Die Kriege der Viktoria Savs - Frank Gerbert - E-Book

Die Kriege der Viktoria Savs E-Book

Frank Gerbert

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Beschreibung

Als Italien 1915 Österreich-Ungarn den Krieg erklärt, will auch die 16-jährige Viktoria Savs kämpfen. Sie wäre von Kind an wohl lieber ein Junge gewesen. Mit einer Sondergenehmigung wird sie Offiziersdiener an der Drei-Zinnen-Front. Im Mai 1917 reißt ihr ein Felsblock den rechten Fuß ab, von der k.u.k.-Propaganda wird sie zum "Heldenmädchen" stilisiert - und nach Kriegsende vergessen. Sie gerät in den Dunstkreis der Nazis - weil man ihr nicht einmal die angeblich kaputte Prothese ersetzt, schenkt ihr 1934 der "Führer" eine neue. 1933 wird sie Mitglied der österreichischen NSDAP und 1938 Angestellte der Wehrmacht. Endlich darf sie wieder mit Männern Kriegsdienst leisten! Anfang 1942 geht sie ins besetzte Belgrad und tritt den härtesten Männern von allen an die Seite - den "Herrenmenschen" der SS … Sensationelles Bildmaterial ergänzt diese Lebensgeschichte, die auf schaurige Weise zeigt, wie aus Mut und Patriotismus Hass und Fanatismus werden können.

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FRANK GERBERT

DIE KRIEGE DERVIKTORIA SAVS

VON DER FRONTSOLDATIN 1917ZU HITLERS GEHILFIN

Bildquellenverzeichnis Anno/Österreichische Nationalbibliothek, »Das interessante Blatt«, 30. August 1917: S. 75; Dolomitenkriegsarchiv Peter Kübler/Hugo Reider: Bild 1, Bild 2, Bild 3, Bild 4, Bild 7, Bild 8, Bild 9, Bild 10, Bild 11, Bild 12, Bild 13 Bei einigen Bildern ist es uns leider nicht gelungen, die heutigen Rechteinhaber zu ermitteln. Wir bitten diese, sich mit dem Verlag in Verbindung zu setzen. Rechtmäßige Ansprüche werden nach Geltendmachung zu den üblichen Konditionen vom Verlag abgegolten.

www.kremayr-scheriau.at

ISBN 978-3-218-01007-8 Copyright © 2015 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien Alle Rechte vorbehalten Schutzumschlaggestaltung: Sophie Gudenus, Wien Unter Verwendung eines Fotos aus dem Dolomitenkriegsarchiv Peter Kübler / Hugo Reider Typografische Gestaltung, Satz: Michael Karner, Gloggnitz Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien

INHALT

Drei Zinnen

Schwester Alma erzählt

Tomboy

Heiliger Zorn

Die brave Soldatin Savs

Die Legende von Viktor und Viktoria

Die Heilige Johanna der Schlachtfelder

Superheldin

Männer weinen nicht

Wiener Wirren

Sein Kampf, ihr Kampf

Ein Holzbein von Hitler

Im braunen Gebirgskostüm

Frauen für Hitler

Bei der SS

Charlotte

Heldengreisin

Das Ende der Legenden

Dank

Literatur

DREI ZINNEN

Der Krieg in den Bergen.Das Rätsel Viktoria Savs.

Die Sonne sinkt, die Vorstellung beginnt. Den Tag über lagen die Felsabgründe im Schatten, nun modellieren erste Strahlen einzelne Partien heraus. Eine Viertelstunde später leuchten die gesamten Wände im warmgelben Schein der tief stehenden Sonne. Wieder 15 Minuten später ist nur noch das obere Drittel der Mittleren Zinne beschienen, dafür liegen, weiter rechts, die bizarr geformten Felspfeiler des Paternkofels vollständig im nun intensiv orangeroten Licht.

Und dann, kurz bevor die Sonne untergeht, leuchten die Felsen in Blutrot.

Dutzende Menschen betrachten das stille Spektakel von den Terrassen der Dreizinnenhütte aus, wollen es festhalten mit allem, was die Elektronikwelt hergibt, vom Fotohandy bis zur Spiegelreflexkamera mit dickem Superobjektiv. Ein Nostalgiker hat gar eine alte Linhof auf sein Stativ geschraubt.

Die Drei Zinnen und ihre Umgebung gehören zu den schönsten Berglandschaften der Alpen, wenn nicht sogar der ganzen Welt. Die mächtige Mittlere Zinne wird von zwei etwas niedrigeren flankiert, und obwohl die Symmetrie nicht perfekt ist, faszinierte der Anblick die Menschen schon immer und zog schon früh Bergsteiger an.

Dabei verlief (bis vor etwa 100 Jahren) die Grenze zwischen Italien und Österreich genau über die Spitzen dieser ungewöhnlichen Zacken. Die Nordwände wurden von Wien aus regiert, die weniger steilen Südflanken von Rom. Als sich Italien entschloss, gegen Österreich-Ungarn in den Krieg zu ziehen, zogen Schrecken und Tod in diese Traumlandschaft ein.

Zum ersten Mal in meinem Leben kam ich mit der Landschaft und ihrer Geschichte vor 50 Jahren in Kontakt. Da war der Dolomitenkrieg kaum ein halbes Jahrhundert her, und man konnte noch, öfter als heute, Stacheldraht in der Landschaft entdecken, Patronenhülsen, hölzerne Reste von Behausungen. Als meinen Vater und mich ein Gewitter überraschte und mitten im August Schnee fiel, fanden wir Schutz in einer der vielen Kavernen, die als Unterkünfte ausgesprengt worden waren.

In diesem Buch kehre ich ein in diese Welt der Leiden und des kriegerischen Wahnsinns. Denn Viktoria Savs hat hier im Ersten Weltkrieg einen langen Winter verbracht und ihren rechten Fuß verloren. Als ich mit dem Vater 1965 an den Drei Zinnen war, hat Viktoria Savs noch gelebt, im fernen Salzburg, und gegen Ende ihres Lebens, 1979, ist sie noch einmal hierher zurückgekehrt, ist mit ihrer Prothese auf die Dreizinnenhütte gehumpelt, um dort einige Tage zu verbringen, nicht weit entfernt von jener Behausung, in der sie einst untergebracht gewesen war.

Dass ich mich entschloss, die Geschichte der Viktoria Savs zu erforschen, hat auch viel mit meiner eigenen Biografie und der meines Vaters Eugen (1923–1995) zu tun. In zwei Sommern, 1964 und 1965, nahm er mich mit nach Südtirol, wo die Ortsschilder, wenn ich mich richtig erinnere, damals noch ausschließlich italienische Namen trugen; wir kamen durch Burgusio, Silandro, Bolzano, San Candido, und stiegen dann weiter zu Fuß auf – hin zu den Schützengräben und zu von Sprengungen verstümmelten Berggipfeln. Nur in die Beinhäuser, wo die Knochen Tausender Soldaten lagerten, die man der Einfachheit halber nicht mehr individuell bestattet hatte, ließ mich mein Vater nicht hinein.

Er hat die Geschichte des Dolomitenkriegs in seiner karg bemessenen Freizeit intensiv studiert. Erst viel später verstand ich, warum er dies tat. Und habe versucht zu verstehen (was mir aber noch nicht vollständig gelungen ist), warum er mich als Neun- und Zehnjährigen in diese grausame Welt geführt hat. Immerhin tat er dies nicht aus der Position eines ewiggestrigen Militaristen oder Nationalisten heraus, nein, er vertrat dabei einen radikalen Pazifismus, und politisch stand er eher links.

Doch im Zweiten Weltkrieg war er Gebirgsjäger gewesen, hatte in den Bergen gekämpft und getötet, wenn auch nicht in den Dolomiten, sondern in den Westalpen. Im März 1945 wurde er dann, mit 21 Jahren, zum Kompaniechef ernannt und sollte mit 200 zu jungen, zu alten, zu kranken, also untauglichen Soldaten des letzten Aufgebots Berlin und den »Führer« gegen die Russen verteidigen helfen. Was ihm offensichtlich nicht gelungen ist, und was wohl die meisten seiner Untergebenen das Leben gekostet hat. Dass er dann in seinem zivilen Leben nie eine Führungsposition übernehmen wollte, weder im Beruf noch in Vereinen, könnte damit zu tun haben. Dabei war ihm selbst die Flucht geglückt, mit einer Schusswunde und einem, wie ich annehme, schweren Trauma.

Einige aus meinen Herkunftsfamilien hatten weniger Glück: Der jüngere Bruder meines Vaters ist 1944 gefallen, mit 18 Jahren, der ältere Bruder wurde schwer verwundet und war danach leicht körperbehindert, der Großvater väterlicherseits starb 1935 an einer Blutvergiftung, ausgelöst durch einen Granatsplitter aus dem Ersten Weltkrieg; jener von mütterlicher Seite ist im Januar 1945 an der Front verschollen.

Dass die Vorgenannten, auch mein Vater, dazu beitrugen, anderen Völkern noch mehr Leid zuzufügen, als dem ihren geschah, versteht sich, soll hier aber deutlich ausgesprochen werden.

Meine Verwandten haben keine ungewöhnlichen Schicksale erlitten, als wehrfähige Männer waren sie Kanonenfutter für Kaiser Wilhelm II. und Adolf Hitler, wie Millionen andere auch. Nun jedoch das Leben einer Frau zu erforschen, die »wie ein Mann« an der Front gekämpft und gelitten hat, erschien mir als ungewöhnliche und daher hochinteressante Variante des säkularen Trauerspiels.

In einer Männeruniform soll sich Viktoria Savs 1915 an die Front geschlichen haben, als Frau unerkannt von den Kameraden, 20 Italiener soll sie ganz allein gefangen genommen haben, bevor ihr deren Landsleute gemeinerweise den Fuß abschossen und ihr wahres Geschlecht im Lazarett offenbar wurde.

Bücher und Medienberichte über »starke Frauen« sind en vogue, meist über Frauen, die irgendeine verdienstvolle Tätigkeit als erste ihres Geschlechts absolvierten, damit Barrieren einrissen und die Emanzipation voranbrachten. Auch die Savs wurde schon als Vorkämpferin des weiblichen Militärdienstes gerühmt. Ich muss gleich vorweg warnend sagen, dass sie in ihrer Persönlichkeit viel zu eigenartig ist, um in die Ehrenreihe der »ersten weiblichen Was-auch-Immer« hineinzupassen.

Und nach und nach kam ich auch dahinter, dass vieles, das über ihre Heldentaten zu lesen ist, nicht stimmt. Dass die Wahrheit weniger sensationell ist, und doch auf eine andere Weise verblüffend.

Als ich das Ausmaß ihrer Parteinahme für den Nationalsozialismus entdeckte, war ich wiederum so abgestoßen, dass ich überlegte, das Projekt aufzugeben. Doch die Nazi-Nähe macht ihren Fall noch einmal interessanter, fand ich dann. Gewiss: Was ich über Viktoria Savs zu berichten habe, lässt sie keinesfalls sympathisch erscheinen. Ein so ungewöhnliches »Frauenschicksal« findet sich allerdings so schnell kein zweites Mal.

Eine besondere Schwierigkeit stellte dar, dass die Savs ganz und gar keine Intellektuelle war und fast keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen hat. Sie ist nur indirekt zu fassen – reflektiert durch viele Presseartikel, von denen aber die meisten unter der Bedingung der Propaganda und Zensur entstanden – entweder des k. u. k. Kriegspressequartiers oder der gelenkten Zeitungen des NS-Staats.

Nahezu alle Quellen für ihre Lebensgeschichte stehen so unter Vorbehalt. Was ist geschwindelt, wo ist Glaubhaftes in Fragwürdiges eingebettet? Obwohl kein Historiker, ist mir die sorgfältige Arbeit mit Schriftlichem vertraut – als Germanist muss man ja auch die Entstehungsbedingungen von Texten kritisch prüfen. Außerdem war ich als Journalist ständig mit der Frage der Zuverlässigkeit von Informationen befasst.

Meine Skepsis gegenüber den Quellen beim Thema Savs führt freilich dazu, dass ich vieles über sie nicht sicher, sondern nur in verschiedenen Stufen der Wahrscheinlichkeit zu sagen vermag. Beim Abfassen des Manuskripts kam ich mir vor wie ein Kriminalkommissar, der einen Bericht über einen schwierigen Fall schreibt. Oft steht Aussage gegen Aussage. Ich hoffe, die Leserinnen und Leser dieses Buchs kommen damit zurecht, dass ich nur selten eine eindeutige Version der Ereignisse bieten kann. Obwohl dies kein wissenschaftliches Buch ist, habe ich doch der Versuchung widerstanden, mir aus den Quellen einfach die spektakulärste Version der Ereignisse zurechtzuzimmern.

Es gab, als ich dieses Buch schrieb, lediglich eine größere und ernst zu nehmende Abhandlung über Viktoria Savs. Sie stammt von Albin Kühnel, einem Heimatforscher aus Bad Reichenhall. Ich habe mit Kühnel Kontakt aufgenommen, und er hat nicht nur lange mit mir über die Savs gesprochen, sondern mir auch sämtliche von ihm gesammelten Dokumente überlassen. Dafür bin ich ihm zu großem Dank verpflichtet.

Dennoch weiche ich in diesem Buch in recht vielen Punkten von seiner Darstellung ab, weil mir manche Quellen, denen er vertraute, dubios erschienen, ich manches anders bewerte und weil ich zahlreiches zusätzliches Material erschlossen habe, aus dem Nachlass der Hauptperson, zudem aus historischen Zeitungsarchiven, die erst im Lauf des Jahres 2014 zur elektronischen Suche freigeschaltet wurden und für den Namen Savs Dutzende Artikel erbrachten.

Im folgenden Text stehen viele Originalzitate, vor allem aus Zeitungen, aber auch aus amtlichen Schriftstücken. Die sprachlichen Eigentümlichkeiten lassen erahnen, wie anders man damals dachte. Die Orthografie habe ich beibehalten (etwa »daß« statt »dass«); Schreib- und Grammatikfehler sind ebenfalls nicht korrigiert.

In dem von mir verfassten übrigen Text haben der Verlag und ich aber versucht, alles richtig zu machen.

SCHWESTER ALMA ERZÄHLT

1899–1914: Slowenien, Deutschland, Tirol.Der fleißige und strenge Vater.

Viktoria Savs ist schon lange tot. Eine ihrer Schwestern lebt.

Genauer gesagt: Viktoria, geboren 1899, starb 1979; von ihren Schwestern Olga, geboren 1901, und Irma, geboren 1902 oder 1903, fand ich keine Spuren aus neuerer Zeit; man kann als sicher annehmen, dass sie verstorben sind.

Alma, geboren 1934, erfreut sich jedoch recht guter Gesundheit – sie ist eine Halbschwester der drei anderen; sie hat denselben Vater wie Viktoria, Peter Savs. Um die Übersicht abzuschließen: Es gibt noch eine fünfte Savs-Schwester, noch etwas jünger als Alma, die aber ein Adoptivkind ist.

Den Namen Alma Savs Gander entdeckte ich in einem Internet-Telefonverzeichnis – es war die einzige Nennung des Namens Savs in Österreich, Deutschland und Italien. Da die Frau in Meran wohnte, dem langjährigen Sitz der Familie, war ich gleich elektrisiert.

Einige Wochen später darf ich sie besuchen, in ihrem Zimmer in einem Altersheim. »Mein Vater ist aus Slowenien«, erzählt sie mit Südtiroler Zungenschlag, »er hat in Klagenfurt in Kärnten vier Jahre Schuhmacher gelernt. Er war schon 60 Jahre, als ich auf die Welt gekommen bin. Er hätte halt gern einen Bub gehabt. Meine Mutter, Josefa, geborene Zoderer, ist 1904 geboren. Sie war hier beim Gasthaus Rössl kochen, da haben sie sich kennengelernt. Seine erste Frau hab ich nicht gekannt, und hab auch nie wieder von ihr etwas gehört.«

Alma hat in Hotels als Bedienung gearbeitet und beim »Forsterbräu« als Zahlkellnerin – doch bis zu ihrer eigenen Heirat mit Friedrich Gander musste sie den Lohn beim Vater abgeben: »Er hat mich streng erzogen, wie das damals halt so war. Er wollte nicht, dass man schlecht erzogen ist. Er war nicht bös, aber er war genau. Er hat mich und meine jüngere Schwester aber nie geschlagen, sondern nur angeschaut, dann wussten wir Bescheid. Überhaupt, er hat Kinder gern gehabt. In einem Jahr haben wir einmal fünf Pflegekinder gehabt. Er war ein guter Mann, nur streng.«

Die Zeit der Familie vor Meran lässt sich nur aus Urkunden erschließen. Am 2. Oktober 1874 wurde im Anwesen Breg 18 in Höflein, slowenisch Preddvor, dem Vater Johann Šavs und der Mutter Maria Zaplotnik der Sohn Peter geboren und von Pfarrer Debeljak einen Tag später römisch-katholisch getauft. Ungeachtet der unterschiedlichen Namen der Eltern handelte es sich um eine eheliche Geburt.

Preddvor ist knapp zehn Kilometer von Kranj (ehemals Krainburg) entfernt, das auf etwa halber Strecke zwischen dem Karawankentunnel und der slowenischen Hauptstadt Ljubljana (Laibach) liegt. Das Kronland Krain gehörte zur Donaumonarchie; der slowenischen Bevölkerungsmehrheit stand eine tonangebende deutschösterreichische Minderheit gegenüber. Nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich Slowenien ab und trat als Teilstaat dem Königreich der Slowenen, Kroaten und Serben bei, auch Jugoslawien genannt; seit 1991 ist Slowenien bekanntlich selbstständig.

Aus der Urkunde lässt sich ersehen, dass der ursprüngliche Familienname Šavs lautete. Erst nach der Übersiedlung des Peter Šavs nach Kärnten und Tirol hat das S sein »Hatschek« verloren, so heißt das umgekehrte Dächlein, sicher mit Hilfe eines österreichischen Beamten. Unzählige Namen von Slawen oder Ungarn, die sich zu k. u. k. Zeiten in Deutschösterreich niederließen, wurden unter Tilgung der Sonderzeichen in eine deutsche Schreibung überführt. Der orthografischen folgte dann meist auch eine sprachliche und kulturelle Anpassung der Namensträger.

Zu meiner Überraschung fand ich heraus, dass Šavs im Slowenischen nicht, wie ich zuerst annahm, wie »Schaws«, sondern wie »Schaus« ausgesprochen wird, das V wird dort in bestimmten Kombinationen wie U artikuliert. So hätte der diensthabende Beamte richtiger getan, ein »Schaus« oder »Schauss« zu gewähren, zumal das auch vertrauter geklungen hätte.

Laut einem 1943 in der NS-Presse veröffentlichten Artikel war Peter Savs eines von fünf Kindern bäuerlicher Eltern. Obwohl er begabt gewesen sei, habe er nicht studieren dürfen, weil ein älterer Bruder bereits alle Mittel dafür verbrauchte.

Savs erlernte das Schuhmacherhandwerk in Klagenfurt; anschließend ließ er sich wohl in Hopfgarten im nördlichen Tirol nieder. Von 1895 bis 1898 leistete er den Wehrdienst in der k. u. k. Armee ab, vielleicht in oder bei Salzburg, kehrte aber noch einmal in die Krain zurück, um im Juni 1898 in Laibach Maria Pauli zu heiraten. Diese war am 29. März 1873 in Domžale (Domschale) geboren worden, einer Kleinstadt bei Kranj, und war also etwa anderthalb Jahre älter als ihr Gatte.

1898 hat sich das Ehepaar Savs in Bad Reichenhall, einem deutschen Städtchen nahe Salzburg, niedergelassen. Warum? Peter Savs habe dort während seiner Wanderjahre Station gemacht und sich wohl gefühlt, heißt es viel später in einem Artikel aus der NS-Zeit. Bad Reichenhall war zu dieser Zeit wegen seiner Sole-Quelle ein boomendes Kurbad, und weil manche Gäste auch in den umliegenden Bergen wandern wollten, brauchten sie robuste Schuhe, die ihnen Peter Savs anfertigte, die Marktlücke erkennend. Außerdem soll er selber Lungenprobleme gehabt haben, behauptet später Tochter Viktoria, und könnte versucht haben, sich durch Besuche im Kurhaus Linderung zu verschaffen.

Arbeit und Kuren waren allerdings nicht seine einzigen Betätigungen, worüber folgendes Dokument Aufschluss gibt:

»Vor dem unterzeichneten Standesbeamten erschien heute, der Persönlichkeit nach bekannt, der Schuhmacher Herr Peter Savs, wohnhaft zu Bad Reichenhall Gebäude No. 319, katholischer Religion, und zeigte an, daß von der Maria Savs geborenen Pauli (Ehefrau) katholischer Religion, wohnhaft bei ihm, zu Bad Reichenhall in seiner Wohnung am siebenundzwanzigsten Juni des Jahres tausend acht hundert neunzig und neun nachmittags um eilf Uhr ein Kind weiblichen Geschlechts geboren worden sei, welches die Vornamen ›Victoria Maria‹ erhalten habe. Vorgelesen, genehmigt und unterschrieben – Peter Šavs«.

Der Vater unterzeichnete also immer noch mit dem Hatschek auf dem S. Die Tochter unterschrieb später immer ohne dieses, jedoch mit k im Vornamen – vielleicht weil die Schreibung mit C in der nationalistisch aufgeladenen Zeit undeutsch wirkte. Oder weil das harte K der Trägerin des Namens männlicher erschien als das C (zum Thema ihrer Geschlechtsidentität bald mehr).

Die Familie hatte nacheinander drei Wohnsitze in der Stadt und wuchs noch um die Töchter Olga Emilia und Irma. Im Juli 1903 verließ man Bad Reichenhall, um nach Tirol zu ziehen – und zwar gleich an dessen südliches Ende.

Alma Savs Gander glaubt die Hintergründe des Umzugs zu kennen: »So viel ich weiß, war er nicht lungenkrank. Aber er wurde Tag für Tag magerer. Er hat in Reichenhall einen Arzt gefragt, und der hat ihm gesagt: ›Vielleicht ist es die Luft hier. Sie sollten da hingehen, wo die Luft milder ist, wo es Olivenbäume gibt.‹ Deshalb ist er nach Arco gezogen und hat dort ein Schuhgeschäft übernommen. Und sonntags ist er immer auf die Berge gegangen.«

Arco war zusammen mit seinem Nachbarort Riva del Garda schon zu dieser Zeit ein beliebtes Touristenziel sowie ein Wintersitz des Kaiserhauses. Insbesondere Kaiserin Sisi hatte sich gerne hier aufgehalten. Da die italienische Bevölkerung die deutschösterreichische weit überwog, hatte man mittlerweile darauf verzichtet, die Orte mit den alten Tiroler Namen Arch und Reiff am Gartsee zu bezeichnen. Auch das Dokument, das am 23. Dezember 1904 im Gemeindeamt Arco ausgefertigt wurde, ist auf Italienisch abgefasst, im Folgenden aber übersetzt:

»Auf Vorladung erscheint Herr Peter Savs, zuständige Gemeinde Höflein (Bezirkshauptmannschaft Krainburg) in Krain, und erklärt, dass er die Ehefrau Maria, geborene Pauli, nicht länger bei sich haben wolle. Was die Kinder angeht, besteht Übereinstimmung, dass zwei von ihnen beim Vater bleiben und das dritte, ein kleines Mädchen, von der Mutter mitgenommen wird. Er verpflichtet sich, auch für das der Mutter anvertraute kleine Mädchen zu sorgen und monatlich zehn Kronen zu bezahlen, die entweder an die Gemeinde geschickt werden, wo sich das Mädchen befindet oder an die Familie oder das Institut, dem es anvertraut wird. Es wird ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass im Fall einer Nichterfüllung seiner Pflichten die Gemeindeverwaltung seine Ausweisung aus der Gemeinde veranlassen wird.«

Da im österreichischen Reichsteil die Ehescheidung nicht gestattet war, konnte nur eine solche Trennung von Tisch und Bett erwirkt werden. Eigenartig ist, dass man davon ausging, dass Maria Savs ihr Kind Irma nicht selbst betreuen würde, sondern Peter Savs die Unterstützung an die Gemeinde, ein Institut oder eine Pflegefamilie bezahlen sollte. Das deutet darauf hin, dass die Mutter unzuverlässig war. Laut einer Quelle soll sie alkoholabhängig gewesen sein. Warum dann Peter Savs nicht gleich die Obsorge für alle drei Mädchen erhielt, muss offen bleiben – entweder, die Jüngste war ihm noch zu klein, oder es handelte sich um eine Bedingung der Mutter, die nicht auf alle Kinder verzichten wollte.

Die dritte Tochter Irma hat – so berichtet es ihre Halbschwester Alma – die schwierigen Verhältnisse offenbar unbeschadet überstanden, später einen Hersteller vornehmer Schreibwaren aus dem badischen Pforzheim geheiratet und ihren Vater in den 1930er-Jahren gelegentlich besucht.

Wiederverheiraten durfte sich Peter Savs nicht (er war ja vor Gott und dem Kaiser noch verehelicht). Hat er Viktoria und Olga alleine großgezogen? In einem Zeitungsartikel von 1927 steht, dass eine Frau Rosa Hofer damals schon seit 22 Jahren als »Wirtschäfterin« im Dienst des Peter Savs stand. Dann müsste sie also 1905, kurz nach der Trennung von Peter und Maria, damit begonnen und den späteren Wohnortwechsel mitgemacht haben. Vielleicht war sie auch eine Ersatzmutter für die Töchter. Ob sie für Peters Savs auch eine »Ersatzfrau« war? Darüber lässt sich nur spekulieren.

Seine Geschäfte scheinen gut gegangen zu sein, wie Tochter Alma weiß: »Er hat erzählt, dass er in Arco Wanderschuhe an die Touristen verkauft hat. Die sind damit einmal den Berg hinauf und haben sie ihm wieder zurückgegeben. Dann hat er sie geputzt und etwas billiger weiterverkauft.«

Laut dem schon erwähnten Artikel von 1943 war er im Winter in Arco tätig, im Sommer verkaufte er seine Schuhe in Madonna di Campiglio (St. Maria im Pein), einem Fremdenverkehrsort etwa 60 Kilometer nördlich von Arco.

Viktoria dürfte zwischen 1905 und 1913 die achtjährige Pflichtschule absolviert haben. Die wenigen erhalten gebliebenen Schriftstücke von ihrer Hand sind nicht ganz fehlerfrei, aber flüssig und in einer angenehmen Handschrift verfasst.

Wann haben Peter Savs und seine Töchter Arco verlassen, um nach Obermais bei Meran zu ziehen? In späteren Artikeln ist oft von 1912 die Rede, doch Tochter Alma ist sich sicher, er habe das Geschäft in Obermais erst 1914 gemietet. Denkbar, dass der Kriegsausbruch von 1914 den Anstoß für den Umzug gab. Arco lag sozusagen in Schussweite der italienischen Grenze, und schon im Juli 1914 wurde über einen Kriegseintritt Italiens auf Seiten der Feinde spekuliert, der dann im Mai 1915 auch erfolgte. Arcos Nachbarstadt Riva wurde erheblich zerstört.

Peter Savs auf einem undatierten Foto aus dem Nachlass Viktorias, wohl um 1916 aufgenommen. Er bekleidete den Rang eines Zugsführers des Landsturms.

Alma: »Er ist auch wegen der Gesundheit nach Meran gekommen. Er ist ins alte Kurmittelhaus gegangen, da gab es Dampf- und Luftbäder. Die Dampfbäder vor allem haben ihm gutgetan.«

Das Seniorenheim, in dem ich mich mit Alma Savs Gander unterhalte, befindet sich in geringer Entfernung zum Zentrum von Obermais. Meine Gesprächspartnerin ist nicht mehr gut zu Fuß, sie hat mir die Örtlichkeiten beschrieben, und so gehe ich später allein die etwa 200 Meter bis zum heutigen Gasthof Kirchsteiger, wo das Schuhgeschäft von Peter Savs lag. Das Restaurant hat den Laden, dessen Eingangstür nun vergittert ist, in die eigenen Räumlichkeiten integriert. Auf dem Weg zur Herrentoilette kann ich am Abend einen Blick in den Raum werfen, in dem einst Viktoria dem Vater beim Schuheverkaufen half und wo sie vielleicht Karola aus Karlsruhe kennenlernte und sich mit ihr zum Wandern verabredete. Heute lagern hier, wie banal, Küchenvorräte.

100 Meter weiter, am zentralen Brunnenplatz, wohnte die Familie zur Miete, im Obergeschoss des Gasthauses Prantl. Heute steht dort ein Neubau, mit dem Café Prantl im Erdgeschoss. Am Haus vorbei führt ein Fußweg namens Kirchsteig leicht bergab, den Viktoria damals oft gegangen sein wird, weil weiter unten die Pfarrkirche St. Georgen liegt, in die sie wohl zur Messe gegangen ist, und dahinter der Fluss Passer, mit einem Steg, den man in Richtung der Stadt Meran überquert. Obermais, ursprünglich ein Dorf mit Wein- und Obstbau, dann mit Hotels und Sanatorien durchsetzt, war damals eine selbstständige Ortschaft vor den Toren der Kurstadt und ist heute ein Ortsteil Merans.

Am 28. Juli 1914 endet vorübergehend die Berufstätigkeit des Peter Savs, und auch seine chronische Krankheit spielt keine Rolle mehr. Er rückt ein an die Front in Galizien. Die Österreicher erleiden dort in den ersten Monaten schwere Niederlagen gegen die Russen. Schon im Spätherbst kehrt Savs verwundet zurück. Was ihm genau passierte, ist nicht zu ermitteln, doch dass er anscheinend bis Mai 1915 zuhause rekonvaleszieren darf, deutet darauf hin, dass die Verletzung keine leichte war.

Aber nun sollten wir uns endlich mit seiner ältesten Tochter befassen.

TOMBOY

Als Kriegerin geboren? Sie will kein »Fräulein« sein, sondern »Vikerl«. Die Beziehung zu Karola aus Karlsruhe.

»Kein Abend verging, an dem Viktoria nicht mit zerschundenen Knien und einem Dreiangel im Kleid (dreieckiger Ausriss, F. G.) vom Spielen heimkam. Das zierliche Mädchen fehlte in keiner Jungenschlacht in den Straßen von Arco; da wo der Kampf am heftigsten tobte, war sie Anführerin. Mehr als einmal wurden unter dem Kommando der kleinen Österreicherin die welschen Buben verhauen und verjagt. Die Mutter rang die Hände, nie würde aus diesem Mädel mit dem scharfgeschnittenen Profil und den wilden, dunklen Locken im Nacken ein Hausmütterchen werden!«

Auf die Viktoria, von der hier erzählt wird, passt die Bezeichnung »Tomboy«. Sie stammt aus dem Englischen, wurde schon von William Shakespeare verwendet, hat aber in den letzten Jahren Eingang in den deutschen Sprachgebrauch gefunden. Mit einem Tomboy ist ein Mädchen oder eine junge Frau gemeint, die sich (nicht nur ab und zu, sondern durchgängig) »männlich« verhält – die die wilden, aggressiven Spiele der Jungen bevorzugt und in den braven Zeitvertreiben der Mädchen keinen Reiz findet, die gerne mit anderen wetteifert, auch eine Führungsrolle anstrebt, oft knabenhaft aussieht oder das Knabenhafte betont. Im Deutschen meint der Begriff »Wildfang« etwas Ähnliches, doch mutet er allzu betulich an für die Kraft und Energie eines Tomboy.

Holla Gutkelch heißt die Autorin, die die Zeilen über Viktorias Kindheit schrieb – ein Name, der wie ein Pseudonym klingt. Nicht nur deshalb tun wir gut daran, den Text mit Vorsicht zu genießen. Von einer Mutter ist die Rede, dabei musste Viktoria, wie wir erfahren haben, in Wahrheit schon seit dem fünften Lebensjahr ohne eine solche auskommen. Und der gesamte Text steht in einem schamlos propagandistischen Machwerk der Nationalsozialisten: »Wir Mädel« heißt es und ist der Band für 1939 eines Jahrbuchs aus dem Dunstkreis des Bundes Deutscher Mädel.

Dass Viktoria vor allem die »welschen«, also die italienischen Jungs verprügelt haben soll, sozusagen im Vorgriff auf das, was später folgte, ist vielleicht nur ein kleiner Nazi-Scherz. Es spricht freilich einiges dafür, dass ihre Charakterisierung als Tomboy im Großen und Ganzen zutreffend ist.

Erstens wird Viktoria Savs in anderen Zeugnissen mit einer ähnlichen Selbstbeschreibung zitiert. Zweitens existiert, aus ihrem Nachlass, ein Foto von ihr, das sie, im Alter von etwa 15 Jahren, als geradezu idealtypischen Tomboy zeigt: androgyne Erscheinung, männliche Kopfbedeckung, Hosen tragend (damals sehr ungewöhnlich bei Mädchen und Frauen), schmutzige Schuhe.

Ein Teil der Tomboys legt das männliche Verhalten nach der Pubertät ab; Viktoria tat das nicht. Und beharrte so sehr auf ihrem Anderssein, dass sie Staunen auslöste. Auch wenn ich hier vorgreife, möchte ich dennoch Charakterisierungen aus späterer Zeit anführen.

Im November 1917, nach ihrer Verwundung, schreibt ein Zeitungsautor über eine Begegnung mit der damals 18-Jährigen:

»Viktoria Savs ist von mittlerer Statur; die kurzgeschnittenen Haare, das jugendfrische, hübsche, gebräunte Gesicht, die schmucke Uniform lassen in dem jugendlichen Invaliden keineswegs ein Mädchen erkennen. Sie will auch nicht mit ›Fräulein‹, sondern mit ›Vikerl‹ angesprochen werden. Sie habe Wachtdienste geleistet, Posten gestanden, im feindlichen Feuer ausgeharrt, sie stehe daher in nichts dem männlichen Krieger nach.«

Vorderseite der Postkarte an Freundin Karola: Viktoria als Wandersmann, aufgenommen 1914 oder 1915.

Besonders das geschlechtsneutrale »Vikerl« lässt aufhorchen, und die Bestimmtheit, mit der Viktoria eine männliche Identität beansprucht.