Die Kunst, die Eltern zu enttäuschen - Michael Bordt SJ - E-Book + Hörbuch

Die Kunst, die Eltern zu enttäuschen Hörbuch

Michael Bordt SJ

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Beschreibung

Was passiert, wenn man erkennt, dass die Vorstellungen, die andere sich von uns machen, nicht mehr zu uns selbst passen? Vorstellungen, die unsere Freunde, unsere Partner, unsere Kinder oder unsere Eltern von uns haben und die uns, bei aller Freundschaft und Liebe, auch festlegen und manchmal fremd bestimmen? Wie findet man zu seinem eigenen Leben, seiner eigenen Stimme? Wie enttäuscht man Erwartungen, um selbstbestimmt leben zu können? Was lernt man aus den eigenen Enttäuschungen – von anderen Menschen, vielleicht auch vom Leben, aber auch von uns selbst? Fragen, denen Michael Bordt in einem klugen, kurzen Essay nachspürt. Statt gutgemeinter Ratschläge schlägt er eine neue, befreiende Sicht auf Enttäuschungen vor, die gewohnte Denkmuster auf den Kopf stellt und den Blick frei macht für die Schönheit und die Verletzbarkeit des eigenen Lebens. Nur wer bereit ist, andere zu enttäuschen, wird sein eigenes Leben finden.

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Zeit:1 Std. 45 min

Sprecher:Michael Bordt SJ

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Michael Bordt SJ

Die Kunst, die Eltern zu enttäuschen

Vom Mut zum selbstbestimmten Leben

„Die Welt ist, wie du bist.“

David Lynch

INHALT

IVon der Enttäuschung zur Freiheit

IIBefreiung von der Täuschung

IIIMich selbst kennenlernen

IVEin Weg zu unserer Sehnsucht

VStimmig leben

VIDer Lackmustest

VIIRobuste Verletzbarkeit

VIIIJetzt die Eltern

IXDer Apfel fällt nicht weit vom Stamm

XDie Meisterdisziplin

XIAufbruch in eine neue Beziehung

Nachwort

„Nur wer mit seinen Eltern seinen Frieden gefunden hat, kann ein innerlich freier Mensch werden. Denn solange ich mich den Wünschen und Erwartungen der Eltern anpasse oder gegen sie rebelliere – beziehe ich meine Entscheidungen auf meine Eltern. Meine eigene Stimme habe ich dann noch nicht gefunden.“

I VON DER ENTTÄUSCHUNG ZUR FREIHEIT

Nur wer mit seinen Eltern seinen Frieden gefunden hat, kann ein innerlich freier Mensch werden. Frei, indem er das, was er fühlt, tut und denkt, nicht mehr auf seine Eltern beziehen muss. Er kann sie sein lassen, wie sie sind. Er kann sie so nehmen, wie sie sind, mit ihren Stärken und Schwächen, mit ihren Verletzungen, Ängsten, Wünschen und Sehnsüchten. Er kann sie im besten Fall so lieben, wie sie sind, und selbst das tun, was er für richtig hält – unabhängig davon, wie die Eltern dazu stehen.

Das bedeutet aber auch umgekehrt: Wer mit seinen Eltern unversöhnt ist, der wird sich immer wieder an ihnen abarbeiten. An ihren Schwächen, Prinzipien, Werten, an ihrer Lebenshaltung, ihrer politischen Einstellung, ihren Zu- oder Abneigungen. Und solange ich mich an den Eltern abarbeite, habe ich noch nicht ins eigene Leben gefunden.

Besonders deutlich ist mir dies, was wirklich für uns alle in unterschiedlichen Ausprägungen gilt, in meiner Begleitung von großen Familienunternehmen geworden. Wenn sich Töchter oder Söhne fragen, ob sie die Firma ihrer Eltern übernehmen möchten, spielt in ihrer Entscheidungsfindung oft der Wunsch eine große Rolle, die Eltern nicht zu enttäuschen. Denn dass man sie enttäuschen würde, wenn man ganz eigene Wege ginge, ist ihnen klar – selbst wenn die Hoffnung, in den Kindern eine Nachfolgerin, einen Nachfolger zu finden, nie ausdrücklich geäußert wurde, haben diese ihn von klein auf intuitiv gespürt. Aus Angst davor, die Eltern zu enttäuschen, und vor dem Risiko, die Zuneigung und Liebe der Eltern zu verlieren, fragen sie sich gar nicht erst, was sie selbst eigentlich von ihrem Leben wollen.

Aber auch die gegenteilige Reaktion gibt es: Man möchte auf keinen Fall so leben und so sein, wie es sich die Eltern wünschen. Man führt eine Existenz, die sich aus der Energie speist, genau das Gegenteil von dem zu tun, was die Eltern, so meint man zumindest, gerne sähen. Man zieht seine Lebensenergie zu einem Teil daher, zu wissen, dass die Eltern den eigenen Lebensstil, die Art, seine Partnerschaft zu leben, vielleicht die Kinder zu erziehen oder seinen Beruf auszuüben, ablehnen. Und merkt dabei gar nicht, dass man in der Ablehnung im selben Muster gefangen ist. Denn ob ich mich völlig anpasse oder rebelliere – immer beziehe ich meine Entscheidungen auf die Eltern.

In beiden Fällen, in der Resignation und dem Widerstand, ist man tief in die Elternbeziehung verstrickt. Was ganz unabhängig davon wirklich zu einem selbst passt, liegt damit noch im Dunkeln.

Seine eigene Stimme zu finden, seine Identität auszuprägen und ein Gespür dafür zu bekommen, was das Eigene, was für einen stimmig ist – das ist ein lebenslanger Prozess. Ein authentisches, selbstbestimmtes Leben zu führen ist nichts, was wir einmal erreichen und dann nicht mehr verlieren können. Es ist ein Ideal, dem wir uns annähern – von dem wir uns aber auch wieder entfernen können. Ein notwendiger Schritt auf dem Weg dazu ist die Bereitschaft, sich gegenüber den Wünschen und Erwartungen anderer Menschen abzugrenzen. Wer sich immer danach richtet, was andere von einem wollen und nicht lernt, auf sich selbst zu hören, wird keine eigene Identität ausprägen können.

Auch wenn es hart klingen mag: Auf dem Weg zu einem Leben, das besser zu uns passt, werden wir das Risiko eingehen müssen, andere Menschen zu enttäuschen. Dann nämlich, wenn es für uns nicht mehr stimmig ist, ihren Erwartungen zu entsprechen. Allerdings gehen wir damit das Risiko ein, dass sie uns ihre Zuneigung und Liebe entziehen. Und je wichtiger uns die Beziehung ist, desto zögerlicher werden wir sein, eine Enttäuschung in Kauf zu nehmen. Das kann in besonderer Weise schwierig sein in den Beziehungen, die wir zu unserem Vater oder unserer Mutter haben. Weil wir ihren liebenden Blick auf unser Leben, man könnte beinahe sagen: ihren Segen nicht verlieren wollen. Es ist deswegen eine Kunst, eine Fähigkeit, andere Menschen, vor allem aber die Eltern enttäuschen zu können – und zwar auf eine konstruktive Weise zu enttäuschen. Im besten Fall, das werden wir sehen, können Enttäuschungen zu einer neuen, tieferen und persönlicheren Beziehung zu den Eltern führen. Dabei geht es nicht ausschließlich um die Eltern: Zwar ist unser Verhältnis zu ihnen stets ein besonderes, aber die innere Haltung, die wir für die konstruktive Enttäuschung brauchen, wird sich ebenso für unsere Freundschaften, in einer Partnerschaft oder in unserem Arbeitsumfeld bewähren.

Um diese Kunst und einen Weg, sie zu erlangen, geht es mir in diesem kleinen Buch. Meine Perspektive wird dabei die eines Philosophen sein. Philosophen haben eine Sicht auf das große Ganze, auf das gesamte Leben, und versuchen aus diesem Blickwinkel Antworten auf die Fragen unserer Existenz zu geben. Das Bild eines Navigationssystems, wie wir es in unseren Autos haben, trifft es recht gut: Unser Navi ist in unserem Alltag beim Autofahren ausgesprochen nützlich und bringt uns bequem zu unserem Ziel. Aber wer immer nur die nächste Abzweigung sieht, verliert etwas Wesentliches: die Vogelperspektive, die wir vor der Einführung von Navigationssystemen mit Stadtplänen und Autoatlanten stets vor Augen hatten. Wir wussten zwar nicht zu jeder Zeit, wie es konkret weitergeht, doch wir wussten so ungefähr, an welcher Stelle auf der großen Übersichtskarte wir uns gerade befanden. Wenn wir in unserem Leben aber die Übersicht verloren haben, können wir nie sicher sein, ob unsere Ziele und damit unsere Wege, diese Ziele zu erreichen, überhaupt die richtigen sind.

Ebenso möchte ich mit diesem Buch eine umfassende Sicht auf Enttäuschungen und die innere Haltung dazu entfalten, die uns freimacht und im besten Fall der Beziehung zu unseren Eltern eine neue Tiefe verleihen kann. Und vielleicht am wichtigsten: Sie kann zu unserer inneren Stimme führen. Mein Interesse gilt dabei den verschlungenen Dynamiken, die mit Enttäuschungen verbunden sind. Es gilt unserer Haltung den Enttäuschungen gegenüber, denn ohne eine ernsthafte innere Auseinandersetzung damit handeln wir schnell aktionistisch, während der Kern der Beziehung zu Vater und Mutter unangetastet bleibt. Kinder mögen dann zwar in harten Kämpfen mit ihnen stehen, aber diese führen zu nichts. Die Auseinandersetzungen ändern weder die Beziehung noch ändert sich etwas im Innenleben der Kinder selbst. Erschwerend kommt hinzu, dass in manchen Fällen eine echte Auseinandersetzung gar nicht mehr möglich ist, sei es, weil die Eltern bereits gestorben sind, sei es, dass sie einer solchen gar nicht (mehr) gewachsen wären.

Mit den Eltern versöhnt zu sein, bedeutet dabei nicht immer, tatsächlich in einer guten Beziehung zu ihnen zu stehen. Denn eine solche hängt ja von beiden Parteien, also mithin auch von unseren Eltern ab – und auf die haben wir nur bedingt Einfluss. Es bedeutet aber, sich aus der inneren Dynamik herauszuwinden, die uns auf ungute Weise an die Eltern bindet und ein selbstbestimmtes Leben erschwert. Dabei ist es ein großer Irrtum, zu meinen, man könne der Dynamik einfach dadurch entkommen, dass man im äußeren Leben den richtigen Umgang mit den Eltern findet. Denn was ein richtiger Umgang mit ihnen ist, hängt, wie wir noch sehen werden, sowohl von der konkreten Beziehung zu ihnen als auch von unserem Umgang mit uns selbst in der Elternbeziehung ab. Und auch dafür ist die Auseinandersetzung mit den Erwartungen, die man nicht oder eben gerade doch enttäuschen will, von entscheidender Bedeutung.

Vielleicht ist es hilfreich für Sie, verehrte Leserin und verehrter Leser, einen Moment innezuhalten und sich selbst einige Fragen zu stellen. Diese Fragen können Ihnen helfen, sich auf die folgenden Überlegungen