte das lieber nicht tun sollen. Gideons Kopf lag auf der Sofalehne, seine Augen waren geschlossen, sein Mund stand leicht offen. Er schlief tief und fest.

Nan war eine ängstliche Frau. Eine leichte Schläferin, wenn sie überhaupt ein Auge zutat. Ihre beiden Obsessionen waren Geld und die Gesundheit ihrer Familie. Die ganze Nacht über wurde sie von Sorgen gequält, dass Ivy Keime von schmutzigen Essstäbchen ableckte, Bauchweh von zu viel Eiscreme bekam oder unter einer zu dünnen Bettdecke in einem zu stark klimatisierten Haus bibberte. Ivy wäre schockiert gewesen, hätte sie gewusst, dass sie ihre übermäßige Fantasie wohl doch von ihrer Mutter geerbt hatte.

Bei Sonnenaufgang rüttelte Nan ihren Ehemann wach. »Ich glaube, wir sollten sie früh von diesem koreanischen Mädchen abholen«, drängte sie. »Ich wette, sie lag die ganze Nacht wach. Wir hätten sie nicht gehen lassen sollen.«