Die Krönung - Charles Eisenstein - E-Book

Die Krönung E-Book

Eisenstein Charles

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Beschreibung

Die Corona-Pandemie bringt sowohl die besten als auch die schlimmsten Eigenschaften der Menschheit zum Vorschein. In der vorliegenden Essay-Sammlung erforscht Charles Eisenstein beide Extreme: einerseits den Sündenbockmechanismus, die fortschreitende Polarisierung und Spaltung in der Gesellschaft, Angst, ausufernde Kontrolle, Wissenschaft als Religion, medizinischen Totalitarismus sowie einen neuen Faschismus – und auf der anderen Seite die Möglichkeit, diese Muster, sobald sie einmal erkannt sind, zu überwinden. Er weist darauf hin, in welchem besonderen historischen Moment wir uns jetzt befinden, und dass genau jetzt die Gelegenheit ist, zu entscheiden, in welcher Zukunft wir leben wollen und welche Vision vom Menschen Wirklichkeit werden soll. In "Die Krönung" zeigt uns der Autor, dass die Pandemie das Potenzial hat, den nächsten Entwicklungsschritt der Menschheit einzuleiten. Wenn wir es wollen, können wir selbst zum Souverän werden, selbst die Verantwortung übernehmen: für unsere Gesundheit, unsere Mitmenschen, unseren Lebensraum.

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Charles Eisenstein

DieKrönung

Wie das Coronavirusdie Gesellschaftsordnunginfrage stellt

Die englischen Originaltexte der in diesem Buch abgedruckten Essays von Charles Eisenstein wurden in den Jahren 2020 und 2021 (Zika und die Kontrollmentalität 2016) online unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Public License (CC BY 4.0) veröffentlicht. https://charles.eisenstein.org/essays

Der Verlag dankt den Übersetzern für die unentgeltliche Arbeit.

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

1. eBook-Ausgabe 2022© der deutschsprachigen Ausgabe 2022 Europa,ein Imprint der Europa Verlage GmbH, MünchenUmschlaggestaltung: Danai Afrati, MünchenÜbersetzung: Vanessa Groß, Jürgen Hornschuh, Janet Klünder,Christoph Peterseil, Stephan Pfannschmidt, Eike Richter,Ingrid Suprayan, Nikola WinterLayout&Satz: Robert Gigler, MünchenGesetzt aus der Sabon

Konvertierung: BookwireePub-ISBN: 978-3-95890-486-6

Alle Rechte vorbehalten.www.europa-verlag.com

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

Zika und die Kontrollmentalität

Die Krönung

Der Kontrollreflex

Das Verschwörungsnarrativ

Der Krieg gegen den Tod

In was für einer Welt wollen wir leben?

Leben ist Gemeinschaft

Die Krönung

Wahnsinn

Der Verschwörungsmythos

Eine Verschwörung ohne Verschwörer

Auf welcher Seite stehst du?

Ein Aufruf zur Demut

Betäubt

Das Festmahl der Weißen

Das bizarre Andere

Ontologischer Imperialismus

Integration oder Auslöschung?

Hotdogs und Pommes

Was ist wirklich?

Es lebe das Fest (Girard-Reihe Teil 1)

Faschismus und das Antifestival (Girard-Reihe Teil 2)

Die Moral der Massen und die Ungeimpften (Girard-Reihe Teil 3)

Es muss etwas getan werden

Repräsentanten der Verunreinigung

Das Kapern der Moral

Die Massen bewegen

Der geopferte König (Girard-Reihe Teil 3,5)

Die Erde als Tempel (Girard-Reihe Teil 4)

Der Feind in unserer Mitte

Überwindung aus dem Westen

Überwindung aus dem Osten

Der Ring der Macht

Jenseits der industriellen Medizin

Es wird ernst

Ein Weg wird sich auftun

Über den Autor

Anmerkungen

VORWORT

Mir ist zu Ohren gekommen, dass in Indien mehrere Glaubensrichtungen aus Corona eine neue Göttin gemacht haben, die nun neben anderen Gottheiten auf dem Altar steht. Warum auch nicht? In pantheistischen Religionen sind Götter die personifizierten Kräfte von Mensch und Natur, und sie vermitteln zwischen dem Bekannten und dem Unerkennbaren. Eine Gottheit kann besänftigt, gnädig gestimmt, erzürnt oder beschwichtigt werden, aber niemals besiegt oder vollends verstanden.

Die Essays in dieser Sammlung nähern sich Corona aus verschiedenen Richtungen. Zum Teil spiegeln sie die Entwicklung meiner Perspektive auf Corona über die letzten zwei Jahre wider. Allerdings lässt Coronas Vielseitigkeit auch ihre gottgleiche Ungreifbarkeit erkennen. Was ist Corona? Auf diesen Seiten sehe ich es als religiöse Hysterie, als pandemische Krankheit, als Werkzeug totalitärer Kräfte und als Ausbruch einer latenten Girard’schen Opferdynamik. Jeder dieser Blickwinkel erfordert das Erkennen von Merkmalen, die aus den anderen Perspektiven nicht sichtbar sind, und keine einzige vermag die Göttin Corona voll zu erfassen. Deshalb trete ich in vielen Essays einen Schritt zurück und nehme einen metaphysischen Blickwinkel ein, weil ich Corona nicht auf irgendein bestimmtes, benennbares Ding reduzieren möchte.

Unsere Angewohnheit, Dinge zu reduzieren, ist in weiten Teilen verantwortlich für das fürchterliche Durcheinander, in dem wir stecken – das Reduzieren von Krankheit auf Krankheitserreger, das Reduzieren von öffentlicher Gesundheit auf messbare Werte, das Reduzieren von Bürgern auf medizinische Objekte. Lasst uns diese Muster nicht wiederholen, indem wir das Phänomen Corona auf ein einzelnes Ding reduzieren. Corona hat viele Gesichter.

Was auch immer Corona ist oder nicht ist, es übt eine mächtige Kraft auf uns aus. Eine Kraft, die die Gesellschaft, solange ich auf der Welt bin, stärker transformiert hat als alles andere. Geradezu apokalyptisch entluden sich die Schattenkräfte der kollektiven Psyche. Und der individuellen Psyche. Und meiner Psyche! Ich weiß, ich bin nicht der Einzige, der in der Coronazeit eine tiefe innere Reise durchgemacht hat, ja: sogar eine Art Initiation. Diese Essays markieren diese Reise, bei der jedes Element der kollektiven Psyche in mir zum Ausdruck kommt. Die polaren Kräfte, die Corona an die Oberfläche gespült hat, bilden ein Gegenstück zu ähnlichen Konflikten in mir, die aufbrodeln und mit denen ich mich auseinandersetze. Die meisten Essays beschreiben meinen inneren Prozess nicht direkt, aber sie sind auf jeden Fall davon gekennzeichnet. Trotz, Hoffnungslosigkeit, Resignation, Wut, Zweifel, Hoffnung, Angst, Entsetzen, Versöhnung, Kampfbereitschaft – diese Energien haben abwechselnd die Federführung übernommen und dieses Buch geschrieben.

Am Ende des Buches können Sie sehen, wo ich Anfang 2022 angelangt bin. Corona ist noch nicht fertig mit uns. Selbst wenn es für beendet erklärt wird, wird der Prozess, den es angestoßen hat, noch für Jahre und Jahrzehnte andauern.

Unter anderem hat uns Corona gezeigt, wie nah wir am Totalitarismus sind. Es hat so wenig gebraucht, dessen ganze Maschinerie anspringen zu lassen: Überwachung, Zensur, Propaganda, Einschränkung der Bewegungsfreiheit, das Aussetzen von bürgerlichen Freiheiten. Eine mögliche Erklärung ist, dass böse Mächte sich lange auf diesen Moment vorbereitet haben. Vielleicht. Aber in jedem Fall hätten sie, um das zu tun, psychosoziale Muster und Mythen ausgenutzt, die älter sind als die Menschheitsgeschichte. Diese werden nicht so einfach wieder verschwinden, wenn die Pandemie für überstanden erklärt und die korrupten Institutionen und Individuen bestraft worden sind. Ich untersuche diese Muster und Mythen in diesem Buch immer wieder: das Narrativ von der Getrenntheit, das Kontrollprogramm, den Mythos von der erlösenden Gewalt, die Geschichte vom Guten gegen das Böse, das Paradigma des Reduktionismus, die Leugnung des Todes, den Quantitätskult. Solange diese Muster und Mythen intakt sind, werden sie alsbald eine Nachfolgerin auf den Thron heben, selbst wenn die Göttin Corona ins Exil der Geschichtsbücher verbannt wird.

Weil die Gefahr des medizinischen Totalitarismus noch nicht überstanden ist, zögere ich, mich zu sehr auf das Philosophische zurückzuziehen. Es ist Zeit, die Dinge beim Namen zu nennen, ohne sich hinter Abstraktionen zu verstecken. Aber wenn wir die Umstände ignorieren, die uns diese Zivilisationskrankheit gebracht haben, begehen wir den gleichen Fehler, auf dem die Gesundheitspolitik großteils fußt. Wenn ein Virus der Korruption, des Profits und der Machtgier den Staatskörper befällt, sollten wir nicht gegen das Virus in den Krieg ziehen, ohne das Terrain zu berücksichtigen.

Warum sind wir so empfänglich für Hysterie? Für Propaganda? Für Angst? Und für Lösungsansätze, die auf Kontrolle basieren? Was sind die Begleiterkrankungen, die unseren Staatskörper so geschwächt haben? Ich habe versucht, Licht ins Dunkel dieser Fragen zu bringen, damit wir vielleicht gegen zukünftige Infektionen mit der Krankheit des Totalitarismus resistenter werden.

Wie diese Fragen bereits andeuten, liegt die Ursache für unsere Empfänglichkeit in der kollektiven Psyche. Sie zu transformieren erfordert nicht weniger als die totale Transformation von Bewusstsein und Kultur, einen tiefgreifenden Wandel unserer grundlegenden Mythologie. Letzten Endes ist Corona, wie indische Gläubige bereits erkennen, ein mystisches Ereignis, das auch als solches behandelt werden muss. In diesen Essays versuche ich das: der Göttin Corona auf ihrer Mission zu dienen, das Verborgene zu enthüllen.

Die Enthüllung von Verborgenem kann erschütternd sein. Lügen und Verblendungen lösen sich auf und lassen die Eingeweihten verwirrt, verletzlich und ängstlich zurück. Zugleich birgt dieser Moment die Möglichkeit der Befreiung. Es ist eine Initiation aus der Knechtschaft in die Meisterschaft. Es ist eine Krönung, wenn unbewusste Entscheidungen bewusst und verborgene Meister entlarvt werden. Denn dadurch verlieren sie ihre Macht, die die ganze Zeit auf Täuschung beruhte. Die wahre Meisterin beansprucht ihre Krone.

Das ist die Chance, die vor uns liegt. Wir werden sehen, ob wir die Prüfung bestehen. Werden wir echte Demokratie einfordern? Werden wir das Leben vom Altar der Sicherheit zurückerlangen? Möge dieses Buch für den Teil in Ihnen, der dazu Ja sagt, ein Verbündeter sein.

ZIKA UND DIE KONTROLLMENTALITÄT

März 2016

Dies ist der einzige Essay in dieser Sammlung, den ich vor der Coronazeit geschrieben habe. Es war im Jahr 2016. Wie hier aufgezeigt wird, stand die ganze ideologische Maschinerie schon in den Startlöchern für den Übergang zu einer gänzlich medikalisierten Gesellschaft, der 2020 begann.

2018 bekam ich zudem einen ersten Vorgeschmack auf das Zeitalter der Lockdowns. Mein Sohn Philip sollte ins Schullandheim auf Rhode Island. Leider waren zwei Fälle von Zika in New England aufgetreten, weshalb die Schulbehörde die Reise aus Sicherheitsgründen stornierte. Schließlich bedeutet der Aufenthalt im Freien, dass man Stechmücken ausgesetzt ist. Diese Entscheidung impliziert, dass verantwortungsbewusste Eltern ihre Kinder nicht aus dem Haus lassen – was nicht wenige Eltern tatsächlich taten. Ja, einige ließen ihre Kinder wochenlang nicht ins Freie. Was mich daran am meisten verrückt gemacht hat, war, dass niemand es für verrückt zu halten schien. Bei einer derartigen Entscheidung erhob sich eine Frage, die 2020, obwohl selten genau so formuliert, zum Antrieb für den gesellschaftlichen Konflikt werden sollte: Wie viel von unserem Leben wollen wir auf dem Altar der Sicherheit opfern? Sollten wir, nur weil es ein bisschen sicherer ist, nie wieder nach draußen gehen, nie mehr Hände schütteln, einander nie mehr ins nackte Gesicht sehen? Sollten wir von anderen dasselbe verlangen?

Wenn Sie diesen Aufsatz lesen, denken Sie daran, dass er 2016 verfasst wurde. Das Menetekel stand schon an der Wand. Der Biosicherheitsstaat wartete nur noch auf die richtige Krankheit.

Die herrschenden Institutionen dieser Welt fühlen sich mit einem Virus ganz wohl.

Als zuerst SARS kam, dann H1N1, dann Ebola und jetzt das Zika-Virus, waren die Leitmedien und offizielle Stellen schnell dabei, die Bedrohung zu erkennen und zu bekämpfen – mit Reisewarnungen, Quarantäne-Maßnahmen, Forschungsförderung, Impfstoffentwicklung und erhöhten Alarmstufen. Informationen über andere, nicht minder tödliche Bedrohungen wie Medikamentenrückstände im Trinkwasser, Belastung unserer Lebensmittel durch Pflanzenschutzmittel oder die Vergiftung von Luft und Wasser durch Schwermetalle werden von den Gesundheitsbehörden meistens in die Alternativmedien abgedrängt, ignoriert oder sogar aktiv unterdrückt. Warum ist das so?

Die Antwort, die man schnell parat hat, zielt auf die Wirtschaft. Die oben genannten menschengemachten Bedrohungen sind Begleiterscheinungen rentabler Geschäftstätigkeiten von Konzernen mit weitreichendem politischem Einfluss. Wollten wir die toxischen Belastungen unserer Biosphäre an der Wurzel packen, müssten wir unser gesamtes Wirtschafts-, Industrie-, Medizin- und Agrarsystem ändern.

Genauer betrachtet passen ein Virus oder andere Krankheitserreger perfekt zu dem in unserer Kultur üblichen Muster der Krisenbewältigung: Identifiziere zunächst einen Feind – eine alleinige Ursache der Krise – und bekämpfe ihn dann mit allen verfügbaren Kontrollinstrumenten. Im Falle eines Krankheitserregers erfolgt die Bekämpfung in Form von Antibiotika, Impfstoffen oder antiviralen Mitteln; Sümpfe werden trockengelegt oder mit Insektiziden eingesprüht, Infizierte werden unter Quarantäne gestellt und vielleicht werden alle Menschen aufgefordert, eine Atemschutzmaske zu tragen, im Haus zu bleiben oder weniger zu reisen. Gängige Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus sind Überwachung, Bombardierungen, Drohnen, Grenzschutz etc. Egal, welcher Art von Krise wir begegnen, persönlich oder als Gesellschaft: Wir neigen quasi instinktiv zu diesem Reaktionsmuster.

Eine weitere Betrachtungsweise wäre, dass unsere Gesellschaft im Fall einer Infektionskrankheit weiß (oder zu wissen glaubt), was zu tun ist. Die Lösungen, die sich anbieten, sind bestens bekannt. Wir müssen nur mehr von dem tun, was wir bisher schon getan haben. Wir müssen nur die Reichweite unserer auf Kontrolle und Beherrschung basierenden Zivilisation ein wenig ausdehnen, weitere Dinge unter Kontrolle bringen, die bisher nicht kontrolliert wurden. Dadurch verschärft die Maschinerie, mit der eine Krankheit in Schach gehalten oder besiegt wird, nebenbei auch die soziale Kontrolle im Allgemeinen. Sie rechtfertigt, praktiziert und entwickelt Kontrollmechanismen, die auch zu anderen Zwecken genutzt werden können.

Die gegenwärtige Lage mit dem Zika-Virus, das für eine furchtbare Epidemie von Mikrozephalie (einer Fehlbildung des menschlichen Schädels) bei Neugeborenen in Brasilien verantwortlich gemacht wird, zeigt beispielhaft, wie wir uns auf einen Krankheitserreger stürzen. In Brasilien wurde das Virus bei etwa jedem zehnten mikrozephalischen Fötus in Blut und Fruchtwasser nachgewiesen.1 Zika ist jedoch auch in Kolumbien und Venezuela verbreitet, wo kein Anstieg an Fällen von Mikrozephalie gemeldet wurde.

Spannend wurde es, als vor ein paar Wochen eine Gruppe argentinischer Ärzte behauptete, dass der Ausbruch viel eher mit einem Larvizid zusammenhinge. Ein Larvizid, das ironischerweise genau gegen die Moskitos eingesetzt wurde, die für die Verbreitung des Zika-Virus verantwortlich gemacht werden. Das Larvizid Pyriproxyfen wurde in den betroffenen Gebieten Trinkwasser-Reservoirs zugesetzt, zu genau der Zeit, als die Fälle von Mikrozephalie sich häuften.2

Offensichtlich ist es politisch dienlicher, die Schuld an der Krankheit einem externen Akteur zuzuschreiben, als Regierungen und Konzerne in die Pflicht zu nehmen. Es passt auch ideologisch besser zur Erzählung von der Überlegenheit der Menschheit über die Natur. Anstatt das Versagen in menschlichem Handeln zu erkennen, ziehen wir lieber gegen eine neue Bedrohung aus der natürlichen Welt zu Felde, die mit einer technologischen Lösung zu überwinden ist. Unsere Kultur ist damit bestens vertraut. Unsere Institutionen wissen, wie das geht; es trainiert ihre Leistungsfähigkeit und rechtfertigt ihre Existenz.

Dennoch sollten wir auch vorsichtig damit sein, Pyriproxyfen als »die Ursache« der Mikrozephalie zu benennen. Zunächst einmal unterscheidet sich die überstürzte Schuldzuweisung an ein Pestizid nicht allzu sehr von der an ein Virus. Es passt genauso in die Ideologie der Kontrolle und in die Denkweise, nach der es einen Feind zu vernichten gilt. Tatsächlich traten manche Fälle von Mikrozephalie in Gegenden auf, wo das Pestizid nicht im Trinkwasser war; obendrein wird Pyriproxyfen weltweit häufig eingesetzt. Die Beweislage dafür, dass es der Schuldige ist, ist schwach.

In den vorigen Satz (»… der Schuldige«) habe ich eine Annahme eingeschmuggelt, die an der Wurzel des Problems steht; die Annahme, dass es »einen« Schuldigen gibt, eine alleinige Ursache. Ob nun ein Virus oder eine Chemikalie, wir haben etwas, das wir unter Kontrolle bringen und bekämpfen können. Ob es der Sieg über ein Virus ist, über eine Staatsregierung oder einen Chemiekonzern, der Weg zum Sieg steht fest.

Die Kontrollmentalität beruht auf Vereinfachung, idealerweise indem sie ein Problem auf eine einzige Ursache zurückführt. Multifaktorielle, nicht lineare, neu auftretende Probleme widersetzen sich vereinfachenden Strategien. Während wir den Einsatz von Pyriproxyfen im Trinkwasser zweifellos auf der Stelle verbieten sollten, bedeutet es, selbst wenn die Mikrozephalie-Epidemie aufhört, nicht automatisch, dass wir zum Tagesgeschäft übergehen und weiterhin in linearen Kategorien von Ursache und Wirkung denken können. Vielleicht ist es die Kombination aus Zika und Pyriproxyfen, die diese Fehlbildungen hervorruft? Oder vielleicht ist die Chemikalie keine direkte Ursache, sondern verstärkt nur die Wirkung einer dritten Substanz im Körper? Möglicherweise beeinträchtigt sie auch das Ökosystem Wasser in einer Weise, die wir nicht verstehen und die einen weiteren, unbekannten Umwelt-Risikofaktor verstärkt. Wir wissen es einfach nicht.

Wir müssen Fragen wie diese stellen: »In welcher Weise wird das Ökosystem beeinträchtigt, wenn wir Larven in irgendeinem Gewässer töten (nicht nur in Trinkwasser)?« – »Welche einander ergänzenden und verstärkenden Wirkungen folgen aus dem Eindringen Tausender künstlicher Chemikalien in die Biosphäre und in unsere Körper?« – »Wie sollen wir Entscheidungen über die Sicherheit treffen, wenn die üblichen Mittel zur Prüfung von Sicherheit darin bestehen, alle Variablen zu kontrollieren außer der einen, die auf dem Prüfstand steht?« Die Kontrollmentalität erstreckt sich sogar auf eine Schlüsselformel für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn: Isoliere eine Variable und teste ihre Wirkungen.

Bevor wir nicht anfangen ganzheitlich zu denken, taumeln wir von einem Feind zum nächsten und unterdrücken auf ewig nur Symptome, während wir die Krankheit verschlimmern. Auf die obigen Fragen gibt es keine einfachen Antworten, aber ein guter erster Schritt wäre es, sich von der Idee des Sieges über einen Feind, der Kontrolle über das andere und der Unterwerfung des Selbst zu verabschieden. Wir sollten mit neuen Augen alles betrachten, wohin uns dieses Paradigma führt: die Drohnen, die Gefängnisse, den Sicherheitsstaat, die Kriegsmaschinerie, Antibiotika, Pestizide, Gentechnik, Psychopharmaka, den Handel mit Schuldscheinen … Herrschaft (dazu gehört auch die Unterwerfung »entfremdeter« Anteile unseres Selbst) zieht sich durch unsere gesamte Zivilisation. Das funktioniert nicht mehr besonders gut.

DIE KRÖNUNG

März 2020

Ich schrieb Die Krönung während des ersten Monats der offiziell erklärten Pandemie, als vieles darüber noch unklar war. Damals warnten die Behörden vor Sterberaten von 4% und bis zu Hunderten von Millionen Toten. Manche Argumente in diesem Essay haben sich überlebt, denn inzwischen haben fast alle eingesehen, dass die Sterberate höchstens im Promillebereich liegt.

Wie in einem so frühen Stadium einer Krise nicht anders möglich, gibt es ein paar Punkte in diesem Essay, die ich missverstanden hatte, und andere, die ich als Vermutung anbot und dies bis heute tue. Zum Beispiel unterschätzte ich die Anzahl der Amerikaner, die an der Krankheit sterben würden. (Obwohl es sein kann, dass viele von denen, die »mit Covid« starben, nicht »an Covid« starben. Und es ist auch möglich, dass viele unnötigerweise an ungeeigneten Behandlungsmethoden starben oder weil Kranke ins Pflegeheim verlegt wurden.)

Andere Punkte habe ich vorhergesehen. Zuallererst meine Bedenken, dass die neue Gesundheitspolitik von Dauer sein würde (wenn wir das zulassen); dass es in Zukunft immer einen Grund geben würde, eingesperrt (locked down), maskiert und auf Distanz zu bleiben. Es könnten neue Viren kommen, sagte ich. Heute haben wir eine endlose Abfolge von Varianten. Wer von Machtausübung profitiert, lässt nicht mehr freiwillig davon ab.

Die Krönung provozierte Ablehnung und Kontroversen. Diese Reaktionen gaben mir Einblick in den Informationskrieg, der sich alsbald mit dem Krieg gegen Corona verwob, in dem jede Kritik am herrschenden Narrativ als Verschwörungstheorie, Trumpismus oder eine Form von psychischer Störung gebrandmarkt wird.

Obwohl er schließlich (allein auf meiner Website) von über zwei Millionen Menschen gelesen worden war, ignorierten die Kritiker die Kernthemen des Essays. Bis zum heutigen Tag gehen Themen wie Todesphobie, Gesundheit-als-Beziehung und Kontrollmentalität in den endlosen Debatten über Studien und Statistiken zu Impfungen, Masken usw. unter. Das wirkliche Thema, die entscheidende Weichenstellung, die dieser Aufsatz behandelt, bleibt bestehen: In was für einer Welt wollen wir leben?

Unsere Normalität ist jahrelang überdehnt worden. Wie ein Seil, das fester und immer fester angezogen wird, bis es, zum Zerreißen gespannt, nur darauf wartet, dass der schwarze Schwan3 kommt und es mit seinem Schnabel durchknipst. Und jetzt, wo das Seil entzwei ist, werden wir es einfach wieder zusammenknoten, oder sollen wir seine baumelnden Enden noch weiter aufdröseln und sehen, ob wir aus ihnen nicht etwas Neues weben können?

Corona zeigt uns, dass ein unglaublich schneller Wandel möglich ist, wenn die Menschheit in einer gemeinsamen Sache vereint ist. Keines der Probleme unserer Welt ist technisch schwer zu lösen; sie rühren von der Uneinigkeit der Menschen her. Wenn die Menschheit kohärent handelt, sind ihre kreativen Kräfte grenzenlos. Vor wenigen Monaten wäre eine weltweite Unterbrechung der kommerziellen Luftfahrt undenkbar gewesen, ebenso die radikalen Veränderungen in unserem gesellschaftlichen Verhalten, in der Wirtschaft und in der Rolle, die die Regierung in unserem Leben spielt. Corona demonstriert die Macht unseres kollektiven Willens, wenn wir uns darauf einigen können, was wichtig ist. Was könnten wir mit einer solchen Kohärenz noch alles erreichen? Was möchten wir erreichen, und welche Welt wollen wir erschaffen? Das ist immer die erste Frage, die auftaucht, nachdem man sich der eigenen Macht bewusst geworden ist.

Corona ist wie der Aufenthalt in einer Entzugsklinik, durch den ein suchtkranker Mensch aus seiner Alltagsnormalität gerissen wird. Indem eine Gewohnheit unterbrochen wird, wird sie sichtbar gemacht. Und damit wandelt sie sich von einem Zwang zu einer Entscheidung. Wenn die Krise abflaut, haben wir vielleicht die Gelegenheit, uns zu fragen, ob wir in die alte Normalität zurückwollen oder ob wir während dieser Unterbrechung unserer Routinen Dinge erlebt haben, die wir in die Zukunft mitnehmen wollen. Wir werden uns vielleicht fragen, nachdem so viele ihre Jobs verloren haben, ob wirklich alle diese Arbeitsstellen das waren, was die Welt am meisten braucht, oder ob unsere Arbeitskraft und Kreativität nicht anderswo besser aufgehoben wäre? Wir werden uns vielleicht fragen, nachdem wir eine Weile ohne sie ausgekommen sein werden, ob wir wirklich so viel Flugreisen, Disneyland-Urlaube oder Handelsausstellungen brauchen. Welche Bereiche der Wirtschaft möchten wir wiederherstellen und von welchen wollen wir uns bewusst verabschieden? Covid hat möglicherweise eine militärische Intervention4 zum Sturz des Regimes in Venezuela verhindert – vielleicht sind imperialistische Kriege ja eines der Dinge, auf die wir in einer Zukunft globaler Kooperation verzichten. Und auf einer düsteren Ebene: Für welche der Dinge, die uns jetzt gerade weggenommen werden – bürgerliche Freiheiten, Versammlungsfreiheit, die Souveränität über unseren eigenen Körper, persönliche Treffen, Umarmungen, Handschläge und öffentliches Leben –, kann es notwendig werden, dass wir mit unserem bewussten politischen oder persönlichen Willen dafür einstehen müssen, wenn wir sie zurückhaben wollen?

Die meiste Zeit meines Lebens hatte ich den Eindruck, dass sich die Menschheit einem Scheideweg nähert. Immer hat die Krise, der Kollaps, die Unterbrechung unmittelbar hinter der nächsten Wegbiegung gelauert, aber sie kam und kam nicht. Stellen Sie sich vor, Sie gehen einen Weg entlang und sehen sie vor sich, die große Kreuzung. Gleich hinter dem Hügel, hinter der nächsten Kurve, hinter dem Wald. Sie erreichen die Hügelkuppe und sehen, dass Sie sich geirrt haben, es war ein Trugbild, sie ist doch weiter entfernt, als Sie dachten. Sie gehen weiter. Manchmal sehen Sie sie, manchmal verschwindet sie aus Ihrem Blickfeld, und es scheint, also zöge sich der Weg ewig hin. Vielleicht gibt es gar keine Kreuzung? Nein, da ist sie wieder! Immer ist sie fast da. Nie ist sie da.

Jetzt biegen wir um die Kurve und – da ist sie! Wir bleiben verdattert stehen, ungläubig, dass es jetzt passiert, ungläubig, dass wir nach so vielen Jahren, die wir auf den Weg unserer Vorfahren beschränkt waren, endlich eine Wahl haben. Wir stehen wie angewurzelt und staunen über diese nie da gewesene Situation. Hunderte Pfade tun sich vor uns auf, streben in alle Himmelsrichtungen. Manche führen in die gleiche Richtung, in die wir schon unterwegs waren. Manche führen in die Hölle auf Erden. Und manche führen in eine Welt, die heiler und schöner ist, als wir es uns in unseren kühnsten Träumen ausmalen konnten.

Ich schreibe diese Worte, weil ich hier mit Ihnen stehe – verdutzt, ein bisschen ängstlich vielleicht, aber auch mit dem Gefühl einer neuen Möglichkeit – an diesem Punkt, wo sich die Wege scheiden. Lassen Sie uns gemeinsam schauen, wohin einige von ihnen führen.

Folgende Geschichte hat mir eine Freundin letzte Woche erzählt: Sie war in einem Lebensmittelladen und sah eine Frau schluchzend in einem Gang stehen. Alle Abstandsregeln missachtend, ging sie zu der Frau und umarmte sie. »Danke«, sagte die Frau, »das ist das erste Mal in zehn Tagen, dass mich jemand umarmt hat.«

Ein paar Wochen ohne Umarmungen zu leben mag ein kleiner Preis dafür sein, dass eine Epidemie eingedämmt wird, die Millionen das Leben kosten könnte. Anfangs galt als Argument für das Einhalten des Sicherheitsabstands, dass es einen plötzlichen Anstieg von Covid-19-Fällen verhindert, der das Gesundheitssystem überlasten würde. Nun teilen uns die Autoritäten mit, dass manches an räumlicher Distanzierung auf unbegrenzte Zeit eingehalten werden müsse, zumindest so lange, bis ein wirksamer Impfstoff gefunden wurde. Ich würde dieses Argument aber gern in einen größeren Zusammenhang stellen, vor allem wenn es um einen längeren Zeitraum geht. Bevor wir das Abstandhalten zu einer neuen Norm machen, an der sich die Gesellschaft orientiert, lasst uns bedenken, was für eine Entscheidung wir hier treffen und warum.

Das Gleiche gilt auch für andere Veränderungen, die rund um die Corona-Epidemie stattfinden. Manche Stimmen weisen darauf hin, wie gelegen diese Maßnahmen einer Agenda der totalitären Kontrolle kommen. Eine verängstigte Öffentlichkeit akzeptiert Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten, die andernfalls schwer zu rechtfertigen wären, etwa das Verfolgen individueller Bewegungsmuster rund um die Uhr, medizinische Zwangsbehandlung, unfreiwillige Quarantäne, Reisebeschränkungen und Einschränkungen der Versammlungsfreiheit, Zensur dessen, was die Autoritäten als Desinformation einstufen, das Aussetzen der juristischen Möglichkeit zur Freilassung von Personen aus rechtswidriger Haft (Habeas corpus) und Militärkontrollen der Zivilbevölkerung. Viele davon standen schon vor Corona im Raum, jetzt wurden sie geradezu unwiderstehlich. Das Gleiche gilt für die Automatisierung im Handel, den Trend zum Fernsehen statt der persönlichen Teilnahme an Sport- und Unterhaltungsveranstaltungen, die Verlagerung des öffentlichen Lebens in private Räume, die Zunahme von Online-Bildungsangeboten und Online-Handel, die Vernichtung von Kleinbetrieben und die zunehmende Verschiebung von Arbeit und Freizeitaktivitäten auf Bildschirme. Corona beschleunigt bestehende politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Trends.

Während man solche Maßnahmen kurzfristig damit rechtfertigen kann, dass sie zur Abflachung der Kurve (der epidemiologischen Wachstumskurve) beitragen, ist allenthalben die Rede von einer »neuen Normalität«, was bedeuten könnte, dass die Veränderungen keineswegs nur vorübergehend gedacht sind. Weil die Bedrohung durch eine ansteckende Krankheit – genau wie die Bedrohung durch den Terror – nie aufhört, können sich Kontrollmaßnahmen leicht zu Dauermaßnahmen auswachsen. Wenn wir also sowieso schon in diese Richtung gehen, muss die jetzige Rechtfertigung der Maßnahmen Teil einer tieferen Strömung sein. Ich werde zwei Triebkräfte dieser Strömung analysieren: den Kontrollreflex und den Krieg gegen den Tod. Vor diesem Hintergrund lässt sich eine initiatorische Gelegenheit erkennen, die sich schon jetzt angesichts der Solidarität, des Mitgefühls und der gegenseitigen Fürsorge abzeichnet, die das Coronavirus in uns geweckt hat.

Der Kontrollreflex

Gegen Ende April 2020 sagen die offiziellen Statistiken, dass etwa 150.000 Menschen an Covid-19 gestorben sind. Wenn alles vorüber ist, könnte die Zahl der Toten zehn- oder hundertmal höher liegen. Jeder einzelne dieser Menschen hat seine Lieben, hat Familie und Freunde. Unser Mitgefühl und Gewissen rufen uns auf, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um eine unnötige Tragödie zu vermeiden. Für mich ist das sehr persönlich: Meine eigene, unendlich geliebte, aber gebrechliche Mutter ist besonders gefährdet durch eine Krankheit, die hauptsächlich Alte und Schwache tötet.

Wie werden die endgültigen Zahlen aussehen? Diese Frage ist zum jetzigen Zeitpunkt unmöglich zu beantworten. Frühe Berichte waren alarmierend; für Wochen betrug die offizielle Zahl aus Wuhan, die endlos durch die Medien zirkulierte, schockierende 3,4 %. Dies, gepaart mit der hoch ansteckenden Natur des Virus, deutete auf einige Zehn Millionen oder gar bis zu hundert Millionen Tote weltweit hin. In letzter Zeit sind diese Schätzungen stark zurückgegangen, als sich abzeichnete, dass die meisten Fälle mild oder asymptomatisch verlaufen. Da Testungen hauptsächlich an ernstlich Kranken durchgeführt worden sind, ergab sich eine künstlich erhöhte Sterberate. Ein aktueller Artikel5 in der Zeitschrift Science legt dar, dass 86 % aller Infektionen nicht dokumentiert seien, was auf eine viel geringere Mortalität hindeuten würde, als die gegenwärtige Sterblichkeitsrate vermuten ließe. Eine noch aktuellere Veröffentlichung6 geht weiter und schätzt die Gesamtinfektionsrate in den USA hundertmal höher als bei den derzeit bestätigten Fällen (was eine Todesrate von weniger als 0,1 % bedeuten würde). Solche Artikel stützen sich großteils auf raffinierte epidemiologische Schätzungen, doch eine erste konkrete Studie7 auf der Basis von Antikörpertests belegt, dass die gemeldeten Fallzahlen in Santa Clara, Kalifornien, um den Faktor 50 bis 85 zu tief lagen.

Die Geschichte des Kreuzfahrtschiffs Diamond Princess8 stützt diese Sicht. Von den 3711 Menschen an Bord wurden etwa 20 % positiv auf das Virus getestet; weniger als die Hälfte von ihnen hatte Symptome, und acht sind gestorben. Ein Kreuzfahrtschiff ist das perfekte Milieu für Ansteckung, und es gab reichlich Zeit für die Ausbreitung des Virus an Bord, bevor irgendwer etwas dagegen unternommen hatte, und doch wurde nur ein Fünftel infiziert. Darüber hinaus war die Altersverteilung (wie sehr oft auf Kreuzfahrtschiffen) stark in Richtung höheren Alters verzerrt: Fast ein Drittel der Passagiere war über 70 und mehr als die Hälfte über 60. Eine Forschergruppe schloss9 aus der großen Zahl asymptomatischer Fälle, dass die tatsächliche Sterblichkeitsrate in China um die 0,5 % liegen müsse; aktuellere Daten (s. o.) legen eine Rate eher bei 0,2 % nahe. Das wäre noch immer zwei- bis fünfmal höher als bei der Grippe. Aufgrund dieser Informationen (und da Afrika, Süd- und Südostasien eine deutlich jüngere Demografie aufweisen) vermute ich, dass es in den USA etwa 200.000 – 300.000 Tote geben wird und drei Millionen weltweit. Das sind ernste Zahlen, vergleichbar etwa mit der Hongkong-Grippe10 1968/69.

Jeden Tag berichten die Medien die Gesamtzahl der Covid-19-Fälle, aber niemand kennt die tatsächliche Zahl, weil nur ein geringer Anteil der Menschen getestet worden ist. Wenn schon zehn Millionen Menschen das Virus asymptomatisch hätten, würden wir es nicht einmal wissen. Komplizierter wird die Sache dadurch, dass zu viele11 Covid-19-Tote gezählt werden (in vielen Krankenhäusern wird jede Person, die mit Covid stirbt, als an Covid verstorben klassifiziert) oder auch zu wenige12 (einige sind vielleicht zu Hause verstorben). Lassen Sie es mich wiederholen: Niemand weiß, was wirklich vor sich geht, und da schließe ich mich ein. Rufen wir uns ins Bewusstsein, dass es zwei widersprüchliche Tendenzen menschlicher Krisenreaktion gibt: Die erste ist die Tendenz zur sich selbst verstärkenden Hysterie. Daten, die der Furcht nicht in die Hände spielen, werden ignoriert, und so erschafft die Hysterie die Welt nach ihrem eigenen Abbild. Die zweite Tendenz ist die zur Leugnung, zur irrationalen Ablehnung von Informationen, welche die Normalität und Behaglichkeit verstören könnten. So fragt auch Daniel Schmachtenberger13: »Woher wissen Sie, dass das, was Sie glauben, wahr ist?« Kognitive Verzerrungen wie diese sind in einer Atmosphäre politischer Gespaltenheit besonders ansteckend. So werden beispielsweise jegliche Informationen, die in ein Pro-Trump-Narrativ passen, von Liberalen eher zurückgewiesen, während Konservative dazu neigen, sie für wahr zu halten.

Trotz dieser Unsicherheit wage ich eine Vorhersage: Die Krise wird so ausgehen, dass wir es niemals wissen werden. Wenn die endgültige Todesrate, welche selbst strittig sein wird, niedriger ausfällt als befürchtet, werden manche sagen, dass die Kontrollmaßnahmen gewirkt haben. Andere werden sagen, dass die Krankheit nicht so gefährlich war, wie man uns weismachen wollte.

Für mich ist das erstaunlichste Rätsel, warum derzeit in China keine neuen Fälle hinzuzukommen scheinen. Die Regierung hatte ihre Ausgangssperren erst deutlich nach dem Zeitpunkt angeordnet, als sich das Virus schon etabliert hatte. Während des chinesischen Neujahrsfestes, als alle Flugzeuge, Busse und Bahnen gerammelt voll waren mit Menschen, die quer durch das Land fuhren, hätte es sich doch extrem ausbreiten müssen. Was geht hier vor? Und noch einmal: Ich weiß es nicht, genauso wenig wie Sie.

Wie hoch die abschließende Zahl der Toten auch sein wird, lassen Sie uns nun auf ein paar andere Zahlen schauen, um sie in einem anderen Licht zu sehen. Ich will damit NICHT sagen, dass Corona schon nicht so schlimm ist und dass wir nichts unternehmen sollten. Haben Sie ein wenig Geduld. Im Jahr 2013 starben laut Welternährungsorganisation14 fünf Millionen Kinder weltweit an Unterernährung; 201815 waren 159 Millionen Kinder durch Hunger in ihrer Entwicklung gehemmt und 50 Millionen waren unterernährt (der weltweite Hunger war bis vor Kurzem rückläufig, steigt aber seit drei Jahren wieder an). Fünf Millionen sind ein Vielfaches mehr an Menschen, als bisher an Covid-19 gestorben sind, und doch hat bisher keine Regierung den Notstand erklärt oder uns aufgefordert, unsere Lebensgewohnheiten radikal zu verändern, um diese Kinder zu retten. Auch sehen wir kein vergleichbares Ausmaß an Besorgnis und Maßnahmen im Zusammenhang mit Selbstmord – die bloße Spitze des Eisbergs der Verzweiflung und Depression –, durch den jährlich über eine Million Menschen weltweit sterben, davon 50.000 in den USA. Oder die jährlich 70.000 Drogentoten in den USA, die Epidemie der Autoimmunkrankheiten, die in den USA 23,5 Millionen (Zahlen der amerikanischen Nationalen Gesundheitsinstitute, NIH) bis 50 Millionen (Amerikanische Gesellschaft für Autoimmunerkrankungen, AARDA) Menschen betrifft, oder Adipositas, die über 100 Millionen Menschen betrifft. Oder warum, wo wir schon einmal dabei sind, verfallen wir nicht alle in helle Aufregung, wenn es um die Vermeidung der atomaren Vernichtung oder des ökologischen Kollapses geht, sondern treffen ganz im Gegenteil Entscheidungen, die genau diese Gefahren nur noch vergrößern?

Und, bitte, der Punkt hier ist nicht, zu sagen: Wir haben unser Verhalten nicht geändert, um Kinder vor dem Hungertod zu bewahren, also sollen wir es auch nicht für Corona ändern. Ganz im Gegenteil: Wenn wir unser Verhalten wegen Corona so radikal verändern können, dann können wir es für diese anderen Zustände genauso tun. Wir sollten uns fragen, warum wir in der Lage sind, unseren kollektiven Willen zu bündeln, um dieses Virus einzudämmen, nicht aber für die anderen gravierenden Bedrohungen der Menschheit. Warum war die Gesellschaft, zumindest bis jetzt, so verfangen in ihrer vorgegebenen Marschrichtung?

Die Antwort ist aufschlussreich. Angesichts von Welthunger, Suchtproblematik, Autoimmunkrankheiten, Selbstmord und dem ökologischen Kollaps wissen wir als Gesellschaft einfach nicht, was zu tun ist. Das liegt daran, dass es keinen äußeren Gegner gibt, gegen den wir kämpfen können. Unsere Patentrezepte zur Krisenbewältigung, allesamt Versionen von Kontrollmaßnahmen, sind nicht sehr effektiv darin, mit diesen Zuständen umzugehen. Jetzt kommt eine ansteckende Epidemie daher, und endlich können wir in Aktion treten. Es ist eine Krise, in der Kontrolle funktioniert: Quarantäne, Ausgangssperren, Isolierung, Händewaschen, Personen-Tracking, Informationskontrolle, Kontrolle unseres Körpers. Das macht Corona zu einem geeigneten Gefäß für unsere unterschwelligen Ängste, zu einem Blitzableiter für unser wachsendes Gefühl von Hilflosigkeit angesichts der Veränderungen, die die Welt überrennen. Covid-19 ist eine Bedrohung, von der wir wissen, wie ihr zu begegnen ist. Anders als so viele unserer anderen Ängste bietet Corona einen Plan.

Die etablierten Institutionen unserer Gesellschaft werden immer hilfloser, den Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen. Wie sehr sie da eine Herausforderung willkommen heißen, welcher sie endlich entgegentreten können. Wie eifrig sie diese als die allergrößte Krise behandeln. Mit welcher Selbstverständlichkeit ihr Informationsmanagement die alarmierendsten Darstellungen auswählt. Wie leicht sich die Öffentlichkeit an der Panik beteiligt und eine Bedrohung begrüßt, der die Autoritäten etwas entgegensetzen können, stellvertretend für die vielen anderen unaussprechlichen Bedrohungen, gegen die sie ohnmächtig sind.