Die Kubakrise 1962 - Reiner Pommerin - E-Book

Die Kubakrise 1962 E-Book

Reiner Pommerin

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Beschreibung

Am 14. Oktober 1962 überfliegt ein amerikanischer U-2-Aufklärer in großer Höhe die karibische Insel Kuba. Die Auswertung der dabei erstellten Bilder zeigt den Bau von Abschussbasen für sowjetische nukleare Mittelstreckenraketen. Die Regierung der USA unter Präsident John F. Kennedy sucht nach Mitteln, einer nuklearen Bedrohung unmittelbar vor der eigenen Haustür wirksam zu begegnen. Während der folgenden 13 Tage balancieren die Sowjetunion, die USA und die Welt am Rand eines zerstörerischen Atomkrieges. Reiner Pommerin zeichnet die Vorgeschichte sowie den risikoreichen Verlauf der gefährlichsten Krise des Kalten Krieges nach. Er erläutert deren Entschärfung in letzter Minute und die folgende – allerdings nur kurze – Phase der Entspannung. Die Reihe Kriege der Moderne, herausgegeben vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, stellt die wichtigsten militärischen Konflikte des 19. und 20. Jahrhunderts nach modernsten wissenschaftlichen Erkenntnissen vor und erläutert ihre geschichtlichen Ursachen und politischen Folgen. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

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Seitenzahl: 159

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Reiner Pommerin

Die Kubakrise 1962

Reclam

Kriege der Moderne

 

Herausgegeben vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr

 

Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Fachbereich Publikationen (0918-01)

 

 

2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Umschlaggestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH

Umschlagabbildung: Von Kuba abgezogene Nuklearraketen werden zurück in die UdSSR gebracht, November 1962. – picture alliance / Everett Collection | Courtesy Everett Collection

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2022

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-962026-8

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011399-8

www.reclam.de

Inhalt

1 Abschuss2 Nuklearstrategie und PolitikNuklearstrategie im Kalten KriegPolitische Erwartungen und Enttäuschungen3 Kubanische Revolution und amerikanische ReaktionCastros RevolutionEisenhowers Reaktion4 Kennedy und KubaDas Desaster in der »Schweinebucht«Kennedy trifft ChruschtschowStacheldraht in BerlinOperation »Mongoose«5 Operation »Anadyr«Waffen, Ausbildung und Nuklearraketen»Maskirowka«Weil nicht sein kann, was nicht sein darfDer Verdacht bestätigt sich6 Balancieren am AbgrundLösungsvorschlag LuftangriffLösungsvorschlag BlockadeLösungsvorschlag QuarantäneGeheime BriefwechselAufatmen7 Nachlese8 Kubakrise und Kalter KriegAnhangZeittafelAbkürzungenLiteraturhinweiseAbbildungsnachweisSachregister

[7]1 Abschuss

Das strategische Aufklärungs- bzw. Spionageflugzeug Lockheed U-2 »Dragon Lady«

Major Rudolf AndersonAnderson, Rudolf Jr. Jr. bereitet sich am Morgen des 27. Oktober 1962 auf einen Einsatz vor. Der eigentliche Standort seines Geschwaders, der 4080th Strategic Reconnaissance Wing, ist die unweit der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze liegende Laughlin Air Force Base. Das Geschwader, das dem Strategic Air Command (SAC) untersteht, hat den Auftrag, mit seinen Maschinen vom Typ U-2 strategische Aufklärungsflüge über Kuba durchzuführen. Deshalb startet AndersonAnderson, Rudolf Jr. an diesem Tag von der näher an der Insel liegenden McCoy Air Force Base in Florida. Der 35-Jährige gilt mit über 3000 Jetstunden als einer der erfahrensten Flugzeugführer des Geschwaders.

Geboren wurde AndersonAnderson, Rudolf Jr. in Spartanburg; aufgewachsen ist er nicht weit davon in Greenville, einer als Standort der Textilindustrie bekannten Stadt im Bundesstaat South Carolina. Schon in seiner Jugend ist er eine Ausnahmeerscheinung; denn er wird Eagle Scout. Diesen höchsten Pfadfinderrang haben seit 1911 lediglich 4 Prozent der amerikanischen Boy Scouts erreicht. Nach Abschluss der High School studiert er an der staatlichen Clemson University Textilingenieurwesen. 1948 schließt er mit dem Bachelor ab. Zunächst nimmt er eine Arbeit in der Textilindustrie auf, doch hält es ihn dort nicht lange. An der Universität hat er [8]parallel zum Studium das Programm des Reserve Officer Training Corps (ROTC) durchlaufen. Das ermöglicht ihm, im November 1951 als Offizier in die US Air Force einzutreten.

Nachdem er seine fliegerische Ausbildung absolviert hat, wird AndersonAnderson, Rudolf Jr. Flugzeugführer in einem Aufklärungsgeschwader. Dieses wird am Ende des Koreakrieges 1953 nach Japan verlegt. In streng geheimen Missionen fotografiert er mit den Kameras seines Aufklärers vom Typ RF-36F bei kurzen Überflügen Gebiete in Korea, China und der Sowjetunion. Jeder dieser Flüge muss vom amerikanischen Präsidenten Dwight D. EisenhowerEisenhower, Dwight D. persönlich genehmigt werden. Für diese Einsätze wird AndersonAnderson, Rudolf Jr. zweimal mit dem hohen Orden Distinguished Flying Cross ausgezeichnet. Nach seiner Rückkehr in die USA bleibt er bei der US Air Force und qualifiziert sich im September 1957 für die U-2. Dieses Flugzeug und die damit durchgeführten geheimen Aufklärungsflüge bestimmen sein weiteres Leben.

U-2-Pilot Major Rudolf AndersonAnderson, Rudolf Jr. Jr. (1927–1962)

Die U-2, genannt »Dragon Lady«, ist ein unbewaffnetes Aufklärungsflugzeug mit einer speziellen Druckkabine für Einsätze in sehr großer Höhe. Dort, in der Stratosphäre, benötigt der Pilot einen [9]maßgeschneiderten Druckanzug sowie einen entsprechenden Helm. Vor jedem Flug erfolgt zunächst eine ausführliche fliegerärztliche Untersuchung. Ist die medizinische Flugerlaubnis erteilt, wird eine besonders proteinhaltige Mahlzeit eingenommen. Danach erfolgt das Anlegen des Druckanzuges und des Helms. In dieser Ausrüstung muss der Pilot vor dem Start noch für etwa zwei Stunden reinen Sauerstoff einatmen, um den Stickstoffgehalt in seinem Blut zu reduzieren.

Seit 1956 unternehmen U-2 im Auftrag der Central Intelligence Agency (CIA) Aufklärungsflüge über den Territorien der Warschauer-Pakt-Staaten. Ihre hochauflösenden Panoramakameras erstellen bei wolkenlosem Himmel gestochen scharfe, gut auswertbare Fotos. Ihre Einsatzhöhe von über 20 000 Metern macht die Maschine für die sowjetische Luftabwehr unerreichbar, und so verlaufen die Einsätze zunächst ungestört. Dies ändert sich jedoch am 1. Mai 1960, als eine U-2 südlich von Swerdlowsk (Jekaterinburg) abgeschossen wird. Der Sowjetunion ist es inzwischen gelungen, mit der S-75 »Dwina« (NATO-Bezeichnung: SA-2 »Guideline«) ein effektives Luftabwehrsystem zu entwickeln. Es besteht aus einem Frühwarnradar, einem Feuerleitradar und Luftabwehrraketen, die über eine Reichweite bis in große Höhe verfügen.

Am 15. Oktober 1962 wertet das National Photographic Intelligence Center (NPIC) in Washington Fotomaterial aus, das am Vortag eine U-2 bei einem Überflug über die Westküste Kubas erstellt hat. Die Bilder, die am folgenden Tag Präsident John F. KennedyKennedy, John F. vorgelegt werden, lösen bei der politischen und militärischen Führung der USA einen Schock aus. Sie belegen nicht nur, dass auf Kuba bereits abschussbereite S-75-»Dwina«-Flugabwehrraketen stehen. Zudem hat man offensichtlich östlich von Havanna Startrampen für sowjetische Medium Range Ballistic Missiles (MRBM) aufgebaut. Von diesen Raketen ist trotz ihrer nuklearen Sprengköpfe bisher für die USA keine ernstliche Bedrohung ausgegangen, denn wegen ihrer begrenzten Reichweite können sie vom Territorium der Sowjetunion die USA nicht erreichen. Ihre Stationierung in Kuba würde die strategische Situation jedoch völlig verändern. Bei einem Einsatz von der in unmittelbarer Nachbarschaft liegenden karibischen Insel wären sie in der Lage, alle großen amerikanischen Städte zu treffen. Außerdem könnten sie die Flugplätze der amerikanischen Nuklearbomber des Strategischen Bomberkommandos (SAC) und damit ein wesentliches Element der amerikanischen Nuklearstrategie zerstören.

[11]Geheimdienstliche Quellen vermuten nun, dass inzwischen auch kleinere taktische Nuklearraketen des Systems 9K52 Luna-M (NATO-Bezeichnung: »Frog-7«) auf der Insel sein könnten. Solche auf Trägerfahrzeugen transportier- und aufrichtbare Raketen ließen sich zum einen für die Zerstörung des im südöstlichen Teil Kubas gelegenen Stützpunktes der US Navy, Guantánamo Bay, nutzen. Zum anderen wären sie höchst wirkungsvoll gegen eventuelle amerikanische Landungstruppen einsetzbar.

Anderson, Rudolf Jr.

Von einem erneuten Überflug einer U-2 erhofft sich die amerikanische Führung einen fotografischen Beleg für das Vorhandensein dieser taktischen Nuklearraketen. Major AndersonAnderson, Rudolf Jr. weiß von dem einsatzbereiten sowjetischen Luftabwehrsystem, das selbst seinem in großer Höhe durchgeführten Auftrag gefährlich werden kann. Der Flug über die Insel führt ihn am 27. Oktober an die Nordküste Kubas. Dort werden in der Region um die Bahia de Banes Stellungen sowjetischer MRBM vermutet. Als er dieses Gebiet überfliegt, wird er vom Radar eines S-75-»Dwina«-Systems erfasst. Eine der abgefeuerten Raketen trifft seine Maschine. Splitter durchdringen Cockpit und Druckanzug. Es ist anzunehmen, dass AndersonAnderson, Rudolf Jr. durch den Sauerstoffverlust sofort das Bewusstsein verliert. Die U-2 stürzt ab. Die Leiche des Piloten wird nach kubanischen Aussagen noch angegurtet im Cockpit des Flugzeugwracks gefunden.

Bereits am folgenden Tag schreibt Präsident KennedyKennedy, John F. einen Kondolenzbrief an AndersonsAnderson, Rudolf Jr. Witwe. Darin spricht er ihr den Dank der gesamten Nation aus. Handschriftlich setzt er noch hinzu: »Die Mission Ihres Mannes war von großer Bedeutung, aber ich weiß, wie tief Sie seinen Verlust empfinden.« Seit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen durch die USA im Januar 1961 werden amerikanische Anliegen bei der kubanischen Regierung durch die neutrale Schweiz vorgebracht. Deshalb wird AndersonsAnderson, Rudolf Jr. Leichnam dem Schweizer Botschafter in Havanna am 4. November auf dem Flugplatz der kubanischen Hauptstadt übergeben. Die sterblichen Überreste werden von dort von einem amerikanischen Transportflugzeug, dessen Hoheitszeichen zuvor mit einem Schweizer Kreuz übermalt werden mussten, in die USA überführt.

AndersonAnderson, Rudolf Jr. wird am 6. November 1962 in seiner Heimatstadt Greenville im Beisein seiner schwangeren Frau Frances Jane CorbettCorbett, Frances Jane sowie seiner beiden Söhne JamesAnderson, James (3) und RudolfAnderson, Rudolf (III.) (5) beigesetzt. Posthum [12]verleiht KennedyKennedy, John F. dem Piloten im Dezember 1962 als erstem Amerikaner für »herausragendes Heldentum« das Air Force Cross. Die Verleihungsurkunde hebt hervor, dass AndersonAnderson, Rudolf Jr. in mehreren unbewaffneten Aufklärungsflügen den Nachweis der Stationierung sowjetischer Nuklearraketen auf Kuba erbrachte. Damit habe er die amerikanische Führung wesentlich dabei unterstützt, einen erfolgreichen militärischen und diplomatischen Kurs gegen diese Bedrohung zu entwickeln. AndersonAnderson, Rudolf Jr. blieb der einzige im Einsatz gefallene Soldat der Kubakrise, die erst im allerletzten Moment friedlich beendet werden konnte.

Andernfalls hätten wohl Millionen von Menschen bei einem nuklearen Schlagabtausch zwischen den beiden Supermächten USA und Sowjetunion im Oktober 1962 ihr Leben verloren. Die Folgen eines Nuklearkrieges für das Ökosystem und das globale Klima lassen sich nicht abschätzen. Die Vorgeschichte, der Verlauf und die Lösung dieser dramatischen Krise, welche die Menschheit an den Rand des Untergangs brachte, sollen in diesem Buch erzählt und analysiert werden.

[13]2 Nuklearstrategie und Politik

Explosion der amerikanischen Atombombe »Crossroads Baker« 27 Meter unter Wasser auf dem Bikini-Atoll im Pazifik am 25. Juli 1946

Nuklearstrategie im Kalten Krieg

Mit den Abwürfen der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki im August 1945 änderte sich das Verständnis von Kriegen fundamental. Eine scheinbar nicht enden wollende Eskalation des Konflikts wie in den beiden Weltkriegen war fortan nicht mehr möglich. Denn nachdem auch die Sowjetunion 1949 ihre erste Atombombe erfolgreich gezündet hatte und Großbritannien 1952 gefolgt war, hätte ein Masseneinsatz dieser neuen Waffe zu Verwüstungen gigantischen Ausmaßes, ja sogar zur Vernichtung der Menschheit führen können.

Nuklearwaffen waren also zentral für das Verständnis eines möglichen Krieges zwischen den beiden Supermächten USA und Sowjetunion und bestimmten die Strategie der USA sowie der NATO. Ziel dieser Strategie war die Verhinderung eines Krieges durch Abschreckung. Ihren Kern bildete die Androhung einer massive retaliation, also eines massiven nuklearen Vergeltungsschlages, für den Fall eines sowjetischen Angriffs. Indem für die Sowjetunion als potenziellen Angreifer ein unkalkulierbares Risiko entstand, sollte die Friedfertigkeit der östlichen Supermacht erzwungen werden. Die operativen Vorstellungen [14]von der gemeinsamen Verteidigung des transatlantischen Bündnisgebiets lieferte die sogenannte Schwert-Schild-Strategie.

Als »Schwert« der USA und auch der NATO dienten die amerikanischen Nuklearwaffen. Durch ihr bloßes Vorhandensein sollte die Sowjetunion von einem Krieg abgeschreckt werden. Im Fall eines dennoch erfolgenden sowjetischen konventionellen Angriffs wären die USA dank ihres technischen Vorsprungs auf dem Gebiet der nuklearen Waffen in der Lage, schnelle und wirksame Gegenschläge zur Vergeltung durchzuführen. Zudem könnten ihre mit nuklearen Bomben beladenen Langstreckenbomber auch das sowjetische Angriffspotenzial vernichten. Die letzte Entscheidung über den Einsatz der atomaren Waffen lag beim Präsidenten der USA.

Der Schild des westlichen Bündnisses sollte im Kriegsfall vor allem den Einsatz des nuklearen Schwertes ermöglichen. Ein solcher Schild wurde auf dem europäischen Kontinent vom Nordkap bis zum Kaukasus mit Schwerpunkt in Mitteleuropa errichtet. Den größten Teil des Schildes bildeten die konventionellen Waffen, über welche die westeuropäischen Armeen, ihre Luftstreitkräfte und ihre Seestreitkräfte verfügten. Neben den westeuropäischen Truppen blieben amerikanische Verbände als eine Art Stolperdraht in Westeuropa. ›Stolperten‹ angreifende sowjetische Truppen über diesen Draht, würde dies automatisch den Einsatz der Nuklearwaffen der USA auslösen.

Der Langstreckenbomber vom Typ Tupolew Tu 95 bildete das Rückgrat der sowjetischen Bomberflotte. Er vermochte US-Gebiet zu erreichen und galt als Pendant zur amerikanischen Boeing B-52-Stratofortress.

Die Sowjetunion hatte im August 1949 eine erste Atombombe gezündet. Die für den Transport solcher Bomben verfügbaren Flugzeuge bedrohten zunächst allenfalls Westeuropa, denn das Territorium der USA konnten sie nicht erreichen. Erst die ab Mitte der 1950er Jahre eingeführten Langstreckenbomber vom Typ Tupolew TU95/TU-20 (NATO-Bezeichnung: »Bear«) und Mjassischtschew M4 (NATO-Bezeichnung: »Bison«) konnten bis ins US-Gebiet fliegen. Ihre Rückkehr nach erfolgtem Einsatz blieb allerdings ausgeschlossen, da der Treibstoff dafür nicht ausreichen würde. Die USA hingegen verfügten mit der Boeing B-52 Stratofortress über einen Langstreckenbomber mit großer Reichweite, die sich sogar durch eine Luftbetankung vergrößern ließ. Zudem konnten die B-52 das bis an die Grenzen der Sowjetunion ausgedehnte dichte Netz von Flugplätzen der amerikanischen Bündnispartner in Europa und Asien nutzen.

Aus ihren nuklearen Fähigkeiten hatten die USA während des [16]Koreakrieges jedoch auf dem Gefechtsfeld keinen Nutzen ziehen können, denn der lokale Einsatz der damals vorhandenen Bomben mit großer Sprengwirkung hätte auch ihre eigenen Truppen im Kampfgebiet vernichtet. Erst die Entwicklung und die Stationierung von taktischen Atomsprengköpfen mit reduzierter Sprengkraft ermöglichte einen solchen Einsatz selbst auf einem möglichen Gefechtsfeld in Europa. Der in Bezug auf konventionelle Waffen deutlich überlegenen Sowjetunion sollten taktische amerikanische Nuklearwaffen erschweren, den Schild zu durchbrechen. Als Trägerwaffen standen Raketen der Typen »Corporal«, »Honest John«, »Matador« und (für die Luftverteidigung) »Nike« [17]zur Verfügung. Raketen hatten den Vorzug erhalten, da Geschütze als nicht besonders effizient galten und leicht zerstört oder vom Feind in Besitz genommen werden konnten. Raketen hatten – neben der größeren Reichweite – zudem den Vorteil, dass sowohl nukleare als auch nicht-nukleare Sprengköpfe verschossen werden konnten. Die Lagerung und die eventuell notwendig werdende Ausgabe der nuklearen Sprengköpfe übernahmen spezielle amerikanische Bewachungseinheiten, sogenannte custody units.

Die ungelenkte nuklearwaffenfähige Kurzstreckenrakete MGR-1 »Honest John« konnte auf dem Gefechtsfeld gegen Ziele in bis zu 25 Kilometer Entfernung eingesetzt werden.

Die Bereitschaft der Vereinigten Staaten zum Einsatz nuklearer Waffen unterstrich das im September 1956 von den Oberbefehlshabern der [18]amerikanischen Teilstreitkräfte, den Joint Chiefs of Staff (JCS), erstellte strategische Konzept für einen allgemeinen Krieg. Darin hieß es unmissverständlich: »Unabhängig von der Art des Kriegsausbruchs werden die nuklearen Waffen von Anfang an eingesetzt.« Im April 1957 nahm der NATO-Rat diese strategischen Richtlinien sowie die Maßnahmen zu ihrer Umsetzung an. Nukleare Waffen sollten demnach bei einem sowjetischen Angriff immer dann zum Einsatz kommen, wenn dieser die Dimension eines militärischen Einfalls, einer Unterwanderung oder einer lokalen feindlichen Aktion überschritt. Als beste Vorsorge gegen einen nuklearen Angriff der Sowjetunion galt die Fähigkeit zu sofortiger ›massiver Vergeltung‹. Diese massive retaliation bedeutete letztlich den vernichtenden nuklearen Gegenschlag.

Stabsrahmenübungen und Manöver machten die Luft- und Landstreitkräfte in Westeuropa mit den Notwendigkeiten der nuklearen Kriegführung vertraut. Die Einführung von kleineren Nuklearwaffen mit verringerter Wirkung schien tatsächlich die Nutzung dieser taktischen Nuklearwaffen auch auf dem Gefechtsfeld zu ermöglichen. Allerdings weckten diese Waffen auch das Misstrauen der Öffentlichkeit und verstärkten noch die bereits bestehende Angst vor einem Atomkrieg. In Großbritannien entstand die Campaign for Nuclear Disarmament (CND), die 1958 einen ersten »Ostermarsch« durchführte. In der Bundesrepublik folgte die Gründung der Bewegung »Kampf dem Atomtod«. Natürlich nahm kein NATO-Mitgliedstaat gern das Risiko eines Nuklearkrieges auf seinem Territorium in Kauf, man fühlte sich dem mächtigen Bündnispartner USA jedoch verpflichtet.

Die Angst vor einem Atomkrieg führte weltweit zu Protesten. Das Foto zeigt Atomwaffengegner beim ersten Marsch von London zum britischen Atomwaffenforschungsinstitut in Aldermaston im April 1958. Dieser Marsch wurde viele Jahre lang stets zu Ostern durchgeführt.

Im August 1957 meldete die staatliche sowjetische Nachrichtenagentur TASS den ersten Start einer sowjetischen Intercontinental Ballistic Missile (ICBM). Dabei handelte es sich um eine Rakete vom Typ R-7 (NATO-Bezeichnung: »SS-6 Sapwood«) mit einer Reichweite von 8000 Kilometern. Am 4. Oktober 1957 empfingen Funkamateure in aller Welt das Signal von »Sputnik 1«. Der Sowjetunion war es gelungen, den ersten künstlichen Satelliten mit einer solchen Rakete in den Weltraum zu schießen. In der amerikanischen Öffentlichkeit löste »Sputnik 1« einen Schock aus. Der Ost-West-Konflikt zwischen den beiden Machtblöcken hatte zu einem Rüstungswettlauf geführt, bei dem die Amerikaner stets angenommen hatten, vornzuliegen. Die bisher scheinbar unerschütterliche Vormachtstellung ihres Landes im Kalten Krieg schien [19]verloren. Jetzt verfügte auch die Sowjetunion über weittragende Raketen, deren nukleare Sprengköpfe zumindest theoretisch jeden Ort in den USA erreichen konnten. Das Entsetzen verstärkte sich noch, als nur vier Wochen später ein weiterer sowjetischer Satellit, »Sputnik 2«, die Erde umkreiste. Zu allem Überfluss misslang am 6. Dezember 1957 der Versuch der USA, einen eigenen Satelliten zu starten. Vor den Augen der amerikanischen Fernsehzuschauer explodierte die Rakete vom Typ Vanguard TV-3 bereits auf der Startrampe auf Cape Canaveral. Der technische Vorsprung der USA schien dahin, die Grundlage der Strategie der »massiven Vergeltung« nicht mehr gegeben.

Replik des »Sputnik 1«. Am 4. Oktober 1957 schoss die Sowjetunion den ersten Satelliten ins Weltall. Ein Schock für den Westen, der sich in seiner Sicherheit bedroht fühlte.

Spezialisten der RAND-Corporation, eines 1948 gegründeten privaten Think-Tanks zur Beratung der amerikanischen Regierung, erarbeiteten Ende 1957 eine Studie zu Fragen der Abschreckung und des Überlebens im Nuklearzeitalter. Aus ihrer Sicht konnte der größer gewordenen Verwundbarkeit der USA angesichts sowjetischer ICBM nur mit einer deutlichen Erhöhung des amerikanischen Rüstungshaushalts begegnet werden. Dabei gelte es in erster Linie, den scheinbar vorhandenen sowjetischen Vorsprung in der Raketenrüstung wettzumachen. [20]Das Papier war zwar vertraulich, doch seine Inhalte gelangten schnell in die Öffentlichkeit. Die Berichte der amerikanischen Presse überboten sich mit Berechnungen zur Anzahl der sowjetischen ICBM und gipfelten in der Annahme einer vierzehnfachen Überlegenheit der Sowjetunion auf diesem Gebiet.

Angesichts dieser Lage trug der Stabschef der US Army, General Maxwell D. TaylorTaylor, Maxwell D., Präsident Dwight D. EisenhowerEisenhower, Dwight D. persönlich seine Bedenken gegen die Strategie der »massiven Vergeltung« vor. Doch der amerikanische Präsident hielt sie weiterhin für die einzige Garantie des Friedens und wollte deshalb unbedingt an ihr festhalten. Frustriert zog General TaylorTaylor, Maxwell D. sich aus dem aktiven Dienst zurück. Anfang 1960 veröffentlichte er ein Buch mit dem Titel The Uncertain Trumpet.

Darin betonte er, dass in Kürze sowohl die USA als auch die Sowjetunion über große Bestände an nuklearen Waffen verfügen würden. Damit sei bereits eine wirksame gegenseitige Abschreckung erreicht; deshalb hielt TaylorTaylor, Maxwell D. einen großen Krieg für weniger wahrscheinlich als einen begrenzten Krieg bzw. sogenannte kleine Kriege. Besonders widersprach er der bisherigen Einschätzung, der Krieg zwischen den Supermächten werde bereits am ersten Tag zum nuklearen Schlagabtausch führen. Die bisherige Festlegung, bereits in einem lokalen Konflikt Nuklearwaffen einzusetzen, hielt er für falsch. Er forderte daher die Ablösung der bisherigen Nuklearstrategie der »massiven Vergeltung«. Vielmehr bedürfe es einer neuen Strategie, die sich unterschiedlichen Bedrohungssituationen flexibler anpassen könne und mehr Reaktionsmöglichkeiten als nur den automatischen Einsatz von Nuklearwaffen biete.

Doch eine neue Strategie mussten sowohl die amerikanische Führung als auch die transatlantischen Bündnispartner billigen. Diese Zustimmung sollte allerdings erst Ende der 1960er Jahre nach den Erfahrungen in der Berlinkrise von 1961 und in der Kubakrise erfolgen. In der Sowjetunion galt zu dieser Zeit der Grundsatz, dass ein Nuklearkrieg nur dann geführt werden sollte, wenn er dem Land von den USA oder der NATO aufgezwungen würde. Nach einem nuklearen Enthauptungsschlag gegen die Sowjetunion würde das bereitstehende Atomwaffenführungssystem »Perimetr« automatisch einen allumfassenden nuklearen Gegenschlag auslösen.

[23]Politische Erwartungen und Enttäuschungen