Die Krone der Meere - Johanna Dorn - E-Book

Die Krone der Meere E-Book

Johanna Dorn

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Beschreibung

Ein ehrgeiziger Kaufmannssohn, eine verbotene Liebe und der erbitterte Kampf zweier rivalisierender Handelsmächte

1593. Die Hanse kämpft um ihr Überleben, misstrauisch beäugen die Kaufleute Lübecks den Aufstieg des rivalisierenden Amsterdam. Der junge Arjen, unehelich in eine Lübecker Kaufmannsfamilie geboren und voller Neugier auf die weite Welt, macht sich auf, um in der niederländischen Metropole das Glück zu finden. Dank seinem Geschäftssinn erarbeitet er sich schnell Reichtum und Respekt. Doch als er sich ausgerechnet in Marianna verliebt, die längst einem anderen versprochen ist, muss Arjen erkennen, dass Erfolg seinen Preis hat und man die Vergangenheit niemals ganz hinter sich lassen kann ...

Farbenprächtig, mitreißend erzählt und genauestens recherchiert: Lassen Sie sich von Johanna Dorn in ein besonders spannendes Kapitel der europäischen Geschichte entführen!

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Seitenzahl: 872

Veröffentlichungsjahr: 2025

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1593. Die Hanse kämpft um ihr Überleben, misstrauisch beäugen die Kaufleute Lübecks den Aufstieg des rivalisierenden Amsterdam. Der junge Arjen, unehelich in eine Lübecker Kaufmannsfamilie geboren und voller Neugier auf die weite Welt, macht sich auf, um in der niederländischen Metropole das Glück zu finden. Dank seines Geschäftssinns erarbeitet er sich schnell Reichtum und Respekt. Doch als er sich ausgerechnet in Marianna verliebt, die längst einem anderen versprochen ist, muss Arjen erkennen, dass Erfolg seinen Preis hat und man die Vergangenheit niemals ganz hinter sich lassen kann …

Autorin

Johanna Dorn ist das Pseudonym einer Autorin, die bereits viele erfolgreiche Romane veröffentlicht hat. Sie liebt es, bei Recherchen in Bibliotheken und auf Reisen tief in die historischen Hintergründe einzutauchen. Insbesondere die Niederlande und ihre wechselvolle Geschichte haben es ihr angetan. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in der Nähe des Rheins mit Blick auf das malerische Siebengebirge.

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Copyright © 2025 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

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(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Redaktion: Regine Weisbrod

Umschlaggestaltung und -motiv: © www.buerosued.de, AKG-Images (De Agostini Picture Library)

Innengestaltung unter Verwendung der Bilder von: © Adobe Stock (Maria, SpicyTruffel)

BSt · Herstellung: DiMo

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-29709-1V003

www.blanvalet.de

»Eine schöne Stadt, Amsterdam.«

Thomas Mann

Personenverzeichnis

Lübeck

Haus Schellbach

Enno, Kaufmann für Gewürze und Salz

Fenja, seine Ehefrau

Johan, gemeinsamer Sohn

Rieke, gemeinsame Tochter

Haus Drenkhan

Theodor (†), Kaufmann für Salz

Katharina (†), seine Ehefrau

Thilo, gemeinsamer Sohn

Haus von Genssler

Clara, Kauffrau für Gewürze und Salz, einzige Erbin des Hauses von Genssler

Agnes, Straßenkind

Gereon, Claras Diener

Henning von Westerboer, Kaufmann für Tuch und Seide

Curd Hinnerk, Kaufmann für Salz

Alva Hinnerk, Witwe von Curds Sohn

Wilhelm Tiedemann, Weinhändler

Albrecht, ein Hund

Amsterdam

Haus Valckenberg

Hendrik, Kaufmann für Seide

Annike, seine Ehefrau

Sophie, gemeinsame Tochter

Lisa, gemeinsame Tochter

Nela, gemeinsame Tochter

Arjen, Hendriks Sohn aus einer Beziehung mit Fenja Schellbach

Haus van Klaaveren

Daan, Reeder

Marianna, seine einzige Tochter

Jan van der Hijden, Schiffsbauer

Jolanda van Aalkers, Tochter eines Antwerpener Händlers

Hamburg

Haus van Waalenburch

Cornelis, Kaufmann für Seide und Tuch

Alea, seine Ehefrau

Bernard, handelt mit seinem Bruder Cornelis zusammen

Emke, Kauffrau und Bernards Ehefrau

Peer, lebt auf der Straße, Anführer einer Bande von Kindern

Britt, Straßenkind

Bengt, Straßenkind

Hedda, Straßenkind

Geertje, arbeitet im Waisenhaus

Teil 1

1593 – 1594

Lübeck, März 1593

»Ich will hier raus, es ist unheimlich.«

»Stell dich nich so an.« Dabei war Agnes keineswegs so mutig, wie sie gerade tat. Das Knacken im Gebälk, während der Wind an zugigen Fenstern rüttelte und durch Ritzen pfiff, die allumfassende Finsternis – all das war durchaus geeignet, selbst gewiefte Mädchen wie sie an böse Geister glauben zu lassen. »Komm jetzt weiter.« Sie hörte das metallene Scheppern eines Blecheimers, im selben Moment schrie ihre Begleiterin auf.

»Pass doch auf!«, fauchte Agnes leise. »Wenn uns jemand erwischt, ist’s aus.«

»Hab’s ja nicht extra gemacht.« Elise klang weinerlich. »Der Hanno hat gesagt, hier spukt’s.«

»Dann geh halt.«

»Allein zurück? Das trau ich mich nicht.«

»Jetzt sei endlich still.« Agnes tastete sich langsam vor, hörte Elise schniefen, dann stolperte diese offenbar wieder über etwas, was ihr erneut einen Schrei entriss.

Agnes verdrehte die Augen.

»Mir is kalt«, klagte Elise.

Kalt war es in der Tat, wenngleich sie hier immerhin windgeschützt waren. Agnes hatte sich Stoffreste um die Hände gewickelt, trotzdem waren ihre Fingerkuppen nahezu taub. Noch viel schlimmer allerdings war der Hunger, der in ihr nagte, sich wie ein schuppiges Tier in ihrem Bauch bewegte, ihn wundrieb und zuweilen dazu führte, dass sie sich krümmen wollte vor Schmerzen. Der Winter war schon so lang, mittlerweile prügelte sich Agnes sogar um schmierige, verrottete Gemüsereste vom Straßenrand, die sie in sich hineinstopfte und hernach wieder erbrach. Deshalb hatte sie das hier so gründlich vorbereitet, und nun drohte Elise alles zu ruinieren.

Einen großen Teil ihrer zwölf Lebensjahre hatte Agnes auf der Straße verbracht, und sie schlug sich für gewöhnlich allein durch, weil sie – wofür Elise gerade wieder den Beweis antrat – sich nur auf sich selbst verlassen konnte. Aber um in dieses Haus zu gelangen, hatte sie Hilfe gebraucht, was eine verzwickte Situation darstellte, denn man wurde gar zu schnell übervorteilt. Das zumindest drohte ihr bei Elise nicht, da riskierte sie allenfalls, dass sie erwischt und im besten Fall wieder auf die Straße geworfen wurden. Im schlimmsten Fall … nein, sagte sich Agnes, daran wollte sie jetzt nicht denken, sonst verlor sie den mühsam zusammengeklaubten Mut. Sie würde man nicht erwischen. Elise vielleicht, aber Agnes nicht, sie war flink und fand immer ein Versteck, das mit bloßem Auge nicht gleich als solches erkennbar war.

Der Hunger hatte Agnes zu dieser Verzweiflungstat getrieben, die sie in einigermaßen sattem Zustand und somit bei klarem Verstand niemals gewagt hätte. Ihre Wahl war auf das Haus der Kaufmannsfamilie Drenkhan gefallen. Zwar war dieses gut gesichert und bot zur Straße hin keinerlei Möglichkeit, einzusteigen. Jedoch hatte Agnes herausgefunden, dass man durch das ehemalige und nun leer stehende Lagerhaus auf das Grundstück kam und überdies von der Straße aus nicht gesehen wurde. In mühsamer Arbeit hatte sie Brett um Brett am rückwärtigen Fenster gelockert, jeden Tag nur ein winziges Stück, damit es niemandem auffiel.

Alles hatte sie ausgekundschaftet, war sogar nachts hier eingestiegen, hatte sich zwischen alten Kisten – leider allesamt leer – , Fässern, Seilen und sonstigem nutzlosem Plunder einen Weg ertastet. Die Tür ließ sich von innen problemlos öffnen, und von dort gelangte man auf den Hof. Den zu überqueren, war schon schwieriger gewesen, und zweifellos wäre Agnes allein besser dran gewesen, aber das Fenster zur Vorratskammer lag hoch, und Elise sollte ihr eine Räuberleiter machen und dann draußen das Essen auffangen. Auch das war eine Sache, die für Elise sprach – niemals würde dieses junge Mädchen es wagen, sich allein damit aus dem Staub zu machen.

Immerhin schien Elises Furcht vor Geistern sich in dem Moment zu verflüchtigen, als sie die Tür zum Hof öffneten, und nun waren ihre Sinne geschärft, wie sie es bei einem Mädchen sein mussten, das sich auf der Straße durchschlug. Darauf hatte Agnes gehofft, und so atmete sie auf. In dieser Nacht war Neumond, auch darauf hatte Agnes geachtet.

Sie huschten hinüber zum Haus, und Elise half Agnes mit der Räuberleiter hoch zum Fenster. Dieses aufzuhebeln, war leicht, und es öffnete sich nahezu geräuschlos. Der Duft von Geräuchertem ließ Agnes beinahe schwindeln. Sie schob sich durch das Fenster und kam federnd auf dem Boden der großen Vorratskammer an. Oh Himmel, dachte sie, dieser Duft kann nicht von dieser Welt sein. Ihre Nasenflügel bebten, und sie griff nach einer Wurst, die vom Haken an der Decke hing, wollte sie erst hinauswerfen und hielt dann inne, konnte der Versuchung nicht widerstehen, hineinzubeißen. Oh Himmel, dachte sie ein weiteres Mal, als ihr die Aromen die Tränen in die Augen trieben. Sie biss ein zweites Mal ab und noch ein drittes Mal, stopfte sich schließlich den Rest in den Mund.

Dann angelte sie nach und nach die Würste von der Decke und ging damit zum Fenster. Elise stand darunter, und Agnes warf die erste Wurst zu ihr hinunter, dann die nächste, ließ den Schinken folgen. Sie beglückwünschte sich innerlich zu ihrem Plan. Jetzt konnten sie in Ruhe so viel aus der Speisekammer nehmen, wie sie tragen konnten, ohne zu befürchten, jemand könnte sie von der Straße aus sehen. Bis der Diebstahl entdeckt wurde, waren sie längst verschwunden. Falls man bei der Fülle an Essen überhaupt bemerkte, dass etwas fehlte.

Agnes’ auf der Straße geschärftes Gehör nahm die Veränderung wahr, noch ehe ihr Bewusstsein darauf reagieren konnte. Geräusche, die nicht sein durften. Sie hielt den Atem an, lauschte. Männerstimmen, offenbar in heftigem Streit. Agnes hielt inne, versuchte auszumachen, ob sich die Stimmen näherten, bereits auf dem Sprung, um, so schnell es ging, aus dem Fenster zu steigen. Niemand näherte sich, dennoch beeilte sich Agnes und warf gepökeltes Fleisch hinab. Was sie nicht selbst essen würden, würden sie in den Straßen verkaufen, denn Münzen ließen sich leichter verstecken als Essen.

»Wie lange brauchst du noch?«, fragte Elise, und Agnes zischte ihr zu, still zu sein.

Da, wieder die Männer, jetzt schrien sie einander an. Dazwischen war eine Frauenstimme zu hören, schrill, sich überschlagend. Und dann, so unvermittelt, dass Agnes nicht reagieren konnte, wurde die Tür zur Speisekammer aufgerissen, und ein Junge stand vor ihr, älter als sie und groß gewachsen. Er starrte sie an, der Atem ging ihm in kurzen Schluchzern, als erneut ein Frauenschrei zu ihnen drang. Agnes starrte zurück, dachte in all dem Schreck, dass sie nie etwas Alberneres gesehen hatte als diesen Jungen in seinem weißen Rüschennachthemd.

»Thilo!«, kreischte die Frau, der nächste Schrei war unartikuliert und erstarb.

Agnes’ Sinne reagierten, während der Junge wie erstarrt stand. Sie wollte herumfahren und zum Fenster, als der Junge vorstürzte, sie festhielt.

»Hilf mir«, stieß er hervor. »Hilf mir!«

Sie wollte sich aus seinem Klammergriff befreien, als sie schwere Schritte hörte, die sich näherten. Im nächsten Moment stand ein Mann in der Tür, edel und teuer gekleidet, ein langes Messer in der Hand. Er wirkte erstaunt, als er Agnes bemerkte, aber er reagierte schnell, sah von dem Jungen zu ihr und entschied im selben Augenblick, von wem ihm gerade die größere Gefahr drohte. Den Schwächling bekam er schon noch, das musste ihm klar sein, und so stürzte er sich auf das flinke Straßenmädchen. Endlich ließ der Junge sie los, und Agnes wich aus, achtete darauf, dass der Mann sie nicht in die Ecke drängen konnte. Einmal glaubte sie, er hätte sie bereits, als sie sich gerade noch rechtzeitig wegduckte und das Messer an ihr vorbei in einen Holzpfeiler fuhr und darin stecken blieb. Augenblicklich reagierte Agnes, rannte an dem Mann vorbei, bemerkte, dass der Tölpel, der ihr das eingebrockt hatte, dasselbe tat, und eilte durch die Küche auf den Korridor, kam in eine riesige Eingangshalle und stürzte auf die Haustür zu.

Die Tür war verschlossen. Der Mann hatte indes das Messer offenbar aus dem Pfeiler gezogen, denn seine Schritte näherten sich, und Agnes sah sich panisch um. »Wo ist der Schlüssel?«, schrie sie den Jungen an.

»Ich … Ich weiß nicht.« Er weinte beinahe, und Agnes rannte einfach los, rannte durch die Halle, durch einen weiteren Korridor und kam in einen großen Saal, der zwar keinerlei Schutz bot, aber dafür hohe Fenster hatte.

Mit einer erstaunlichen Geistesgegenwart warf der Junge die schwere Tür zu und verriegelte sie, dann stürzte er mit ihr zu den Fenstern und half ihr mit fliegenden Fingern, die Riegel zu lösen. Frische, kalte Luft schlug ihnen entgegen, und Agnes schwang die Beine hinaus, setzte mit einem Sprung auf die Straße. Der Junge folgte ihr. Wieder rannte sie los, rannte, so schnell sie konnte, und dachte fortwährend an Elise. Hoffentlich war sie davongelaufen, als sie den Lärm gehört hatte.

Sie tauchte in das Dunkel einer Gasse ein und bemerkte, dass der Junge ihr gefolgt war, ein weißer, gut sichtbarer Fleck in seinem Nachthemd. Er schluchzte, zitterte – gewiss nicht nur vor Angst – , und Agnes war mit einem Mal so wütend auf ihn, dass sie auf ihn zustürzte und ihn mit einer Kraft ohrfeigte, die ihn fast zu Boden gehen ließ. Im nächsten Moment erbrach sie sich und hörte, wie der Junge einen Laut des Ekels ausstieß. Sie würgte, bis ihr Magen nichts mehr hergab, hörte das Trippeln von Ratten, die sich näherten. Rasch wandte sie sich ab, lauschte, konnte ihren Verfolger jedoch nicht hören und wagte sich aus der Deckung. Ihr Magen brannte, und sie wollte nur noch in ihren Unterschlupf und schlafen, aber sie musste zurück, musste wissen, ob Elise in Sicherheit war.

Vorsichtig huschte sie im Schatten der Häuser entlang und hoffte, dass dieser dumme Junge in seinem auffälligen weißen Nachthemd ihr nicht folgte wie ein Gespenst. Agnes’ dunkle Gestalt verschmolz mit der Finsternis, und sie hielt immer wieder inne, lauschte, lief lautlos weiter. Sie näherte sich dem Haus wieder von hinten. Dieser Bereich lag im Dunkeln, und Agnes wollte gerade zum leer stehenden Lagerhaus schleichen, als sie eine Bewegung ausmachte und abrupt stehen blieb. War das der Mann? Sie wagte nicht zu atmen. Steinchen knirschten unter schweren Stiefeln, dann herrschte Stille, die von einem Schaben unterbrochen wurde. Schließlich entfernten sich die Schritte, und Agnes wartete noch für die Dauer mehrerer Atemzüge, bevor sie nach vorne schlich. Hinter sich hörte sie die zittrigen Atemzüge des Jungen, aber sie drehte sich nicht zu ihm um, sondern ging weiter.

Ein Müllsammler zog mit seinem Handkarren entlang und leuchtete mit dem milchig gelben Licht seiner Laterne die Straße ab, während er fortwährend vor sich hin murmelte. Und nun sah Agnes sie, abgelegt wie Abfall in der Straßenrinne. Jede Härte, die die Straße in Elises Gesicht geschmiedet hatte, war verschwunden, und zurück blieb nur das Kind, das sie gewesen war. Auf der Brust war ein glänzender dunkler Fleck, dort, wo ihr Herz einmal geschlagen hatte. Der Müllsammler ging weiter, ein totes Straßenkind interessierte niemanden. Der Junge trat zu ihr, fror erbärmlich, schluchzte wie ein kleines Kind, zitterte so sehr, dass ihm die Zähne aufeinanderschlugen. Sollte er doch hier erfrieren. Wieder fuhr Agnes herum, schlug ihm erneut ins Gesicht.

»Du verdammter Narr. Was hast du getan?« Sie presste sich die Hände vor die Augen, Hände, die immer noch nach geräucherter Wurst rochen, der verfluchten Wurst, mit der dieser Junge sich wahrscheinlich täglich vollstopfte und die Elise das Leben gekostet hatte, weil sie sich auch einmal hatte satt essen wollen.

Der Junge war zu Boden gesunken, bebte so heftig, dass er kaum sprechen konnte. »Es tttt…« Die Zähne schlugen ihm aufeinander, und auf einmal zerfiel der so heftig aufgeloderte Zorn in Agnes. Dieser Kerl würde entweder noch in dieser Nacht erfrieren, oder aber die falschen Leute würden ihn finden, blond und hübsch, wie er zweifellos war. Auf Elise hatte sie nicht aufpassen können. Müde beugte sie sich zu ihm und umfasste seinen Arm mit festem Griff.

»Komm«, sagte sie.

Für einen Morgen im März war es lausig kalt, und Arjen wünschte sich zurück ins Bett, aber seine Mutter hatte auf den Lübecker Markt gewollt.

»Für dergleichen haben wir das Gesinde«, hatte sein Vater gemurrt.

»Ach, Enno«, war die sanfte Erwiderung seiner Mutter gewesen, »es macht mir doch so große Freude.«

»Dann nimm wenigstens den Jungen mit.«

Damit war stets Arjen gemeint, denn wenn sein Vater von dem jüngeren seiner beiden Söhne sprach, nannte er ihn beim Namen – Johan. Arjen hingegen blieb »der Junge«, selbst jetzt noch, da er sein zweites Lebensjahrzehnt bereits vollendet hatte und in Kürze einundzwanzig Jahre zählte.

Inmitten des Gedränges auf dem Lübecker Markt tastete er fortwährend nach seinem Beutel mit den Münzen, während seine Mutter gänzlich unbekümmert schien. Sie blieb immer wieder stehen, betrachtete die dargebotenen Waren, wechselte lächelnd einige Worte mit den Händlern und ging weiter. Vier kleine Kinder pressten sich an ihm vorbei, eines huschte gar zwischen seinen Beinen hindurch und brachte ihn fast zu Fall. Im nächsten Moment hörte er einen Mann wütend aufschreien.

»An meinem Brot hat sich das Gesindel vergriffen! Warum habt Ihr sie nicht festgehalten?«

Arjen zuckte die Schultern. »Vielleicht waren es auch nur die Ratten.«

»Diese Ratten kenn ich«, brummte eine Frau. »Laufen auf zwei Beinen und gehören allesamt in einen Sack gesteckt und ersäuft.«

Arjens Mutter, Fenja Schellbach, blieb an einem Stand stehen, betastete einen Schal aus feiner Seide und begutachtete einen Ballen von dicht gewebtem Leinen. Jemand drängelte sich an ihnen vorbei, und erneut tastete Arjen reflexhaft nach seinem Geldbeutel. Händler priesen aus Marktständen und Buden heraus ihre Waren an: Lederwaren, Stoffe, Siegburger Steinzeug, Butter für vier Pfennige, ein Malter Roggen für sechs Schillinge, Stockfisch aus Island, hölzerne Eimer, Schüsseln und Bütten. Der Markt war Jahr für Jahr gewachsen, war über den Bereich vor dem Rathaus hinübergeschwappt auf umliegende Plätze, sodass es mittlerweile ein ganzes Marktviertel gab, in dem alles zu bekommen war, was man sich nur wünschen konnte.

»Wir sind immer noch die Könige der Hanse«, pflegte sein Vater zu sagen. Das mochte stimmen, dachte Arjen, aber was bedeutete es schon, König inmitten zunehmender Bedeutungslosigkeit zu sein? Aber offen äußern durfte man dergleichen nicht, denn Enno Schellbachs Zorn war schnell entfacht, insbesondere auf Arjen, wenngleich dieser dem Alter für Backpfeifen oder den Rohrstock inzwischen entwachsen war. In einem Aufflackern von Rebellion kaufte er Stockfisch, denn der Verlust des isländischen Stockfischmonopols hatte im Grunde genommen den Anfang vom Ende der Hanse eingeläutet.

»Wofür brauchst du den Fisch?«, fragte seine Mutter.

»Ebba soll ihn heute zubereiten.«

Sie kamen zum Marktbereich der Schmiedewaren, wo sich Fenja Schellbach besonders für die Gold- und Silberschmiede interessierte, und auch wenn es Arjen zu den Waffenschmieden zog, blieb er gehorsam an der Seite seiner Mutter und schirmte ihre zierliche Gestalt ab, indem er Rempler einsteckte, während er sie durchs Gedränge leitete.

»Sieh nur.« Seine Mutter hielt lächelnd eine feingliedrig gearbeitete Goldkette hoch. Sie wandte sich an den Händler. »Was kostet die?«

Arjen hörte nur mit halbem Ohr hin, während seine Mutter verhandelte, da er einen Bekannten erspäht hatte. Tobias Brunn saß hinter einem Stand mit Kupferwaren. Vor wenigen Jahren noch war er ein angesehener Kaufmann gewesen, sein Gesicht war von jener ledrigen Bräune, die nur Sonne und salziger Meereswind hervorbrachten, und zeugte von all seinen Reisen. Wie bei jedem Kaufmann reiste die Möglichkeit, alles zu verlieren, stets mit. Ein reicher Mann konnte es verschmerzen, eine Ladung im Sturm zu verlieren. Geschah das ein weiteres Mal, war das schon schwieriger. Nahm man dann auch noch einen Kredit auf, um ein drittes Mal aufs Ganze zu gehen, ging das entweder gut, und man war wieder im Spiel. Oder aber man musste seine letzte Habe veräußern, um nicht im Schuldturm zu landen. Tobias Brunn hatte sein Haus verkauft und alles an Hab und Gut, was seine Frau nicht noch eilig an sich gerafft hatte, ehe sie mit den Kindern zu ihren Eltern geflohen war. Nun saß er hier und verkaufte Waren für Henning von Westerboer, einen der reichsten Kaufleute der Stadt.

Trotz der Schicksalsschläge schien er nicht verbittert. Er hatte einmal zu Arjen gesagt: »Eine Reise zur See ist im Grunde genommen das Leben in Klein. Du kannst stets im Fahrtwind segeln und rasch dein Ziel erreichen. Hier und da ein paar kabbelige Wellen, doch die machen die Reise nur noch aufregender. Oder du dümpelst in einer Flaute auf spiegelglatter See und weißt nicht, wie es weitergeht. Ich bin nun in einen Sturm geraten, der mich nicht umgebracht, sondern nur schwer angeschlagen zurückgelassen hat. Schiff und Mannschaft habe ich verloren, doch mein Leben habe ich noch.«

Weil seine Mutter immer noch den Schmuck begutachtete, wandte sich Arjen an Tobias Brunn. »Wie ist es Euch in der letzten Zeit ergangen?«, fragte er freundlich. Der Mann hatte interessante Geschichten zu erzählen von seinen Reisen und all den Menschen, die er dort kennengelernt hatte. All dies nährte Arjens Hunger darauf, endlich selbst die Welt kennenzulernen.

Tobias Brunn paffte an seiner Pfeife und stieß eine Rauchwolke aus. »Das Schiff ist auf Kurs, auch wenn es mittlerweile immer öfter knarrt und schlingert.« Er grinste verschmitzt. »Aber für meinen alten Kameraden aus früheren Zeiten ist die Nacht nicht so erfreulich gewesen, erzählt man sich. Und auch auf Euch, mein junger Freund, kommt offenbar eine Schlechtwetterfront zu.«

Arjen sah den Mann verwundert an, und der deutete mit der Pfeife hinter ihn. Als Arjen sich umdrehte, sah er, dass sich Anton Matthies, ein Geschäftsfreund seines Vaters, den Weg zu ihm bahnte. Im Gegensatz zu diesem schien er Arjens Wissen als Kaufmann zu schätzen – war dieses doch dem seines um elf Monate jüngeren Bruders Johan weit überlegen, der dennoch weit höher in der Gunst des Vaters stand.

»Wie geht es dir, mein Junge?« Anton Matthies klopfte ihm väterlich auf die Schulter und nickte Tobias Brunn lediglich knapp zu. Wenn man alles verlor, verlor man offenbar auch die Menschen, die man früher für seine Freunde gehalten hatte. »Hab gestern noch mit deinem Vater gesprochen, als es um die nächste Handelsreise ging. Hat er es dir erzählt?«

Augenblicklich ging Arjen das Herz schneller. Endlich würde er auf Handelsreisen eingesetzt werden! »Nein, bisher noch nicht.«

»Er wollte mir heute eine Antwort geben.«

Für Arjen verhieß dies nichts Gutes, aber er schwieg und beschloss, seinen Vater später darauf anzusprechen. Er wurde abgelenkt, als seine Mutter ihn um Geld bat. Sie hatte die Kette ordentlich heruntergehandelt, und Arjen zählte Münzen in die Hand des Goldschmieds. Nun bemerkte auch Fenja Schellbach den Freund ihres Mannes, und sie neigte grüßend den Kopf.

»Mein Mann sprach erst gestern von Euch. Ihr werdet meinen Johan mit auf Reisen nehmen?«

Anton Matthies wirkte ein wenig überrumpelt, doch er schenkte ihr ein Lächeln und nickte. »Wenn das der Wunsch Eures Gatten ist, zu gern.«

»Es war vor allem Johans Wunsch, als er hörte, Ihr suchtet noch einen jungen Kaufmann, dem Ihr zeigen könnt, wie es auf einer Schiffsreise zugeht. Schon lange hofft er auf eine solche Gelegenheit.«

Arjen sah sie ungläubig an. Johans Wunsch? Sein Bruder hatte noch nie zur See gewollt, und seine Mutter wusste das. Es war der Wunsch seines Vaters, der aus ihr sprach, dem sie sich widerspruchslos beugte, obwohl sie wusste, wie gerne Arjen diese Reise angetreten hätte. Jetzt sah sie ihn an, lächelte beinahe entschuldigend. Das Herz ging ihm in harten Schlägen, schien ihm für den Moment gar den Atem zu nehmen. Arjen wollte sich nicht die Blöße geben und zeigen, wie sehr ihn dies traf, und so wandte er den Blick ab, beobachtete eine Gruppe junger Männer. Sie schäkerten mit einer Magd, die einen Korb im Arm trug und leicht die Hüften wiegte. Im Hintergrund näherte sich ein Kind und schob geschickt die Hand unter die Umhänge der Männer. Kaum war es im Gedränge untergetaucht, verabschiedete sich auch die Magd, setzte ihren Weg gemessenen Schrittes fort, blieb an einem Stand stehen, sah rasch über die Schulter und verschwand ebenfalls im Gedränge. Auch in Arjen erwachte der Wunsch, einen Schritt rückwärts zu machen und einfach zu verschwinden. Und gar nicht mehr heimzukehren in dieses Haus, in dem er sich seit jeher wie ein Gast gefühlt hatte, den der Hausherr allenfalls duldete.

Ein Mädchen rannte in ihn hinein, und noch ehe er reagieren konnte, war sie verschwunden. Augenblicklich griff er nach seinem Geldbeutel, fand ihn aber noch an Ort und Stelle. Kurz darauf kam ein geradezu hünenhafter Mann mit der Statur eines Bullen aus derselben Richtung wie das Kind und ließ suchend den Blick umherirren. Vermutlich hatte dessen Geldbeutel nach dem Zusammenstoß den Besitzer gewechselt. Der Mann taxierte Arjen, sah dann an ihm vorbei. Da ihm dieser Kerl Unbehagen einflößte, blieb Arjen wachsam.

»Ach, hast du es gehört?« Seine Mutter hatte nach seinem Arm gegriffen und wirkte nun ganz erschrocken.

»Verzeiht, ich war abgelenkt. Wovon ist die Rede?«

Es war jedoch nicht seine Mutter, sondern Anton Matthies, der antwortete: »Theodor Drenkhan und seine Frau sind letzte Nacht gemeuchelt worden. Man vermutet, dass es sein nichtsnutziger Sohn war, denn der ist verschwunden.«

Leises Schluchzen weckte Agnes aus einem unruhigen Schlaf, in den sie erst gesunken war, als der Tag bereits sein erstes graues Licht vorausgeschickt hatte. Sie war mit dem Jungen in diese verlassene Kellernische gekrochen, die sie vor einigen Tagen entdeckt hatte und seither bewohnte. Das Haus, zu dem sie gehörte, war nur noch ein Schutthaufen mit den Resten einer Esse. Das Kellerfenster war von außen nicht zu sehen, wenn man nicht zufällig darauf stieß oder wusste, dass es da war. In dem Unterschlupf war es zwar auch kalt, aber zumindest windgeschützt, und der Strohsack, auf dem sie schlief, half ein bisschen gegen die Bodenkälte. Zudem – das musste sie zugeben – war dieser Junge nicht vollkommen nutzlos, denn sie lagen eng aneinandergeschmiegt da und spendeten sich gegenseitig Wärme.

Es war mühsam gewesen, ihm noch bei Nacht Kleidung zusammenzustehlen, aber er konnte unmöglich weiter im Nachthemd durch die Stadt laufen. Am schwierigsten waren die Schuhe gewesen, bis sie vor dem Gesinderaum eines Hauses ein Paar Holzpantinen entdeckte. Thilo war sein Name, hatte er ihr gesagt. Thilo Drenkhan, als spielte sein Familienname noch eine Rolle, da er – nach eigenem Bekunden – keine weitere Verwandtschaft hatte. Womöglich hatte sie ihn jetzt länger am Hals, als ihr lieb war.

Agnes stieß ihn mit dem Ellbogen an, und das Schluchzen ging in ein Aufstöhnen über. »Weißt du, nich nur du hast ’ne echt üble Nacht gehabt.«

»Meine Eltern sind tot!«

»Ja und? Meine auch. Und du hattest länger etwas von deinen als ich von meinen. Immerhin kannst du dich an deine erinnern.« Sie richtete sich auf, und die Decke, die aus mehreren aufgerissenen Säcken bestand, fiel von ihnen ab. Bibbernd griff Thilo danach und zog sie wieder über sich.

»Ich habe Hunger«, sagte er stockend. »Gibt es hier irgendetwas zum Frühstück?«

»Aber natürlich«, antwortete sie freundlich und äffte seine Art zu sprechen, nach. »Wie mag’s der Herr denn angerichtet hab’n?«

Das konnte doch nicht wahr sein, dass er wieder anfing zu flennen. Gereizt stand Agnes auf und griff nach dem feinen Batistnachthemd, das Thilo nachts ausgezogen hatte. Dabei war er in ihrer Gegenwart so verschämt gewesen, wie Agnes es noch bei keinem Jungen erlebt hatte.

»Rühr dich nich fort«, wies sie ihn an. »Bin gleich wieder da.«

»Wo gehst du hin?«

Ohne ihm zu antworten, schob sie einige Bretter beiseite, kroch aus dem Kellerfenster und an dem Holzstoß vorbei, der dieses verbarg. Hier galt es, vorsichtig zu sein, damit sie sich nicht verletzte oder auf eine der Ratten trat, die sich hier gerne tummelten. Sie stand auf, barg das Nachthemd in ihrem Umhang und rannte los.

Ein Gewühl von Menschen, Lastenträgern und Karrenschiebern bevölkerte die frühmorgendlichen Straßen, über denen das nächtliche Dunkel langsam ausblich. Immer wieder musste Agnes einen Bogen um Häuser machen, vor denen abgeladene Waren und Baumaterial lagen, und mehrmals wäre sie auf den schmierigen Wegen fast ausgeglitten. Geschickt wich sie anderen Kindern aus, denn sie wollte sich nicht darauf verlassen müssen, dass den älteren und kräftigeren unter ihnen entging, was für einen Schatz sie da hütete. Und so rannte sie, ohne innezuhalten, durch die Straßen, mied finstere Gassen, wo sie schutzlos wäre und keine Möglichkeit zum Ausweichen fände. Jemand kippte seinen Nachttopf aus dem Fenster, und ein Mann, der offenbar nicht schnell genug hatte ausweichen können, fluchte unflätig. Selbst in der eisigen Kälte stank es zwischen den Häuserwänden wie in einem Abort.

Immerhin war Agnes das Glück an diesem Morgen gewogen, und sie gelangte ohne weitere Umstände an ihr Ziel. Das Haus des alten Barne Theves wirkte, als hätte man es im Nachhinein zwischen die umstehenden Gebäude gepresst. Es war schmal, spitzgiebelig und machte den Eindruck, als sei alles irgendwie verschoben, was allerdings nicht darüber hinwegtäuschen durfte, dass es bestens gesichert war.

Es kam nur selten vor, dass Agnes etwas besaß, das so wertvoll war, dass sie es ihm anbieten konnte, denn mit billigem Plunder durfte man ihm nicht kommen. Auf ihr Klopfen hin öffnete nicht er selbst, sondern ein bulliger Kerl, der keine Worte machte, sondern sie kurz taxierte und dann mit einer knappen Kopfbewegung in den düsteren Innenraum hineinwinkte.

Barne Theves saß auf einem Hocker an einem Tisch und sah sie aus leicht verengten Augen an. Jeder behauptete, seine Geschäfte hätten ihn zu einem wohlhabenden Mann gemacht, aber gekleidet war er wie ein armer Händler.

Agnes ging zu ihm und reichte ihm wortlos das Nachthemd.

»Feinster Batist, Mädchen. Wo hast du den her?«

»Hab das Nachthemd am Wegesrand gefunden.«

Der Alte ging zu einer Laterne, die flackerndes Licht verbreitete, hielt das Hemd hoch, besah es von allen Seiten, betastete den Stoff, begutachtete die Nähte und nannte schließlich den Preis, den er zu zahlen bereit war.

»Fünf Schillinge? Das ist doch mehr wert«, beharrte Agnes, und es folgten einige zähe Verhandlungsrunden, bei denen sie beide beteuerten, dass sie auf diese Weise nicht überleben konnten. Während Agnes schließlich ihre zehn Schillinge einsteckte und der Mann das Nachthemd faltete, fragte er: »Hast du schon von dem Jungen gehört, der seine Eltern ermordet haben soll?«

Agnes durchlief ein Zittern. »Ne. Was is denn passiert?«

»Dieser reiche Kaufmann, Theodor Drenkhan. Von dem musst du doch gehört haben.«

»Ich kenn keine reichen Kaufleute.«

»Der Sohn ist fort, die Eltern lagen erstochen auf dem Boden. War wohl als aufsässig und ungehorsam bekannt, der Knabe. Die Eltern hatten ihn nach Kiel geschickt zu einem Kaufmann, der ihn unter seine Fittiche nehmen sollte, damit aus ihm in der Ferne etwas Anständiges wird. War gerade seit ein paar Tagen wieder zu Hause.«

Aufsässig und ungehorsam? Dieser dauerflennende Tölpel? »Und jetzt suchen die ihn überall?«

»Na, einer wie der kann sich nicht lange verstecken. So ein reiches, verwöhntes Bürschchen. Halt die Augen offen, vielleicht gibt es eine Belohnung.«

Agnes bedankte sich und verließ mit wild klopfendem Herzen das Haus. Sie sah sich mit raschem Blick um und ging los. Es kam nicht selten vor, dass Menschen, die das Haus des Händlers verlassen hatten, verfolgt und überfallen wurden, wusste man doch, dass da nun etwas zu holen war. Agnes war ganz und gar gespannte Aufmerksamkeit, denn eine solche Summe hatte sie noch nie besessen. Davon konnte sie sich wochenlang so richtig satt essen. Für das Nachthemd bekam der Alte gewiss gut und gerne das Doppelte, aber so war das Geschäft eben.

Agnes passierte den Markt im Schutz der Menge. In einem Moment der Unachtsamkeit lief sie in einen Mann hinein, tastete instinktiv nach seinem Geldbeutel, der prall gefüllt war, aber sie wollte ihr Glück nicht herausfordern, und so zog sie die Hand zurück und hastete weiter. Das letzte Stück zu ihrem Unterschlupf galt es, besonders aufmerksam zu sein, und so nahm sie Umwege, huschte in Hauseingänge, um zu sehen, ob ihr jemand folgte, und wagte sich schließlich in die Gasse, wo ihr Kellerunterschlupf lag.

Thilo saß auf dem Strohsack, die Knie angezogen, die Arme darauf und das Gesicht darin verborgen. Er blickte auf, als sie auf dem Boden landete, und angesichts seiner verlorenen Miene mochte Agnes erst recht nicht glauben, dass dieser Junge jemals als aufsässig gegolten hatte.

»Wo ist der Abtritt?«, fragte er, und selbst in dem funzeligen Licht, das durch das Fenster hineinfiel, konnte sie sehen, dass er rot angelaufen war.

»Hock dich über den Eimer und leer ihn später aus.«

Jetzt sah sie zum ersten Mal Widerwillen in seinen Augen aufblitzen. Er hatte seine Eltern verloren, hatte sich von ihr anschreien und ohrfeigen lassen, aber bei der Aufforderung, in einen Eimer zu pissen, erwachte der Widerstand in ihm? Agnes würde diese reichen Kaufleute nie verstehen.

»Dann behalt’s eben drin«, sagte sie und ließ sich auf ihrer Bettstatt nieder, um zu überlegen, wo sie ihren Schatz am besten versteckte, denn sie konnte unmöglich mit so viel Geld in der Tasche herumlaufen. Aus dem Augenwinkel bekam sie mit, wie der Junge in der finsteren Nische verschwand, und sie lächelte in sich hinein. Sie nahm die Münzen, wickelte jede einzelne in ein Stück Stoff und stopfte sie an verschiedenen Stellen in den Putz, drückte sie so tief hinein, dass sie sie gerade noch zu fassen bekam, und prägte sich die Stellen ein.

Als der Junge zurückkam, saß sie mit dem Rücken an die Wand gelehnt und sah ihn an.

»Ich muss nach Hause«, erklärte er nun. »Während du weg warst, habe ich nachgedacht. Ich muss den Mord an meinen Eltern melden und die Gerichtsbarkeit auf den Mann ansetzen.«

»Hmhm«, machte Agnes. »Also von allen dummen Ideen, die ich von dir erwartet hab, is das wirklich die dümmste. Deine Eltern wurden längst gefund’n, und nun ist man auf der Suche nach dir.«

»Umso besser! Ich …«

»Sie sagen, du hättest deine Eltern ermordet, und dann bist du geflohen.«

Thilo erstarrte. »Was redest du denn da?«, fuhr er sie an. »Ich … Wir haben den Täter doch gesehen!«

»Ja, und er hat uns gesehen. Du kannst dein Glück gerne herausfordern, aber ich für meinen Teil habe genug.« Den ganzen Morgen hatte Agnes den Gedanken an Elise und das schlechte Gewissen verdrängt, doch jetzt meldete es sich mit einem dumpfen Druck im Magen zurück. Gewiss hatte man sie bereits gefunden, aber ihr Tod würde in der Stadt nicht die Runde machen. Ein totes Straßenkind – das war nichts Außergewöhnliches. Andererseits war das Kind in der Nähe des Hauses ermordet worden. Womöglich lastete man auch das Thilo an, würde sich zusammenreimen, dass er von ihr gesehen worden wäre und sie erstochen hätte wie seine Eltern zuvor.

»Aber …«, nun klang Thilo wieder verzagt, »… aber du warst doch dabei, als er mit dem Messer hinter mir her war.«

»Und du denkst, mir würd jemand glauben? Das war’n richtig reicher Mann, der hat Freunde, gewiss auch irgend ’n Richter oder so. Und da komm ich und nenn ihn ’nen Meuchler? Zusammen mit dem Sohn des Hauses, der in der Stadt als Mörder gesucht wird? Haste den Mann eigentlich gekannt?«

Thilo zuckte die Schultern. »Ich war sechs Jahre in Kiel, bin erst vor zwei Tagen zurückgekehrt. Vielleicht ist er mir mal begegnet, als ich ein kleiner Junge war, aber erinnern kann ich mich nicht. Mein Vater hat nur gemeint, er bekomme später noch Besuch, ich vermute, er war auch ein Kaufmann.«

»Dann kannste erst recht nichts tun. Oder denkst du, die lassen jetzt alle reichen Herren vor dir Aufstellung nehm’, auf dass du einen von denen beschuldigen kannst?«

Schweigend erwiderte er ihren Blick, und im nächsten Moment knurrte sein Magen vernehmlich. »Was deine Eltern anbelangt, können wir nichts tun. Aber wir können essen.« Agnes erlaubte sich ein verschmitztes Grinsen. »Ich hab Geld.« Sie kniete sich vor ihn, dann klaubte sie aus den Ecken feuchten Staub, Erde und Mörtel zusammen und rieb alles Thilo ins Gesicht. »Stillhalten«, herrschte sie ihn an, als er zurückzuckte. Sie fuhr ihm mit den Händen durch das dichte Haar, das weicher war, als sie es jemals bei einem anderen Menschen gefühlt hatte.

Kurz darauf war es schmierig und hing ihm ins Gesicht. Sie wischte den angetrockneten Dreck von seinen Wangen und begutachtete ihn. »Ja, das sollte gehen. Am besten sprichst du nicht, du klingst zu sehr nach denen. Spiel ’nen Narren, der dümmlich in die Gegend stiert. Fällt dir gewiss nich schwer.«

Wieder glomm etwas in seinen Augen auf, aber er schwieg, und Agnes wandte sich ab, um vor ihm aus dem Fenster zu klettern.

»Weißt du, Arjen, es ist doch nicht meine Schuld.« Das war Johans Bekenntnis seit frühester Kindheit. Wie oft hatte er auf Arjens Bett gesessen, wenn dieser als kleiner Junge weinend auf der Truhe hockte, Striemen auf Rücken und Gesäß, nachdem sich die Wut des Vaters wieder einmal auf ihm entladen hatte, während Johan allenfalls einen Tadel oder leichte Hiebe hatte einstecken müssen. Meist hatte Arjen versöhnlich darauf geantwortet, hatte ihm übers Haar gestrichen, ihm Absolution erteilt, dieses Mal jedoch nicht. Sein Blick war kalt und so unversöhnlich, wie Johan es nicht von seinem Bruder kannte. Aber es war, verdammt noch mal, wirklich nicht seine Schuld. Aber gleich, wie oft Johan die Worte vor Arjen und insgeheim sich selbst gegenüber aussprach – das schlechte Gewissen blieb.

Dass sein Vater ihn auf eine Schiffsreise schickte, war wahrlich nicht Johans Wunsch gewesen. Die Vorstellung, in finsterer Nacht auf See zu sein, um ihn herum nur Wasser und in der Tiefe Kreaturen, deren Namen er nicht einmal kannte, flößte ihm ein unaussprechliches Grauen ein. Der einzige Schutz vor den Gezeiten wäre eine hölzerne Schiffswand. Er kannte die Wucht, mit der Wellen bei einem Sturm am Hafen aufschlugen. Johan hätte seinen Vater gerne davon überzeugt, Arjen zu schicken, aber das traute er sich nicht, denn er fürchtete den Zorn seines Vaters, und so duckte er sich weg – wie immer. Wobei er wiederum auch nicht wollte, dass Arjen ging. Er liebte und brauchte seinen großen Bruder, ohne ihn fühlte er sich schutzlos der väterlichen Willkür ausgeliefert.

»Hör mit dem Geflenne auf!«, schimpfte nun sein Vater und wandte sich an Arjen. »Und du hör auf, immerfort meine Entscheidungen in Frage zu stellen.«

»Müssen wir diese Dinge bei Tisch besprechen?«, fragte seine Mutter. »Arjen, ich habe es dir doch auf dem Rückweg erklärt.«

Sie hatten sich gerade erst im Speisezimmer eingefunden, der Vater war im Kontor gewesen im Gespräch mit einigen Kaufmännern, und er hatte sich jede Unterbrechung verbeten. So hatte Arjen, dem Johan schon bei dessen Rückkehr den Zorn angesehen hatte, warten müssen, bis sich die Gelegenheit ergab, das Thema zur Sprache zu bringen. Und hier waren sie nun.

»Eure Erklärung habe ich durchaus vernommen«, sagte Arjen, die Hände um die Rückenlehne des Stuhls geklammert, sodass die Knöchel weiß hervortraten. »Aber ich bitte Euch: Johan soll um diese Reise gebeten haben, weil er sich das immer schon gewünscht habe, während ich dergleichen seltener äußerte? Und das soll ich glauben?«

»Glaub, was du willst!«, herrschte ihn ihr Vater an. »Doch jetzt setz dich endlich. Wir sind bei Tisch, und ich dulde nicht, dass du jegliche Manieren ablegst, als wärst du ein Hafenarbeiter.«

Ebba trug das Essen auf, doch Arjen blieb stehen. Es gab Fisch, was seltsam war, denn den gab es für gewöhnlich nur freitags. Auch ihr Vater wirkte irritiert, sagte jedoch nichts, sondern warf seiner Frau nur einen kurzen Blick zu. »Ich sagte, du sollst dich hinsetzen.«

Arjen zog ruckartig den Stuhl zurück, sodass er mit lautem Schaben über den Boden kratzte. Dann ließ er sich nieder und umklammerte das Messer, als wollte er es jemandem in die Brust rammen. »Ihr wusstet, wie gerne ich eine Reise antreten möchte«, sagte er erneut zu seinem Vater. »Und Ihr wisst, dass ich es verdient habe.«

»Verdient? Womit denn? Du tust deine Pflicht als Sohn.«

In Arjens Gesicht zuckte es, er sah Johan an, schien etwas sagen zu wollen und schwieg dann doch.

Johan beobachtete seinen Bruder, dessen beherrschter Zorn ihm unheilvoller erschien, als wenn er um sich geschlagen hätte. Manchmal fragte Johan sich, was hinter all der Vorsicht und Zurückhaltung seines Bruders verborgen lag. Er dachte daran, wie spät Arjen in der letzten Nacht nach Hause gekommen war. Vielleicht hatte er eine Geliebte, das wäre nicht ungewöhnlich, denn wenngleich Arjen sich damit nicht brüstete, bekam Johan doch das eine oder andere mit. Dachte er jedoch daran, was Theodor Drenkhan letzte Nacht passiert war … Ob Arjen dem Mörder auf der Straße begegnet war, ohne es zu wissen?

»Na, was ist?«, sagte da sein Vater, als hätte er seine Gedanken gelesen. »Denkst du darüber nach, dasselbe zu tun wie Thilo Drenkhan bei seinem Vater?«

Arjens Finger lösten sich von dem Messergriff. »Wisst Ihr, es gibt Momente, da verachte ich Euch.«

»Verschwinde augenblicklich von meinem Tisch!« Enno Schellbachs Arm war hochgeschnellt, und sein Finger deutete zur Tür. Speicheltropfen spritzten ihm von den Lippen, als er seine Worte wiederholte.

Aufreizend langsam stand Arjen auf. Er brauchte seine Worte nicht zu wiederholen, sie standen so deutlich in seinem Blick, dass Johan Angst hatte, ihr Vater könne – ungeachtet Arjens Alter – den Rohrstock holen und ihn verprügeln, bis ihm der Arm erlahmte. Schließlich verließ Arjen den Raum, und nun wandte sich Enno Schellbach schwer atmend an seine Frau. »Diese Aufsässigkeit kann er nicht von mir haben.«

Im Gesicht ihrer Mutter zuckte es, aber sie schwieg, wirkte vielmehr, als sei sie den Tränen nahe.

»Und du«, nun traf der unbarmherzige Blick Johan, »siehst drein wie ein geprügelter Hund, statt deinem Bruder zu erklären, dass dies dein Wunsch war und er sich mit seinen Vorwürfen zum Teufel scheren soll!«

Aber es war nicht mein Wunsch, lag es Johan auf der Zunge. Doch natürlich wagte er es auch jetzt nicht, es auszusprechen, sondern er zog die Schultern hoch, als könne sein Kopf dazwischen verschwinden.

»Ich bin wahrlich gestraft. Ebba, gib mir Essen auf.«

Die Magd, die schweigend dem Disput beigewohnt hatte, beeilte sich, dem Befehl Folge zu leisten.

»Wo warst du eigentlich letzte Nacht?«, wandte sich sein Vater an ihn. »Als ich nach Hause gekommen bin, war dein Zimmer ebenso leer wie das von Arjen.«

Johan spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg. »Ich war spazieren, weil ich nicht schlafen konnte.«

Sein Vater taxierte ihn, als vermutete – oder erhoffte – er sich eine tiefere Wahrheit hinter Johans Worten. Dann jedoch schüttelte er den Kopf und begann zu essen.

Lübeck, April 1593

Dem Aufbruch seines Bruders war ein weiterer heftiger Streit vorausgegangen, denn Arjen hatte beschlossen, nicht zu schweigen. Viele böse Worte waren zwischen ihm und seinem Vater gefallen, während Johan ganz bleich geworden war und seine Mutter weinte. »Weißt du, Arjen, es ist doch nicht meine Schuld«, hatte Johan beteuert. Dieses Mal keine Nachgiebigkeit, kein Vergeben, kein Abschied, als der kleine Bruder das Schiff bestieg.

»Du bist grausam zu ihm«, hatte seine Mutter ihm gesagt. »Es ist doch wirklich nicht seine Schuld.«

Nun standen sie alle am Hafen, und während Enno Schellbach sich jovial gestikulierend mit anderen Kaufmännern unterhielt, stand Johan nur da, kreideblass, während sein Gesicht zu dem Boot zuckte, das ihn zum Schiff bringen würde, und dann wieder zu Arjen, an dessen steinerner Miene er zerbrach. Seine Mutter hatte die Hand auf Johans Arm gelegt, wobei nicht zu erkennen war, ob sie ihn beruhigen wollte oder sich selbst.

Schließlich kam der Moment des Abschieds. Sein Vater klopfte Johan auf die Schulter. »Mach mir keine Schande.«

Seine Mutter umarmte ihn kurz und trat dann einen Schritt zurück, während Arjen ihm nur knapp zunickte. Johan schien etwas sagen zu wollen, brachte schließlich nur ein knappes »Gott sei mit dir« hervor und wandte sich abrupt ab.

Das Boot ruderte ihn mitsamt den anderen Kaufleuten zum Schiff, und Arjen beobachtete, wie er ungelenk über die Trittleiter die Reling hochkletterte.

»Gott steh uns bei«, murmelte sein Vater. »Dieser Narr wird sich noch umbringen, ehe er auf dem Schiff ist.«

»Enno, bitte«, kam es von seiner Mutter.

Arjen hatte schweigend zugesehen, wie die Männer das Schiff bestiegen, wie es die Segel hisste, den Anker lichtete. Eine unbeschreibliche Sehnsucht machte ihm die Brust eng, während das Schiff langsam Fahrt aufnahm. Als seine Eltern sich auf den Heimweg machen wollten, sagte er, er käme später nach, und hatte noch lange am Kai verharrt.

Nun stand er wieder allein am Hafen, betrachtete die dreimastigen Kraweelen, die vor langer Zeit die schweren einmastigen Koggen der Hanse abgelöst hatten, und konnte nicht verhehlen, wie sehr der Neid an ihm nagte. Von Kindheit an zog es ihn in die Welt, sehnte er sich danach, hinaus aufs Meer zu dürfen, dessen Ungewissheit ihn mit so viel Beharrlichkeit lockte. Wie oft schon hatte er hier gestanden und beobachtet, wie die Fracht der Schiffe mit Waren aus aller Herren Länder gelöscht wurde. Ein buntes Sprachgemisch beherrschte den Hafen, und Arjen wusste sie inzwischen zu unterscheiden, konnte Isländisch vom Niederländischen trennen, Flämisch von Schwedisch und Dänisch. Ohne die Sprachen verstehen zu können, erkannte er ihren Zungenschlag. Norwegisch verstand er sogar schon ein wenig, weil er sich hin und wieder mit einem der Schonenfahrer unterhielt. Aber auch jene Sprachen, in denen er unterrichtet wurde, beherrschte er inzwischen fließend, weil er fortwährend sein Gehör schulte. Arjen war bereit, die Welt zu entdecken – wenn sich ihm nur die Möglichkeit dazu böte!

Mehr als zwei Wochen war Johan nun schon fort, und wer nicht wusste, wie es um Arjens Gefühle stand, konnte glauben, er stünde Tag für Tag da und wartete auf die sichere Heimkehr des kleinen Bruders. Sacht schaukelten die Schiffe auf dem Wasser, das leise plätschernd an die Kaimauern schwappte. Die große Zeit der Hanse hatte Arjen nicht mehr erlebt, aber sein Vater sprach fortwährend davon, als wäre nicht auch er erst nach Beginn ihres Niedergangs geboren worden. Geschichten über diesen mächtigen Bund gehörten zu den wenigen Momenten, in denen die Brüder einträchtig beisammensitzend an des Vaters Lippen gehangen hatten. Um Lüneburger Salz war es gegangen, weißes Gold, und wie dieses glitzerte und funkelte, um Schiffe, die die Meere durchpflügten, um Handelsmonopole und ein weitumspannendes Netz. In den Erzählungen seines Vaters hatte es stets so geklungen, als sei der Verlust von Privilegien und Monopolen nur ein kurzer Moment, eine Unterbrechung, die nicht an der Macht zu kratzen vermochte. Damals hatte Arjen ihm geglaubt, als erwachsener Mann jedoch wusste er, dass genau diese Haltung das war, an der die Hanse krankte.

Ihre führende Position im Schiffbau hatte die Hanse längst an die Holländer verloren, aber hatte sie daraus gelernt? Dieser Rückstand verhinderte die Teilhabe am Welthandel, der zunehmend an Bedeutung gewann, und so geriet sie auch im kaufmännischen Bereich zunehmend ins Hintertreffen. Ihre Entscheidungswege waren schwerfällig, nur ungern gewöhnte man sich an Neuerungen, wollte lieber am Althergebrachten festhalten, denn dieses hatte sich schließlich bewährt. So vermochte die Hanse der zunehmenden Festigung von Territorialstaaten und der Verlagerung der Handelswege nichts entgegenzusetzen, und längst hatten die Niederlande sie überholt. Aber das wollte niemand hören, viel lieber schwelgten sie in Geschichten vergangener Größe. Ja, Lübeck hatte seine starke Position innerhalb der Hanse behalten, aber im Grunde genommen bestand diese außerdem nur noch aus Hamburg und Bremen.

Wind trieb vereinzelt Regentropfen über den Hafen, und Arjen zog seinen Mantel enger um sich. Nach wie vor war der südlich des Holstentors gelegene Binnenhafen an der Obertrave eine der Hauptschlagadern der Stadt, denn von hier floss das Geld ein, von dem sie nach wie vor reichlich zehrte. Hier befanden sich die Speicherhäuser und Lagerräume Lübecks, war der Umschlagplatz für wichtige Handelsgüter. Weil der Flusshafen nur wenig Raum bot, ankerten die Schiffe vielfach direkt an den Kaimauern, sodass die Entladung vom Landeplatz an den Hafen erfolgen konnte. Die Waren der wenigen Schiffe, die mitten auf dem Fluss ankerten, wurden von Prähmen ans Ufer gefahren.

Mit dem Ärmel wischte Arjen sich den Regen aus dem Gesicht, blieb am Hafen stehen, bis Wind und Nässe ihm derart in den Gliedern saßen, dass er sich abwandte und das nächstgelegene Wirtshaus aufsuchte. Sein Vater hatte ihn mit Botengängen beauftragt, die hatte er erledigt. Weitere Verwendung bestand für ihn an diesem Tag offenbar nicht, und so konnte Arjen im Grunde tun, was ihm beliebte.

Früher einmal hatte er alles getan, um seinem Vater zu gefallen, hatte gelernt und war dank seines wachen Verstands und seines Wissensdursts schon bald in den meisten Belangen seinem jüngeren Bruder überlegen gewesen. Und doch hatte ihm sein Vater stets das Gefühl vermittelt, dass er die Dinge nicht ausreichend gut beherrschte. Löste er alle Rechenaufgaben richtig, so baute sein Vater Fallstricke hinein, und übersah Arjen diese, setzte es etwas mit dem Stock, denn sein Vater wollte keinen Tölpel zum Sohn. Längst hatte Arjen es aufgegeben, um die Gunst seines Vaters zu buhlen, in der Hoffnung, dass dieser schon merkte, was er an ihm hatte, wenn er sich ihm nicht mehr als liebender Sohn zuwandte. Enno Schellbach jedoch schien dies bis heute nicht einmal bemerkt zu haben.

Im Gastraum des Wirtshauses mischte sich der Geruch von Bier und rußigem Qualm in jenen nach Schweiß und feuchter Kleidung. Arjen suchte einen Platz in einer Nische und zog den Mantel aus, um ihn achtlos auf die Bank zu werfen.

»Na, so etwas, mein Herr.« Eine Frau in gelbem Gewand kam an seinen Tisch. »So ganz und gar betrübt?« Ailke war die Tochter des Gastwirts, und insgeheim schwärmten die jungen Burschen, die es hierherzog, von ihr.

Für Arjen hatte sie eine besondere Bedeutung, denn in ihren Armen hatte er seine Unschuld verloren, als er achtzehn gewesen war und sie zweiundzwanzig und frisch verwitwet. Es war das letzte Mal gewesen, dass sein Vater ihn geschlagen hatte, doch diese Schläge hatten es in sich gehabt, und anstatt in sein Zimmer war Arjen wie ein waidwundes Tier durch die Straßen gelaufen, ehe er hier gelandet war, zusammengesunken auf einem Stuhl und trotz seines Alters mit den Tränen kämpfend. Ailke hatte ihn in die Arme geschlossen, ihn geküsst und mit in ihre Kammer genommen, wo all der Kummer und Schmerz von einer Lust überspült worden war, von der Arjen bisher allenfalls geahnt hatte.

Es war das einzige Mal gewesen, dass seinem Vater ein Ausbruch leidgetan hatte, denn als Arjen in den frühen Morgenstunden heimgekehrt war, hatte er seine Mutter weinend in der Halle angetroffen, und auch sein Vater war auffallend blass gewesen. Fenja Schellbach sprang auf, wollte auf Arjen zulaufen, aber etwas im Blick seines Vaters hielt sie zurück. So war es stets, als scheute sie sich davor, ihm Liebesbeweise zukommen zu lassen, wenn ihr Gemahl neben ihr stand. Johan gegenüber kannte sie eine solche Zurückhaltung nicht. Dieser schien damals allerdings alles andere im Sinn gehabt zu haben als Liebesbeweise seiner Mutter, denn er hatte mit elendem Blick auf einem Stuhl gehockt und Arjen angesehen, als befürchtete er, dieser könnte nun erzählen, was ihm selbst die unbarmherzigste Tracht Prügel seines Lebens nicht hatte entlocken können – dass es nicht Arjen gewesen war, der in die Geldkatze des Vaters gegriffen hatte.

»Hast deiner Mutter ja einen gehörigen Schrecken eingejagt«, hatte sein Vater gebrummt. »Arbeite das Geld ab, dann soll es von mir aus damit gut sein.«

Als Arjen nun in Ailkes blaue Augen sah, war es, als hätte sich die Zeit zurückgedreht, und er wäre wieder der Junge, den die Knute des Vaters niederdrückte. Ailke schien sogar versucht, ihn auf dieselbe Weise zu trösten wie damals, aber Arjen war jetzt nicht danach, und so gab er lediglich eine Bestellung auf, denn der Hunger nagte in seinem Bauch und erinnerte ihn daran, dass er seit dem frühen Morgen nichts mehr gegessen hatte.

»Machst dich rar in letzter Zeit«, hörte er eine Männerstimme sagen und drehte sich um. Wilhelm Tiedemann, ein Freund seit Kinderzeiten, war an seinen Tisch getreten. »Darf ich mich zu dir setzen?«

Arjen deutete wortlos auf den freien Stuhl, und Wilhelm ließ sich ihm gegenüber nieder. »Ich habe gehört, auf den jungen Drenkhan ist eine stattliche Belohnung ausgesetzt.«

»Wenn der seine Eltern ermordet hat, wird er wohl nicht mehr in Lübeck sein.«

»Wo sollte so einer denn hin? Der hat doch das Leben auf der Straße nie kennengelernt.«

»Vielleicht war er es nicht, und er wurde entführt?«, mutmaßte Arjen.

»Ich habe gehört, dass er an dem Abend einen heftigen Streit mit seinem Vater gehabt hat. Der Kaufmann in Kiel, bei dem er in der Lehre war, hatte wohl genug von ihm, hat ihn heimgeschickt, weil er ungehorsam war. Soll angeblich mit einer jungen Magd erwischt worden sein, die kaum älter war als er, da ist seinem Lehrherrn die Galle übergelaufen, und er hat ihn umgehend heimgeschickt. Der alte Drenkhan war nicht sehr erfreut, wie du dir sicher vorstellen kannst. Hat ihn ordentlich ausgeschimpft, heißt es.«

»Wenn das ein Grund ist, seinen Vater zu ermorden, dann hätte meiner schon längst das Zeitliche gesegnet.«

Wilhelm tat das mit einer Handbewegung ab. »Die ganze Stadt spricht davon, und so manch einer kommt nun damit, dass er in dieser Nacht Seltsames gehört habe.«

»Das tun die Leute doch immer, wenn sie glauben, sich damit hervortun zu können. Umso mehr, wenn es eine Belohnung gibt.«

»Ein Nachbar glaubt, er hätte ein Kind schreien gehört. Das würde dazu passen, dass dieses tote Mädchen in der Nähe aufgefunden wurde – erstochen, so wie Drenkhan nebst Gemahlin.«

Ailke stellte einen Krug vor Arjen ab sowie einen Teller mit dampfendem Hammeleintopf. Sie wandte sich an Wilhelm und fragte diesen freundlich, was sie ihm Gutes tun könne.

»So manches, meine Liebe, aber für heute soll es nur dasselbe sein wie für meinen Freund.«

Sie lachte und ging davon. Seufzend sah Wilhelm ihr nach. »Sie ist hinreißend.«

»Hmhm.« Arjen hatte den Mund voll und spülte das Essen mit einem großen Schluck hinunter. »Du glaubst wirklich, dass ein vierzehnjähriger verwöhnter Bengel seine Eltern ermordet, weil er sich über diese ärgert, dann ein Straßenmädchen tötet – warum eigentlich? – und seither auf der Straße lebt?«

»Vielleicht hat sie ihn dabei erwischt, wie er mit dem Messer hat fliehen wollen. Und auf der Straße leben viele Kinder.«

»Ja, gewieft und flink. Stell dir da so einen Burschen vor, wie wir es in dem Alter waren. Keinen Tag überlebt der. Da steckt gewiss etwas anderes dahinter.«

»Warum sollte man ihn entführen? Bei den Eltern ist doch nichts mehr zu holen. Da hätte derjenige besser gewartet, bis der Junge geerbt hat, und ihn sich dann geschnappt. Nein, ich sage dir, er war’s.«

Arjen trank einen großen Schluck und stellte den Krug wieder ab. Im Grunde genommen war es ihm gleich, was mit dem kleinen Drenkhan war, ihn plagten andere Sorgen.

»Für deinen Vater fügt sich das indes ganz gut, dass Theodor Drenkhan nicht mehr da ist, möchte ich meinen«, fuhr Wilhelm fort.

»Warum?«

»Dass der ihm ein wichtiges Geschäft praktisch vor der Nase weggeschnappt hat, musst du doch mitbekommen haben?«

»Das war Drenkhan?« Arjen wusste, dass sein Vater außer sich gewesen war vor Zorn, aber wer der Gegenspieler gewesen war, hatte er nicht erfahren. Sein Vater nutzte zwar gerne Arjens Fähigkeiten als Kaufmann, doch die wichtigen Dinge beriet er nur mit Johan. Wieder stieg die Wut in ihm auf, und er nahm einen weiteren Schluck, als könnte er diese damit hinunterspülen.

»Wie auch immer«, fuhr Wilhelm fort, »wir werden es schon noch erfahren. Wenn der Junge versucht, sich auf der Straße durchzuschlagen, wird man ihn über kurz oder lang in der Gosse finden. Wie du schon sagtest, keinen Tag überlebt der da draußen.«

Zum ersten Mal in seinem Leben erfuhr Thilo, was Hunger war, wenngleich dieses seltsame Mädchen mit dem mausbraunen Haar und den Augen in der Farbe eines graublauen Gewitterhimmels behauptete, sie sei das erste Mal in ihrem Leben so richtig satt. Der Hunger war wie ein gefräßiges Tier in seinem Bauch, das sich in ihm verbiss, seine Krallen an ihm schärfte. Längst hatte er jegliches Zeitgefühl verloren, wobei er anfangs noch die Tage gezählt hatte. Schließlich hatte er es aufgegeben, weil es nur noch darum ging, bis zum Abend irgendwie zu überleben. Nun saß er in diesem Loch, in dem es stank wie in einer Kloake, hörte das Fiepen und Scharren von Ratten, wickelte sich nachts in Sackleinen, das vermutlich voll war von Ungeziefer, denn es juckte ihn am ganzen Körper. In manchen Momenten wünschte Thilo gar, der Mann hätte ihn gleich mit ermordet.

»Ich hab noch nie ’nen so elenden Jammerlappen gesehen«, schimpfte Agnes, wenn er mal wieder, ganz in seinen Kummer verstrickt, in die Ecke kroch, die Knie anzog und das Gesicht in den Armen vergrub, während er vor Kälte zitterte.

Himmel, er ertrug sie kaum noch und wollte ihr am liebsten sagen, dass er ein so verstrubbeltes, verlottertes Mädchen auch noch nie gesehen hatte. Er hob den Kopf, sah sie an, wie sie dort saß und ihn verächtlich musterte. War er in der Zeit nach der Ermordung seiner Eltern wie gelähmt gewesen, so zehrte mittlerweile der Zorn an ihm, war erst ein Aufglimmen gewesen, das langsam flackerte, sich heiß durch ihn hindurchfraß und nun hell loderte. Aber da war auch noch ein Rest Vernunft, so ballten sich all die hässlichen Worte, die er diesem Mädchen entgegenschleudern wollte, in der Kehle, und sein Atemzug klang wie ein Aufschluchzen. Er brauchte sie, das war ihm klar, und so blieb er stumm.

»Fängste jetzt schon wieder an zu flennen?«

»Halt doch den Mund«, zischte er ihr zu, nun doch unfähig zu schweigen, und er schaffte es dabei sogar, seiner Stimme Festigkeit zu verleihen.

Das entlockte ihr ein Lächeln, als hätte sie Freude daran, wenn sie ihn wütend machte.

»Sie haben ’ne Belohnung auf dich ausgesetzt«, sagte sie nun. »Richtig viel Geld.«

Augenblicklich fiel der Zorn in ihm zusammen, schmeckte nach kalter Asche. »Was sagst du da?«, krächzte er, als kratzte Ruß in seiner Kehle.

»Wenn ich dich an die Büttel ausliefere, gibt’s ’nen Haufen Münzen für mich und für dich den Strick.« Sie hatte das Kinn in die Hand gestützt und musterte ihn nachdenklich.

Er schluckte, brauchte einen Augenblick, um Worte formen zu können. »Ich würde sagen, du wärst es gewesen. Wem würde man wohl glauben?«

Sie ging nicht wütend auf ihn los, ohrfeigte ihn nicht schon wieder – was er ihr auch unbedingt geraten haben wollte, denn er würde sich kein weiteres Mal von ihr schlagen lassen – und schimpfte ihn keinen tölpelhaften Verräter. Vielmehr lächelte sie, als würde ihr seine Antwort gefallen. »Und dann landet mein Kopf in der Schlinge, das ist gut möglich. Du hingegen bekommst das Haus mit der gut gefüllten Speisekammer und einem flackernden Feuer im Kamin, an dem du dich wärmen kannst. Zumindest so lange, bis der Mörder auftaucht und diesem schönen Leben ein Ende setzt.«

»Der könnte dich auch erwischen.«

»Mich?« Sie lachte. »Mich erwischt keiner, erst recht keiner von denen. Aber mach dir keine Sorgen, ich übergeb dich denen nich. Nich, weil ich denk, du wärst fähig, mich zu beschuldigen, denn du würdest allenfalls schreckstarr dastehen und vor Angst kein Wort rausbringen. Ich hab vielmehr Sorge, dass er ein mächtiger Mann is. Außerdem bin ich keine Verräterin, so lästig du mir auch bist.«

Die Erwähnung der heimischen Speisekammer hatte Thilo auf eine Idee gebracht. »Du warst doch schon einmal in unserem Haus. Kannst du da nicht noch einmal rein und Essen stehlen?«

»Was für’n dummer Einfall.«

»Niemand rechnet damit, dass ich dorthin zurückkomme.«

»Die rechnen damit, dass du das denkst. Dass einer wie du auf der Straße nich überleben kann, wissen die doch. Also steht vermutlich jemand im Haus und wartet drauf, dass du was Unüberlegtes tust.« Sie sog die Unterlippe ein. »Du hast mal gesagt, dass du lang nicht mehr hier warst. Erkennt dich überhaupt jemand?«

»Ich war acht, als mein Vater mich fortgeschickt hat.« Thilo zuckte die Schultern.

»Die, bei denen du warst, werden die dich nich vermissen?«

Bei der Erinnerung war ihm ein wenig unbehaglich zumute. »Ich war nicht auf Besuch hier. Der Kaufmann, bei dem ich lernen sollte, hat mich fortgeschickt.« Er war von Anfang an ein aufmüpfiges Kind gewesen, und die Hoffnung seines Lehrherrn, dies könnte sich ändern, wenn er erst älter war und entsprechend oft mit der Knute verdroschen wurde, hatte sich nicht bewahrheitet – Thilo blieb rebellisch und setzte sich gegen jede aufgezwungene Regel zur Wehr.

»Was hast du denn angestellt?«

Diese Erinnerung war aufregend und beschämend zugleich. »Ich habe mit der Magd, hm, herumgeschäkert.«

Sie fragte nicht weiter, äffte nur leise »herumgeschäkert« nach, und er beließ es dabei. Sein Lehrherr hatte ihn aus der Kammer geprügelt, und vermutlich hatte er die arme Gundis auf die Straße gesetzt. Am kommenden Tag saß Thilo in einem Fuhrwerk auf dem Weg zurück nach Lübeck. Der Zorn seines Vaters hatte sich in Worten unbändiger Wut entladen. Vor seiner Mutter hatte er sich geschämt, und diese Scham hatte seinen Widerstand angeheizt, sodass er seinem Vater viel Boshaftes zugeschrien hatte. Jetzt wünschte er, er hätte all das nicht gesagt, wünschte, er könnte bei seinen Eltern sein. Was würde er ihnen nicht alles versprechen! Einen vorbildlichen Sohn wollte er abgeben, lernen wollte er, ihnen keinen Kummer mehr bereiten. An seine Mutter zu denken, daran, wie sie ihn angesehen hatte, als er all die hässlichen Dinge zu seinem Vater sagte, löste einen Schmerz aus, der ihm die Brust eng machte. Dann wieder kamen andere Erinnerungen, Momente, in denen er noch klein gewesen war, ehe sein Vater ihn nach Kiel geschickt hatte. Hin und wieder hatte er ihn mitgenommen, wenn er geschäftliche Dinge erledigte, hatte ihm eine Süßigkeit gekauft und mit ihm gelacht. Wenn er die Augen schloss, konnte er das Klacken des Spinnrads hören, mit dem seine Mutter Wolle spann und dabei summte. Ein leises Schaben ließ ihn aufblicken, und die Erinnerungen zerstoben.

Als er eine Ratte bemerkte, die durch die Fensteröffnung lugte, wich er zurück. Er hasste Ratten, hatte Geschichten gehört, wie sie kleinen Kindern nachts die Füße anfraßen, und davon, wie Bisswunden brandig wurden und man entweder starb oder Gliedmaßen verlor. Das beständige Fiepen, Rascheln und Kratzen ließ ihn nur schwer einschlafen. Wenn er dann endlich schlief, war es eine ohnmachtsähnliche Erschöpfung, aus der er ohne jede Erholung erwachte. Er wollte nach Hause, wollte in sein Bett, zu seinen Eltern. Alles würde er dafür tun. Alles!

»Was machen wir jetzt?«, fragte er.