Die Königin - Sebastian Conrad - E-Book

Die Königin E-Book

Sebastian Conrad

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Beschreibung

Eine Weltreise auf den Spuren der sagenhaften Königin  Ihre Entdeckung im ägyptischen Tell el-Armana war eine Sensation, ihre Präsentation 1924 in Berlin sorgte für Furore weit über Deutschland hinaus. Inzwischen reicht schon ihre Silhouette aus, und alle wissen, wer gemeint ist und wofür sie steht. Was aber ist der Grund dafür, dass die weltberühmte Büste der Nofretete heute an ganz unterschiedlichen Orten als Paradebeispiel für weibliche Schönheit verstanden wird? Und wie kommt es, dass Nofretetes Zauber mehr als drei Jahrtausende unbeschadet überstanden hat? Der Historiker Sebastian Conrad nimmt uns mit auf eine Reise in das alte Ägypten und die Welt der Pharaonen; er schildert, unter welch dubiosen Umständen die Büste im Zeitalter des Kolonialismus nach Berlin gelangte und wie seither um ihren Besitz gerungen wird. Seine weitgespannte historische Erzählung führt uns nicht nur nach Berlin und Kairo, sondern auch nach China, Indien und Brasilien, und wir erfahren, warum sich heute gerade Künstlerinnen wie Beyoncé und Rihanna als Wiedergängerinnen Nofretetes inszenieren.  

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Die Königin

Sebastian Conrad, geboren 1966 in Heidelberg, ist Professor für Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Geschichte von Kolonialismus und Postkolonialismus sowie die Geschichte Ostasiens und des historischen Denkens. Er hat in New York und Paris, Florenz und Tokio gelehrt und ist heute einer der international renommiertesten Vertreter der Globalgeschichte sowie Autor zahlreicher Bücher, darunter Deutsche Kolonialgeschichte und Globalgeschichte. Eine Einführung. 

Eine Weltreise auf den Spuren der sagenhaften Königin 

Ihre Entdeckung im ägyptischen Tell el-Armana war eine Sensation, ihre Präsentation 1924 in Berlin sorgte für Furore weit über Deutschland hinaus. Inzwischen reicht schon ihre Silhouette aus, und alle wissen, wer gemeint ist und wofür sie steht. Was aber ist der Grund dafür, dass die weltberühmte Büste der Nofretete heute an ganz unterschiedlichen Orten als Paradebeispiel für weibliche Schönheit verstanden wird? Und wie kommt es, dass Nofretetes Zauber mehr als drei Jahrtausende unbeschadet überstanden hat?

Der Historiker Sebastian Conrad nimmt uns mit auf eine Reise in das alte Ägypten und die Welt der Pharaonen; er schildert, unter welch dubiosen Umständen die Büste im Zeitalter des Kolonialismus nach Berlin gelangte und wie seither um ihren Besitz gerungen wird. Seine weitgespannte historische Erzählung führt uns nicht nur nach Berlin und Kairo, sondern auch nach China, Indien und Brasilien, und wir erfahren, warum sich heute gerade Künstlerinnen wie Beyoncé und Rihanna als Wiedergängerinnen Nofretetes inszenieren.  

Sebastian Conrad

Die Königin

Nofretetes globale Karriere

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Das Projekt wurde gefördert von der VolkswagenStiftung.

ISBN 978-3-8437-3163-8

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024

Alle Rechte vorbehalten

Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Lektorat: Christian Seeger

Karten: Peter Palm, Berlin

Umschlaggestaltung: Anzinger und Rasp, München

Umschlagbild: © Aiah Abdulwahhab

Foto des Autors: © Martin Funck, www.martinfunck.com

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Inhalt

Titelei

Das Buch

Titelseite

Impressum

 

Einleitung

I.   Entdeckung

Der Fund

Die umstrittene Fundteilung

Amarna in Berlin, 1913

Wer war Nofretete?

II.   Ausstellung

Nofretetes erster Auftritt, 1924

Mehr als nur Schönheit: Marketing und Sexualität

Faschismus und Demokratie

Zeitlosigkeit und Natur

Das weiße Ägypten

III.   Restitution

Ägyptische Ansprüche

Nofretete im Kalten Krieg

Das universale Museum

Revolution und Diktatur in Kairo

IV.   Nofretete global

Ägypten als Ursprung der globalen Moderne

Pyramiden in Mexiko, Hieroglyphen in China

Nofretete in Kalkutta und Rio de Janeiro

V.   Die afroamerikanische Nofretete

Ägypten in Afrika und der afrikanischen Diaspora

Nofretete wird Schwarz

Afrozentrismus

Afrozentrismus in der Schusslinie

Zwischen Empowerment und »Blackwashing«

VI.   Globalisierung, Restitution und Nofretetes Zukunft

Politik, Schönheit, Sex

Vom imperialen zum globalen Zeitalter

Vereinnahmung und Restitution

Epilog

Anhang

Dank

Quellen und Literatur

Bildteil

Anmerkungen

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Einleitung

Als die Popsängerin Beyoncé im April 2018 beim Coachella Valley Music and Arts Festival in Kalifornien auftrat, stilisierte sie sich als Wiedergängerin von Nofretete, der berühmten Königin aus dem antiken Ägypten, die längst zu einer globalen Ikone geworden war. Mit Beyoncé, einer der erfolgreichsten Popkünstlerinnen der Gegenwart, war zum ersten Mal eine afroamerikanische Frau als »Headline Act« des weltweit bekannten Festivals ausgewählt worden. Ihre Kostümierung passte gut zu diesem symbolischen Ereignis: Mit ihrem Bodysuit, einem langen Umhang und vor allem dem ikonischen Kopfschmuck stellte sie sich für alle sichtbar in die Tradition der antiken Königin. Sie evozierte damit das Bild einer mit großer Machtfülle ausgestatteten afrikanischen Frau, zugleich ein Symbol von »Black is beautiful«.1

Die Resonanz war überwältigend. Ein Millionenpublikum verfolgte Beyoncés Darbietung, die zur meistgesehenen Live-Performance in der Geschichte des YouTube-Kanals wurde; eine Netflix-Dokumentation folgte kurz danach. Die Sängerin begleitete ihren Auftritt mit der Veröffentlichung einer Kleiderkollektion, die ebenfalls von Nofretete inspiriert war. Noch im selben Jahr reiste sie gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Rapper Jay-Z, nach Berlin, um das Neue Museum zu besuchen und die Ikone im Original zu sehen. Der Raum wurde für normale Besucher geschlossen, während Beyoncé sich vor Nofretetes berühmter Büste fotografieren ließ. Auf Instagram postete sie ein Foto, auf dem ihr eigenes Gesicht in das von Nofretete einmontiert war. Angelehnt an die englische Bezeichnung der ägyptischen Königin (Nefertiti) gab sie dem Bild den Titel »NefertiBey«: die symbolische Verschmelzung zweier Celebrities.

Dass Beyoncé als Reinkarnation von Nofretete posierte, war keineswegs Zufall. Bereits im Jahr zuvor hatte der Künstler Awol Erizku sie als schwangere Venus fotografiert, mit einer Nofretete-Statue an ihrer Seite. Darüber hinaus hatte Beyoncé schon viele Jahre lang ihre Bühnenpersönlichkeit sowohl mit Symbolen des alten Ägyptens als auch mit ihrem Eintreten für Black Power verbunden. In ihrer berühmt gewordenen Halbzeitshow am Super-Bowl-Sonntag 2016 rief sie afroamerikanische Frauen zur Rebellion auf, nahm Bezug auf die Black-Lives-Matter-Bewegung und huldigte in ihrer Choreografie den Black Panthers, der legendären sozialistisch-revolutionären Bewegung der späten 1960er-Jahre.2 Im Jahr 2020 veröffentlichte sie den Musikfilm und das Visual Album Black Is King – mit dem erklärten Ziel, »die globale Wahrnehmung des Wortes ›Black‹ zu verändern«, indem sie es ausdrücklich mit »Schönheit« in Verbindung brachte.3 Für ihre Fans wurde Beyoncé durch ihr aktives Eintreten für Schwarze Kultur und Schwarze Schönheitsideale zu einer Vorkämpferin für die Ermächtigung Schwarzer Frauen.

Bereits neun Jahre vor Coachella hatte Beyoncé die antiken Stätten in Ägypten selbst besucht. Sie wurde von Zahi Hawass herumgeführt, dem damaligen Direktor der ägyptischen Altertümerverwaltung und somit Verantwortlichen für die antiken Sammlungen und Ausgrabungsstätten. Der charismatische, wenn auch umstrittene Archäologe hatte sich jahrzehntelang für die Rückgabe der Büste der Nofretete an Kairo eingesetzt. Er war der bekannteste Vertreter der Bemühungen des ägyptischen Staates, die Kontrolle über ein antikes Erbe wiederzugewinnen, das sich europäische und amerikanische Museen angeeignet hatten. Hawass und Beyoncé teilten die Faszination für die altägyptische Königin, und ihre jeweilige Agenda wies durchaus Gemeinsamkeiten auf: Beide distanzierten sich grundsätzlich von einer europäischen Tradition, die das alte Ägypten und auch Nofretete als Teil der Vorgeschichte des modernen Westens für sich vereinnahmt hatte. Für den Archäologen wie für die Sängerin versprach Nofretete überdies, westliche Schönheitsstandards und damit auch die Hierarchien der Kunstwelt infrage zu stellen. Und schließlich stellten sie die Ansprüche auf Eigentum an Kunstwerken in Zweifel, die noch auf das imperialistische Zeitalter zurückgehen.

Trotz dieser gemeinsamen Zielsetzungen verlief die Begegnung der beiden Prominenten alles andere als harmonisch. Hawass war rasch verärgert über das, was er Beyoncés »unhöfliches Verhalten« nannte, und untersagte der Sängerin die weitere Erkundung der antiken Stätten; er warf sie mehr oder weniger aus Ägypten heraus. Bei dem Konflikt handelte es sich jedoch um mehr als lediglich die Zerrüttung ihrer persönlichen Beziehung. Vielmehr spiegelte er die Tatsache wider, dass ihre Ansichten über das alte Ägypten, und über Nofretete im Besonderen, trotz ihrer gemeinsamen Kritik an eurozentrischen Standards letztlich auseinandergingen. Beyoncé berief sich explizit auf Nofretete als Schwarze Königin und Quelle der Inspiration für Afroamerikanerinnen. Für Hawass hingegen war Nofretete ein Produkt der pharaonischen Zivilisation und ein einzigartiges Symbol der ägyptischen Nation.

Es ist interessant, dass sowohl Beyoncé als auch Hawass sich das Image von Nofretete als globaler Ikone zunutze machten, das auf der ganzen Welt einen hohen Wiedererkennungswert hat. Seit ihrer Entdeckung im Jahr 1912 wurde Nofretete von den Europäern regelmäßig als zeitlose Schönheit dargestellt, deren Anziehungskraft mühelos die Jahrtausende überbrückte und auch ein zeitgenössisches Publikum ansprach. Im Zeitalter des Imperialismus wurde diese Vorstellung, die eng mit dem Diskurs der Zivilisation verbunden war, über die Grenzen Europas hinaus verbreitet und ist bis heute einflussreich geblieben. Vom bengalischen Dichter Rabindranath Tagore im Jahr 1913 (»O Schönheit, in Stein gemeißelt […] O unverrückbare Schönheit!«4) bis zum deutschen Kulturstaatsminister Bernd Neumann ein volles Jahrhundert später (»Wir sollten die Büste als Teil eines universellen Welterbes anerkennen«5) haben die unterschiedlichsten Kommentatoren Nofretete immer wieder als Sinnbild für die kulturellen Errungenschaften der gesamten Menschheit in Anspruch genommen.

Wie kann man diese weltweite Resonanz erklären? Meist reicht schon ihre Silhouette aus, und alle wissen, wer gemeint ist und wofür sie steht. Was ist der Grund dafür, dass Nofretete heute an ganz unterschiedlichen Orten – nicht nur in Kairo oder Berlin, sondern auch in Rio de Janeiro, in Houston oder in Kalkutta – als Paradebeispiel für weibliche Schönheit verstanden wird? Wie wurde aus einer antiken Königin eine globale Ikone der Gegenwart? Und damit verbunden: Wie kommt es, dass Nofretetes Zauber mehr als drei Jahrtausende offenbar unbeschadet überstanden hat? Das ist erklärungsbedürftig. Es ist schließlich mittlerweile ein Gemeinplatz, dass Schönheit nicht objektiv gegeben ist und dass sich ästhetische Vorstellungen über die Jahrhunderte hinweg immer wieder verändert haben. Schönheit, heißt es nicht zufällig, liegt im Auge des Betrachters.6

Immanuel Kant hat diese moderne Einsicht philosophisch ausgedrückt. Lange Zeit gingen viele Kulturen davon aus, dass Schönheit eine Eigenschaft von Menschen oder Dingen sei und auf dahinterliegende Werte verweise: auf Wahrheit, Tugend, Liebe oder auf göttliche Inspiration. Viele traditionelle Gesellschaften, sei es im pharaonischen Ägypten, im konfuzianischen China oder im antiken Griechenland, betrachteten Schönheit als Ausdruck einer moralischen Persönlichkeit, eines ethischen Lebens. In der christlichen Tradition wurde Schönheit als eine Kreation Gottes verstanden.7 Alle diese Vorstellungen stellte Kant auf den Kopf. Aufbauend auf Arbeiten von Edmund Burke und David Hume vertrat er die Auffassung, dass Dinge und Menschen nicht von sich aus schön sind, sondern vielmehr als angenehm empfunden und erlebt werden. Schönheit sei ein subjektives Empfinden, nicht eine objektive Gegebenheit. Das bedeutete jedoch nicht, dass das, was als schön angesehen wurde, völlig willkürlich war. Stattdessen sprach Kant von »subjektiver Universalität«. Damit meinte er, dass individuelle Urteile auch andere ansprechen müssten und möglicherweise von einer größeren Gemeinschaft geteilt werden könnten.8

Vor diesem Hintergrund stellt sich also die Frage mit besonderer Dringlichkeit: Wie konnte Nofretete über Raum und Zeit hinweg als Verkörperung eines ästhetischen Standards wahrgenommen werden? Sie stellt sich umso mehr, als unterschiedliche Betrachter und Betrachterinnen – wie wir am Beispiel von Beyoncé und Hawass gesehen haben – ganz verschiedene ästhetische Vorstellungen im Kopf haben konnten, wenn sie Nofretetes Schönheit priesen. Und selbst wenn es zunächst wie ein Widerspruch klingen mag: Diese beiden gegenläufigen Aspekte hängen eng zusammen. Denn je weiter Nofretetes Bild Verbreitung fand, desto mehr wurde sie mit ganz unterschiedlichen Interessen verbunden; und je diverser die Anliegen waren, für die sie eingespannt wurde, desto mehr verfestigte sich der Eindruck, dass sie tatsächlich weltweit Resonanz fand und Wirkung erzeugte.

Die Globalisierung von Schönheitsidealen wird häufig als Produkt eines unerbittlichen Prozesses der Verwestlichung verstanden, als eine Form des Kulturimperialismus, der Bleichcreme und blonde, blauäugige Barbiepuppen noch in die entlegensten Winkel der Welt gebracht hat.9 Im Gegensatz dazu inszenierten sowohl Beyoncé als auch Zahi Hawass Nofretete dezidiert als Gegenpol, als eine Ikone nicht-westlicher Schönheit. Sie mobilisierten das Bild der ägyptischen Königin als wirkmächtiges Gegenmodell zu den vorherrschenden westlichen Normen in der Schönheitsindustrie und im öffentlichen Raum. Doch so widersprüchlich sie auch erscheinen mögen, letztlich ergänzen sich beide Sichtweisen: Wer Nofretete in den Dienst einer bestimmten Gruppe stellen will, profitiert von ihrem Ruf als globale Ikone; ihre Universalität wiederum beruht auf ihrer Aneignung in ganz unterschiedlichen Kontexten.

Nofretetes moderne Karriere führt uns zu unerwarteten Schauplätzen in Asien, Afrika und den beiden Amerikas. Zwar kommt ihr in Deutschland, Ägypten und der afrikanischen Diaspora in den USA eine besondere Bedeutung zu, aber wie wir sehen werden, spielt sie auch in Mexiko und Brasilien, in Nigeria, China oder Indien eine Rolle. Sie ist weltweit ein Teil der gelehrten Ägyptenbegeisterung des gebildeten Bürgertums und zugleich eine Ikone der Popkultur. Nofretetes globale Präsenz bringt daher immer wieder überraschende Einsichten hervor und ist für sich genommen eine faszinierende Geschichte.

Zugleich weist Nofretetes Geschichte aber auch über sich hinaus. Sie erlaubt wichtige Einblicke in die Art und Weise, wie die Globalisierung kulturelle Normen und ästhetische Wahrnehmungen in verschiedenen Teilen der Welt beeinflusst hat.10 Wenn wir Nofretetes Spuren auf dem Planeten folgen, lernen wir verstehen, wie kulturelle Globalisierung funktioniert. In der ersten Globalisierungseuphorie der 1990er-Jahre gingen viele Kommentatoren und Kommentatorinnen davon aus, dass die kulturelle Annäherung unterschiedlicher Gesellschaften nur eine Frage der Zeit sein würde. Inzwischen ist deutlich geworden, dass die ökonomische Integration der Welt zwar immer weiter voranschreitet, die kulturelle Integration jedoch ganz unterschiedliche Effekte hat und auch neue Brüche und Konflikte hervorbringt. Nofretete ist ein Musterbeispiel für den dialektischen Prozess, durch den globale Bezugspunkte gleichzeitig geschaffen und infrage gestellt werden.

Ihre breite Rezeption wurde dabei durch die Medienrevolution begünstigt, die ihr Bild – in Form von Kopien, Fotografien und Filmen – weltweit verfügbar macht. Walter Benjamin hat die These aufgestellt, dass sich die Bedeutung eines Kunstwerks durch seine mechanische Reproduktion verändert. Er kam zu dem Schluss, dass die Aura der Authentizität eines Bildes zwangsläufig unter seiner Vervielfältigung leidet.11 Das Beispiel der Nofretete illustriert jedoch noch einen anderen Aspekt: Wie wir sehen werden, haben die zahlreichen Repliken und Nachahmungen nicht nur ihre Anziehungskraft erhöht, sondern interessanterweise auch die Ansprüche auf Authentizität vervielfacht: eine deutsche, ägyptische, afroamerikanische etc. Nofretete. Sie repräsentiert die Ideale, Gefühle und Bestrebungen ganz verschiedener Gemeinschaften. Durch ihre räumliche Verbreitung wurde sie zu einer Ikone, die transnational lesbar ist, während sie gleichzeitig für unterschiedliche Ziele mobilisiert werden kann.12

Für einen Autor, der selbst in Berlin lebt, und für ein deutsches Publikum hat die globale Geschichte der Nofretete eine besondere Bedeutung. Das Berliner Ägyptische Museum hat sich ebenso wie sämtliche deutschen Regierungen durchgängig auf den Standpunkt gestellt, dass die Büste der Nofretete unveräußerliches deutsches Eigentum ist. Das war – und ist – in erster Linie ein juristischer Standpunkt, der sich auf »die Buchstaben des Gesetzes« beruft. Das heißt im Klartext, dass man auf die Regelungen verweist, die zwischen Ägypten und den europäischen Mächten in der Hochphase des Imperialismus festgelegt worden waren. Diese Regelungen – denen heutzutage keine ägyptische Regierung mehr zustimmen würde – waren das Produkt sehr ungleicher Machtverhältnisse. Wer sich heute unreflektiert auf sie beruft, schreibt diese unrühmliche Geschichte im Grunde fort.

Das rechtliche Argument ist also die eine Stütze, die das Eigentum an der Büste legitimieren soll. Die andere Stütze sind kulturelle Besitzansprüche. Nofretete ist durch die moderne Rezeption für viele Menschen in Europa zu einem Teil des kulturellen Erbes des Abendlandes geworden. In dieser Lesart steht die ägyptische Königin am Ausgangspunkt der westlichen Moderne. Wie wir im Folgenden sehen werden, war diese doppelte – juristische und kulturelle – Aneignung nur möglich, weil der koloniale und imperiale Kontext, in dem dieses Narrativ entstanden ist, systematisch ausgeblendet wurde. Auf diese Weise hat man in Deutschland lange Zeit sowohl die eurozentrische Vorstellung von den ägyptischen Wurzeln der Moderne als auch das Recht Berlins auf den materiellen Besitz der Nofretete-Büste für selbstverständlich gehalten.

Wie die Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie in einem millionenfach angesehenen TED-Talk anschaulich gezeigt hat, führt die Dominanz einer »einzigen Geschichte« zu gefährlichen Missverständnissen. Die Gegenwart, zeigt sie, ist nicht das Ergebnis einer einheitlichen, auf die Jetztzeit zulaufenden Entwicklung, sondern das Produkt von sich überlagernden, miteinander im Austausch stehenden Geschichten und Narrativen.13 Diese Vielfalt gilt es, wieder zur Geltung zu bringen. Dieses Buch will daher die globale Karriere der Nofretete nachzeichnen, eine Karriere, die aus vielen Geschichten besteht, die sich zu einem globalen Panorama summieren.

Diese Pluralität der Geschichten bringt mit sich, dass viele Akteure ganz Unterschiedliches assoziierten, wenn sie von Nofretete sprachen. Dies konnte selbst dann der Fall sein, wenn sie ähnliche Worte und Begriffe benutzten, deren Bedeutung sich jedoch je nach Zeit und Ort unterschied. Wenn etwa von Nofretetes Schönheit die Rede war, dann meinten nicht alle dasselbe: Die Beschreibungen variierten zwischen kühl und aufreizend, herrschaftlich und devot. Nofretetes Ikonen-Status machte es möglich, ganz unterschiedliche ästhetische Ideale mit ihr zu verbinden und auf sie zu projizieren.

Das gilt nicht zuletzt für die Verbindung Nofretetes mit rassifizierenden Kategorien. Immer wieder haben Akteure sie als Schwarz, weiß oder spezifisch ägyptisch bezeichnet und damit für unterschiedliche Gruppen und politische Projekte vereinnahmt. Heute ist Konsens, dass es für die Annahme unterschiedlicher »Rassen« keine wissenschaftliche Grundlage gibt. Wenn sich Menschen als Schwarz bezeichnen, dann nicht aufgrund biologischer Gemeinsamkeiten, sondern aufgrund ähnlicher Erfahrungen rassistischer Diskriminierung. Das heißt auch, dass Begriffe wie Schwarz und weiß nicht die Hautfarbe bezeichnen, sondern gesellschaftliche Zugehörigkeiten – auch wenn Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe Erfahrungen mit Benachteiligung und Rassismus machen. Vereinfacht gesagt: Es gibt nicht unterschiedliche »Rassen«, die rassistische Reaktionen auslösen; vielmehr sind es rassistische Ideologien und Praktiken, die die Vorstellung, es gäbe unterschiedliche »Rassen«, überhaupt erst hervorrufen.14

Im Folgenden wird daher Schwarz, als Zuschreibung auf der Basis von gesellschaftlichen Zugehörigkeiten, großgeschrieben. Aber auch mit weiß ist eine Ideologie gemeint, auf der die dominante Kultur beruht. Es beschreibt also nicht Hautfarbe oder Abstammung, sondern gesellschaftliche Positionen, die mit Macht und der Möglichkeit, Standards zu setzen, verbunden sind. Auch wenn über Rassismus häufig innerhalb von Gesellschaften gesprochen wird, operieren diese Zuschreibungen doch immer im Rahmen einer globalen Ordnung.15

Allerdings ist dieses Verständnis ein Ergebnis der Debatten unserer Zeit – und es hat sich selbst heute noch nicht überall durchgesetzt. Im Laufe des 20. Jahrhunderts und bis in die Gegenwart hinein verwendeten Akteure die Begriffe »schwarz« und »weiß« auf unterschiedliche Weise.16 Häufig wurden damit Unterschiede der Herkunft, Hautfarbe oder Ethnizität bezeichnet. Insbesondere die Gleichsetzung von »schwarz« mit Hautfarbe und Phänotyp war weit verbreitet; in diesen Fällen habe ich die kleine Schreibweise beibehalten. Diese unterschiedliche Verwendung wird uns auch in den Zitaten auf den folgenden Seiten immer wieder begegnen. Schon die Kontroverse zwischen Beyoncé und Zahi Hawass macht deutlich, dass Unterschiedliches gemeint war, wenn sie die Bezeichnung von Nofretete als »black« propagierten oder ablehnten. Und dennoch ist es gerade diese Vielzahl (und Widersprüchlichkeit) der Vereinnahmungen, die aus Nofretete die globale Ikone gemacht hat, die wir heute kennen.

I.   Entdeckung

Der Fund

Einige der größten Entdeckungen wurden von Menschen gemacht, die die Geschichte vergessen hat. Wer erinnert sich noch an Rodrigo de Triana, den spanischen Seefahrer, der 1492 von Kolumbus’ Schiff aus zum ersten Mal unbekanntes Land sichtete? Wer kennt Pablito Alvarez, den elfjährigen Jungen, der Hiram Bingham 1911 zu den Ruinen von Machu Picchu führte? Ein ähnliches Schicksal war auch Muhammad Ahmad al-Sanusi beschieden. Er gehörte zu einem deutschen Ausgrabungsteam, das von Ludwig Borchardt geleitet wurde, dem Gründer und Leiter des Kaiserlich Deutschen Instituts für Ägyptische Altertumskunde in Kairo.17 Das Team hatte 1911 mit Ausgrabungen in Amarna am Ostufer des Nils in Mittelägypten begonnen.18

Am 6. Dezember 1912 begann al-Sanusi damit, den Schutt zu durchsuchen, der Raum 19 der Ruinen der Stadt Amarna bedeckte. Da sich die Trümmer mehr als einen Meter hoch auftürmten, begann er mit einer kleinen Axt, ging dann aber behutsam mit bloßen Händen vor. Außerhalb des Raumes standen die deutschen Professoren in ihren Anzügen und warteten gespannt darauf, was er zutage fördern würde. Al-Sanusi enttäuschte sie nicht: Er stieß zunächst auf eine Reihe von Fragmenten und Gegenständen aus der Zeit Echnatons, des ägyptischen Pharaos, der vor mehr als 3000 Jahren herrschte. Er grub weiter, und nachdem er nur sehr langsam vorankam, wurde er schließlich fündig. Er entdeckte ein 48 Zentimeter hohes und 20 Kilogramm schweres Kunstwerk, das fast vollständig erhalten war und im Laufe der Zeit zu einem der berühmtesten Kunstobjekte der Welt werden sollte: die Büste von Echnatons Frau, der Königin Nofretete. Die Ikone der Schönheit.

Nachdem al-Sanusi das Objekt an Ludwig Borchardt übergeben hatte, wurde ein Foto gemacht. Es zeigt einen Ägypter, der die Skulptur in der Hand hält, neben zwei deutschen Wissenschaftlern. Das Bild hält den kollektiven Charakter der Entdeckung – die sich nicht auf die heroische Leistung eines Einzelnen reduzieren lässt – fest. Seitdem wird die Entdeckung der Büste jedoch ausschließlich Borchardt zugeschrieben. Auch wenn Borchardt nie den Bekanntheitsgrad anderer berühmter Ägyptologen – etwa Flinders Petrie oder Howard Carter – erreichen sollte, bleibt Nofretete mit seinem Namen verbunden. Muhammad Ahmad al-Sanusi hingegen hat nie Eingang in die Geschichtsbücher gefunden. In manchen Darstellungen der Fundgeschichte wird er als der lokale Arbeiter genannt, der zufällig die Büste entdeckte – wenn er überhaupt Erwähnung findet.

Al-Sanusi teilt damit das Schicksal der zahllosen ägyptischen Arbeiter, die die eigentliche Ausgrabungsarbeit leisteten, um dann von den Erzählungen über heldenhafte europäische Entdecker und ihre Ruhmestaten in den Hintergrund gedrängt zu werden. Dass der Fund der Nofretete etwas Besonderes war, erschloss sich jedoch auch den Arbeitern vor Ort. Einer von ihnen, Abu al-Hassan Muhammad, dichtete am Tag nach der Entdeckung ein »Freudenlied«. Die Arbeiter sangen häufig rhythmisch akzentuierte Lieder, die ihnen die schwere und meist eintönige Arbeit unter der heißen Sonne erträglicher machen sollten. Ludwig Borchardt hat das Lied in seinem Grabungsbericht in deutscher Übersetzung wiedergegeben – wobei er sich nicht verkneifen konnte anzumerken, dass der »kleine Gelegenheitsdichter […] die Feinheiten arabischer Grammatik und Metrik durchaus mißachtet« habe:

Da bringt der Kerl ’ne StatueUnd wieder bringt er ’ne Statue.Seit gestern schon ist er vergnügt,So Gott will, täglich vergnügt.O Gott! O Gott! Diese Statue!Und wieder: schön ist die Statue!Gern finden wir täglich ’ne StatueDann ist der Doktor vergnügt.

19

Und vergnügt war der »Doktor« – gemeint war natürlich Borchardt – in der Tat. Er erkannte sofort, wie bedeutend und außergewöhnlich der Fund war. Seine erste Beschreibung im Grabungsjournal legte den Grundstein für das spätere Narrativ von der zeitlosen Schönheit: »Lebensgroße bemalte Büste der Königin, 47 cm hoch. Mit der oben gerade abgeschnittenen blauen Perücke, die auf halber Höhe noch ein umgelegtes Band hat. Farben wie eben aufgelegt. Arbeit ganz hervorragend.« In der Tat war sie so bemerkenswert, dass ihm die Worte fehlten: »Beschreiben nützt nichts, ansehen!«20 Der Wert des Objekts schien über jeden Zweifel erhaben. Borchardt ließ es bewachen und sorgte dafür, dass niemand es zu sehen bekam, denn die Gefahr durch Grabräuber war allgegenwärtig. Die Aufregung war ansteckend. Borchardts Kollege Hermann Ranke gestand später, dass er, um die schöne Königin zu beschützen, »mit der Büste in einem Zelt schlief«.21

Abb. 1: Borchardts Eintrag im Grabungstagebuch, 6. Dezember 1912: »Arbeit ganz hervorragend. Beschreiben nützt nichts, ansehen.«

© bpk, Ägyptisches Museum und Papyrussammlung, SMB

Die umstrittene Fundteilung

Seit ihrer Entdeckung ist die Büste in deutschem Besitz geblieben. Wie kam es dazu? Anders als heute, wo es strenge Regeln gegen die Ausfuhr wichtiger Kulturgüter gibt, geschah die Entdeckung der Nofretete-Büste auf dem Höhepunkt des imperialistischen Zeitalters. Überhaupt lässt sich die Geschichte der Ausgrabung, Entdeckung und Inbesitznahme der Büste nur vor dem Hintergrund der imperialistischen Machtverhältnisse zu Beginn des 20. Jahrhunderts verstehen. Dieser Hintergrund wird in vielen Darstellungen vernachlässigt. Meist wird das Thema gar nicht angesprochen und argumentiert, dass das Deutsche Kaiserreich in Ägypten ja nicht als Kolonialmacht aufgetreten sei. Der Fund der Nofretete erscheint dann als Ergebnis wissenschaftlicher Neugier, als ein Meilenstein der deutschen Archäologie. Aber das ist eine verkürzte Lesart. Es lohnt sich daher, den größeren Zusammenhang kurz auszuleuchten, in dem die Ausgrabung und Inbesitznahme der Büste überhaupt möglich wurden. Dieser Hintergrund ist nicht zuletzt auch für eine Einordnung der gegenwärtigen Debatten über die Rückgabe von Kulturgütern von Belang.

Der Begriff des Imperialismus legt üblicherweise eine saubere Trennung von Kolonisator und Kolonisierten, von Mächtigen und Unterdrückten nahe. Die Situation in Ägypten war jedoch sehr viel unübersichtlicher und komplizierter. Die deutsche Expedition entlang des Nils war Teil einer imperialen Situation, die in ihrer Komplexität ihresgleichen sucht. Ägypten war seit dem 16. Jahrhundert Teil des Osmanischen Reiches. Die Invasion Napoleons, der 1798 in Ägypten landete und dessen Truppen erst 1801 von den Briten aus dem Land vertrieben wurden, erschütterte die Vorherrschaft der Osmanen jedoch nachhaltig. In der Folge etablierte sich eine neue Dynastie, die sich bis zur Machtübernahme durch Gamal Abdel Nasser im Jahr 1952 halten sollte. Ihr Begründer, Muhammad Ali Pascha, regierte von 1805 bis 1848 und setzte ein umfassendes Modernisierungsprogramm in Gang, das Ägypten vor europäischen Übergriffen schützen und zugleich den Einfluss Konstantinopels – formal blieb Ägypten osmanische Provinz – zurückdrängen sollte.

Die Modernisierungspolitik, die Ägypten im 19. Jahrhundert verfolgte, zielte vor allem auf eine Zentralisierung des Staates und die Aufrüstung der Armee, aber auch auf eine Landreform und erste Ansätze einer Industrialisierung. Es handelte sich um ein konzertiertes Projekt der Staatsbildung, das fast das gesamte Land als Staatseigentum beanspruchte, ein staatliches Monopol auf Landwirtschaft und Industrie errichtete und einen Großteil der Bevölkerung zwangsrekrutierte, um die Armee zu modernisieren und zum Aufbau eines neuen Reiches beizutragen. Die Eingliederung Ägyptens in die moderne Weltwirtschaft geschah jedoch in erster Linie durch die Baumwollproduktion, die das Land auf gewaltsame Weise veränderte: Die vielen lokalen Netzwerke landwirtschaftlicher Erzeugung wurden durch eine halbindustrielle Plantagenwirtschaft ersetzt, die für den Export produzierte.22

Entgegen ihrer Absicht führte die Modernisierungspolitik jedoch dazu, dass sich die Abhängigkeit von den europäischen Mächten nicht verringerte, sondern sogar zunahm. Ägypten wurde von westlichen Experten, westlichem Kapital und den westlichen Absatzmärkten für die Baumwolle abhängig. Als das Land in den 1870er-Jahren zahlungsunfähig wurde und der Staatsbankrott bevorstand, griffen die Großmächte ein. 1876 wurde eine internationale Schuldenverwaltung eingerichtet; englische und französische Experten wurden als Minister in die Regierung berufen. Einen Aufstand, der sich gegen den zunehmenden westlichen Einfluss richtete, nahm London 1882 zum Anlass, zu intervenieren und Ägypten zu einem britischen De-facto-Protektorat zu machen. Formal blieb das Land weiterhin eine Provinz des Osmanischen Reiches, aber in der Praxis wurde Ägypten fortan von einem britischen Generalkonsul regiert, der das Land wie eine Kolonie behandelte. In der Staatsverwaltung waren drei Viertel der höheren Posten von Briten oder anderen Europäern besetzt.23 Die britische Kontrolle stellte nicht zuletzt sicher, dass immer größere Teile des nutzbaren Bodens für den Anbau von Baumwolle bereitgestellt wurden, die dann in den englischen Textilfabriken verarbeitet wurde.24

Was hat all dies mit Nofretete zu tun? Nun, die zunehmende imperiale Durchdringung des Landes am Nil hatte auch ganz konkrete Folgen für europäische Archäologen und ihre Grabungsvorhaben. Die Verwaltung der antiken Monumente und archäologischen Stätten stand fortan unter europäischer Kontrolle. Auch die Ausgrabungsbedingungen änderten sich grundlegend: Die Finanzierung von Grabungen, die Rekrutierung von Tausenden von ägyptischen Arbeitern, die Regeln für den Umgang mit den Funden: All das war nunmehr geprägt von imperialen Machtverhältnissen.

Um mit dem ersten Punkt zu beginnen: Die komplizierte Architektur der Machtverhältnisse – Osmanisches Reich, Großbritannien, Ägypten – wurde durch eine weitere Ebene der Souveränität ergänzt, da wichtige staatliche Einrichtungen von Vertretern anderer europäischer Länder geleitet wurden. Dazu zählte auch der 1858 auf Vorschlag des französischen Ägyptologen Auguste Mariette gegründete Antikendienst (Service d’Antiquités). Dieser verfolgte im Wesentlichen zwei Ziele: Zum einen ging es darum, die wissenschaftliche Erforschung der antiken Stätten zu fördern. Zu diesem Zweck sollten ausländische Investoren und archäologische Delegationen angezogen werden, da Ägypten nicht in der Lage war, Ausgrabungen in großem Umfang selbst zu finanzieren. Zum anderen bestand seine Aufgabe darin, das kulturelle Erbe Ägyptens zu schützen. Der Dienst kümmerte sich also darum, Plünderungen an den antiken Stätten zu verhindern, und ergriff zugleich Maßnahmen gegen den Schmuggel von Kunstgegenständen aus dem Land – zwei Vorgehensweisen, mit denen die westlichen Großmächte ihre Museumssammlungen aufzustocken pflegten.25

Unterstützt durch die geopolitischen Ambitionen Napoleons III. in der Region war das Amt faktisch eine französische Institution – und blieb dies auch fast ein Jahrhundert lang. Bis zum Staatsstreich Nassers im Jahre 1952 wurde es durchgängig von französischen Beamten geleitet. Ursprünglich war der Antikendienst mit exklusiven Ausgrabungsrechten ausgestattet, aber auch mit Annehmlichkeiten wie einem Dampfschiff und dem Recht, Fronarbeit zu erheben. Vor allem aber kontrollierte er den Zugang zu den antiken Monumenten. Jeder, der Ägyptens alte Geschichte erforschen und Zugang zu den Ausgrabungsstätten erhalten wollte, war auf die Zustimmung eines französischen Bürokraten angewiesen. »Das war wie eine Inbesitznahme Ägyptens für die Wissenschaft«, scherzte der zweite Direktor des Amtes, Gaston Maspero.26

Damit wurde auch die Archäologie zu einem Schauplatz der großen geopolitischen Konflikte jener Zeit: Sie war nicht zu trennen von der erbitterten französisch-britischen Rivalität (und der späteren Annäherung beider Länder), dem sich verschärfenden Wettbewerb mit Deutschland, Italien und den Vereinigten Staaten sowie schließlich dem aufkommenden ägyptischen Nationalismus. Angesichts dieses Tauziehens unter imperialen Bedingungen hatten die einheimischen Experten für das antike Ägypten – der bekannteste unter ihnen war Ahmad Kamal (1851–1923), der als erster Ägyptologe des Landes gilt und acht umfassende Bücher über das Ägypten der Pharaonen auf Arabisch verfasste – kaum eine Chance, auf eigene Faust zu forschen.27 Die deutschen Ägyptologen wiederum konkurrierten aktiv mit ihren englischen und französischen Kollegen, in der Hoffnung, »im friedlichen Streite der Geister« zu siegen. Es ging dabei jedoch nie ausschließlich um die Erweiterung des Wissens: Archäologie war auch Imperialismus mit anderen Mitteln. Wissenschaft war immer auch ein nationaler Feldzug, und die Archäologen strebten danach, zukünftige Entdeckungen in das »Ehrenbuch ihrer Großtaten auf geistigem Gebiete« eintragen zu können.28

Zweitens schlug sich die imperiale Durchdringung der Region nicht nur in den institutionellen Rahmenbedingungen für archäologische Vorhaben nieder, sondern sie prägte auch die ökonomische Dimension solcher Großprojekte. Die Geschichte der ägyptologischen Ausgrabungen und der damit verbundenen Zirkulation von antiken Objekten wird üblicherweise als eine Geschichte von Ideen und wissenschaftlichem Fortschritt erzählt, mehr oder weniger im luftleeren Raum. Aber in vielem ähnelten die Expeditionen, durch die Tausende von Artefakten in europäische Museen gelangten, dem Handel mit anderen kolonialen Gütern wie Tee, Gewürzen oder Baumwolle. Die Erforschung des pharaonischen Ägyptens war Teil einer eigenen politischen Ökonomie.29

Wer also bezahlte die Ausgrabungen, und wer profitierte von ihnen? Den größten unmittelbaren Nutzen hatten zweifellos die Leiter der Expeditionen sowie überhaupt alle, die ihre Karrieren auf archäologischem Wissen aufbauten. Die Grabungen in Amarna wurden von Ludwig Borchardt (1863–1938) geleitet, einem der wichtigsten Ägyptologen seiner Zeit und seit 1907 Direktor des Deutschen Instituts für ägyptische Altertumskunde in Kairo.30 Er war zugleich als Architekt ausgebildet und gehörte der Generation an, die eine Verwissenschaftlichung der Grabungspraxis durchsetzte. In den Jahrzehnten nach Napoleons Ägypten-Expedition war es bei den Grabungskampagnen häufig vor allem darum gegangen, Einzelfunde und wertvolle Objekte zu ergattern und diese dann an Museen zu übergeben oder auf dem Kunstmarkt zu Geld zu machen.31