Die kleinste Berührung - Kitty Kino - E-Book

Die kleinste Berührung E-Book

Kitty Kino

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Beschreibung

Ein unerklärliches Phänomen hält die Welt in Atem. In diesen Chaos-Zeiten begegnen einander Ines und Albert, zwei Menschen, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Dennoch herrscht sofort eine außergewöhnlich starke Anziehungskraft zwischen den beiden, und bald wird ihnen klar, was dies bedeutet. Wird die gesamte Menschheit an dem Phänomen zugrunde gehen, oder führt das Schicksal den Planeten Erde in eine gänzlich andere Zukunft? Eine spannende, mit einem Hauch von Ironie gewürzte Auseinandersetzung der österreichischen Filmemacherin Kitty Kino mit einem erstaunlichen Gedankenspiel von niemandem Geringeren als Stephen W. Hawking.

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Seitenzahl: 332

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Eine Geschichte über Berührungsangst und Verschmelzungsfantatasien, angeregt durch einen ganz speziellen Warnhinweis von Stephen W. Hawking.

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

Das Ereignis

Die Begegnung

Die Aufforderung

Die Eskalation

Ahnungen

Die Überraschung

Die Nachricht

Das Weiterleben

Das Phänomen im Griff

Die Versuchung

Himmel oder Hölle

Das Beste für alle

Liebe sticht Freundschaft

Ein Schimmer Hoffnung

Die Zone

Ellis Plan

Die Schutzhaft

Now or Never

Die Abstoßung

Eine kleine Nachtmusik

Chancen

Zweifel und Sicherheit

Die Ruhe vor dem Sturm

Der Tag X

Der Tag danach

Der Schlussstrich

Die Reise

Jenseits des Taj Mahal

Das Ende dieser Welt

EPILOG

PROLOG

Vielleicht ist das Universum auch nur ein Mensch. Jeder Mensch ist schließlich ein eigenes Universum. Im Großen: Milliarden und Abermilliarden von Sternen, Sonnensystemen, Galaxien. Im Kleinen: Milliarden von Zellen, Molekülen, Atomen, Elektronen, Quarks. Doch genaugenommen, sowohl da als auch dort, hauptsächlich LEERE. Nichts als NICHTS. Wie entstand dann diese sichtbare, fühlbare, festgefügte Welt? Durch Ver-Dichtung? Entstand alles durch Dichtung?

Gedanken streunen, noch nicht greifbar, durch das Chaos. Eine Ahnung steigt aus der Tiefe auf, schwebt, matt schillernd wie eine Seifenblase, durch Sternennebel, vorbei an den Gefahren von Sonneneruptionen und der Anziehungskraft Schwarzer Löcher, sie steuert auf einen sandkorngroßen blauen Planeten zu, nähert sich diesem langsam, aber beständig.

Bald sind zwischen Wolkenschleiern Meere und Kontinente zu unterscheiden. Schneebedeckte Berge, mäandernde Flüsse, dichte Urwälder werden erkennbar, ebenso wie linealgerade Felder, pulsierende Verkehrsadern, Müll-, Blech- und Betonwüsten.

Die Ahnung wird zur Idee.

Ein großer Platz in der Abendsonne. Gestalten, klein wie Ameisen mit langen, dünnen Riesenschatten, hasten dahin, drängen vorbei, berühren einander flüchtig – Menschen.

Weiter, über ein Meer aus Sand – hin zu einer Wüstenstadt. Von einem Minarett aus ruft der Muezzin zum Gebet. Ein Schlangenkörper windet sich durch die engen Gassen eines orientalischen Basars. Händler stellen sich Passanten in den Weg, lotsen sie gestikulierend in ihre Geschäfte.

Menschen – eigenartige Wesen, die anscheinend nur zusammengepfercht, in dampfenden Städten existieren können. Sogar ihre Kinder toben fast nur auf abgetretenem Rasen oder zubetonierten Schulhöfen herum, obwohl es herrliche weite Landschaften auf diesem Planeten gibt.

Jubel und Aggression in einem Fußballstadion. Eine Welle aus Zuschauern wogt in den Tribünen, als wären diese streitbaren Individuen plötzlich zu einer flüssigen Seele verschmolzen – Menschen.

Auch um den Ruhepol heiliger Kühe pulsiert hektisches Leben. Buntbemalte Fahrzeuge verpesten lärmend die Luft. Menschentrauben hängen an überfüllten Zügen, sitzen eng gedrängt auf den Dächern klappriger Waggons. Die langen weißen Haare eines alten Bauern wehen im Fahrtwind mit dem Rauch der Dampflokomotive um die Wette.

Menschen – ihr Lärm und ihre Musik. Tanzende Körper in einem Karnevalsumzug. Spontane erotische Berührungen, Umarmungen, Küsse.

Menschen – schon mitten unter ihnen riecht man ihren Schweiß, ihr Parfum, ihre Freude, ihre Angst. Die Reise wird langsamer, die Idee wird konkreter, der Blick wird genauer …

1 Das Ereignis

Ein großes, strenges, graues Gebäude – ein Krankenhaus. Auch hier Menschen – anonym und zahlreich. Ein Krankenhaus ist ebenfalls ein Universum – eine ganz eigene Welt. Als Patienten verändern die Menschen ihren Gang, ihren Rhythmus, ihre Wichtigkeit. Sie werden zwar nie so wichtig sein wie die Ärzte oder so geschäftig wie die Schwestern, doch auch nicht so fremd und unsicher wie die Besucher, die mit Blumensträußen durch die Eingangshalle eilen, die Informationsstelle umlagern, den Weg zum Krankenbett suchen, schnell dort sein müssen oder es schnell hinter sich bringen wollen.

Nur die schlanke Frau im weißen Arbeitsmantel, die Eis essend durch die Halle schlendert, ist nicht so leicht einzuordnen. Ihre Art zu gehen ist anders, schöner, natürlicher. Ihren feinen Gesichtszügen kann sie locker jegliches Make-up ersparen, und ihre Haare – mit einer Klammer hochgesteckt – würden immer gut aussehen, jedes Mal: eine kurze, lässige Bewegung – klips – und perfekt.

Ines Tiefenbach ist Mitte dreißig und arbeitet in diesem Spital schon seit Längerem als Physiotherapeutin. Viele ihrer Kolleginnen und Kollegen, aber auch einige Patienten und Ärzte wüssten gerne, warum sie hier hängen bleibt, wo ihr doch eine gut ausgestattete Privatpraxis viel besser zu Gesicht stünde. Ihre Antwort ist jedes Mal nur ein verhaltenes, leicht wehmütiges Lächeln, aus dem niemand schlau werden kann, außer Elli, eine ihrer Kolleginnen, die zumindest glaubt zu wissen, was der Grund für Ines’ Understatement ist.

Nun hat Ines das Eis ausgelöffelt, blickt auf die hässliche Digitaluhr über dem Infostand und beschleunigt ihren Gang zur Liftanlage. Ihre Pause ist bald zu Ende, und der labyrinthische Weg zu ihrer Abteilung ist weit.

Und was die – immerhin sechs – Aufzüge betrifft, die sind jedes Mal eine Übung in Geduld und Gelassenheit, doch diesmal scheint Ines Glück zu haben.

Eine Lifttür öffnet sich. Dr. Wassmuth, schon von Weitem als Kapazität in Weiß zu erkennen, und eine schüchtern wirkende, schlecht gekleidete Besucherin mit ärmlichem Blumenstrauß betreten vor Ines die Kabine. Die Frau scheint nicht zu wissen, welches Stockwerk sie wählen muss, wodurch eine Verzögerung entsteht. Ines will die Gelegenheit nützen, ebenfalls einzusteigen, muss aber den Eisbecher noch rasch entsorgen. Im Gehen visiert sie einen Mistkübel an, trifft aber daneben, und während sie den Becher aufhebt, schließt sich die Lifttür mit gemütlicher Langsamkeit vor ihrer Nase. Dabei wird Ines gerade noch Zeugin eines seltsamen Anblicks: Ein unergründliches Lächeln flattert wie ein Schmetterling zwischen dem Primararzt und der Besucherin hin und her.

Ines steht noch einen Moment lang vor der geschlossenen Tür. Nein, das habe ich jetzt nicht gesehen, denkt sie. Der Gott-Chirurg und diese kleine graue Maus? Sie dreht sich kopfschüttelnd um die eigene Achse und sprintet die Treppe hinauf.

Inzwischen gleitet der Lift nach oben, Räder drehen sich, Seile vibrieren, Leuchtziffern zeigen Stockwerke an. Und in der Kabine verringert sich der Abstand zwischen Dr. Wassmuth und dieser namenlosen Frau mit den welkenden Blumen von Sekunde zu Sekunde …

Ines hat zwar eine gute Kondition, muss jetzt aber doch am vorletzten Treppenabsatz stehen bleiben, um zu verschnaufen. In ihrer Familie war Sport nur eine lästige Nebensache, aber immerhin, man musste sich fit halten für die wesentlichen Dinge im Leben – für das eine Wesentliche: die Musik.

Plötzlich: ein ohrenbetäubendes Dröhnen und ein giftiges Zischen aus dem Liftschacht.

Ines blickt erschrocken in Richtung der Geräusche.

Aus den Ritzen der Lifttür zucken weiße Blitze, und Qualm schlängelt sich hervor, wie die Arme eines Riesenkraken. Sekunden später schieben sich mit lautem Quietschen die Aluminiumplatten der Tür auseinander. Dahinter baumelt über dem Abgrund an angesengten Seilen ein qualmender, Funken sprühender Klumpen.

War dieses grauenhafte Gebilde, das aussieht wie der Kopf eines erhängten Riesen, vor Kurzem noch eine … nein, diese ganz bestimmte … Liftkabine?, schießt es Ines durch den Kopf, und eine eiskalte Dusche aus purem Adrenalin lässt sie sofort mit erstaunlicher Nüchternheit handeln: Sie hastet zur nächstgelegenen Alarmstation, zerschlägt ohne zu zögern das Glas und drückt den Alarmknopf. Eine Sirene schrillt durch das Gebäude …

Alberts Hände modellieren einen Frauentorso aus Tonerde. Das weiche, leicht formbare Material ist die Substanz, die später für den Gussabdruck dienen wird. Seine eher groben, tonverschmierten Finger tasten zärtlich über die prallen Rundungen seines Geschöpfs. Herumliegende Aktfotos aus billigen Heften und eigene, mit gutem Strich gezeichnete Bewegungsstudien dienen ihm als Vorlagen. Es klopft an der Tür. Albert schaut kurz von seiner Arbeit auf.

»Ja?«

Frau Ebenbauer betritt den Raum und stapelt wortlos Alberts Wäsche in verschiedene Laden eines altdeutschen Kastenungetüms, das sich in dem sonst karg eingerichteten Zimmer wie ein Alien ausnimmt und sicher nicht zu Albert Ritters spärlichem Besitz gehört. Dieser besteht neben seinen kleinen Kunstwerken, die überall achtlos herumstehen – stilisierte, rundliche Frauentorsi, vorwiegend in Bronze gegossen –, aus einem Arbeitstisch, einem reichlich breiten Bett und zwei Sesseln, einem Fahrrad, einem Surfbrett, seinem beruflichen Equipment und einigen nicht ausgepackten Umzugskartons, die Mila Ebenbauer mit dem ewig gleichen Missfallen umrundet.

Niemand von meinen Gästen will sich eingestehen, dass er meine Pension nicht so bald wieder verlassen wird, denkt sie dabei jedes Mal. Nur ein Provisorium, haben sie alle gedacht, in all den Jahren. Dass ich nicht lache!

Telefonläuten.

Albert schaut sich widerwillig nach seinem Handy um. Frau Ebenbauer entdeckt es vor ihm. Sie nimmt es mit spitzen Fingern, als hätte sie eine Maus gefangen, und reicht es Albert hin. Dann wendet sie sich wieder der Wäsche zu, lauscht dabei aber gespannt.

Albert meldet sich, in nicht gerade freudiger Erwartung: »Ritter … schon wieder? … und zwar wo? … ja klar … bin schon dort.«

Alberts Widerwille ist verflogen, er springt auf, reinigt seine Hände und greift hastig nach seiner speckigen Lederjacke. Die weiteren Handgriffe sitzen wie im Schlaf: die Tasche mit dem Equipment, die Akkus von den Ladestationen trennen und verstauen, die Kamera checken, auf die Schulter damit – und schon ist er zur Tür hinaus.

Viel zu rasch für Frau Ebenbauer, die doch unbedingt wissen muss, was denn schon wieder Entsetzliches passiert ist. Glücklicherweise stößt Albert auf dem schummrigen Gang der schon lange nicht mehr allzu bellen »Bel-Étage-Pension« beinahe mit Herrn Petkov zusammen. Der ältere russische Pensionsgast balanciert gerade seine übliche Tasse Nachmittagstee vor sich her.

Albert murmelt eine Entschuldigung und will rasch weiter, doch Petkov verfolgt ihn hartnäckig bis zur Eingangstür, hält ihn dabei sogar am Ärmel fest und löchert ihn in seinem besten, fast akzentfreien Deutsch mit einem Fragenstakkato: »Ah, Herr Ritter, immer im Einsatz … ist Es schon wieder passiert? Ist das schon Anfang von Weltuntergang? Was glauben Sie? Menschen machen das … oder Rache von Natur?«

Albert schaut eine Spur zu ruhig auf Petkovs Klammergriff. »Herr Patschkopf, ich verrate Ihnen was …«

Frau Ebenbauer hält sich dezent im Hintergrund, lauscht aber umso gespannter, und wie auf Kommando öffnen sich auch andere Türen vor neugierigen Ohren und Augen.

Petkov ist ebenso beleidigt wegen der Verunglimpfung seines guten, alten russischen Namens wie beglückt und in gespannter Erwartung durch die Gelegenheit auf die Insiderinformation: »Petkov, bitte … ja?«

»Es passiert …«, Albert macht eine bedeutungsschwangere Pause, »… jetzt! Wenn Sie Ihre Klebeln nicht sofort von meiner Jacke nehmen.«

Dabei schnappt er wie ein gereizter Wolf nach Petkovs Hand. Petkov zieht erschrocken seine Finger zurück und schüttet sich dabei den Tee auf den Schlafrock. Albert schmunzelt und schlägt ihm die Tür vor der Nase zu.

Petkov weinerlich: »So ein Rüpel, wirklich wahr!«

Mila Ebenbauer verbeißt sich einen Grinser. Sie liebt diesen Albert auf eine ganz eigene Weise. Wenn sie nur jünger wäre … Vielleicht glaubt es jetzt niemand mehr, aber sie war auf ihre Art früher einmal attraktiv, eine Gefahr für einige ihrer Gäste. Immer irgendwie zu dünn, zu ausgezehrt, mit Tränensäcken als Markenzeichen, aber sehr schönen dichten Haaren und einem Mund wie Jeanne Moreau. Sie spürt, dass Albert ihre Sexualität noch ahnt, sie nicht einfach nur als altes, geschlechtsloses Weib betrachtet. Jeder Blick von ihm – ein kleiner Kometenschauer durch ihre Bauchregion. Diese Momente überspielt sie stets mit besonderer Strenge, um nicht in völlig unpassende Koketterie zu verfallen.

Das Leben wird langweilig werden, wenn er einmal auszieht. Und er ist der Einzige ihrer Gäste, bei dem sie dies noch für sehr wahrscheinlich hält. Ab und zu bringt er eine Frau mit in sein Zimmer. Die meisten verabschiedet er noch in der gleichen Nacht. Manche sind aber anhänglich, wollen ihn sich schnappen, wollen gleich seine Wäsche zum Waschen mitnehmen oder seine Kunstwerke vermarkten.

Aber auf die Art können sie sich bei ihm nicht einschleimen, das weiß Frau Ebenbauer genau, da merkt er gleich, wie viel es geschlagen hat. Dann verzieht er beim Frühstück das Gesicht und murmelt Worte in sich hinein, wie: »Putzfee« oder »Wäschermädl« oder manchmal auch »Galeristin«. Dann nickt Mila ihm verschwörerisch zu und kann wieder aufatmen, dann weiß sie, dass es noch nicht so weit ist.

In letzter Zeit übernachtet er aber öfter auswärts. Das bedeutet schon eher Gefahr. Da hat eine der Damen womöglich eine sehr einladende Wohnung. Frau Ebenbauer wischt ihre Ängste beiseite: Albert will seine Ruhe. Außer für Sex braucht er keine Frau.

Inzwischen ist Albert die Treppe hinuntergestürmt und hat die Haustür aufgerissen.

Überraschung!

Seine Exfrau Christiane und sein kleiner Sohn Pauli stehen wie ein steinernes Mahnmal der Pflichterfüllung vor ihm. Albert bremst sich gerade noch ein, um die beiden nicht umzurennen: »Jessas, Pauli, auf dich hab ich ja …«

Er verschluckt das Wort »vergessen«, das will der Kleine jetzt ganz sicher nicht hören. Der schmächtige Bub sieht die Kamera auf Alberts Schulter und hat sofort Tränen in den Augen. In die peinliche Stille hinein wirft sich die Haustür mit unwirschem Knarren in Alberts Rücken und schubst ihn geradezu auf die Straße, über die Straße, hin zu seinem Auto. Die beiden folgen ihm auf den Fersen. Während er sein Equipment verstaut, muss er Pauli wenigstens nicht in die Augen schauen.

»Es … es ist zum Weinen«, presst er heraus, »aber ich muss … ich bin im Einsatz!«

Christiane atmet durch und lässt einen Aggressionsschub auf Albert los: »Das ist nicht zum Weinen, sondern zum Kotzen. Ich bin auch im Einsatz und zwar vierundzwanzig Stunden, dreihundertfünfundsechzig Mal. Da ist einmal in der Woche …«

Albert, der schon längst taub für Christianes Vorhaltungen ist, klappt sich auf Paulis Größe zusammen und wischt ihm verlegen die Tränen weg.

Der Kleine murmelt verschämt etwas von einem Staubkorn, das ihm in die Augen gekommen ist. Albert nickt und boxt ihm aufmunternd auf die Schulter.

»Aber wir holen das nach, morgen oder übermorgen, dann erzähl ich dir auch, was schon wieder Spannendes passiert ist.«

Pauli schaut ungläubig. Albert versinkt einen Moment lang in den großen, traurigen Kinderaugen. Sie sind das Schönste in dem komischen Gesichterl. Was hab ich bloß mit diesem schwachbrüstigen kleinen Weichling zu tun, diesem ewig ängstlichen, weinerlichen Bürscherl mit den farblosen, stumpfen Strubbelhaaren und den abstehenden Ohren? Sicher wird er tagtäglich gemobbt und geschubst, und ich bin nie da … wäre auch nicht gerne dabei. Will stolz sein können auf meinen Sohn, beim Sport oder so … wie andere Väter auch. Mein Sohn muss doch eigentlich ein Alpha-Typ sein. Wieso muss?, fragt sofort eine freche Gegenstimme in Alberts Kopf und er merkt, dass er sich selbst verwirrt.

Inzwischen hat Christiane weiter auf ihn eingeredet und mit Sicherheit keinen der üblichen Vorwürfe ausgelassen.

Fluchtreflex! Nur weg! Albert macht eine unbeholfene Entschuldigungsgeste, klemmt sich hinter das Steuer und legt einen Rallyestart hin.

Christiane und Pauli fallen in sich zusammen. »Verdammt, du blöde Kuh!«, schimpft Christianes innerer Kritiker. »Jedes Mal nimmst du dir ganz fest vor, die sanfte, anziehende, verständnisvolle Frau zu sein. Nicht nur irgendeine Frau, nein, seine Frau, der rettende Hafen, in den der verwirrte Mann nach einer mehr oder weniger unnötigen Odyssee auf jeden Fall zurückkehren wird.«

Christiane ist sich immer noch sicher, dass sie die beste, die vorbestimmte Frau für Albert ist. Das ist doch kein Zufall gewesen, dass sie schon beim ersten Mal von ihm schwanger geworden ist, damals. Also warum hüpfen ihr bloß immer wieder diese Vorwurfsfrösche aus dem Mund?

Und Pauli? Er ist sowieso überzeugt, dass es seine Schuld ist, dass der Papa nicht mehr bei ihnen wohnt. So ein Weichei wie ihn will keiner als Sohn. Und ganz besonders nicht sein Vater, der coole Superheld, der News-Kameramann, der auf allen Kriegsschauplätzen der Welt zuhause ist und immer schon der Angst eine lange Nase gezeigt hat – ganz sicher schon in Paulis Alter und noch früher.

»Komm, wir gehen Eis essen«, sagt Christiane tonlos und ist sich dabei nicht sicher, wer von ihnen beiden diese süße Tröstung gerade nötiger hat.

2 Die Begegnung

Die Gänge vor den Liftanlagen des Krankenhauses sind bereits mit gelb-schwarzen Plastikbändern gegen die Schaulustigen abgesperrt. Der Riesenkopf ist inzwischen abgekühlt und hat ausgependelt. Feuerwehr, Polizei, Ärzte, Sprengstoffexperten, Presse- und Fernsehleute sind am Ort des seltsamen Geschehens eingetroffen.

Ines kauert blass auf einer Bank, eine Decke liegt über ihren Schultern. Sie will es nicht zugeben, aber so ein Ereignis hautnah mitzuerleben, gerade noch dieser, genau dieser einen Liftkabine durch einen schlecht gezielten Eisbecherwurf entkommen zu sein – das schockt doch ziemlich, da kann der Verstand sagen, was er will, da hat der Körper seine eigenen Gesetze.

Also schlürft sie brav etwas Heißes aus einem Pappbecher und beobachtet dabei Peter Nemec, den gutaussehenden, dynamischen Krankenhausverwalter. Die richtige Persönlichkeit am richtigen Ort, denkt Ines mit einem Anflug von Sarkasmus. Die super Managerschulung ist nicht zu übersehen, und sicher belegt er immer noch jedes Jahr einige Seminare im Erfolgsleiterkraxeln. Ich muss ihn einmal fragen, ob er schon über glühende Kohlen gelaufen ist. Weiter kommt Ines nicht in ihren Überlegungen, denn nun lotst Peter Nemec fürsorglich einen Arzt zu ihr hin. Dieser leuchtet ihr in die Augen und misst ihren Puls. Ines windet sich, hält den Aufwand für unnötig und beschuldigt unterschwellig gereizt den Verwalter der Übereifrigkeit. Sie will aufstehen, doch Nemec drückt sie wieder auf die Bank und setzt sich zu ihr: »Was soll die Eile, kommen Sie doch erst einmal zu sich.« Das »Sie« in seiner Anrede wirkt dabei irgendwie unecht. Die beiden kennen einander näher, als sie nach außen hin zugeben wollen.

»Ich bin bei mir!«, erwidert Ines schroff, »und ich weiß, was ich gesehen habe!«

Nemec will ihre Argumente wegblödeln: »Machen S’ doch keine makabren Scherze!«

Er greift nach ihrer Hand, doch sie entzieht ihm diese zornig: »Das ist kein Scherz. Es war der Dr. Wassmuth und eine Besucherin. Mit Blumen!«

Nemec schüttelt den Kopf: »Die sind natürlich vorher ausgestiegen. Da war niemand drin, steht hundertprozentig fest. Außerdem, man würde das verkohlte Fleisch riechen.«

Ines verzieht angewidert das Gesicht: »Selber makaber.«

Sie blickt besorgt zur Liftkabine hin und spricht plötzlich nur mehr ganz leise weiter: »Aber irgendwas verheimlichen die uns doch … auch wenn man keine Leichen findet … alle diese Ereignisse … das ist doch …«

Nemec beugt sich zu ihr und geht auf ihren Flüsterton ein: »Schon wieder dieser Verfolgungswahn?«

Ines kontert mit aggressivem Unterton: »Schon wieder diese Arroganz?«

Sie dreht sich von Peter Nemec weg und wirft den Pappbecher mit zornigem Schwung in einen entfernten Mistkübel. Diesmal trifft sie.

Nemec lenkt ein: »Glauben Sie denn wirklich, dass sich die Selbstmordterroristen jetzt schon als harmlose Besucherinnen tarnen, ihre Bomben in Blumensträußen verstecken und es ausgerechnet auf einen Chirurgen in einem Krankenhaus abgesehen haben?«

Ines weiß nicht, was sie darauf erwidern soll. Aber wer weiß in Zeiten wie diesen schon, was man glauben soll oder wissen kann?

Nemec tätschelt ihre Hand, erhebt sich und stürzt sich wieder in die Arbeit.

Albert turnt mit seiner Kamera am Rande des Liftschachtes herum, um besonders eindrucksvolle Einstellungen von der verkohlten Liftkabine zu bekommen. Ossi, sein junger Assistent, hält ihn dabei am Gürtel fest.

Dr. Weber, der Redakteur des TV-Senders, für den die beiden arbeiten, schaut sich genervt nach Albert um und wogt dann mit seinem gummiartigen Gang auf ihn zu: »Herr Ritter, was sind das schon wieder für Spielereien? Mir rennen die Interviewpartner davon!«

Albert hört auf zu drehen, tauscht einen genervten Blick mit Ossi und steht langsam auf. Seine Bewegungen verraten, was er denkt: Für dich, du hirnlastiger Erzeuger von unfilmischen Kopfsalat-Berichten, nur keine unnötige Hast. Die wirklich wichtigen Dinge hat meine Kamera noch nie versäumt.

Albert kann Intellektuelle, wie diesen überlangen, zaundürren Leninbartträger mit Denkerstirn, nicht ausstehen. Sie sind ihm zu einseitig, sie stehlen der Welt die Sinnlichkeit. Sie sind überhaupt das Grundübel dieser Welt. Jawohl! Genau solche Journalisten wie dieser Dr. Weber, dieser Weberknecht!, kocht es in Albert hoch. Immer nur dieses Informationsgeschwätz, das nur aus Worthülsen besteht. Keiner von denen beherzigt das ewig gültige Gesetz, dass ein Bild mehr sagt als tausend Worte.

Der pfiffige Ossi bemerkt, dass es Zeit ist, seinen Boss aus dem Frustgegrübel zu holen. Er stupst ihn an und fragt gespielt genervt: »Und wo ist der Weberknecht jetzt wieder hin verschwunden?«

Beide halten Ausschau nach dem Redakteur, der irgendwo im Getümmel herumschusselt, um seinen Interviewpartner wiederzufinden. Albert kann nicht anders, er nimmt die Kamera wieder auf, um einen Schwenk über die Anwesenden zu drehen. Dabei erregt eine junge Frau im weißen Arbeitsmantel und mit einer Decke um die Schultern seine Aufmerksamkeit. Ines blickt gerade nachdenklich zur Liftkabine herüber, und Albert zoomt auf ihr interessantes Gesicht hin. Sie merkt, dass sie gefilmt wird, und schaut in das Objektiv. Albert nimmt die Kamera vom Auge, um sicherzugehen, dass er nicht in einen anderen Film geraten ist, und starrt Ines an.

Sie bleibt verwundert an seinem Blick hängen, und der unsichtbare Leitstrahl, der durch diesen Blickkontakt entstanden ist, zwingt sie dazu aufzustehen. Die Decke gleitet ihr von den Schultern, und beide gehen, wie magnetisch angezogen, ein paar Schritte aufeinander zu. Vielleicht haben ja nicht nur die Fledermäuse ein Radarsystem, ein Echolot. Für Albert wird die restliche Welt unscharf – für Ines vergeht sie in einem nie gehörten Klang.

Ossi beobachtet die Situation mit Erstaunen. Er blickt von Ines zu Albert, von Albert zu Ines und versucht diese Begegnung seines Chefs in eines der Unterfächer seiner Gedankenlade mit der Aufschrift Alberts Damenbekanntschaften einzureihen.

Da erscheint Dr. Weber am Treppenabsatz und wedelt mit seinen Spinnenarmen: »Herr Ritter, Ossi, also jetzt kommt’s doch endlich!«

Ossi zupft Albert am Ärmel: »He, Albert, der Weber … wir müssen …«

Albert schaut ihn verwirrt an. Wer ist der Knirps, und was will er? Ah ja, es ist Ossi. Ah ja, das wirkliche Leben! Und der Traum, gerade eben? Er blickt rasch wieder zu Ines hin, doch sie geht oder, besser gesagt, schwebt bereits den Gang hinunter und verschwindet hinter einer Schwingtür. Stopp!, schreit es in Albert. Können wir diese Szene bitte wiederholen? In Superzeitlupe mit dem 500er Tele!

Ossi setzt ein Grinsen auf, er ist überzeugt, nun doch den richtigen Zugang zu der seltsamen kleinen Begebenheit gefunden zu haben: »Wenn du mir eine Woche lang deine alte Kamera borgst, dann weißt du in fünf Minuten, wie sie heißt, was sie macht, wo sie wohnt, Telefonnummer, Familienstand, Schuhgröße, Lieblingsparfum, Hobbys, Stammlokal …!«

Albert drückt seinem Assistenten wortlos die Kamera in die Hand und folgt Ines.

Ossi ist perplex: »Ich darf? Aber was soll ich dem Weberknecht sagen?«

Albert, ohne sich noch einmal umzudrehen: »Dass mich der Blitz getroffen hat!«

Beunruhigend, denkt Ossi, das ist alles sehr beunruhigend. Kopfschüttelnd schiebt er den Riemen des Tonmixers zur Seite, nimmt die Kamera auf die Schulter und folgt dem Redakteur. Dabei entgeht ihm aber nicht, dass sogar die Stimme, die aus dem Lautsprecher tönt, einen beunruhigten Unterton angenommen hat:

»Herr Dr. Wassmuth, bitte dringend in den OP 17! Herr Dr. Wassmuth, bitte melden Sie sich! Herr Dr. Wassmuth, Notfall auf Station 17!«

Hinter der Schwingtür setzt sich der Gang zwar fort, doch Ines ist nicht mehr zu sehen. Albert verbeißt sich einen Fluch, denn er hört Schritte auf der Treppe zum nächsten Stockwerk. Als er in persönlicher Bestzeit oben angelangt ist, sieht er gerade noch einen weißen Kittel hinter einer der vielen Türen verschwinden. Albert geht näher und liest: Physiotherapie. Anmeldung nebenan. Und wie soll ich mich bei dir anmelden, wenn ich deinen Namen nicht weiß? Er versucht es am Türknauf, doch die Tür ist nur mit Codekarte zu öffnen.

Normalerweise würde Albert jetzt schon die Lust verlieren, das heißt, normalerweise hätte er Ossi die nötigen Informationen beschaffen lassen, um erst dann zu entscheiden, ob es sich lohnen würde. Scheiße! Was mache ich da? Wie lächerlich. Da öffnet sich die Tür, und eine Patientin im Rollstuhl wird von einer Schwester herausgeschoben. Albert hält hilfsbereit die Tür auf und verschwindet dann dahinter.

Vor ihm liegt ein großer Raum, der in mehrere Kojenreihen unterteilt ist. Hinter grünlich-weißen Vorhängen bewegen sich Schattengestalten. Das Bild erzeugt sofort Assoziationen in Alberts Gehirnwindungen: ein Labyrinth. Gefahr. Du verläufst dich, du verlierst dich! Er schüttelt den Kopf: Spinne ich? Sind meine Nerven schon so überreizt? Was ist denn so anders diesmal? Nichts. Er nickt sich selbst zu und schleicht durch die Reihen. Ines hat ihren Verfolger längst entdeckt, beobachtet ihn aus der Distanz und weicht ihm geschickt aus.

Albert späht hinter die Vorhänge auf eine ihm völlig fremde Welt: Maskengesichter hinter Dampfschwaden, Akupunkturnadeln, Heilerde-Packungen, heiße Wickel und viel nackte, aber meist nicht gerade schöne Haut, die in ölig massierenden Berührungen hin und her, auf und ab geschoben und geklopft wird. Wie entsetzlich abstoßend … und doch … vielleicht hilft hier irgendwer irgendwem … durch Berührung.

Helfen meine Berührungen auch?, schießt es Albert durch den Kopf. Was für ein blöder, unnötiger Gedanke!

Der Saal, in dem er sich befindet, scheint endlos zu sein. Oder findet Albert, der Verwirrte, schon nicht mehr aus dem Labyrinth heraus? Und der Knochenmann, dort am Ende des Ganges, ist der echt oder nur eine makabre Halluzination? Endlich glaubt Albert die Rätselhafte aufgespürt zu haben. Ein kurzer Blickkontakt – da öffnet sich eine Tür zwischen den beiden. Aus einem Turnsaal humpelt mühsam, auf Krücken gestützt, eine Gruppe Patienten und versperrt Albert den Weg.

Inzwischen ist Ines wieder verschwunden. In einem weiteren Labyrinth aus Gängen, Garderoben, Waschräumen und einem unübersichtlichen Fitness-Parcours geht das Katz-und-Maus-Spiel weiter, schließlich schneidet Albert Ines unwissentlich den Weg zum Belegschaftsraum ab. In die Enge getrieben, legt sie sich kurz entschlossen auf ein Behandlungsbett und wickelt sich in ein Leintuch ein. Endstation Mumie. Endlich Ruhe. Aus und vorbei, dieses kleine Spiel mit einem Fremden, mit dem sie sowieso nichts zu tun haben will. Doch von Ruhe keine Spur. Ines’ Herz hämmert lautstark bis zum Hals. Eine Nachwirkung vom Schock, versucht sie sich einzureden. Ich lasse mich doch nicht auf einen unrasierten Macho-Typen und Möchtegern-Frauenaufreißer ein. Der jagt doch mit Sicherheit jede …

Albert wird langsam klar, dass er dem Heimvorteil der Rätselhaften nichts mehr entgegensetzen kann. Widerwillig wendet er sich dem Ausgang zu, dabei fällt sein Blick auf einen verglasten Büroraum. Könnte er hier etwas erfahren? Vielleicht von dieser Vollbusigen, die sich dort drinnen gerade furchtbar am Telefon erregt?

»Wehe du schickst uns noch wen! Wir können keine Leute mehr übernehmen, wir sind restlos zu!«, behauptet Ines’ Kollegin Elli streng, um plötzlich stumm wie ein Fisch nach Luft zu schnappen. »Was? … Wieso? … Drei von euch verschwunden?! Echt?«

Sichtlich perplex wirft sie ihre etwas zu blondgesträhnte Mähne zurück und wird dabei auf Albert aufmerksam, der mit hilfesuchender Miene auf sie zukommt.

»Moment mal!« Elli legt den Hörer hin und beugt sich aus dem Fenster des Glaskobels. »He, hallo Sie! Was treiben Sie denn da? In Straßenschuhen noch dazu! Sie sind nicht aufgerufen worden! Also raus hier!«

Albert stottert nicht gerade schlagfertig: »Aber ich suche … ich habe einen Termin … bei … bei …«

»Bei … bei … bei?« Elli mustert den Kerl, den Typ, den ganzen Mann, amüsiert sich über seine Verwirrung und beginnt zu flirten: »Also, Termin haben Sie zwar keinen, aber …«

Albert registriert sofort seine Chance und setzt sein spezielles Lächeln auf: »Aber?«

Im Hintergrund wickelt sich Ines aus ihrer Verpackung und verfolgt, mit einem komischen Druck in der Herzgegend, das Geplänkel zwischen den beiden. Auch Körpersprache sagt mehr als viele Worte.

Elli, ganz Albert zugewandt, lässt ihn unter halb geschlossenen Augenlidern in lasziver Langsamkeit wissen: »Aber was nicht ist, kann ja noch werden …«

Ines kennt diesen Blick nur zu gut und weiß, dass Elli damit fast immer Erfolg hat. Auch Albert ist dieser Blick nicht fremd. Na klar!, denkt er. Warum geht das bei der schon wieder so leicht, und bei dieser anderen?

Er kramt pro forma in seinen Taschen. »Das wäre natürlich auch nicht schlecht, aber wissen Sie, es ist nämlich … ich wollt nur … zu Frau … ich hab mir den Namen irgendwo aufgeschrieben … naja, ich komme ein anderes Mal, auf Wiedersehen.«

Albert zieht sich zuerst langsam, dann immer rascher Richtung Ausgang zurück. Elli versucht es noch mit aufmunterndem Zwinkern, und ihre Stimme klingt plötzlich nicht mehr gelassen lasziv, sondern um einen Hauch zu gierig: »Na, wo Sie mich finden, wissen Sie ja jetzt.«

Die Tür fällt zu.

Ines nickt trotzig, als hätte sie nichts anderes erwartet.

3 Die Aufforderung

Dämmerung hat sich über die Stadt gelegt. Die Lichtstimmung mit den bizarren, rot gefärbten Wolken, den ersten Lichtkegeln von Autoscheinwerfern und Straßenlaternen wäre Albert üblicherweise einen tiefen Atemzug und eine Aufnahme für sein Archiv wert gewesen. Jetzt aber geht er mit ausgeschaltetem Blick auf sein Auto zu. Erst der große dunkle Schatten, der plötzlich über den Himmel schwappt, lässt ihn aufblicken. Hunderte Krähen lassen sich auf den Ästen der umliegenden Bäume nieder, und es scheint, als würden sie Albert mit ihren gekrächzten Dialogen vielstimmig verhöhnen. Krankenhäuser und Irrenanstalten an den Rändern der Stadt waren immer schon ihre Lieblingsnistplätze, und in dieser immer kranker und verrückter werdenden Welt fühlen sich die schwarzen Seelenfänger hierzulande schon ganzjährig wohl. Wird es jemals wieder besser werden, fragt sich Albert, und der Refrain des einzigen Gedichts aus dem Englischunterricht, das ihm gefallen hat, kommt ihm in den Sinn: Quoth the raven: Nevermore …

Der schrille Klingelton seines Handys reißt ihn aus der EdgarAllan-Poe-Stimmung. Ossi hat wie üblich mit seinem Zweitschlüssel die Kamera im Kofferraum von Alberts Wagen verstaut – eigentlich kein Grund für einen Anruf –, doch der Assistent will noch mehr loswerden: »Der Weberknecht war zwar zuerst sehr unwirsch über deinen Abgang, aber vorhin, im Schneideraum, war er ganz hin und weg über meinen messerscharfen, unverwackelten Kopfsalat.«

Albert weiß natürlich sofort, was der Kleine damit sagen will. »Er hat also auch deine hochkünstlerischen Einstellungen vom Geschehen nicht einmal ignoriert«, stellt er spöttisch fest. »Ja, hast du denn gedacht, du kannst den Kerl zum Filmfreak machen?«

Ossi zieht sich auf seine Standardfloskel zurück: »Na, wenn ich erst mal den Oscar gewinne …«

»Dann wird ein anderer Kameramann gequält werden, um dich zum Kopfsalat zu verarbeiten.«

Beide müssen lachen, und Albert hält das Gespräch für beendet, doch Ossi ist noch gar nicht beim eigentlichen Grund seines Anrufes angelangt: »Und?«

»Was, und?«

Natürlich ist Albert sofort klar, worauf Ossi, die Neugiernase, hinaus will, aber er lässt sich Zeit mit der Antwort. Eine Niederlage wird nicht eingestanden. Außerdem, was heißt Niederlage? Bald wird sie zu arbeiten aufhören, und er wird auf sie warten, dort drüben beim Würstelstand. Jawohl.

»Ich bleibe dran. Mehr ist im Moment nicht zu sagen. Danke und bis morgen.«

Am Würstelstand bestellt sich Albert eine Bratwurst und ein Bier. Während er auf seine Bestellung wartet, veranlassen ihn seltsame Zischgeräusche, zur Decke der Bude zu schauen. Dort hängt ein Gelsengriller. Schicksalsergeben flattern Gelsen und Motten auf das violette Licht zu und verbrennen daran. Was für eine Symbolik! Diese Einstellung würde sehr gut in einen melodramatischen Film passen, denkt Albert. Aber sie passt sicher nicht in die aktuelle Story, in der er sich die männliche Hauptrolle erhofft! Oder?

Mit dem Bier in der Hand bezieht Albert einen strategisch günstigen Platz, um den Eingang des Krankenhauses im Auge zu haben. Dabei blendet sein Hirn die Radiostimme aus, die in monotoner Reihenfolge Namen von vermissten Personen verliest. Gibt’s denn nur noch fade Sendungen?

Albert trinkt und lässt seine Gedanken wegdriften. Physiotherapeutin. Physiotherapeutinnen! Die eine, die kein Problem wäre … und die andere, mit dieser wie angeboren wirkenden Eleganz, diesen ernsten Augen … ist doch ganz klar, dass die nichts mit mir zu tun haben will. Da müsste ich schon der Kameramann von Tarkowskij oder Lars von Trier sein.

Albert lacht bitter in sich hinein. Er versucht sich vorzustellen, wie diese Frau sich vor ihm auszieht. Wie er seine Hose öffnet … in ihr Haar greift … sie vor ihm auf die Knie geht. Und dann: Zensur.

Er erlaubt sich nicht weiterzudenken. Das ist noch nie vorgekommen. Ausdenken wird man es sich doch noch dürfen. Aber eine innere Scheu hält ihn davor zurück. Ist dies so etwas wie Respekt? Oder einfach, weil es nie wahr werden wird? Niemals.

Quoth the raven: Nevermore …

Der Krähenschwarm erhebt sich und verweht wie ein feines Gespinst am nächtlichen Himmel.

»Süß oder scharf?«

Albert blickt verwirrt zum Würstelstandler hin und murmelt etwas von »scharf«. Pfff, pfff macht der Senf – was für ein unappetitliches Geräusch! Recht geschieht mir, denkt Albert, während er in die Wurst beißt und dabei den Pappteller nach der dazugehörigen Portion Humor absucht. Ein schriller Hupton lässt seinen Blick zum Eingang des Krankenhauses hinüberschnellen. Dort verlassen gerade die beiden Physiotherapeutinnen das Gebäude.

Sie wird abgeholt, schießt es Albert durch den Kopf. Natürlich! Sie hat einen Freund. Ist verheiratet. Ein unvermuteter Schmerz zuckt durch seinen Brustkorb. Doch da winkt die üppige Kollegin, die gerade noch mit ihm geflirtet hat, einem Autofahrer zu, verabschiedet sich von der anderen, steigt ein und fährt ab.

Und die Frau, die Albert auf so ungewöhnliche Art um den Verstand bringt, grüßt noch einige Kolleginnen und geht dann mit diesem aufrechten, fast schwebenden Gang, der sie so unerreichbar erscheinen lässt, die Straße hinunter. Sie trägt jetzt ein locker fallendes grünliches Kleid, eigentlich ein längeres, schmales Hemd, mit Hose darunter, indisch angehaucht, unauffällig, lässig und doch perfekt.

Gute Kostümbildnerin, denkt Albert, bevor ihm klar wird, dass er ja nicht im Kino sitzt. Er wischt sich über den Mund, zahlt hektisch, schwingt sich in sein Auto und nimmt die Verfolgung auf. Zuerst fährt er vorsichtig hinter, dann etwas kühner neben ihr her. Sie dreht sich zwar nicht zu ihm hin, scheint aber doch aus den Augenwinkeln zu merken, dass sie verfolgt wird, und beschleunigt ihr Tempo.

Zu Alberts Überraschung geht sie nicht auf ein schickes Auto zu, sondern auf eine U-Bahnstation, und er muss notgedrungen einparken.

In der Eingangshalle bleibt Ines stehen, schaut vorsichtig auf die Straße zurück, sieht, wie Albert aussteigt, und versteckt sich hinter einem Pfeiler. Und wieder muss sie sich dieses unnötige Herzklopfen eingestehen. Kann man das denn nicht ausschalten?

Plötzlich – in ihre Überlegungen hinein, was sie tun könnte, tun sollte, tun will – dringt ein infernalisches Zischen und Knallen aus dem unteren U-Bahnbereich. Sofort werden auch Schreie laut, gleich darauf übertönt vom Schrillen der Alarmsirenen. Ines hält sich die Ohren zu und drückt sich in die Nische. Nicht schon wieder, nicht schon wieder, murmelt sie dabei, das ist zu viel!

Ohne zu zögern, mehr oder weniger automatisch, greift Albert nach seiner Kamera und sprintet auf den Eingang zu, wo ihm bereits einige verstörte, geradezu panische Passanten entgegenkommen.

Ines sieht ihn vorbeieilen, vergisst auf ihre Deckung und geht ihm einige Schritte nach. Kaum zu glauben, wie sich dieser Typ ins Geschehen wirft! Wie er die Rolltreppe hinunterfährt und dabei die heraufflüchtenden Menschen filmt, bis er unten in Rauchschwaden verschwindet, während Ines Richtung Ausgang abgedrängt wird. Bei Alberts Auto bleibt sie stehen und schaut mit gemischten Gefühlen zur Station zurück. So ein abgebrühter Hund, dem ist einfach nichts mehr heilig, denkt sie. Der war sicher auf all diesen verdammten Katastrophen-Schauplätzen mit dabei – gefühllos und abgestumpft.

In den unteren Regionen der U-Bahnstation herrschen Panik und Chaos. Verschalungen und Kabelisolierungen brennen oder verschmoren mit beißendem Geruch, zerstörte Verteiler sprühen Funken, Leuchtstoffröhren zerplatzen, Rauchschwaden vernebeln die Gänge. Die letzten Passanten laufen auf die Rolltreppen zu, die mit dumpfem Stöhnen nach und nach den Dienst verweigern.

Albert bahnt sich seinen Weg weiter in die entgegengesetzte Richtung und filmt, im immer stärker flackernden Licht, was ihm vor die Linse kommt. Bald bleibt auch die letzte Rolltreppe stehen und alles versinkt im Dunkel. Da und dort blitzt noch ein Feuerzeug auf, wird eine Zeitung entzündet. Albert leuchtet mit seiner Notfalllampe den Bahnsteig ab. In der Mitte der U-Bahn-Garnitur klafft im Türbereich ein riesiges Loch, an den Rändern verkohlt, wie durch den Einschlag einer Handgranate. Albert atmet tief durch. Gleich werden ihm Sterbende, Verstümmelte, Leichenteile vor die Linse geraten. Ein Anblick, an den man sich niemals gewöhnt. Doch auch hier wieder keinerlei organische Spuren, nicht ein einziger Tropfen Blut! Und auch keine der für Explosionen üblichen Absplitterungen, nur hochenergetische Metall-Verschmelzungen, und nur an dieser einen Stelle. Etwas erleichtert sucht Albert die anderen Abteile des Zuges ab, doch die rätselhafte Frau scheint sich in Luft aufgelöst zu haben.

Bei einer Rückwärtsbewegung stolpert Albert über Beine. Sein Lichtkegel erfasst einen alten Straßenmusikanten, der auf dem Boden sitzt, sich verstört hinter seiner Ziehharmonika versteckt und »I bin net schuld« murmelt. Zur Untermalung von Alberts Schrecken gibt das Instrument auch noch einen jämmerlichen Quietschton von sich, danach wirken Stille und Dunkelheit besonders gespenstisch. Plötzlich einzelne Schritte und eine ängstliche Frauenstimme: »Franzi?«

Mit besorgtem, aber auch hoffnungsvollem Unterton antwortet eine Männerstimme: »Irmi? Irmi?«

Wieder die Frau, etwas lebhafter: »Franzi?«

Zwei Feuerzeuge flammen auf. Ein Mann und eine Frau kommen aufeinander zu. Albert nimmt sofort wieder seine Kamera auf und filmt die Begegnung im Schein seiner Lampe mit.

Der Mann starrt auf die Frau: »Oh, entschuldigen …«

Die Frau sinkt in sich zusammen: »Verzeihung.«

Die beiden wenden sich ab, rufen und suchen weiter, verschwinden in der Dunkelheit. Albert nimmt die Kamera vom Auge. Bald hört er nur noch das gespenstische Echo dieser verzweifelten Stimmen: Irmi!? – Franzi!?

Wohin sind diese beiden Gerufenen verschwunden? Wahrscheinlich sind sie längst oben und in Sicherheit. Doch seltsamerweise erinnern Albert diese Rufe an die eindringliche Stimme aus dem Radio, die diese endlos scheinende Liste an Namen von Vermissten verlesen hat. Was geht hier vor? Was treiben diese Terroristen? Und Terroristen sind es doch ganz sicher. Was treiben die für ein neues, infames Spiel? Was wollen die? Und wer steckt dahinter?

Das Sirenengeheul, das nun von oben zu Albert herab dringt, macht ihm bewusst, dass die übliche offizielle Meute im Anrollen ist. Er hat keine Lust, Fragen zu beantworten oder womöglich sein Material für Ermittlungen zur Verfügung stellen zu müssen. Das gehört sofort gesendet!

Also schnell raus hier. Raus? Und wenn SIE doch noch hier irgendwo ist? Verletzt, ohnmächtig womöglich. Tot!?

Albert zwingt sich seinen eigenen Grundsatz ins Gehirn: Eine gute Story hat Vorrang vor allen anderen Optionen dieser Welt. Er stolpert so rasch als möglich die nichtfunktionierende Rolltreppe hinauf, verbirgt seine Kamera so gut es geht unter seiner Lederjacke und zwängt sich zwischen den ankommenden Einsatzfahrzeugen durch, zu seinem Auto hin.

An der Windschutzscheibe steckt einen Zettel. Lautstark fluchend schnappt Albert das vermeintliche Strafmandat, sieht erst jetzt die handgeschriebenen Zeilen und erstarrt.

SIE hat ihn bemerkt, doch was hat das zu bedeuten?

Anscheinend liebt diese rätselhafte Grazie Versteckspiele. Aber ausgerechnet mit ihm? Albert führt die Notiz langsam an die Nase und zieht Ines’ Duft ein, nur – wo bleibt das Gefühl des Triumphs? Da sind nur Verwirrung und die unbestimmte Ahnung einer Bedrohung …

Albert ist nicht der Mann, der an Märchen glaubt. Seine Kindheit, sein Leben, seine Karriere glichen bis jetzt eher einer staubigen Landstraße mit vielen Schlaglöchern. Nach einem vorzeitigen Schulabbruch wegen Sauf- und Drogen-Exzessen und beständig wachsenden Autoritätsproblemen stellte ihn sein ebenfalls trinkende, kleinkriminelle Vater vor die Entscheidung, auszuziehen oder eine Lehre in einer Gießerei zu beginnen. Seltsamerweise gefiel Albert die Arbeit. Vor allem in der Abteilung für Kunstguss eröffnete sich ihm eine neue Welt. Einige der Künstler, die er dort kennenlernte, waren richtig klasse Typen, die dem jungen Lehrling einige schlichte Lebensweisheiten und einfache Wahrheiten über Kreativität in unprätentiöser Art vermittelten. Je anerkannter einer war, desto weniger sprach er über Kunst oder über sich als Künstler.

»Ich mach einfach nur meine Arbeit«, sagte zum Beispiel der, den Albert am meisten bewunderte. »Lern du das Handwerk, dann kommt das andere vielleicht auch dazu.«

Und als Albert anmerkte, dass er so gar nichts über Kunst wüsste, lachte der nur: »Was willst du über Kunst wissen? Wenn ein Künstler in dir steckt, dann wird er sich schon melden. Man muss nur schauen, schauen und reinlassen … ruhen lassen, entstehen lassen … und dann rauslassen.«

»Und die ganze Theorie, die Kunstgeschichte braucht man gar nicht?«, hatte Albert erstaunt gefragt.

»Naja, wenn du alles über Kunst weißt, ist das auch nicht schlecht. Dann kannst du darüber hinausgehen. Wenn du halbgebildet bist, machst du wahrscheinlich etwas, das schon da war. Dann wirst du ein Epigone. Aber wenn du nix weißt und nur in dich hineinhorchst, machst du womöglich etwas ganz Neues, weil dein Gemüt dann unbeschrieben ist.«

Das gefiel Albert sehr. Er fühlte sich anerkannt und ernst genommen und er liebte dieses Handwerk. Die Spannung, ob ein Guss gelingt. Die Vielfalt der Formen. Die Endgültigkeit.