Die Kunst des höflichen Reisens - Moritz Freiherr Knigge - E-Book

Die Kunst des höflichen Reisens E-Book

Moritz Freiherr Knigge

4,7

  • Herausgeber: mvg
  • Kategorie: Lebensstil
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

In jedem Land gilt etwas anderes als höflich und auch die Vorstellungen von Hygiene variieren stark. Die Kunst des höflichen Reisens wirft erstmals einen Blick auf einen besonderen Aspekt des Unterwegsseins – die respektvolle Begegnung mit dem Fremden und mit anderen »Hygienekulturen«. In acht Essays lädt das Buch auf eine besondere Weltreise ein: Moritz Freiherr Knigge erläutert, wie man den Eigenheiten der Menschen weltweit mit gekonnter Achtsamkeit begegnet und so zum wahrhaft entdeckenden Reisenden wird. Philipp Tingler gewährt einen Einblick in die Umgangsformen der Angelsachsen. Maximilian Dorner bewundert die Konversationskunst der Franzosen. Jörg Steinleitner entwickelt ein humoristisches Überlebenstraining für Besucher in Bayern. Und man erfährt mehr über das Küssen in Ungarn und die Sitten in scheinbar so fremden Ländern wie China und Indien. Eine wunderbar kurzweilige »Gebrauchsanleitung« für den gepflegten Umgang unterwegs – mit einem kleinem Hygiene-ABC für den höflichen Reisenden.

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DIE KUNST DES

HÖFLICHEN REISENS

Gebrauchsanleitung für den gepflegten

Umgang unterwegs

Moritz Freiherr Knigge, Jörg Steinleitner u. a.

Inhalt
Einleitung
Höflichkeit als Hygiene – Hygiene als Höflichkeit
Die Vermessung der Weißwurst
»Beschreib sie mir!«
Küssen auf Ungarisch
Der Wert der Harmonie
Nichts wie weg
Von Sauberkeit und Armut
Keep Clean and Carry On
Das kleine Hygiene-ABC für höfliche Reisende
Die Autorinnen und Autoren

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

[email protected]

1. Auflage 2013

© 2013 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Die Entstehung dieses Buches wurde freundlich unterstützt durch die Marke Tempo.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Unter redaktioneller Mitarbeit von fischerAppelt, relations GmbH

Idee und Gestaltung des Covers: LIGALUX GmbH

Beratung: SCHADENDORF.BCC

E-Book Umsetzung: Georg Stadler, München

ISBN Print 978-3-86882-463-6

ISBN E-Book (PDF) 978-3-86415-497-3

ISBN E-Book (E-Pub, Mobi) 978-3-86415-498-0

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.mvg-verlag.de

Einleitung

Gibt es auch nur einen Grund, das Reisen nicht zu lieben? Unterwegs sein, das ist Sehnsucht: nach Aufbruch, Abenteuer oder Ruhe, danach, sich zu finden oder sich endlich einmal zu verlieren. Manchmal wissen wir gar nicht, was uns treibt; und manchmal ist es der Wunsch, wieder nach Hause kommen zu wollen, der uns in die Ferne zieht. So ist der Aufbruch meist geprägt von nervöser Neugier: Was werden wir sehen, erleben, empfinden? Die Antworten auf diese Fragen sind vor allem bestimmt von den Menschen, die uns unterwegs begegnen – Menschen, die uns fremd sind, selbst wenn sie dieselbe Sprache sprechen oder zumindest die gleiche Kleidermarke tragen. Im Umgang mit ihnen merken wir: So klein ist es doch gar nicht, unser globales Dorf. Was ist höflich, was ist angebracht, wie funktioniert Miteinander, wie Konflikt? Unterwegs gelten plötzlich andere Regeln.

Ratgeber für interkulturelle Kompetenz gibt es viele, doch echtes Entdeckertum kommt mit Listen zum Do and Don’t allein nicht aus. So will Die Kunst des höflichen Reisens nicht nur vom Glück des Unterwegsseins berichten, sondern auch Hilfestellungen für gelingenden Umgang mit kulturellen Unterschieden geben. Dafür brechen die Autoren auf zu unseren europäischen Nachbarn ebenso wie ins ferne China oder nach Indien und widmen sich auch der vielleicht größten Herausforderung: dem Reisen im eigenen Land – mit Kindern. Wohin die Reise auch geht: Ein besonderes Augenmerk legt das Buch auf einen gepflegten Umgang mit fremden Hygienekulturen – sind es doch nicht selten gerade die Fragen der Hygiene im Alltag, an denen sich Respekt im Miteinander festmacht.

»Denn wer auf Reisen wirklich etwas entdecken will, der muss das Leben und die Menschen ein klein wenig mögen«, schreibt Moritz Freiherr Knigge in diesem Buch – und das bedeutet: der muss die Menschen nehmen, wie sie sind, und ihren Eigenheiten mit Respekt begegnen. Ganz in diesem Sinne geht es in diesem Buch um gepflegten Umgang unterwegs: um die Kunst des höflichen Reisens. »Hygiene als Höflichkeit«, so hat Freiherr Knigge seinen Aufsatz überschrieben und damit gleich klargemacht: Manieren zeigen sich eben und gerade auch in einem der menschlichsten Bereiche des Miteinanders.

Dass ein gepflegter Umgang auch in Armut nicht nur möglich, sondern ganz wesentlicher Bestandteil der Würde ist, beschreibt Gesa Borgeest in ihrer Reportage zu »Von Sauberkeit und Armut«. Sie hat in Indien gelebt und ein Land entdeckt, das »chaotisch, ordentlich und bunt, dreckig, sauber und würdevoll«, außer Atem und gleichzeitig gelassen, kurzum: voller faszinierender Widersprüche ist.

Derweil hat Reisejournalist Stephan Burianek ausgerechnet dort Gemeinsamkeiten gefunden, wo er nur Unterschiede erwartet hatte: im scheinbar so fremden China. Für ihn liege der Schlüssel zum höflichen Reisen im achtsamen Umgang miteinander, der wichtiger sei als starre Regeln aus klugen Handbüchern, schreibt er in seinem Beitrag »Der Wert der Harmonie«. Wer sich solcherart auf das Land einlasse, der stoße auf eine gemeinsame Basis, die beide Kulturkreise verbinde, so seine Beobachtung.

Die Nachbarn Deutschland und Frankreich dagegen trennt bei vielen Gemeinsamkeiten gerade auch die Bedeutung, die der Konversation beigemessen wird, beobachtet Autor Maximilian Dorner in »Beschreib sie mir!«. Den Franzosen ist die Konversation eine Kunst, der sie mit Leidenschaft und Leichtigkeit nachgehen. Diese Lust an der Gesprächskultur zu teilen fällt den Deutschen bisweilen schwer – sie zu verstehen schafft jedoch die Voraussetzung für gelingendes Miteinander. Hemmungen, beobachtet Dorner, sind dabei völlig unnötig: Mitplaudern darf jeder – selbst wenn er des Französischen nicht mächtig ist.

Berührungsängste sind auch in dem Ungarn unangebracht, das Autorin Petra Thorbrietz skizziert, denn hier wird mit Hingabe geküsst – auch der Fremde. Wer ohne Vorbereitung in die Donau­republik komme, werde überwältigt von so viel Herzlichkeit, die jede Distanz überwinde – eben auch die körperliche, so Thorbrietz in »Küssen auf Ungarisch«.

Distanzierter – gerade auch körperlich – wird gepflegter Umgang im angelsächsischen Raum gelebt. Die spezifisch angelsächsische Umgangsform, schreibt Essayist Philipp Tingler in »Keep clean and carry on«, sei von »politeness, distance, and moderation« und einer besonders zurückhaltenden Körperlichkeit geprägt. Sein Tipp für alle Reisenden: Form wahren, Irritierendes ignorieren – und gelegentlich lustvoll die Regeln brechen.

Derer gibt es übrigens auch unterwegs in Deutschland viele zu beachten – vielleicht besonders viele, wenn es nach Bayern geht. Krimiautor Jörg Steinleitner hat vor Ort recherchiert und in seiner »Vermessung der Weißwurst« lebenswichtige Grundregeln für das Reisen im Freistaat zu Tage gefördert. Dies sei eine Kunst, die gelernt sein wolle, schließlich sei dem Bayern Gastfreundschaft per se suspekt – am schönsten sei es doch schließlich daheim.

Oder auf der Straße, würde Journalist Michael Köckritz vielleicht ergänzen, dessen Text »Nichts wie weg« eine Ode an das Unterwegssein in seiner reinsten Form ist: das klassische Roadmovie. Im Roadmovie verändert sich der Held in und durch Bewegung – in Köckritz’ Fall sind die Helden Kinder, und sie lernen unterwegs: Geglücktes Reisen lebt von respektvollem Miteinander.

Also brechen wir auf – auf Lesereisen ganz unterschiedlicher Art: mal fröhlich, mal bewegend, mal feinsinnig, mal spitzzüngig. Eben ganz im Sinne des Reisens, wie John Steinbeck es sah: »Jede Reise«, schrieb der Nobelpreisträger, »ist ein eigenständiges Wesen. Keine gleicht der anderen.« In diesem Sinne: Viel Freude beim Reisen – und beim Lesen.

Höflichkeit als Hygiene – Hygiene als Höflichkeit

Von der Kunst des entdeckenden Reisens

Von Moritz Freiherr Knigge

Ja, ich bin verwandt mit Adolph Freiherr Knigge, mit dem, der den Deutschen beibrachte, wie man sich richtig benimmt. Und ich komme nicht umhin, ein paar Takte über ihn zu verlieren. Über den Umgang mit Menschen war der Titel des wohl berühmtesten Buches von Knigge, das im Jahre 1788 erschien. Damals ein Bestseller, heute ein Klassiker. Was nicht zuletzt auf den politischen Neigungen des Autors beruht. Denn der freie Herr Knigge – wie er sich selbst nannte – war ein sehr politischer Mensch und glühender Anhänger der französischen Revolution. (Ein Nestbeschmutzer aus adliger Sicht, wenn Sie so wollen.)

Knigge löst den Betrachtungsgegenstand des zwischenmenschlichen Umgangs ganz bewusst aus der Tradition der höfischen Literatur, indem er die Fähigkeit, »sich und anderen das Erdenleben zu erleichtern«, auch denjenigen zutraut, die nicht in Schlössern, sondern auf Bauernhöfen und in Wohnungen leben. Die Großen der Erde, Fürsten, Vornehme und Reiche werden nun selbst zum Gegenstand des zwischenmenschlichen Umgangs. Genauso wie Geistliche, Kaufleute, Droschkenfahrer und Betrunkene. Das bunte Treiben des wahren Lebens hält Einzug.

Der Name Knigge ist längst zu einem Synonym dafür geworden, wie man etwas richtig tut: Sei es im Business, sei es in der Kindererziehung, auf dem Wiener Opernball oder gar im Swinger-Club. Der Fantasie sind heute keine Grenzen mehr gesetzt, auch wenn ich mir das manches Mal wünschen würde. Doch statt darüber zu verzweifeln, wer so alles mit dem Namen Knigge auf Wiener Opernbällen und in Swinger-Clubs sein Unwesen treibt, konzentriere ich mich lieber auf das, was das Erbe meines Vorfahren wirklich ausmacht. Was es braucht, um den Umgang mit anderen gelingen zu lassen: Sei es in den heimischen vier Wänden, im öffentlichen Nahverkehr, im Kölner Karneval oder am chinesischen Verhandlungstisch.

Für diese und andere zwischenmenschliche Herausforderungen bedarf es laut Adolph Freiherr Knigge keiner konkreten Verhaltensempfehlungen, sondern vielmehr einer inneren Einstellung. Herzensbildung nannte Knigge diese. Ein gebildetes Herz ist ein gesundes Herz. Eines, das auf fremde Menschen und Meinungen zugeht, das wieder Licht am Ende des eigenen Tunnels sieht, und in die Ferne statt auf die eigenen Scheuklappen schaut. Bereit auf Reisen zu gehen, fest entschlossen etwas zu entdecken.

Kopf ohne Körper – Der europäische Mensch

Hygiene, Höflichkeit und Reisen. Das passt, so dachte ich. Das gehört zusammen wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge oder der Topf auf den Deckel. Gut, über Hygiene hatte ich bisher noch nicht viel geschrieben, über die Höflichkeit dafür umso mehr, und auch im Hinblick auf kulturelle Unterschiede im Zwischenmenschlichen kenne ich mich ein wenig aus. Und nun? Alle drei Phänomene gemeinsam, in einem Essay. Doch je länger ich über das, was ich mir da als Thema gestellt hatte, nachdachte, je mehr ich recherchierte, desto bewusster wurde mir, dass das, was da so gut zusammenzupassen schien, in einem recht komplexen Verhältnis zueinander steht. So einfach – wie es die Überschrift suggeriert – ist es mit der Gleichung Höflichkeit = Hygiene nicht.

Man muss schon mit der Lupe suchen, wenn man in den grundlegenden Werken zu den europäischen Manieren etwas einigermaßen hygienisch Verwertbares finden möchte. Ob im Handorakel der Weltklugheit von Baltasar Gracián, ob in Baldassare Castigliones Der Hofmann, ob in John Lockes Gedanken zur Erziehung oder dem Hauptwerk Knigges Über den Umgang mit Menschen: Verhaltensempfehlungen zur Gesundheitsvorsorge und Körperpflege sind nicht nur die Ausnahme, sie existieren praktisch nicht!

So erfahren wir zwar, dass die Kleidung reinlich zu sein habe, dass man den abgeleckten Löffel nicht vor sich auf den Tisch legen solle, dass man seinen Körper weder verzärteln noch auf ihn losstürmen solle, weil ein gesunder Leib und eine gesunde Seele die beiden Hauptstützen aller menschlichen Glückseligkeit seien; viel mehr erfahren wir aber nicht. Stößt man überhaupt einmal auf Begriffe, die auf Verhaltensempfehlungen zu Gesundheit und Sauberkeit verweisen könnten, dann stellt man fest, dass diese auf geistige Gesundheit und seelische Reinheit verweisen. Dass ein gesunder Geist in einem gesunden Körper wohnt, mag sein, auf allzu viel Aufmerksamkeit durfte die äußere Hülle von Seele und Geist jedoch nicht hoffen. (Sieht man einmal von der amüsanten nationalen Eigenheit ab, die John Locke für das 17. Jahrhundert beschreibt und die bis heute gültig ist: »Es gibt Leute in England, welche ohne Unbequemlichkeit in Winter und Sommer einerlei Kleider tragen, ohne mehr Kälte zu empfinden.«)

Hätte ich nicht zum Abschluss meiner Recherche in den Schriften des Erasmus von Rotterdam zum höflichen Umgang die Empfehlung gefunden, dass man in feiner Gesellschaft »Winde« durch Husten übertönen solle, wäre ich davon ausgegangen, die Menschen der vergangenen Jahrhunderte seien gänzlich unvertraut mit ihrem eigenen Körper und dessen Regungen gewesen. (Im Japan des 21. Jahrhunderts werden im Übrigen auf öffentlichen Toiletten ebenfalls »Winde« übertönt. Als Freunde der Elektronik greifen die Japaner zu diesem Zweck allerdings nicht auf analoges Husten, sondern auf digital zuspielbare Geräusche zurück.)

Dennoch ist der Zusammenhang zwischen Hygiene und Höflichkeit nicht nur für die Menschen vergangener Jahrhunderte, sondern auch im 21. Jahrhundert nicht wirklich transparent: Ein gesunder und gepflegter Körper, das scheint mittlerweile so selbstverständlich zu sein, dass es keiner besonderen Erwähnung bedarf.

Als echtem Knigge werden mir zwar immer wieder Fragen zum erfolgreichen Umgang gestellt, Fragen zur Hygiene sind jedoch selten darunter. Genau genommen, fallen mir nur zwei ein: Zum einen, ob man sich denn nun »Gesundheit« wünschen dürfe oder nicht, und zum anderen, wie man beispielsweise einem Arbeitskollegen so wertschätzend wie möglich mitteilt, dass er nach Schweiß riecht. Wenngleich sich das Transpirationsproblem in der Umsetzung als größere Herausforderung erweist, empfinde ich die notwendigen Verhaltensempfehlungen als ebenso schlicht wie praktikabel:

Natürlich darf man anderen Menschen Gesundheit wünschen, wenn sie nicht hundert Mal täglich – beispielsweise aufgrund eines Heuschnupfens – niesen müssen oder die Konzentration etwas anderem, Wichtigerem gilt. In einem beruflichen Meeting oder im Theater lautstark »Gesundheit!« durch die Gegend zu brüllen, zeugt weder von guten Manieren noch von einem gesunden Menschenverstand. Einen anderen Menschen darauf hinzuweisen, dass er einen strengen Körpergeruch hat, ist sicherlich keine schöne Aufgabe. Wenn dieser jedoch den Umgang dauerhaft erschwert, hilft auch in unserer Kultur nur ein offenes Wort unter vier Augen: »Es ist mir sehr unangenehm Ihnen das sagen zu müssen, aber mir ist aufgefallen, dass Sie häufig nach Schweiß riechen.«

Auf der Suche – Auszug aus meinem Reisetagebuch

– Doch woran liegt es, dass die Hygiene kaum vorkommt in den heiligen Hallen des höflich-europäischen Miteinanders?

– Und warum ist die Antwort auf diese Frage so wichtig, wenn ich auf Reisen etwas entdecken möchte?

Um Antworten auf diese Fragen zu finden, habe auch ich mich auf den Weg gemacht, auf Reisen. Mit dem festen Willen etwas zu entdecken und das, was ich entdecke, mit meinen Lesern zu teilen. Ein Versuch, eine Entdeckungsreise zu den Ursprüngen, Widersprüchen und Phänomenen eines gepflegten, aber dennoch anregenden Miteinanders. Eine Einladung zu mehr Aufmerksamkeit und größerer Lust, sich vom Anderssein des anderen irritieren und inspirieren zu lassen. Eine Reise, die mich in den Garten Eden führte, an einen Fluss in Cambridge, den Disput zwischen Jesus und einem Pharisäer belauschen, mich über den Gestank in mittelalterlichen Städten die Nase rümpfen, über die hygienischen Zustände in Versailles den Kopf schütteln und über die Hygieneexzesse unseres Jahrhunderts die Stirn runzeln ließ. Ich habe Virologen und Quacksalber aufgesucht, kaufte eine Karte für das Hygienemuseum in Dresden, benötigte Atemschutzmasken in Peking und zu Zeiten der Pest, war zu Gast in Badehäusern und anderen Feuchtgebieten. Wurde Zeuge des Unbehagens an der eigenen Kultur, beschritt den deutschen Sonderweg und suchte mir mit Michel de Montaigne einen Reiseführer, der bereits vor 400 Jahren zu wissen schien, auf was es bei Reisen im globalen Dorf ankommen würde. Doch beginnen möchte ich meine Reise auf dem Marktplatz in Athen vor fast 2 500 Jahren.

Antike Nervensägen und polierte Rheinländer – Die Geburtsstunde der Dialektik

Sokrates gilt nicht nur als der Urvater des europäischen Denkens, er gilt auch als eine der größten Nervensägen der Antike. Immer dann, wenn er in seinen philosophischen Betrachtungen nicht weiterkam, ging er auf den Marktplatz seiner Heimatstadt und fragte jeden, der nicht schnell genug das Weite suchte, Löcher in den Bauch: Was ist Wahrheit? Was Gerechtigkeit? Was ist ein geglücktes Leben? Der Dialog mit seinen Mitmenschen half Sokrates, Antworten auf seine Fragen zu finden. Im Miteinander-Sprechen, in Rede und Gegenrede entstand ein Denkmuster, das wir Dialektik nennen und in dem sich europäisches Denken und Handeln bis heute Ausdruck verleiht. Und so wurde Europa selbst ein Marktplatz, auf dem die unterschiedlichsten Völker und Kulturen ihre Meinungen und Überzeugungen aufeinanderprallen ließen.

Eine Mannigfaltigkeit des Menschlichen, die auch Adolph Freiherr Knigge in den Vorbereitungen seines Buches so manches Kopfzerbrechen bereitete: »[…] dass es so schwer ist, mit Menschen aus allen Städten und Gegenden in Deutschland umzugehen und bei allen gleichwohl gelitten zu sein, auf alle gleich vorteilhaft zu wirken.« Die Gegensätze spielen also auch im Zwischenmenschlichen eine nicht unerhebliche Rolle. Und so amüsieren sich mein rheinischer Geschäftspartner und ich als Niedersachse immer wieder über eine erläuternde Erklärung Knigges zur Vielfalt in deutschen Landen: »Die zuvorkommende Höflichkeit und Geschmeidigkeit des durch französische Nachbarschaft polierten Rheinländers würde man in manchen Städten von Niedersachsen für Zudringlichkeit, für Niederträchtigkeit halten!«

Nun hilft uns das Gegensatzpaar Rheinländer und Niedersachse nicht unbedingt weiter, wenn wir wissen wollen, wann, wo und warum der europäischen Höflichkeit die Beschäftigung mit der Hygiene abhandenkam. Es ist aber ein erster Hinweis darauf, dass Höflichkeit nicht nur etwas mit Gemeinsamkeiten, sondern auch mit Unterschieden zu tun haben könnte. Und so fragte ich mich: Was hätte Sokrates wohl seine Zeitgenossen gefragt? Ich glaube, er hätte weitere Fragen gestellt, um mehr über das höfliche und gepflegte Reisen zu erfahren:

– In welchem Verhältnis steht mein Körper zu meinem Geist, meiner Seele?

– Bin ich bereits ein höflicher Mensch, wenn ich anständig bin?

– Ist die Kultur die Natur des Menschen?

– Habe ich Angst vor den Dingen oder vor der Meinung, die ich von ihnen habe?

Im Garten Eden – Die Erfindung des Schamgefühls

Setzen wir unsere Reise fort, machen wir einen Zwischenstopp im Paradies. Die Geschichte der Hygiene ist immer eine Geschichte des Körpers. Oder um es genauer auszudrücken, eine Geschichte, welche Haltung der Mensch zu seinem Körper einnimmt. Als die Welt im Garten Eden noch in Ordnung war, als noch paradiesische Zustände herrschten, da waren Adam und Eva nackt und schämten sich nicht. Erst als sie von der verbotenen Frucht gekostet hatten, so heißt es im ersten Buch Mose, »da wurden ihrer beiden Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich eine Schürze.« Der Mensch schämte sich und versteckte sich vor Gott.

Die Nacktheit wird in unserem christlich-abendländisch geprägten Kulturkreis zum Symbol für die menschlichen Schwächen. Die Nacktheit des Menschen verkörpert seine innere Verführbarkeit. Der Körper wird zum äußeren Zeichen der inneren Sündhaftigkeit. Doch diese ist dem Menschen nicht egal, er wird ihrer gewahr. Er versteckt sich vor Gott im Garten Eden, weil er sich für sein Handeln schämt: »Und Gott der Herr rief Adam und sprach zu ihm: Wo bist du? Und er sprach: Ich hörte deine Stimme im Garten und fürchtete mich, denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich.« Die Geschichte aus dem ersten Buch Mose macht uns zu Zeugen einer Neuerfindung: Das Schamgefühl kommt auf die Erde. Der Körper wird zum Sinnbild unserer natürlichen Seite, unserer animalischen Natur. Doch die Geschichte zeigt auch noch etwas anderes. Der Mensch ist zwar aus dem Paradies vertrieben, fallen gelassen hat Gott Adam und Eva jedoch nicht. Denn sie schämten sich dafür, dass sie ihr Versprechen gegenüber Gott gebrochen hatten und verdeckten ihre Scham. Ihre Seelen waren nicht verloren. Nur der, der jegliches Schamgefühl verliert, der schamlos ist, ja unverschämt, dessen Seele ist verloren. Der sich entschließt, seiner menschlichen Natur den Rücken zu kehren und sich ganz auf die animalische Seite zu schlagen, der ist auch für die Höflichkeit verloren, weil er nicht die leiseste Ahnung davon hat, was das sein soll.

Nacktbaden in Cambridge und Atemschutz in Asien – Das Gesicht wahren

Das Schamgefühl gehört zur Grundausstattung des höflichen Menschen. Als peinlich und beschämend empfinden Menschen mit Schamgefühl alles, was geradezu als körperlich bedrängend empfunden werden könnte. Dabei reagieren sie selbst mit körperlichen Reaktionen: Sie drehen sich weg, nehmen die Hände an den Kopf und schreien laut auf oder sie verziehen ihren Mund so stark, dass ihr Gesicht zu einer Grimasse wird. Das Empfinden von Scham beschränkt sich dabei nicht nur auf das eigene Verhalten. So ist es beobachtbar, dass das Betrachten oder auch nur das Zu-Ohren-Kommen von peinlichen Geschichten über das Verhalten anderer genauso beschämend sein kann: das sogenannte Fremdschämen.

Die folgende Begebenheit, die Prinz Asfa-Wossen Asserate, der Nachfahre des äthiopischen Kaisers Haile Selassie in seinem Buch Manieren schildert, dürfte nicht allzu heftige Reaktionen auslösen, sie regt eher zum Schmunzeln an: »Zu meiner Zeit in Cambridge zeigte man mir eine Stelle am Fluss, die ein wenig verborgen war; die Professoren pflegten hier nackt zu baden. Eines Tages näherte sich dem Strand ein Boot mit Studentinnen, und alle Professoren griffen eilig zu Handtüchern, um ihre Blöße zu bedecken. Nur der Professor für Logik und Mathematik wand sich sein Handtuch um den Kopf und sagte strahlend, als die Gefahr vorüber war: »Gentlemen, mich jedenfalls erkennt man an meinem Gesicht.«

Nun, schamlos war keiner der Professoren, sonst hätte einer der Herren sich dazu entschieden, trotz des Auftauchens der Studentinnen im Adamskostüm zu verharren. Doch alle Gelehrten beschürzten sich auf die gleiche Weise, wie Adam und Eva es getan hatten. Zwar nicht mit einem Feigenblatt, aber mit ihren Handtüchern. Sein Gesicht wahrte im engeren Sinne des Wortes jedoch nur der Professor für Logik und Mathematik. Dafür entblößte er jedoch seine Scham. Eigentlich ziemlich unverschämt. Manche sagen auch klug. Nun möchte ich selbst nicht den Eindruck vermitteln, so unverschämt zu sein, einem Professor für Logik und Mathematik aus Cambridge sein Verhalten vorzuwerfen (womit ich ausdrücklich nicht das Nacktbaden meine, sondern seine nachträgliche Schadenfreude gegenüber den beschämten Kollegen), möchte mir aber doch einen abschließenden Satz erlauben:

Die Fähigkeit, Scham zu empfinden und richtige Entscheidungen zu treffen, um sein Gesicht zu wahren, zeichnet einen höflichen Menschen durchaus aus. Andere jedoch im Nachhinein für ihre unkluge Entscheidung zu verspotten, ohne sie vorher über die Alternative in Kenntnis zu setzen, ist zumindest nicht höflich. Klug sind auch diejenigen, die sich gegen den Smog in Peking mit Atemschutzmasken wappnen und nicht auf die heimische Presse hören, die stattdessen zum Verzehr von Birnen (!) rät. Ihr Gesicht wahren hingegen die, die es auch dann verbergen, wenn sie selbst krank sind und den Mundschutz tragen, um ihre Mitmenschen zu schützen.

Kurzer Besuch bei einem Teekesselchen – Das ist doch nur menschlich!

Was ist das? Man kann darauf sitzen und wenn man sie überfällt, muss man ins Gefängnis?

Richtig: eine Bank.

Das Kinderspiel Teekesselchen wird auch auf den Universitätsfluren der philosophischen Fakultäten gerne gespielt.

Sagt die Natur zur Kultur: »Das ist doch nur menschlich!«

Antwortet die Kultur: »Eben nicht!«

Während also die Natur wohlwollend ein gutes Wort für die menschlichen Leidenschaften, Triebe und Impulse einlegt, denkt die Kultur gar nicht daran, diese überhaupt als menschlich zu bezeichnen. Keinen Fuß breit für die animalischen Impulse und Leidenschaften! Wäre sie eine Schauspielerin, dann sähe das Drehbuch mahnende Worte für sie vor:

Die Kultur: »Die Natur des Menschen offenbart sich erst mit der Unterdrückung und Überwindung unserer tierischen Triebe. Erst wer diese kultiviert, verhält sich menschlich. Zu furzen, anderen ins Gesicht zu schnäuzen oder raffgierig zu sein, ist nicht menschlich! Nicht zu rülpsen, obwohl der Impuls da ist, für andere Menschen aufzustehen, obwohl man lieber säße, sich zurückzuhalten statt alles an sich zu reißen, darin zeigt sich die wahre Natur des Menschen. Erst dort beginnt Menschlichkeit überhaupt.

Nun bin ich nicht naiv! Ich weiß natürlich, dass es unter Euch Menschen niemanden gibt, dem irgendetwas wichtiger wäre als seine eigene Person. Aber tut mir einen Gefallen: Zeigt Euch wenigstens beschämt über Euren Egoismus!«

[Spuckt aus und tritt ab]

Die Natur[sich an die Zuschauer wendend]: »Lasst sie, lasst sie! Sie regt sich doch immer so leidenschaftlich auf. Aber ich mag das, es macht sie so menschlich …«

Ein Bad im Leben genügt – Auf die inneren Werte kommt es an!

Die Benutzung von Seife ist bis in das Jahr 2800 v. Chr. in Babylon nachweisbar und auch die griechische und römische Kultur der öffentlichen Bäder unterstreicht eindrucksvoll, wie weit fortgeschritten die Hygienekultur auch in der westlichen Welt einmal gewesen ist. Die öffentlichen Bäder, die Thermen des Römischen Reiches waren nicht nur Orte der gesellschaftlichen Zusammenkunft, sondern auch Zeichen dafür, welchen hohen Stellenwert in der antiken Welt Körperlichkeit, Sauberkeit und Gesundheit genossen haben. Von der schambehafteten Welt des Alten Testaments waren die Badehäuser jedenfalls weit entfernt. Und wer weiß, wie sich das Verhältnis von Hygiene und Höflichkeit in Europa entwickelt hätte, wenn Jesus sich vor dem Essen mit den Pharisäern gewaschen hätte.

Der Apostel Lukas berichtet uns (11.37), dass Jesus von einem Pharisäer gebeten worden war, mit ihm zu Mittag zu essen. Doch statt sich – wie üblich – vor dem Essen zu waschen, ging er hinein und setzte sich ungewaschen an den Tisch. Worauf der Pharisäer seine Verwunderung äußerte, was wiederum Jesus missfiel: »Ihr Pharisäer haltet die Becher und Schüsseln auswendig reinlich, aber euer Inwendiges ist voll Raubes und Bosheit. Ihr Narren, meinet ihr, dass es inwendig rein sei, wenn es auswendig rein ist?«

Würde man zu diesem Zwischenfall einen Etikette-Experten befragen, stießen diesem gleich zwei Etiketteregeln ins Auge, gegen die der Sohn Gottes verstoßen hat: Zum einen gegen die übliche Sitte, sich vor dem Essen zu waschen, zum anderen als Gast dem Gastgeber mit Respekt zu begegnen und diesen nicht im eigenen Haus zu beschimpfen. Doch was auf den ersten Blick wie eine Flegelhaftigkeit des Sohn Gottes aussieht, ist in Wirklichkeit ein Paradigmenwechseln im Verhältnis zwischen Innerem und Äußerem. Jesus warf den Pharisäern vor, sie würden das Äußere so hoch gewichten, dass sie das Innere gar nicht mehr wahrnähmen. Sie hätten das Wesentliche längst aus den Augen verloren!

Zwar wurde auch in der Antike dem vernünftigen Seelenteil, dem Geist, eine Vormachtstellung gegenüber dem unvernünftigen Seelenteil, dem Körper, eingeräumt, eine derart radikale Verdammnis des Äußeren hatte jedoch eine neue Qualität. Der Sohn Gottes hatte gesprochen! Das Äußere zählte seit diesem Tag wenig im christlichen Abendland: Es waren die inneren Werte, die nun die Herrschaft übernehmen sollten. Seele und Geist hatten sauber und gesund zu sein, während der Körper, der als Symbol der menschlichen Scham ohnehin die zweite Geige spielte, noch weiter an Ansehen verlor. Lieber einen schmutzigen Körper als eine dreckige Seele! So hieß die neue Devise.

Kopfschütteln im Morgenland – Christliche Schmutzfinken

Wollten wir stilecht reisen, bräuchten wir jetzt eigentlich einen fliegenden Teppich. In einem Märchen ausTausendundeine Nachtist die Beobachtung eines arabischen Gärtners überliefert, der in der christlichen Taufe die Ursache für die Hygienefeindlichkeit der Christen sieht: »Sie waschen sich nie, weil ihnen bei ihrer Geburt hässliche Männer in schwarzen Gewändern Wasser über den Kopf schütten, begleitet von seltsamen Gesten, befreit sie das für den Rest ihres Lebens vom Waschen.« So ganz Unrecht hatte er damit nicht. Dass die Christen dem Wasser immer skeptischer gegenüberstanden, zeigt das hygienische Diktum des heiligen Hieronymus aus dem 4. Jahrhundert: »Der hingegen, der in Christus badet, der braucht Zeit seines Lebens kein zweites Bad mehr.«

Eine Ganzkörpertaufe im Namen Gottes, wie Jesus sie selbst durch Johannes den Täufer erfahren hatte, musste für die hygienischen Ansprüche eines irdischen Lebens reichen. Was es für die eigene Seele bedeutet, seine Hände in Unschuld zu waschen, dass könne man ja an Pontius Pilatus ablesen. Und so kann es nicht verwundern, wenn Mönch Ulrich aus dem Kloster Cluny um 1075 achselzuckend zum Besten gibt: »Zu unserem Bad kann ich nicht viel sagen, wir baden nur zweimal im Jahr, vor Weihnachten und vor Ostern.«

Während in anderen Religionen und Kulturen rituelle Waschungen oder das Ablegen potenziell schmutziger Kleidungsstücke wie beispielsweise das Ausziehen der Schuhe vor dem Betreten einer Moschee oder das Anziehen von Toilettenschuhen in Japan selbstverständlich sind, wurde alles Körperliche im Christentum bewusst abgewertet. Wer den Körper pflegt, der verschwendet Energie, die bei der Seelenreinigung fehlt. Wer hingegen den Körper vernachlässigte, der demonstrierte, dass er um sein Seelenheil bemüht war.

Während für die meisten anderen Kulturen körperliche Gesundheit und Sauberkeit einen Fortschritt darstellten, hielt das christliche Abendland den eigenen Weg für größtmöglichen Fortschritt für die innere Hygiene, den Seelenfrieden. Mögen die römischen Aquädukte, Thermen und Fließwasserlatrinen noch so sehr als Horte der Reinlichkeit und Sauberkeit gerühmt werden, Orte der symbolischen Seelenreinigung waren sie jedenfalls nicht, sondern vielmehr der Völlerei und der sexuellen Ausschweifungen! Wer dem Wasser frönte und lediglich äußerlich zu überzeugen wusste, der war aus christlicher Sicht vor allem eines: ein armes Sünderlein!

Der schwarze Tod – Wo alles stinkt, riecht keiner

Es stank zum Himmel! Wie man sich Ende des 14. Jahrhunderts das Straßenbild einer typischen europäischen Stadt vorstellen konnte, das erfahren wir in einer Schilderung aus Egon Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit mit der schönen Kapitelüberschrift »Pittoresker Dreck«:

»Die Pflasterung war miserabel oder vielmehr so gut wie nicht vorhanden: man versank in Schmutz und Morast, ohne schwere hölzerne Überschuhe konnte niemand den Fahrdamm überschreiten. Schornsteine waren unbekannt, die Dachtraufen so primitiv angelegt, daß sie ihren Inhalt mitten in die Straße ergossen; mitten in der Straße befand sich auch der Rinnstein. Ein regelmäßiges Attribut der Häuser war der stattliche Dunghaufen, der sich vor dem Tor erhob; auf den Hauptplätzen stand der meist sehr unhygienische Ziehbrunnen. Ferner war es Sitte, alles auf die Gasse zu werfen: Abfälle, Unrat, tote Tiere. Noch viel lästiger waren aber die lebenden Tiere, die Ochsen, Kühe, Gänse, Schafe, Schweine, die in Massen über die Straße getrieben wurden und unaufgefordert in fremde Häuser liefen.«

Es gab bereits in den Häusern Klosetts, die damals allerdings den schönen Namen »Stankgemächer« trugen und nicht in einem sehr erfreulichen Zustand waren. Selbiges galt für die öffentlichen Klos, die im wahrsten Sinne des Wortes sehr öffentlich waren. Wer den Vorzug hatte, nicht mit seinen Holzschuhen durch die städtischen Fäkalien zu stapfen, sondern durch sein Schloss zu wandeln, der hatte immerhin die Gelegenheit, den offenen Kamin als Pissoir zu nutzen. Wovon auch fleißig Gebrauch gemacht wurde. Der christliche Einfluss auf das Leben der Menschen war zwar immer noch enorm, doch Hardliner wie die heilige Paula von Rom, die ihre Nonnen noch im 4. Jahrhundert ins Gebet nahm, einen sauberen Körper ebenso zu vermeiden wie ein sauberes Kleid, gehörten mehr und mehr der Vergangenheit an. Seit Beginn der Kreuzzüge ins gelobte Land hatten auch die nach innerer Reinheit strebenden Christen wieder Gefallen am Wasser und der äußeren Reinheit gefunden. Zu verdanken hatten sie dies ihren Rittern, die das türkische Hamam im 11. Jahrhundert von den Kreuzzügen mitbrachten.

Doch die Freude über den Zuwachs an sinnlichen Freuden währte nicht ewig. Schuld daran: die Pest, die in den Jahren 1347–1351 wütete und der in dieser Zeit in Europa schätzungsweise 25 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Die Folge: die weitestgehende Abwesenheit von Wasser und damit unweigerlich verbunden die Abwesenheit von Sauberkeit und Gesundheit. Das gesellschaftliche Leben, das wieder begonnen hatte, sich in den öffentlichen Badehäusern abzuspielen, brach nahezu vollkommen zusammen. Die humanitäre Katastrophe löste Panik aus und verschärfte den ohnehin weit verbreiteten Aberglauben zusätzlich um ein Vielfaches.

Und so wurde die Suche nach Ursachen für den schwarzen Tod zur Suche nach Sündenböcken. Neben der allgemeinen Sündhaftigkeit, den Juden oder der Unkeuschheit der Priester wurden insbesondere giftigen Gase, die sogenannten Miasmen, welche aus den Körpern der Infizierten und Verstorbenen ausströmten, für die Ansteckungen verantwortlich gemacht. Trafen die Miasmen – so die Überzeugung – auf die offenen Hautporen der Gesunden, bestand eine große Gefahr, sich anzustecken!

Um dies zu verhindern, galt es entweder die Poren zu verschließen oder den Pesthauch mit noch ätzenderen Gerüchen zu bekämpfen. So stellte man fest, dass bei Kürschnern und Gerbereien die Ansteckungsgefahr geringer war. Für den bestmöglichen Verschluss der Poren galt der Verzicht auf das Waschen des Körpers als optimale Lösung. Es begann das wasserlose Zeitalter, dessen Ende die Autorin Katherine Ashenburg in ihrem sehr lesenswerten Buch The dirt on clean mit der fast euphorischen Kapitelüberschrift »The return of water – 1750–1815« feiert.

Zu Gast am Hofe – Von Quacksalbern und Leinenhemden

Doch bevor wir wieder durchatmen können, möchte ich Sie noch auf einen kleinen Schlossrundgang einladen. Wie heißt es so schön in einem geflügelten amerikanischen Satz zur europäischen Reinlichkeit: »Parfüm? Das ist das, was die Europäer statt Seife benutzen!« So ganz falsch ist dieser Satz nicht, zumindest wenn wir dafür die Zeitspanne zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert als Bezugspunkt nehmen. Von den Hofärzten wurde das Baden als mindestens überflüssig, wenn nicht sogar als schädlich angesehen: Durch das Bad würde der Kopf mit Dämpfen gefüllt, die die Feinde der Nervenzellen seien und oftmals der Gicht Vorschub leisteten. Wenn überhaupt etwas mit Wasser in Berührung kommen sollte, dann ausschließlich solche Stellen, die nicht von Kleidung bedeckt waren, wie Teile des Gesichtes und die Finger. Der Rest des Körpers sollte von Wasser ferngehalten werden, was allerdings Elisabeth I., Königin von England, nicht davon abhielt, einmal im Monat zu baden, ob es nötig war oder nicht, wie sie selbst zu Protokoll gab. Auch Ludwig XIII. erwischte es schließlich im Alter von sieben Jahren: ein Vollbad mit seiner Schwester, nachdem ihm im Alter von fünf Jahren bereits die Beine gewaschen worden waren.