Die Kriegerin des Nordens - Charlotte Fondraz - E-Book

Die Kriegerin des Nordens E-Book

Charlotte Fondraz

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Beschreibung

Unbesiegbar wirst du sein "Der Wolf riecht, ob ein Krieger genug Kraft zum Kampf hat. Wenn ja, dann steckt die Druidin dem Krieger den Kopf in den Kessel. Sie zeigt ihm Walhall, das ist die Wohnstätte der gefallenen Krieger. Es heißt, Walhall sei so wunderbar, dass die Menschen, die es sehen, für immer die Furcht vor dem Tod verlieren. Und dadurch werden sie unbesiegbar." Die Kimbrische Halbinsel im ersten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung: Seit Langem kommen römische Kaufleute nach Jütland und handeln mit den dort ansässigen germanischen Stämmen. Wie in einem Schmelztiegel bevölkern neben den sesshaften Germanenstämmen reisende Händler, Vagabunden und Schausteller unterschiedlicher Herkunft das Land friedlich.  Dies ändert sich, als ein jütländischer Stamm seinen Handelsplatz von römischen Söldnern bewachen lässt. Die junge Kriegerin Erkenhild glaubt, dass auf diese Vorhut ein ganzes Heer aus Rom folgen wird, und will sofort einen Angriff führen. Doch der Heerkönig Thorwaltshunt zögert. Fürchtet er etwa die Römer? Erkenhild beauftragt die junge Diebin Katek, den sagenumwobenen Silberkessel aus einem verfluchten Grab zu stehlen, um ihn als Wunderwaffe gegen die Feinde einzusetzen. Schnell bekommt Katek zu spüren, dass sie nicht die Einzige ist, die den Kessel an sich bringen will … Der Kessel von Gundestrup und seine Geschichte: vor mehr als zweitausend Jahren in einem Torfmoor zurückgelassen, erst 1891 wiederentdeckt und noch immer voller großer und längst vergessener Geheimnisse.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Charlotte Fondraz

DIE KRIEGERIN DES NORDENS

Der Kessel der Unbesiegbarkeit

Roman

Über das Buch

Der Kessel der Unbesiegbarkeit

„Der Wolf riecht, ob ein Krieger genug Kraft zum Kampf hat. Wenn ja, dann steckt die Druidin dem Krieger den Kopf in den Kessel.

Sie zeigt ihm Walhall, das ist die Wohnstätte der gefallenen Krieger. Es heißt, Walhall sei so wunderbar, dass die Menschen, die es sehen, für immer die Furcht vor dem Tod verlieren. Und dadurch werden sie unbesiegbar.“

Die Kimbrische Halbinsel im ersten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung: Seit Langem kommen römische Kaufleute nach Jütland und handeln mit den dort ansässigen germanischen Stämmen. Wie in einem Schmelztiegel bevölkern neben den sesshaften Germanenstämmen reisende Händler, Vagabunden und Schausteller unterschiedlicher Herkunft das Land friedlich.

Dies ändert sich, als ein jütländischer Stamm seinen Handelsplatz von römischen Söldnern bewachen lässt. Die junge Kriegerin Erkenhild glaubt, dass auf diese Vorhut ein ganzes Heer aus Rom folgen wird, und will sofort einen Angriff führen. Doch der Heerkönig Thorwaltshunt zögert. Fürchtet er etwa die Römer? Erkenhild beauftragt die junge Diebin Katek, den sagenumwobenen Silberkessel aus einem verfluchten Grab zu stehlen, um ihn als Wunderwaffe gegen die Feinde einzusetzen. Schnell bekommt Katek zu spüren, dass sie nicht die Einzige ist, die den Kessel an sich bringen will …

Der Kessel von Gundestrup und seine Geschichte: vor mehr als zweitausend Jahren in einem Torfmoor zurückgelassen, erst 1891 wiederentdeckt und noch immer voller großer und längst vergessener Geheimnisse.

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- oder Bildteile.

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind von der Autorin nicht beabsichtigt.

Copyright © 2022 by Maximum Verlags GmbH

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Hauptstraße 33

27299 Langwedel

www.maximum-verlag.de

E-Mail: [email protected]

1. Auflage 2025

Lektorat: Dr. Rainer Schöttle

Korrektorat: Bernadette Lindebacher

Layout: Alin Mattfeldt

Umschlaggestaltung: Alin Mattfeldt

Umschlagmotiv: KI generierter Inhalt unter der Verwendung von Adobe Firefly

E-Book: Mirjam Hecht

Druck: CPI books GmbH

CO2 neutral produziert

Made in Germany

ISBN: 978-3-948346-94-2

Homepage: www.maximum-verlag.de

Facebook: /MaximumVerlag

Instagram: @maximumverlag

Zitat

Die Frau ist das schwache Geschlecht?

Der Roman ist denen gewidmet, die nicht an dieses Märchen glauben.

Anmerkung

Im Anhang des Romans befindet sich ein Glossar.

Personenregister

In Nordgard, beim Pferdestamm

Busla (47), Großdruidin

Thorwaltshunt (45), Heerkönig. Als Junge hieß er Askan.

Seine Gefolgsfrau Erkenhild (20), zuvor Falkhild genannt, Heerführerin und Vertraute von Busla

sein Gefolgsmann Leif (35), Erkenhilds Ausbilder und Freund

seine gelegentliche Geliebte Jörna (35), Kriegerin

sein Freund und Gefolgsmann Rutger (35), Heerführer

dessen Tochter, Rutgers Tochter (15), Kriegerin

Rutgers Gefolgsmann Benno (16), Krieger und Geliebter von Erkenhild

Rutgers Gefolgsmann Arnhelm, Krieger

sein Mündel Deirdre (17), Heilerin

ihr Geliebter Noisiu der Sänger (17)

sein Sohn Rango (16), Krieger

sein Großknecht Owe

seine Hündin Rikka

Kalen (40), Schmiedin

Witiko (45), Heiler

Bosi (14), ein angehender Krieger aus der Nordgarder Flur

*

In Baarö, beim Luchsstamm

Langer Gernod, Heerkönig

Wigbald, Krieger

*

In Heiligenberge, beim Rabenstamm

Landogar, Heerkönig

seine Gattin Heidelinde, Bardin

seine Heerführerin Wiltraut

sein Heerführer Bernhard

*

In Eiderfurt, beim Käferstamm

Friya (20), Bauerstochter

ihr Vater und Hausherr Olav

ihr Ziehbruder Anulaibaz (28)

ihr zukünftiger Gatte Heimwin

dessen Vater Lug

Embel, ein Mädchen aus dem Dorf

Fröhel, ein Mann aus Friyas Hausgemeinschaft

Gulda, eine Bäuerin

Lütje, eine Bäuerin

Itti, Hausherrin und Friyas Muhme (Tante)

*

Reisende Händler

Katek (16), Händlerin und Diebin

ihr Kompagnon Blatč (30)

dessen Hund Freki

Goldzahn, Händler

Igelin, Vermittlerin vom Fuchsmoorlager

Einsiedel (50), Hehlerin

*

In und um Mildum (vor 34 Jahren)

Gunberta, Dorfdruidin und Kesselschmiedin

ihre Novizin Busla (13), spätere Ziehmutter ihrer Tochter und schließlich Großdruidin von Nordgard

ihre Schwester Tilrun, Großdruidin von Mildum und Kesselschmiedin

deren Sohn Tilrunssohn (13)

Rumold, Heerkönig von Mildum

Askan (11), späterer Heerkönig von Nordgard Thorwaltshunt

ERSTER TEIL

Prolog

Germanien, zwischen Elbe und Ostsee

Die Tag- und Nachtgleiche war schon vorüber, die hohen Buchen im Nerthuswald trugen ihr hellgrünes Frühlingskleid. Es roch nach frischer Erde und blühendem Weißdorn.

Mit einem Krug Brunnenwasser in den Händen lief Busla den ausgetretenen Pfad entlang, um auf dem Stein der Nerthus ein Wasseropfer zu bringen. Der heilige Findling lag auf einer Lichtung, seine obere Seite war flach und waagerecht ausgerichtet und wies mehrere runde Mulden auf. In diese wollte die junge Novizin das Wasser gießen und es dort auf dem sonnenwarmen Altar verdunsten lassen.

Sonne und Wasser sorgten für eine reiche Ernte, deshalb wurde im Frühling jeder Sonnentag für ein Wasseropfer am Findling genutzt. Meistens führte Gunberta, die zauberkundige Druidin des Dorfes, das Ritual selbst aus, aber ihre Tochter war krank geworden und brauchte ihre Pflege. Deswegen hatte Gunberta Busla geschickt.

Ein Kuckuck rief, das erste Mal in diesem Jahr. Busla schloss die Augen und konzentrierte sich ganz und gar auf die Geräusche des Waldes. Auf den ersten Kuckucksruf konnte eine Botschaft der Nerthus folgen. Leise rauschte der Wind durch das Laub, Zeisige zwitscherten, der Kuckuck meldete sich noch einmal. Aber das waren alles nur gewöhnliche Laute. Busla konnte keine Botschaft der Nerthus heraushören, außer vielleicht, dass der Frühling gekommen war.

In der Ferne stieß ein Eichelhäher seinen Warnruf aus. Sofort verstummte das Gezwitscher. Buslas nackte Füße tappten auf dem Waldpfad, durch das Säuseln der Blätter drangen entfernte Stimmen.

Tief im Wald riefen Leute. Busla lief langsamer.

Von ihrem Stamm würde niemand an diesem heiligen Ort seine Stimme erheben, es gehörte sich nicht. Aber Fremde gab es kaum in der Gegend. In Mildum, der großen Stadt, kamen zwar viele Händler und ihre Kunden zusammen, doch Mildum lag einen Tagesmarsch entfernt.

Im Nerthushain war Busla noch nie einem Fremden begegnet. Sie blieb stehen. Das waren seltsame Menschen, die nicht merkten, dass sie sich in der Nähe eines Heiligtums aufhielten. Solche Leute konnten gefährlich sein. Es war besser, ins Dorf zurückzulaufen und die Meisterin zu verständigen.

Sie hatte sich schon umgedreht, da fiel ihr ein, dass Gunberta nach Einzelheiten fragen würde. Busla fuhr sich mit der Hand über den Kopf. Sie fühlte ihre Stoppeln, Gunberta hatte ihr die langen Haare bei der Weihe abrasiert. Obwohl Busla noch nicht alt genug war, weil ihre Menarche noch ausstand, hatte sie sie zur Novizin bestimmt. Doch wenn Busla jetzt ins Dorf zurückkehrte, nur mit der Nachricht, Fremde seien im Wald, glaubte Gunberta vielleicht, sich in ihr getäuscht zu haben und dass Busla in Wirklichkeit noch nicht reif genug für die Ausbildung zur Druidin war.

Busla nahm ihren ganzen Mut zusammen. Ihre Meisterin und alle im Dorf sollten sehen, dass sie des Novizenstandes würdig war.

Rasch goss sie das Wasser aus dem Krug an einen Bärlauch, das Gefäß steckte sie in ihren Gürtelsack. Dann schlich sie den Pfad entlang, tiefer in den Wald hinein, auf die fremden Geräusche zu.

Allmählich konnte Busla mehrere Männerstimmen unterscheiden, aber sie verstand die Sprache nicht. Die Stimmen kamen direkt von der Lichtung, vom Nerthusfeld. Nur ein paar Schritte trennten sie noch von den Haselsträuchern, die von den Ahnen um den Kultplatz gepflanzt worden waren.

Von ihrem Standort aus konnte Busla niemanden sehen, aber es stank nach Ruß und schwelendem Holz. Da vorn musste ein Feuer brennen, mitten auf dem Nerthusfeld! Gunberta würde ihre Kühnheit loben, wenn sie Einzelheiten berichten konnte. Mit klopfendem Herzen bog sie ins Unterholz ab. Das leise Rascheln des toten Vorjahreslaubs unter ihren Füßen wurde von dem Lärm überdeckt, den die Männer machten. Sie schlich zwischen den Buchen bis an den Haselsaum heran.

Die hellgrünen Blätter der Haseln waren kaum entfaltet. Busla konnte ein halbes Dutzend Männer erkennen, die auf dem grasbewachsenen Kultplatz um ein Feuer herumstanden. Sie waren bewaffnet und mit metallbesetzten Kitteln und mit Röcken bekleidet. Einer der Fremden trug einen Metallhelm mit einem Federbusch auf dem Kopf.

Die junge Busla hatte noch nie Römer zu Gesicht bekommen, denn nördlich des Rheins gab es nur wenige römische Stützpunkte. Aber sie kannte die „Sandalenträger“ aus Erzählungen: Männer in Röcken und Riemenschuhen, die Helme der Ranghöchsten waren mit Federn geschmückt. Busla streckte den Kopf vor. Rechts vom Feuer befand sich der Altar, zwei Männer waren über den Findling gebeugt. Einer richtete sich gerade auf, ein Messer in der einen Hand, ein Stück Fell in der anderen. Die langen wolligen Zotteln waren blutdurchtränkt.

Auf dem Stein des Lebens war ein Schaf getötet worden! Busla schlug beide Hände vor den Mund und wich zurück. Unter ihrem Gewicht brach ein trockener Ast, es knackte laut.

Die beiden Männer am Altar waren zu weit entfernt, um das Geräusch zu hören, aber zwei Römer am Feuer drehten sich zu Busla um.

Weglaufen hatte keinen Sinn. Bis sie aus dem Gestrüpp heraus wäre, hätten die Römer sie längst umzingelt. Instinktiv machte Busla das einzig Richtige: Sie schloss die Augen und bewegte sich nicht. In ihrem Geist wurde sie unsichtbar. Die Römer sagten etwas in ihrer polternden Sprache, dann brachen sie in ein Gejohle aus.

„Marius und Gaius sehen Geister“, schrie Quintus, ein Dicker mit verbogenem Helm, und schwenkte den Weinschlauch.

Marius, ein junger Mann mit Pickeln auf den Wangen, starrte in den Wald, wo sich hinter den Haselbüschen das Dunkel ausbreitete. „Im Ernst, da hat ein Ast gekracht. Das war nicht bloß ein Kaninchen.“

„Vielleicht war’s ein großer Hasenfuß!“, rief Lucius. Er war Tesserarius und Ranghöchster der Gruppe. „So einer wie du zum Beispiel.“ Mit einer Handbewegung in Quintus’ Richtung verlangte er nach dem Weinschlauch. „Trink einen Schluck, mein Marius, lass dir von Bacchus Verstand einflößen.“

Langsam öffnete Busla die Augen. Die Römer auf der Lichtung grölten und lachten. Keiner schaute in ihre Richtung. Hinter ihr standen trockene Farnwedel vom Vorjahr, die drückte sie vorsichtig zur Seite. Schritt für Schritt entfernte sie sich von der Lichtung. Sie musste Gunberta benachrichtigen, und zwar schnell. Auf Zehenspitzen erreichte sie den Pfad und rannte ohne innezuhalten bis ins Dorf.

Wenig später, die Sonne hatte gerade ihren höchsten Stand erreicht, kehrte Busla zum Nerthushain zurück. Sie hatte Verstärkung mitgebracht: Ihre Meisterin Gunberta war die Schwester der Tilrun von Mildum, einer Großdruidin, die alle sieben Zauberkräfte besaß und zusammen mit dem Heerkönig den Stamm anführte. Mit erhobenem Eibenstab eilte Gunberta zum Nerthusfeld. In der vergangenen Nacht hatte sie kaum geschlafen, weil ihre kleine Tochter am Fleckfieber erkrankt war. Eigentlich hatte Gunberta vorgehabt, den Schlaf am Vormittag nachzuholen. Ihre weißblonden Zöpfe wippten zornig im Takt ihrer Schritte, das weite graue Gewand flatterte um ihre Beine.

Gunberta war eine kluge und erfahrene Frau, doch römische Soldaten hatte sie bisher nur als Begleiter von Händlern gesehen. In ihren Augen glichen sie dummen Kindern, die nicht gefährlich waren, aber Unfug anstellten. Sie musste den Männern eine Lektion erteilen.

Die Erwachsenen in ihrer Begleitung, Bauern aus dem Dorf, waren mit Knüppeln und mit Framen, den germanischen Wurfspießen, bewaffnet. Nicht, dass sie mit einem Kampf rechneten – ihre Druidin war mächtig genug, um es mit ein paar Römern aufzunehmen. Aber sie fanden, etwas zusätzliche Bewaffnung mache Eindruck. Nur Busla war sich nicht so sicher. Fest umklammerte sie ihren Eibenstock.

Sie erreichten den Rand der Lichtung. Der Geruch von verbranntem Fett hing in der Luft. Ein Dutzend römische Soldaten saß auf dem Stamm einer umgestürzten Buche am gegenüberliegenden Rand der Lichtung. Die Männer hatten ihr Mahl fast beendet. Das Feuer schwelte nur noch.

Busla und die Bauern blieben am Rand des Nerthusfelds stehen. Niemand durfte den Ort ohne vorherige Meditation betreten. Sie beobachteten, wie Gunberta mit großen Schritten bis zum Altar lief und die Römer ihr überrascht entgegenschauten. Sogar aus der Entfernung konnte Busla die rotbraunen Flecken auf dem heiligen Stein erkennen.

Gunberta zeigte auf die Fellstückchen und Knochensplitter, die an dem grauen Granit hafteten. „Frevel!“, rief sie und drehte sich zu ihren Leuten um. „Blut klebt auf dem Stein des Lebens.“

Busla und die Bauern murrten laut, damit die Römer hörten, was sie von der Entweihung ihres Altars hielten. Das germanische Murren war ein kehliges Knurren, ein grollender Ton, der auf die Römer befremdlich und barbarisch wirkte. Tesserarius Lucius erhob sich betont langsam. Die Germanen sollten nicht denken, dass er sich von einem solch kindischen Einschüchterungsversuch beeindrucken ließ.

Lucius war noch nicht lange in diesem Teil von Germanien stationiert. Bis vor einem Monat hatte er noch in Ulpia gedient, einer Kolonie am Rhein, im Norden des römischen Reichs. Jetzt stand er einer germanischen Zauberin gegenüber, die er nur an ihrem Eibenstock erkannte und die er nicht einschätzen konnte. Um seine Unsicherheit zu überspielen, versuchte er es mit Dreistigkeit. Er streckte sich, als hätte er gerade ein Nickerchen gehalten. Sein Kettenhemd klirrte, der Helm mit dem breiten Federbusch wippte.

Noch standen Busla und die Bauern außerhalb des Haselbuschkreises, voller Ehrfurcht vor dem heiligen Ort, wie sie es gewohnt waren. Aber hier handelte es sich um einen Ausnahmefall, das spürten alle, und deshalb betraten sie nun zögernd die Lichtung. Sie hatten schon oft von der Frechheit der Römer gehört. Nun wollten sie von Nahem erleben, wie diese Leute sich verantworten mussten.

Lucius schlenderte auf die Druidin zu, dabei biss er provozierend ein Stück Fleisch von der Keule in seiner Hand. Seine Männer hinter ihm auf dem Baumstamm sollten sehen, dass er die Barbarin nicht fürchtete.

„Hast du auch Appetit, Zauberin?“, fragte er lässig und kaute auf dem Fleisch herum.

Gunberta richtete ihren Stab auf den Tesserarius. „Das kostet dich deinen Federbusch, du Gockel.“

Lucius lachte. Er verstand kein Germanisch, aber er hörte an Gunbertas Stimme, wie wütend sie war.

„Was hat sie gesagt, Dolmetscher?“, rief Lucius, ohne den Kopf zu wenden. Der Germane, der für ihn übersetzte, hatte abgelehnt, an ihrem Mahl teilzuhaben, und saß abseits in den Büschen. Der Ort, an dem sie sich befanden, sei heilig, hatte er gesagt. Wegen des Findlings und wegen der Bäume. Lucius begriff nicht, wie man Steine und Pflanzen anbeten konnte. Gottheiten waren für ihn allgewaltige, menschenähnliche Herrscher, denen in Tempeln gehuldigt wurde. An der Größe und der Pracht dieser Bauwerke erkannte man die Macht der Götter und die Ehrerbietung ihrer Gläubigen. Hier, im Wald, gab es nichts dergleichen.

Walasch, der Dolmetscher, ein älterer Mann mit einem bunten Mantel über den Schultern und einem Lederschild auf dem Rücken, kam hinter einem Haselstrauch hervor. Er war zwar an der Ostsee geboren, aber sein ganzes Leben lang hatte er die Welt durchwandert, Waren erworben und weit von ihrem Herstellungsort wieder eingetauscht. Nun, im Alter, schmerzten seine Knochen beim Reisen, und er war froh, dass die Soldaten ihn fürs Übersetzen entlohnten. Walasch war kein besonders kluger Mann, aber im Augenblick war er derjenige, der die Situation am besten überblickte.

Der Tesserarius nahm den Mund ziemlich voll und merkte nicht, wie viel Ärger er sich einhandelte. Die Römer wurden im Land geduldet, weil sie fremdländische Handelswaren mitbrachten, im Gegenzug mussten sie die Regeln der Einheimischen respektieren. Der Tesserarius würde von seinem Zenturio bestraft werden, falls die Druidin sich über ihn beschwerte. Aber offensichtlich hatte der Römer nicht begriffen, dass er besser den Schwanz einziehen und um Nachsicht bitten sollte. Walasch ging über die Lichtung und blieb neben dem Tesserarius stehen.

„Was faselt die Frau da?“, fragte Lucius. Gaius und der dicke Quintus erhoben sich und kamen näher.

„Du wirst es teuer bezahlen, meint sie“, sagte Walasch und überlegte, ob er nur übersetzen oder auch vermitteln sollte. Er konnte sich nicht recht entscheiden, denn er mochte weder die Römer noch die Gadsche, die Sesshaften, die einem Stamm angehörten und einem Führer oder Heerkönig folgten. Beide Gruppen behandelten ihn, den Reisenden, mit Geringschätzung.

Gaius und Quintus traten hinter den Tesserarius. Dabei warf Quintus einen abgenagten Knochen weg und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.

„Schau sie dir an“, sagte Gunberta zu Walasch und wies auf die drei Römer. „Sie schänden unsere Heiligtümer, sie fressen, als wären sie von Schmeißfliegen erzogen worden. Für so ein Gesindel arbeitest du.“ Sie spuckte ihm vor die Füße.

„Sie nennt euch Ungeziefer und Lumpenpack“, sagte Walasch zum Tesserarius und beobachtete befriedigt, wie ihm die Zornesröte ins Gesicht stieg.

Lucius öffnete den Mund, doch die Druidin war schneller. „Der Federbusch da ist mein Gefangener.“ Sie gab einem ihrer Begleiter, einem kräftigen Bauern, einen Wink. „Die anderen sollen ihren Obersten holen“, sagte sie zu Walasch. „Der kann sich schon mal überlegen, wie er uns entschädigt.“

Während sie noch sprach, ging der Bauer auf Lucius zu. Er löste einen zusammengerollten Strick von seinem Gürtel.

Erschrocken begriff Walasch den Ernst der Lage. Nicht nur der Tesserarius, auch die Druidin wollte es auf einen Machtkampf ankommen lassen. Wenn die Römer Widerstand leisteten, würde es zum Handgemenge kommen. Vielleicht gab dann der Zenturio im Lager Walasch und seiner undiplomatischen Übersetzung die Schuld.

Gern hätte Walasch jetzt den Worten der Druidin etwas von ihrer Schärfe genommen, aber es wollte ihm nichts einfallen. Er entschied sich für: „Sie will dich gefangen nehmen, Tesserarius.“

Die Römer brachen in Gelächter aus. Lucius zeigte mit dem Finger auf Gunberta. „Ein Weib will mir die Stirn bieten?“ Er lachte noch lauter als zuvor.

„Er will sich von einer Frau nichts sagen lassen“, übersetzte Walasch.

Gunberta wurde bleich. „Ihr verschwindet hier sofort. Alle, außer dem da.“ Mit dem unteren Ende ihres Stockes wies sie auf den Tesserarius und tippte ihm kräftig gegen die Schulter.

Mit dem Stoß hatte Lucius nicht gerechnet. Er schwankte und hob instinktiv den Arm, um sein Gleichgewicht zu halten.

An einem anderen Tag, ausgeschlafen, ohne ein krankes Kind zu Hause, hätte Gunberta wahrscheinlich besonnen reagiert. Aber heute wertete sie diesen gehobenen Arm als Angriff. Mit Schwung hieb sie dem Tesserarius ihren Stock auf den Unterarm.

Der Schlag war so stark, dass er Lucius die Elle brach. An der getroffenen Stelle bildete sich eine Beule, man konnte zusehen, wie sich der Bluterguss ausdehnte.

Lucius starrte auf das rote Mal, für einen Augenblick konnte er nicht fassen, was da gerade geschehen war. Dann brüllte er lauter als das Lamm, das sie auf dem Altar geschlachtet hatten.

Die Soldaten, die noch auf den Baumstämmen saßen, sprangen auf und kamen nach vorn, um ihrem Anführer beizustehen.

Mit hocherhobenem Stab ging die Druidin ihnen entgegen. „Macht euch davon, bevor ich es mir anders überlege.“

In ihrem Rücken zogen Gaius und der dicke Quintus ihre Waffen und liefen ihr hinterher.

„Gunberta! Vorsicht!“, rief der Bauer mit dem Strick. Doch bevor sich Gunberta umdrehen konnte, stieß ihr Quintus sein Schwert in den Rücken. Sie fiel nach vorn, der Eibenstab glitt aus ihrer Hand. Blut quoll aus dem Riss in ihrem Gewand, es breitete sich rasch auf dem grauen Stoff aus. Alle starrten auf die Druidin.

„Und jetzt seht ihr zu, dass ihr verschwindet“, brüllte Lucius die Bauern an. „Verdammte Scheiße, die Schlampe hat mir den Arm gebrochen.“

„Lasst uns abhauen, Tesserarius“, sagte Walasch leise. „Die holen Verstärkung, und dann kann es ungemütlich werden.“ Beklommen wich er dem ernsten Blick der kleinen Novizin aus, die an ihm vorbeiging und sich neben die Druidin kniete.

Buslas Ausbildung war noch nicht weit fortgeschritten, trotzdem erkannte sie ihre Bestimmung. Die Wendung des Schicksals hatte durch sie begonnen. Nun musste sie es zu Ende bringen. Sie strich ihrer Meisterin das weißblonde Haar aus dem Gesicht.

Gunberta öffnete den Mund, Blut lief heraus. Sie lag auf dem Boden und starb, das begriff sie nun. Sie spürte das kühle Gras an ihrer Wange.

Buslas inneres Auge erwachte, sie wunderte sich, wie leicht es ging. Sie sah die drei Nornen, die Schicksalsfrauen, mit ihrem Webrahmen. Darauf webten sie das Los der Menschen. Die Kettfäden waren gespannt. Sie glitten auseinander, formten einen Zwischenraum, das Webfach. Die Nornen schoben ein Webschiffchen hindurch. Es zog einen blutroten Faden mit sich. Das Fach schloss sich und öffnete sich erneut. Wieder glitt ein Webschiffchen hindurch. Sein Faden war grau wie Asche. Unaufhaltsam schloss und öffnete sich das Fach, die Nornen schossen die Schiffchen hindurch, und das Gewebe, das vorbestimmte Muster entstand. Gunbertas Faden endete, die Nornen webten mit dem Garn ihrer Novizin weiter.

Busla ergriff die Hand ihrer Meisterin. Gunbertas Finger zuckten, ein Kribbeln stieg in Buslas Arm auf. Das musste die Zauberkraft sein, die nun von der Meisterin auf die Schülerin überging. Gleich würde die Walküre erscheinen, die die ehrenvoll Gefallenen auserkor und nach Walhall führte.

Die Totenkieserin näherte sich wie ein aufkommender Wind. Leise sprach Busla die Grußformel. Erst gestern hatte Gunberta sie diesen Spruch gelehrt. Alles geschah, wie es die drei Nornen bestimmt hatten.

Auch Gunberta erkannte die Walküre, sie sah den Nebel, der die Totenkieserin umgab, und wusste, dass sie auserkoren war. Sie lächelte.

Ein kühler Luftzug streifte Buslas Nacken. Sie krümmte ihren Rücken und hielt die Hand ihrer Meisterin fest in der ihren. Gunbertas Finger bewegten sich nicht mehr. Ihre Augen erstarrten. Ihr Geist entwich aus ihrem Körper, sie schloss sich der Walküre an. Busla fühlte, wie beide sich entfernten. Aus den Augenwinkeln sah sie einen zarten Hauch, der sich in der Luft auflöste.

Walasch wischte seine verschwitzten Hände an der Hose ab. Er wusste, wie gefährlich die Gadsche werden konnten, auch wenn sie nur leicht bewaffnet und in der Minderheit waren. Aber das konnte er dem Tesserarius so schnell nicht erklären. Er tippte ihn an den unverletzten Arm. „Du solltest zu einem Heiler gehen. Je früher der Bruch geschient wird, desto besser.“

Lucius nickte. „Abmarsch!“, rief er und biss die Zähne zusammen. Das Mädchen, das neben der toten Zauberin hockte, machte ihm Angst mit ihrem stieren Blick.

Der dicke Quintus schaute auf sein blutiges Schwert. Er fragte sich, ob er für seine Tat eine Auszeichnung oder eine Strafe bekäme. Rückwärts ging er zum Rand der Lichtung und wischte die Klinge an dem moosigen Baumstamm ab, auf dem sie eben noch gesessen und das Lamm verzehrt hatten.

Reglos standen die Germanen um die tote Druidin herum. Die Soldaten dagegen hatten es eilig, die Lichtung zu verlassen. Sie nahmen den gleichen Weg, den sie sich am Morgen durch den Wald gebahnt hatten. Das wahre Ausmaß der Folgen konnten sie nicht kennen, aber sie spürten doch, dass sich ein Gewitter über ihnen zusammenbraute.

„Verdammt, der Zenturio wird nicht begeistert sein“, murmelte Lucius.

Walasch nickte. „Wir hätten lieber gleich abhauen sollen.“

Quintus, der hinter ihnen ging, spuckte aus. „Halt’s Maul. Das sagst du nur, weil du keinen Mumm hast, den Tesserarius zu verteidigen.“ Er sprach lauter und lauter. „Die verdammte Barbarin hat ihm den Arm zertrümmert.“ Langsam ahnte er, dass es mit der Belohnung nichts werden würde.

Lucius stöhnte. Schweißtropfen standen auf seiner Stirn. Er erinnerte sich vage, dass in Germanien ein Stoß in den Rücken sogar unter Schwerverbrechern als ruchlos galt. „Stehen bleiben, Leute! Besprechung.“

Die Soldaten sammelten sich um ihren Tesserarius.

„Alle herhören. Ihr habt es selbst gesehen: Die Barbarin hat mich schwer verwundet, völlig grundlos natürlich. Dann wollte sie Gaius angreifen.“

Die Soldaten nickten.

„Genau so war’s, oder?“ Quintus warf Walasch einen bösen Blick zu.

Auch Lucius nahm den Dolmetscher in den Blick. „Rücklings erschlagen will ich von keinem hören.“

„Nie im Leben“, sagte Walasch schnell.

Sie liefen weiter, Walasch führte den Trupp an. Die Bäume standen dicht an dicht, Gestrüpp wucherte überall. Als sie endlich aus dem Wald heraustraten, lag vor ihnen die Aue und hinter dem Fluss der flache, mit Gras und Strauchwerk bewachsene Hügel, auf dem sich die schützende Palisade ihres Lagers erhob. Sie überquerten die Furt und erreichten ihre Siedlung noch vor der Abenddämmerung.

Im Hain der Nerthus beschien die Sonne den besudelten Altar und trocknete das Blut. Die Bauern standen mit gesenktem Kopf vor der Leiche ihrer Druidin.

Busla regte sich als Erste. Sie drehte die Tote auf den Rücken und legte ihr den Eibenstab längs auf die Brust. So konnte jeder sehen, dass ihre Meisterin im Kampf gefallen war.

Der Kuckuck rief, ganz in der Nähe. Busla bekam eine Gänsehaut. Nun verstand sie die Botschaft: Das Alte vergeht, etwas Neues bricht an. Eine prickelnde Welle der Erleuchtung stieg in ihr auf, von den Fußsohlen bis zum Scheitel. Als die Woge wieder abebbte, blieb ein bisher unbekanntes Gefühl der Stärke zurück.

„Geht ins Dorf“, sagte sie zu den anderen, „beeilt euch. Wir müssen sofort Tilrun Bescheid geben.“

Das Erntedanktier

Nordgard, Nordjütland, 34 Winter später im Herbstmond

Es war Nachmittag, schon ziemlich kühl, aber trocken. Bestes Jagdwetter. Heerkönig Thorwaltshunt lockerte Fafnirs Zügel. Der Wallach trabte über den Heerkönigshof auf den Weg, der zur Weststraße führte. Heute hatten sie Tag- und Nachtgleiche, Erntedanknacht, das Fest der Fruchtbarkeit. Schon wieder war ein Jahr vorbei, die Zeit verging immer schneller, und wieder mussten sie ein Erntedanktier finden und erlegen, damit die Erde auch in Zukunft fruchtbar blieb.

Vor ihm sprengte die junge Erkenhild auf ihrer Stute Alda voran. Die lederne Kriegerkappe auf ihrem Kopf glänzte frisch eingefettet, ihre weißblonden Zöpfe, zwei auf jeder Seite, wehten hinter ihr her. Leif folgte ihr auf seiner Stute, und Thorwaltshunt fiel auf, dass ihm langsam die Haare aus gingen.

Der Heerkönig strich sich über den eigenen Kopf. Seit einigen Wintern war er glatt rasiert. Ein Heerkönig mit dünnem Haar, das passte nicht, sein eintätowierter Odinsknoten auf dem Schädel flößte viel mehr Respekt ein. Die drei ineinander verschlungenen Dreiecke des Knotens standen für Mut, Kraft und Ehre. Eigenschaften, aus denen der Nachruhm gewebt war.

Hinter ihm ritt Rutger und scherzte mit Jörna. Er hoffte wohl, dass er heute Nacht mit ihr schlafen konnte. Aber daraus würde nichts werden, weil Jörna lieber mit Thorwaltshunt schlief als mit ihm. Eine Ausnahme würde sie nur machen, wenn Rutger das Opfertier erlegte. Dann musste Thorwaltshunt sich mit einer anderen begnügen, aber es gab genug unverheiratete Kriegerinnen und Hausherrinnen, die ihn begehrten. Und heute brauchte jede einen Mann, zu Erntedank schliefen nur die Kinder und die Greise allein.

Sie ritten durch das Westtor und ließen die Palisade der Stadt hinter sich. Die Nordgarder Flur lag in der Herbstsonne vor ihnen. Auf den Feldern zwischen den Höfen holten Bauern gerade die letzten Rüben aus dem Acker. Als Thorwaltshunt vorbeiritt, sahen sie von ihrer Arbeit auf und legten die Waffenhand an die Brust. Er grüßte zurück.

Hinter dem Zwillingshof begann der Blodswald. Von Weitem war zu sehen, dass die alte Thoreiche am Waldrand schon gelbe Blätter bekam. Thorwaltshunt und seine Gefährten überquerten den Waschplatz und den Bach hinter dem Hof. Am Fuß der Thoreiche führte ein Weg in den Wald, Sonnenflecken lagen auf dem Pfad. Über ihnen streckte der heilige Baum seine Äste aus.

Dort hielten sie an.

„Wir weiter reiten, bis wir eine Spur finden“, sagte Thorwaltshunt. „Zuerst versuchen wir es oben beim Blodsbach.“

Das diesjährige Opfertier war ein Wildschwein. Busla, die Großdruidin des Stammes, hatte es in den Vogelknochen gelesen: Das Opfertier wartete im Blodswald auf sie, sie mussten es bis zum Ende der Nacht finden und erlegen.

Rutger strich sich über seine langen Bartzöpfe. „In der Nähe der Dreistämmigen Esche gibt es große Suhlen. Warum fangen wir nicht dort mit der Pirsch an?“

Thorwaltshunt schüttelte den Kopf. Im Sommer hatte er unten am Bach ein schwarzes Wildschwein gesehen, neben der alten Hainbuche, wo so viele Röhrlinge wuchsen. Ein Keiler, dreimal so schwer wie ein Mann, das Gewaff weiß wie Schnee und zwei Handbreit lang. In dem Tier steckte der Geist des Goldborstigen, des Keilers der Fölla, einer mächtigen Ahnin und Raterin.

„Wir sehen zuerst am Bach nach.“ Thorwaltshunt lenkte sein Pferd auf den Pfad und die anderen ritten ihm hinterher.

Das Opfertier wählte selbst den Krieger aus, der es erlegen sollte. Thorwaltshunt war der Keiler schon vor Monaten begegnet, deswegen war er sicher, dass das Tier es so einrichten würde, dass Thorwaltshunt es als Erster zu Gesicht bekam.

Oberhalb vom Bach banden sie ihre Pferde an den Bäumen fest. Rechts plätscherte leise das Wasser hinter den Hainbuchen, doch Rutger wandte sich nach links, wo das Farnkraut abgeknickt war. Nach ein paar Schritten winkte er ihnen zu.

„Ein Malbaum.“ Er zeigte auf eine Eiche.

Thorwaltshunt nickte und folgte Rutger durch den Farn. Tatsächlich war um die Eiche herum der Boden kahl, die Borke des Baumes abgescheuert. Reste von Schlamm klebten am Stamm.

Erkenhild zupfte ein paar Haare von der Dreckkruste. „Wildschwein“, sagte sie. „Der Schlamm ist noch feucht.“

Sie sahen sich um.

Hinter dem Malbaum versperrten Haseln die Sicht. Rutger drückte die Äste auseinander. „Hier ist die Suhle.“

Leif und Jörna umrundeten die Haseln und die vier Krieger verschwanden hinter den Büschen.

Thorwaltshunt ließ sie laufen. Er ging zu den Pferden zurück und weiter bis zur Böschung. Unten floss der vom langen Sommer seichte Bach, schräg gegenüber stand die Hainbuche, wo Thorwaltshunt vor zwei Monaten den Keiler gesehen hatte. Ihr Laub war noch kräftig grün. Am sandigen Ufer hatten Tiere ihre Spuren hinterlassen, Abdrücke von Vögeln, Rehen und einem Fuchs, darüber prangten Trittsiegel von Wildschweinen. Es waren mindestens zwei Tiere gewesen, doch der Keiler vom Sommer war nicht dabei, dazu waren die Abdrücke zu klein.

Schritte näherten sich. „Da oben ist nichts“, sagte Jörna hinter ihm. „Was gibt’s hier?“

Thorwaltshunt wies auf die Wildschweinspuren. Die Wildschweine waren bachaufwärts gelaufen, Erkenhild und die anderen machten sich auf und folgten ihnen.

Thorwaltshunt sah ihnen nach. Wenn ein Wildschwein von vorn kam, würde es auf Erkenhild treffen. Sie würde es töten, auch wenn es kein großes Tier war. Dann wäre das diesjährige Erntedanktier erlegt, und der Keiler vom Sommer käme zu spät.

Die Sonne stand schon tief und ihre Strahlen färbten die Wipfel der Bäume goldgrün. Hinter Thorwaltshunt platschte es. Vorsichtig drehte er sich um.

Ein Wildschwein stand im Bach, groß wie ein Bär, schwarzes Fell mit hellen Haarspitzen: Es war der Keiler vom Sommer. Das Wasser umspülte seine Klauen, das Gewaff ragte zwei Handbreit aus seinem Maul.

Es war Föllas Goldborstiger.

Thorwaltshunt nickte ihm zu. Er trat in das Bachbett, auf den Weg, den der Keiler gewählt hatte. Das Wasser drang durch seine Schuhe und verband nun Midgard und Asgard, die Welt der Menschen und die der Rater. Der Keiler kam auf ihn zu, die kleinen schwarzen Augen fixierten ihn. Golden leuchteten die Haarspitzen seines Fells im letzten Tageslicht.

Jörna erschien neben ihm. „Der Jagdspieß“, sagte sie leise und reichte ihm die Waffe.

Thorwaltshunt packte den Spieß. Sofort blieb der Keiler stehen. In seinen Augen blitzten Funken, er hob die Schnauze als Auftakt zum Kampf. Schritt für Schritt ging Thorwaltshunt ihm entgegen. Wenn er das Tier überwältigte, würde er sein riesiges Fell in die Festhalle hängen, neben das Geweih des Erntedankhirschen, den er vor fünf Wintern erlegt hatte. Aber wenn der Keiler ihm seine Eckzähne in den Bauch rammte, würde er verbluten.

Der Keiler setzte sich in Bewegung. Kurz folgte er dem Bachbett, dann sprang er aufs andere Ufer und trottete über den Grassaum auf den Wald zu. Dabei schaute er zurück, als wollte er Thorwaltshunt führen.

Thorwaltshunt ging ihm hinterher, der Jagdspieß lag fest und sicher in seiner Hand. An der alten Hainbuche drehte sich der Keiler um. Zwischen Thorwaltshunt und seinem Gegner wuchsen nur Gras und niedriges Buschwerk, der Keiler hatte einen guten Kampfplatz gewählt.

Er zeigte ihm sein Gewaff und wetzte es an der Hainbuche, während Thorwaltshunt den Jagdspieß ausbalancierte. Die eiserne Spitze war scharf und unbenutzt, mit ihr musste er die Lunge oder das Herz treffen.

Der Keiler begann zu schnaufen, seine langen Nackenborsten stellten sich auf. Er schaute Thorwaltshunt an, sie standen Aug in Aug.

Hinter dem Keiler knackten Zweige im Wald.

„Da ist er. Ruhig jetzt.“ Ein fremder Krieger trat hinter einem Busch hervor. Er trug eine Kriegerkappe, in die ein Luchs eingepunzt war, ein Krieger vom Luchsstamm. Sicher einer von Gernods Leuten. Sie gehörten auch zu den Haruden, wie die Nordgarder, und ihr Stammesgebiet lag nicht weit entfernt.

Der fremde Krieger ging langsam und vorsichtig auf den Keiler zu. In der Hand hielt er einen Jagdspieß, genauso wie Thorwaltshunt.

Bär, Hirsch, Auerochs, Robbe, viele Tierarten kamen als Erntedanktiere infrage, aber offenbar hatte Gernods Großdruide für seinen Stamm ausgerechnet dieselbe Art bestimmt wie Busla: das Wildschwein.

Der fremde Krieger war nur noch ein Dutzend Schritte von dem Keiler entfernt und ließ ihn nicht aus den Augen. Er tat so, als würde er Thorwaltshunt nicht bemerken, obwohl sie in einer Linie standen, mit dem Keiler zwischen sich.

„Hau ab!“, rief Erkenhild von der anderen Bachseite her. „Du vertreibst uns das Opfertier.“

„Es ist Erntedank.“ Der fremde Krieger kam näher und hob seinen Spieß. „Seit Stunden verfolge ich dieses Wildschwein.“

Hinter ihm erschienen seine Begleiter. Sie waren abgesessen und hielten ihre Pferde am Zügel. Vier Krieger und der Lange Gernod persönlich, der seine Leute um einen halben Kopf überragte.

„Vorsicht, Wigbald“, rief Gernod. „Lass das Wildschwein nicht entkommen.“

Der Keiler rollte mit den Augen und machte einen Satz zur Seite.

„Verzieh dich, Gernod“, sagte Thorwaltshunt. „Und nimm deine Leute mit.“ Wenn die nicht schnell verschwanden, machte der Keiler ganz kehrt. Schon schüttelte das Tier den Kopf. Schaum troff von seinem Gewaff.

Gernod blieb am Waldrand stehen. „Lass doch den Keiler entscheiden.“

„Das Erntedanktier hat meinen Heerkönig zuerst gefordert. Für euch hat sich die Sache erledigt“, rief Erkenhild und lief mit stampfenden Schritten auf Gernod zu.

„Loki furzt aus deinem Mund, du Missgeburt!“ Wigbalds Stimme übertönte Erkenhilds Schritte.

Der Keiler schaute zum Waldrand, wo Erkenhild sich vor Gernod aufbaute, dann schnaubte er und trabte in Thorwaltshunts Richtung. Na also.

„Dir werd ich’s zeigen“, brüllte Wigbald, während der Keiler immer schneller auf Thorwaltshunt zulief.

Thorwaltshunt schloss seine Hände fester um den Spießschaft. Unter den Klauen des Keilers spritzte Erdreich auf. Sein Gewaff glänzte vor Speichel. Thorwaltshunt zielte auf den mächtigen Brustkorb. In den Augen des Tieres blitzte das Weiße des Augapfels.

Aber im letzten Augenblick wich der Keiler aus. Nach ein paar Sprüngen machte er halt, drehte sich um und scharrte mit den Hinterläufen.

„Hört auf, euch zu streiten, wir sind auf Erntedankjagd!“ Das war Leifs Stimme. Wasser platschte hinter Thorwaltshunt, offenbar wechselte auch Leif die Bachseite und machte dabei genauso viel Krach wie Erkenhild und Gernods Leute.

Bei einem solchen Lärm wäre ein gewöhnlicher Keiler längst auf und davon, aber der Goldborstige hob den Schwanz und richtete seinen Blick erneut auf Thorwaltshunt.

„Runter mit dem Spieß“, rief Erkenhild. Ein paar Äste knackten, Blätter raschelten, ein dumpfer Aufprall folgte. Thorwaltshunt sah nicht hin. Er musste dem Blick des Goldborstigen standhalten. Doch der Keiler wandte sich ab. Er machte kehrt und lief in den Wald. Dieses Mal hielt er nicht an, sondern verschwand hinter den Bäumen.

Thorwaltshunt fuhr herum. „Gernod, verdammt! Du und deine Schwächlinge, ihr habt alles verdorben.“

Erkenhild lag auf dem Boden neben ihrem gelb-rot gestreiften Mantel und dem Jagdspieß ihres Gegners. Gerade rappelte sie sich wieder auf. Sie stand kaum, da knallte Wigbald ihr seine flache Hand ins Gesicht. Sie stieß ihn vor die Brust, sodass er rückwärts stolperte und auf seinem Hintern landete. Recht so, in Gernods Stammesgebiet gab es schließlich genug Wildschweine im Wald. Thorwaltshunt ging auf Gernod zu. Diesem Kerl würde er jetzt Bescheid stoßen.

„Na, großartig.“ Gernod schüttelte den Kopf. „Sag nicht, du willst dich zu Nerthus’ Ehren auch mit mir prügeln, Thorwaltshunt.“ Er selbst hatte offenbar keine Lust auf eine Schlägerei, so wie er den Mund verzog.

„Jetzt reißt euch zusammen.“ Leif reichte Wigbald die Hand und half ihm hoch. „Es ist Erntedank für alle Stämme in Jütland.“

Thorwaltshunt blieb stehen. Leif hatte recht. Eine Schlägerei um das Erntedanktier, nüchtern zudem, war würdelos.

Erkenhild und Wigbald zogen ihre Kleidung zurecht und warfen sich böse Blicke zu. Er hatte Blätter im Haar, sie wischte sich Blut von der Lippe.

„Das nächste Mal ziehe ich dir mein Schwert über die Ohren“, sagte Thorwaltshunt zu Gernod.

„Jaja.“ Der Lange Gernod richtete sich zu voller Größe auf. „Wenn du so hoch kommst.“ Er trat zu Wigbald und klopfte ihm auf die Schulter. „Wir suchen uns ein anderes Wildschwein.“

Wigbald nickte und zupfte sich das Laub aus den Haaren. Er und Gernod kehrten zu ihren Leuten und den Pferden zurück. Alle saßen auf und verschwanden hinter den Bäumen.

Erkenhild hob ihren Mantel auf. „Verdammte Schisser.“ Sie klopfte den Dreck vom Stoff und warf sich den Mantel über die Schultern. „Und jetzt?“

Hinter Thorwaltshunt barsten Äste. Keine trockenen Zweige, sondern frisches Holz. Er fuhr herum. Der Keiler brach durchs Gebüsch. Er hielt auf Thorwaltshunt zu.

Schnell drehte Thorwaltshunt die Waffe zum Stoß. Aber der Keiler war zu nah. Er schnaufte wie ein wilder Stier. Thorwaltshunt sprang zur Seite. Doch das Tier rammte ihn, mit der Schulter prallte es gegen seine Hüfte. Er verlor das Gleichgewicht. Der scharfe Keilergeruch stach ihm in die Nase. Fell streifte seinen Arm. Das Gewaff verfing sich in seinem Mantel. Es riss ein langes Loch in den Wollstoff. Thorwaltshunt schwankte, aber er blieb auf den Beinen. Der Keiler hatte so viel Schwung, dass er erst zehn Schritt weiter zum Stehen kam. Seine Nackenborsten waren steil aufgerichtet, er drehte sich um. Wild scharrte er mit den Läufen. Erdbrocken flogen auf. Sein schwarzgoldenes Fell glänzte sogar in der beginnenden Dämmerung. Der Goldborstige war von Zwergen aus Eisen geschmiedet worden und zum Leben erwacht. Er kam auf Thorwaltshunt zu.

Mit dem scharfen Speer konnte er ihn jetzt mühelos verletzen. Doch um den Segen der Fruchtbarkeit zu erhalten, durfte das Erntedanktier nicht leiden. Am besten tötete er es mit einem einzigen Streich. Dazu musste er ihm die Klinge in den Brustkorb und ins Herz stoßen. Aber der Keiler rannte mit gesenktem Kopf auf ihn zu. Da war kein Durchkommen zur Brust. Wieder wich Thorwaltshunt ihm aus.

Der Keiler schlug die Kiefer aufeinander, Schaum tropfte von seinem Maul. Rutger und die anderen standen irgendwo am Ufer. Sie waren weit weg, wie durch eine Wand von Thorwaltshunt getrennt. Er war allein mit dem Goldborstigen auf einem Kraftplatz, in einer Zwischenwelt der Geister.

Thorwaltshunt stieß den langen Schaft seines Spießes auf den Boden. „Komm, Föllaschwein! Komm!“

Der Goldborstige galoppierte auf ihn zu. Schaum flog von seinem Maul. Hinten im Wald wieherte Fafnir, Thorwaltshunt erkannte seine Stimme. Der Keiler warf den Kopf zur Seite und schaute in die Richtung, wo hinter den Bäumen das Pferd stand. Eine Schaumflocke klebte an seinem Hals, sie leuchtete auf dem dunklen Fell. Thorwaltshunt stützte den Spießschaft in seine Hüfte und richtete die Spitze auf die Flocke aus. Der Goldborstige sprang auf ihn zu. Seine schwarzen Augen funkelten. Heftig, voller Kraft warf er sich auf den Spieß.

Das Eisen bohrte sich in sein Fell. Die scharfe Klinge schnitt durch die Schwarte. Sie versank bis zur Parierstange. Thorwaltshunt drehte den Spieß um seine Achse. Mit einem Schmatzen öffnete sich die Wunde. Luft strömte heraus. Er hatte die Lunge durchbohrt.

Der Keiler blinzelte ihn an und ging zu Boden. Sein gewaltiger Brustkorb hob und senkte sich. Er röchelte und schlug mit den Läufen. Im nächsten Moment erschlaffte er. Blut floss über das Fell. Unter dem Tier bildete sich eine Lache. Das Blut drang in den Boden ein. Nahrung für die hungrige Erde, Fruchtbarkeit.

Der Goldborstige starrte zum Himmel hinauf, wo hell und klar der Abendstern stand.

Thorwaltshunt kniete auf dem Boden. Rutger legte ihm die Hand auf die Schulter. Auch die anderen kamen zu ihm. Jörna, Leif, Erkenhild. Er lehnte sich zurück. Jörnas breite Schenkel stützten ihn. Tief holte er Atem. Die Luft war voll von Blut und Jörnas Schweiß, vom Duft ihrer Bereitschaft. Er sog diesen Geruch in sich ein. Am liebsten hätte er hier und sofort mit ihr geschlafen. Im Blut des heiligen Keilers. Schade, dass sie nicht allein waren.

Er stand auf und zog den Spieß aus der Brust des Tiers. Alle streckten ihre Hände aus und benetzten ihre Fingerspitzen mit dem Blut. Sie strichen es sich auf die Stirn. Die Sterne standen am Himmel und funkelten. Dies war die Erntedanknacht. Nerthus war mit ihnen. Thorwaltshunt hatte den Keiler erlegt und die ganze Stadt wartete auf ihn.

In der großen Festhalle am Marktplatz brannten alle fünf Feuer. Der Keiler hing von dem Querbalken neben der geöffneten Mitteltür. Er war aufgebrochen, der Speck schimmerte im Feuerschein. Thorwaltshunt hatte das Blut des Tieres in den Erntedankeintopf geben lassen. Der Geschmack der fetten Speise lag noch immer auf seiner Zunge. Das Fell des Goldborstigen hatten er und seine Jagdgefährten an der westlichen Giebelwand aufgespannt. Selbst aus der Entfernung blitzten die hellen Fellspitzen aus dem schwarzen Pelz.

Erntedank war immer ein großes Gelage. Die Verdienten – Leute, die beim Thing eine Stimme hatten – feierten zusammen mit den Mägden und Knechten. Sie hatten gegessen, die Barden hatten Loblieder gesungen, auf Thorwaltshunts Kampf mit dem Goldborstigen, auch auf alle seine Begleiter. Jetzt waren die Musikanten an der Reihe. In der Mitte der Halle tanzten die Leute einen Erntedanktanz. Die ersten Metfässer waren schon leer.

Thorwaltshunt lehnte sich an einen Pfosten nah der offenen Tür. Hier war die Luft frisch und kühl. Rikka, seine schwarze Dogge, drückte sich an sein Bein. Sie war froh, dass er wieder da war. Für gewöhnlich folgte sie ihm auf Schritt und Tritt. Nur heute hatte sie im Haus bleiben müssen, weil Hunde bei der Erntedankjagd nicht erlaubt waren.

Auch auf dem Marktplatz vor der Festhalle tanzten die Leute. Vor der Schmiede am gegenüberliegenden Rand des Platzes brannten Fackeln. Drei Dutzend, Nerthus hatte ihnen reichliche Ernte beschert. Sogar die Linden um den Platz herum hingen voller Nüsschen. Unter einem Baum stand Busla, die Großdruidin. Sie hielt ihren Eibenstab in der einen, ein Trinkhorn in der anderen Hand und sprach mit Erkenhild. Gerade tanzte ein Krieger aus Rutgers Haus, der rothaarige Benno, an Erkenhild vorbei und reichte ihr die Hand. Sie folgte ihm in die Menge. Busla sah ihr kurz hinterher, dann kam sie zur Festhalle herüber. Heute hatte sie ihre grauen Haare zu ährenartigen Zöpfen geflochten. Ihr Halsreif aus gewundenen Golddrähten, die Torka, funkelte, als sie die Halle betrat. Auch ihre lange Nase glänzte. Thorwaltshunt winkte sie zu sich.

Sie kam zu ihm und hob ihr Horn. „Auf den Schweinetöter. Möge die Reihe deiner Ehrennamen kein Ende finden.“ Mit der Hüfte lehnte sie sich an den Pfosten und nahm einen ordentlichen Schluck.

„Trinken wir Nerthus zu Ehren und auf Föllas Goldborstigen,“ sagte Thorwaltshunt wohl zum dutzendsten Mal. „Ich schenke dir das Gewaff“, fuhr er fort. „Du hast geweissagt, dass das Opfertier dieses Jahr ein Keiler ist, und genau so ist es gekommen.“

„Du bist großzügig.“ Busla tippte ihm mit ihrem Horn an die Brust. „Ich habe nichts gesagt vor den anderen, aber mir war klar, dass du ihn fängst und niemand sonst.“ Sie stützte sich schwer auf ihren Druidenstab. „Ich trinke nochmals auf Thorwaltshunt, Heerkönig der Haruden in Nordgard, und auf den größten Erntedankkeiler in ganz Jütland.“ Mit unsicherer Hand führte sie das Horn an ihre Lippen. Etwas Met tropfte von ihrem Kinn. Sie hatte wohl schon eine Menge gekippt. Aber sie hatte vollkommen recht, einen größeren Keiler als diesen gab es nicht. Er war sagenhaft, ein Tier aus Riesenheim. Sogar die Altkrieger hatten gestaunt. Thorwaltshunt war auf Fafnir durch alle Straßen von Nordgard geritten, hinter ihm seine Erntedankgefährten: Rutger, so stolz, als hätte er selbst den Keiler erlegt. Jörna mit ihrer roten Kriegerkappe und den langen, goldblonden Zöpfen. Erkenhild und Leif zusammen auf Leifs Wallach. Erkenhilds Stute hatte den Keiler getragen, und Rikka war mit aufgerichtetem Schwanz hinterdrein gelaufen. Die Nordgarder hatten mit den Füßen getrampelt, dass der Boden bebte. Ihre Waffen hatten gerasselt, der Beifall klang Thorwaltshunt noch immer in den Ohren.

Jörna tanzte an ihm vorbei und lächelte ihn an. Wie stolz sie ihre Schultern schüttelte und ihre Hüften wiegte. Er lehnte sich an den Pfosten zurück und schaute ihr zu.

Am besten sollten sie jetzt gehen. In ein oder zwei Stunden war bestimmt jeder Strohsack belegt. An Erntedank nahm es niemand so genau mit den Nachtlagern. Wo etwas frei war, legten sich die Paare hin.

„Zum Wohl, Thorwaltshunt“, sagte eine warme Stimme neben ihm. Es war die Lautenbardin, ihre drallen Arme schauten aus dem engen Wams. Die locker geflochtenen Haare fielen ihr weich bis über die Schultern. Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. „Auf den mächtigen Keiler und seinen Überwinder.“

Er lachte und leerte sein Horn. Jörna tanzte wieder an ihm vorbei. Sie hielt ihm beide Hände hin. Schnell steckte er sein Horn in den Gürtel und griff zu.

„Wollen wir in dein Haus gehen?“, flüsterte sie ihm ins Ohr.

„Ja, und zwar so bald wie möglich.“

Sie drängten sich an den Leuten vorbei. Draußen war es erfrischend windig. Aber kaum leiser, ganz Nordgard brummte wie ein Bienenstock. Alle feierten Erntedank. Nur ein paar Wachleute hatte Thorwaltshunt zu den Stadttoren geschickt.

Er nahm mit Jörna den kürzesten Weg zu seinem Langhaus. Sie liefen quer über Hofplätze und durch Gemüsegärten. Der volle Herbstmond strahlte vom Himmel. Jörna schwankte schon. Beim Laufen stieß sie immer wieder gegen seine Hüfte.

Die Wohnhalle war leer, das Feuer erloschen, nur durch die Rauchabzüge fiel etwas Mondlicht. Thorwaltshunt tastete sich an der Feuerstelle vorbei, dann an der Wand entlang bis zu seiner bronzebeschlagenen Truhe. Daneben lag sein Strohsack mit dem Bärenfell. Das Stroh raschelte leise, als Jörna sich auf das Fell setzte und sich auszog.

Er legte seine Waffen ordentlich nebeneinander auf seine Truhe. Die Kleidung dagegen ließ er einfach auf den Boden fallen. Schnell an ihre Haut, er brauchte jetzt ihren Geruch. Die weichen Brüste, er drückte Jörna an sich. Langsam ließ er seine Hände abwärts gleiten. Er presste sein Gesicht an ihren Busen.

Aber sie machte sich los, sie hielt ihm ihren Hintern hin. Sie war betrunken und hatte es eilig. Er fasste um ihre Hüften. Weich schmiegten sich ihre Pobacken in seine Hände.

Jörna wollte keine Kinder, sie hatte schon drei geboren. Er mochte es auch auf die Art, mit der sie nicht schwanger werden konnte. Den Unterschied merkte er meist nur beim Eindringen. Jörna benutzte eine Art Salbe, damit fühlte sich der Verkehr fast so an, als wäre er vorn drin.

Er rieb sein Glied über ihren Hintern. Ihre Hüften waren breit und stark. Er hielt sie fest. Mit beiden Händen drückte er sie gegen seinen Bauch. Er hatte das Erntedanktier erlegt, und jetzt vögelte er die stärkste Kriegerin des Stammes. Er setzte an, gleich war er in ihr drin.

Es klappte nicht. Thorwaltshunt fühlte mit der Hand nach. Sein Glied war nur halb hart, wie ein toter Aal. Das passte nicht zu seiner Geilheit.

Es würde schon werden. Er griff nach ihren Brüsten. Schwer lagen sie in seinen Händen. Jörna merkte wohl, dass er noch etwas Zeit brauchte. Sie drehte sich auf den Rücken. Tief versenkte er sein Gesicht in ihren Körper. Sein Glied richtete sich auf. Thorwaltshunt rutschte höher. Doch richtig hart war sein Glied nicht. Für vorn hätte es gereicht. Aber das ging ja nicht.

Jörna räkelte sich und drehte sich wieder um. Er fasste ihre breiten Schultern, die kräftigen Arme. Ja, das fühlte sich gut und richtig an. Jetzt würde es endlich klappen. Verdammt, so viel hatte er doch gar nicht getrunken. Und wenn schon. Einmal war es ihm passiert, dass er unter einer Frau eingeschlafen war. Trotzdem war sein Glied hart geblieben. Hatte sie jedenfalls gesagt. Am nächsten Mittag, als er mit schmerzendem Schädel aufgewacht war.

Das waren jetzt genau die falschen Gedanken. Er fasste in Jörnas Haare. Sie stöhnte leise. Er hielt ihr die Hand vor den Mund und fühlte ihren heißen Atem. So konnte es etwas werden. Es musste gelingen.

Vorsichtig bewegte er sich hin und her. Bei Odin, hoffentlich merkte Jörna nichts. Er hielt sich an ihr fest und streichelte sie. Sie stöhnte lauter. Immer schneller bewegte sie sich. Hin und her, auf und ab. Lange ging das nicht mehr gut. Wenn er jetzt rausrutschte, merkte sie, was mit ihm los war. Bloß nicht! Er streichelte sie stärker, sie drückte gegen seine Hand. Endlich keuchte sie auf und ließ sich nach vorn fallen. Er ging mit. Nerthus sei Dank. Er stöhnte selbst auf und drückte sich an ihren Rücken. Sie hatte bestimmt nichts gemerkt, so betrunken, wie sie war. Noch einmal stöhnte er verhalten. Hoffentlich hörte er sich so an, wenn er kam, er hatte noch nie darauf geachtet. Schnell rollte er sich von ihr herunter und zog seinen Mantel über sich.

Sie drehte sich zu ihm um und fuhr mit der Hand über sein Gesicht. „Thorwaltshunt, Liebling“, murmelte sie. Wie ein nasser Sack ließ sie sich nach hinten fallen. Ihr Atem wurde ruhiger. Er deckte sie mit ihrem Mantel zu. Schon schnarchte sie leise.

Odin sei gelobt, sie hatte nichts gemerkt. Das durfte ihm nicht noch einmal passieren. Am besten, er schlief das nächste Mal mit einer, die ihn auch vorn reinließ. Auf alle Fälle, vorn waren die Frauen immer weiter und nachgiebiger.

Leise stand er auf. Er zog sich an und ging aus dem Haus. Rikka wartete vor der Tür. Sie sprang auf und schüttelte sich.

Wahrscheinlich hing alles mit dem Goldborstigen zusammen. Nerthus ging es um Fruchtbarkeit, da war es wohl nicht angebracht, so mit einer Frau zu schlafen, dass sie nicht schwanger werden konnte.

Die Musik von der Festhalle tönte leise aus der Ferne. Thorwaltshunt lief darauf zu. Jetzt konnte er einen ordentlichen Schluck Met gebrauchen. Danach fand er bestimmt eine andere, mit der er es noch einmal versuchen konnte, diesmal aber auf die fruchtbare Art. Zum Beispiel die Lautenbardin. Die war ganz scharf auf ihn. Und sie hatte erst zwei Kinder.

Über der Festhalle stand der Mond. Er hatte seinen höchsten Punkt schon überschritten, aber die Dämmerung war noch weit. Die Nächte wurden wieder länger, ein neuer Abschnitt im Lauf der Zeit.

In der Halle ging es noch hoch her, aber draußen tanzte niemand mehr. Leise zog der Wind durch die Blätter der Linden. Thorwaltshunt überquerte den leeren Marktplatz. Wenn er ein Zauberer wäre, könnte er verstehen, was die Bäume ihm erzählten. Vielleicht rieten sie ihm, er sollte wieder heiraten. Seine letzte Frau war seit drei Wintern tot.

„Moin, Thorwaltshunt.“ In der Tür der Festhalle stand die Lautenbardin. Sie hatte ihr Wams ausgezogen, ihre nackte Brust schimmerte vor Schweiß. „Da bist du ja.“ Sie hörte sich betrunken an.

Er ging auf sie zu. Sie hatte pralle Brüste mit dunklen Warzen. Vielleicht war sie schon schwanger. Umso besser. Dann war Verhütung unwichtig.

Sie hielt ihm ihr Horn entgegen. „Ich hab dich gesucht.“

Na, wenn das kein Angebot war.

„Jetzt hast du mich ja gefunden.“ Er nahm das Horn und leerte es mit einem Zug. Der Met schmeckte würzig und süß.

„Lass uns zu dir gehen“, sagte er und griff um ihre Taille. Ihre Haut war feucht vom Schweiß und kühl vom Wind. „Wir feiern Erntedank zu zweit zu Ende.“

Die Eibenhecke

Nordgard, am 6. Tag des Opfermondes

Der Boden auf dem Kampfübungsplatz war aufgeweicht und voller matschiger Pfützen. Erkenhild riss den Übungsschild vor ihre Brust, gerade noch rechtzeitig. Leif traf den Schild, seine Holzklinge knallte auf den ledernen Rand. Von der Wucht schwankte Erkenhild, ihre Stiefel rutschten auf dem nassen Boden. Wieder schlug Leif zu, aber dieses Mal konnte sie seine Klinge seitwärts wegdrücken. Nun glitt Leif aus, das verschaffte ihr einen Zeitvorteil. Sie sprang vorwärts auf einen Grashorst, der die Pfützen überragte. Dabei drehte sie sich halb um ihre Achse. Nun hatte sie Leifs ungeschützte Seite vor sich. Sie hob ihr Übungsschwert, Leif riss seinen Schild hoch. Er wollte seine Schulter schützen, dabei nahm er sich die Sicht. Nicht lange, aber lang genug. Sie zog ihr Schwert nach unten und hieb es mit der flachen Klinge gegen Leifs Kniekehle. Treffer und Sieg, fabelhaft!

Leif sprang zur Seite, er schwankte, nur mit Not konnte er sich fangen.

Erkenhild ließ ihr Holzschwert sinken. „Bei einem echten Kampf könntest du nur noch auf Knien kriechen“, sagte sie und lachte.

Leif errötete bis in seinen kurzen Vollbart.

Dummer Fehler, die Bemerkung hätte sie sich verkneifen sollen. Leif hatte sie die Kampfkunst gelehrt, er sollte nicht glauben, sie hätte es vergessen. „Es ist mir eine besondere Ehre, dass mir der Hieb bei dir gelungen ist“, sagte sie schnell.

Von den anderen Kriegern hatte niemand Leifs Missgeschick beobachtet, sie waren mit den eigenen Übungen beschäftigt. Rutgers Tochter und der flaumbärtige Arnhelm schossen am Rand des Blodswaldes mit Pfeil und Bogen auf Zielscheiben. Vor dem Fjord im Norden kämpfte Benno, Erkenhilds Kamerad und Liebhaber, mit dem Schlagstock gegen den alten Rutger. Bennos rotblonde Zöpfe, noch länger als Rutgers Bartflechten, wirbelten um seinen nackten Oberkörper. Wie viele aus der Stadt, auch Erkenhild, hatte er das Nordgarder Pferd auf die Brust tätowiert. Wenn er den Brustmuskel anspannte, sah es aus, als würde das Pferd springen. Doch aus der Entfernung konnte man dieses Schauspiel nur erahnen.

Erkenhild klopfte sich einen Matschfleck von der Hose. „Lass uns aufhören, Leif, ich bin müde.“

Er schüttelte den Kopf. „Kommt nicht infrage. Du hast nur einen Glückstreffer gelandet. Im Schwertkampf bin ich dir immer noch überlegen.“ Er hob den Schild. „Ich will ein Gegenspiel.“

Erkenhild seufzte. Erst Kraftübungen, dann Ringen ohne Ende, und jetzt konnte Leif vom Schwert nicht genug bekommen. Aber falls sie nach einem Sieg ein Gegenspiel ablehnte, könnte sie ihn verärgern. „Dann versuch dein Glück.“ Sie schob ihren Arm durch die Schildfessel. „Bereit?“

Er hob sein Übungsschwert. „Bereit.“

Mit einem Oberhau griff er an, dann scheuchte er sie über den Platz, während sie sich nur verteidigte. Mit Absicht führte sie ihre Schläge schwach aus. Leifs Waffe dagegen krachte mit voller Wucht auf ihren Schild oder ihre Klinge. Sie machte einen Ausfallschritt, als müsste sie einen Sturz abfangen. Leif riss sein Schwert herum und schlug nach ihrer Brust. Aber sie verlagerte nur ihr Gleichgewicht und ließ seinen Hieb ins Leere gehen. Er stolperte an ihr vorbei. Mit ihrer Schwertspitze tippte sie auf Höhe der Pulsader gegen seinen Oberschenkel, wieder Treffer und Sieg!

Diese Taktik hatte Erkenhild kürzlich den Krähen abgeschaut: Sie trieben einen Greifvogel in die Flucht, obwohl sie es von der Kraft her nicht mit ihm aufnehmen konnten. Den gegnerischen Hieb ließen sie im letzten Moment ins Leere gehen. Die ungebremste Wucht brachte den Angreifer selbst ins Schleudern. In diesem Augenblick der Schwäche schlugen die Krähen dem Greifvogel ihre Krallen in die ungeschützten Weichteile.

Leif wirbelte herum. Er starrte sie an.

„Jetzt reicht’s aber mit den Übungen, oder?“, sagte sie und machte, wie sie hoffte, ein gutmütiges Gesicht. Keine leichte Sache. Sie hatte ihren Ausbilder nun auch im Schwertkampf besiegt, zweimal hintereinander.

Leif schluckte, dann grinste er. „Ich hab’s kommen sehen, du überflügelst mich.“ Er klopfte mit den Fingerknöcheln auf ihren Holzschild. „Aber ich habe auch jahrelang mit dir geübt, um genau das zu erreichen. Weiter so.“

Sie neigte kurz den Kopf. „Mit dir habe ich den besten Ausbilder in Nordgard, ich danke den Ahnen jeden Tag dafür.“

„Immer zu Diensten.“ Jetzt nickte Leif ihr zu, er war eben ein Ehrenmann durch und durch.

Über Nordgard rissen die Wolken auf. Die Wehranlage oberhalb des Fjordes tauchte aus dem Nebel, nur ihr östliches Ende lag noch verschleiert im Dunst. Erkenhild und Leif gingen zu ihren Pferden, die am Rand des Übungsplatzes grasten. Auf dem Weg kamen sie an Benno und Rutger vorbei, die gerade ihre Stöcke verstauten. Bennos lange Zöpfe glänzten wie poliertes Kupfer.

Erkenhild blieb neben ihm stehen. „Morgen mache ich einen Ritt in den Blodswald, Pilze suchen. Wie sieht’s aus, kommst du mit?“ Sie waren schon lange nicht mehr allein gewesen.

„Tut mir leid für euch, aber das wird nicht gehen.“ Rutger sah mit einem halben Grinsen auf Benno. „Wir holen morgen Holz für den neuen Schuppen, da brauch ich jeden aus meinem Haus.“

„Den ganzen Tag?“

„Den ganzen Tag.“

Erkenhild zuckte mit den Schultern. Rutger wusste genau, worum es ging, sie schlief manchmal in seinem Haus mit Benno. Aber offenbar verzieh er ihr nicht, dass Thorwaltshunt sie zur Heerführerin ernannt hatte, und nutzte jede Gelegenheit, ihr eins auszuwischen.

„Nachher.“ Benno formte das Wort nur mit den Lippen, als Rutger und Leif nicht hinsahen. Erkenhild zwinkerte ihm zu.

Die braune Alda und die weiß-gelb gescheckte Dengel hatten Erkenhild und Leif offenbar gesehen, denn sie kamen von selbst angetrabt. Die bunten Seitentaschen, die wie Decken über den Rücken der Tiere hingen, wippten bei jedem Schritt. Alda wieherte. Sie hoffte wohl, es ginge los zu einem Ritt in den Wald oder am Fjord entlang. Sie hatte den ganzen Vormittag herumgestanden und gewartet, genauso wie gestern und vorgestern, und aus dem Abstecher in den Blodswald morgen wurde nun auch nichts. Aldas letzter Ausritt war drei Nächte her, da hatte Erkenhild Busla zum Heilagswald begleitet. Dort wohnte eine Einsiedlerin, von der Busla Kräuter und Pulver aus fernen Ländern fürs Zaubern holte. Dieses Mal hatte sie einen magischen Gegenstand, ein Kyndol, erworben. Das Kyndol hatte die Form eines Pferdekopfes, es war aus Bronze gefertigt und gab Laute von sich. Busla hatte der Einsiedlerin das Gewaff des Erntedankkeilers dafür gegeben.

Erkenhild und Leif befestigten die Übungswaffen an den Seitentaschen ihrer Pferde, saßen auf und lenkten die Tiere in die Nordgarder Flur. Die Eschen neben den Äckern färbten sich bereits gelb. Sobald Erkenhild die Zügel etwas lockerte, galoppierte Alda los, als hätte sie den ganzen Tag im Stall verbracht.

Am Kleinen Storchenhof, einem Bauernhof in der Flur, sägten zwei Männer Buchenstämme zu Brettern. Die beiden waren mit einer Fußschelle aneinander festgekettet. Sie waren stammeslose Kimbern und hatten an Erntedank versucht, eine Ziege zu stehlen. Dabei hatten sie das Hütemädchen lahm geschlagen. Wenn das Mädchen bis Vollmond nicht wieder laufen konnte, sollten sie versklavt werden.

Erkenhild lenkte Alda an Dengels Seite. „In acht Nächten ist Vollmond“, sagte sie zu Leif. „Lass uns morgen nach Heiligenberge reiten und schauen, ob wir Händler finden, die an Sklaven interessiert sind.“

„Du willst mit Römern verhandeln?“ Leif lachte auf. „Ich dachte, das Schwert rutscht dir von selbst aus der Scheide, wenn du nur einen siehst.“

Sollte er sich ruhig über sie lustig machen als Entschädigung dafür, dass sie ihn besiegt hatte. Doch an seiner Bemerkung war etwas Wahres dran: Seit einem Jahr hatten sich römische Händler auf dem Handelsplatz in Heiligenberge breitgemacht. Landogar, der dort ansässige Heerkönig, hatte es ihnen gestattet.

„Es wird dort wohl auch noch germanische Händler geben.“ Erkenhild drückte ihre Schenkel an Aldas Flanken, und die Stute lief schneller. „Thorwaltshunt will in Nordgard keine Sklaven haben, und da hat er ganz recht. Also müssen wir die beiden Kimbern eintauschen.“

Leif auf Dengel preschte an ihr vorbei. „Dann brechen wir morgen früh auf, bei Sonnenaufgang“, rief er Erkenhild zu. Dengel gab ihr Bestes, der Matsch spritzte unter ihren Hufen auf.

Erkenhild ließ Alda ebenfalls galoppieren, doch sie überholte Leif nicht. Er sollte ruhig vorn reiten. Seine nackten Arme waren so dick wie ihre Schenkel, er war ein Kerl von einem Mann. Und trotzdem hatte sie ihn heute besiegt.

Die Gräberhöhen bei Heiligenberge, am 7. Tag des Opfermondes

Sygyrn war eine Seefahrerin gewesen. Vom Heiligenberger Fjord war sie aufgebrochen und bis an die fernen Gestade der Eislande gefahren. So hatte Thorwaltshunt es Erkenhild erzählt, als sie im letzten Jahr in Heiligenberge gewesen waren. Weiter als Sygyrn waren nur die Eisriesen in den Norden vorgedrungen.

Der bedeutende Nachruhm der Seefahrerin machte sie zu einer Raterin, einer mächtigen Ahnin aller Stämme der Haruden. Ihr Name war in ganz Jütland bekannt, obwohl seit Sygyrns Zeitalter mehr Winter vergangen waren, als Sterne am Himmel standen.

Jetzt erhob sich die heidebewachsene Sygyrnkuppe vor Erkenhild. Das Hügelgrab der Seefahrerin war der höchste der heiligen Berge, von denen die Hafenstadt den Namen hatte. Der Pfad führte seitlich über den Grabhügel. Hoch am Himmel kreischten die ersten Möwen. In der Ferne kam der blaugraue Heiligenberger Fjord in Sicht, dann der Hafen und der Handelsplatz, der doppelt so groß war wie der von Nordgard. Auf der befestigten Straße rollten Wagen, die aus der Entfernung Schnecken ähnelten.

Der Eingang von Sygyrns Grab war mit einem haushohen länglichen Findling verschlossen, dessen Spitze an den Kopf eines Buckelwals erinnerte. Der Stein war zum Hafen von Heiligenberge ausgerichtet, ein kurzer Pfad verband den Wanderweg mit dem Grabeingang. An der Abzweigung ließ Erkenhild Alda anhalten. Es war Brauch, auf diesem Pfad zu Fuß bis zum Findling zu gehen und die Hand zum Gruß auf den Stein zu legen.

Die Luft stand still, die Herbstsonne wärmte Erkenhilds Rücken. Eine späte Biene summte in der Heide. Der Pfad war stellenweise mit Gras überwuchert. In letzter Zeit waren wohl nur wenige Wanderer vorbeigekommen. Vor dem Grabeingang befand sich ein Vorplatz, er war mit Muschelschalen gesäumt. Erkenhild trat näher. Die Muscheln waren zerbrochen. Geröll lag auf dem Vorplatz. Ein paar Gesteinsbrocken verschlossen den Grabeingang, der Findling war verschwunden.

„Zur Hel“, sagte Leif hinter Erkenhild. „Hier sieht es aus, als wäre eine Herde Auerochsen vorbeigetrampelt.“

Erkenhild nickte. „Lass uns zu Landogar gehen.“ Der Findling konnte nur mit Zustimmung des Heerkönigs entfernt worden sein. „Ich will wissen, was hier passiert ist.“