Die Kurve der Zeit - Leif Karpe - E-Book

Die Kurve der Zeit E-Book

Leif Karpe

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Beschreibung

Erinnerungen an morgen, heute, gestern. Eine autobiografische Erzählung aus dem Land der Zukunft: Brasilien.

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Für

Barbara, Beatrice, Christoph, Jan, Jasper, Papa und meine Oscars

Inhaltsverzeichnis

VORWORT

PROLOG: WEISSE SCHWÄNE

MORGEN

ABENTEUER IN RIO

IM LAND DER ZUKUNFT

DIE ÜBERFAHRT

HEUTE

DIE KURVE

KÖRPERLUST

FITZCARRALDO GLOBAL

GESTERN

DAS LEBEN IST EIN SCHAUKELSTUHL

DER FAMILIENAUSFLUG

ZEICHEN

DER KREIS

EPILOG

VORWORT

„Es gibt keinen Zufall“ – sagt mein Freund Said. Said wuchs im Libanon auf, in Beirut, an der sogenannten grünen Linie. Das war eine Art unsichtbarer Grenze zwischen christlichen und moslemischen Milizen während des libanesischen Bürgerkrieges. Als eine Brandbombe in Saids Haus fiel, verbrannten seine Oberschenkel. Er floh mit seiner 15-jährigen, schwangeren Frau im Auto bis in das damalige Jugoslawien. Als Said dort die gleiche aufgeladene Stimmung eines ethnisch-religiösen Konfliktes im Vorfeld des Bürgerkrieges aufziehen sah, entschied er sich, das Land in Richtung Deutschland zu verlassen. Dort lernten wir uns wenig später kennen. Ich erinnere mich noch wie gestern: „Das Leben besteht aus Entscheidungen!“, sagte Said. „Und die triffst du entweder selbst – bewusst oder unbewusst – oder jemand anderes trifft sie: für oder gegen dich.“

Wenn es aber keinen Zufall oder das Schicksal gibt, wer oder was beeinflusst dann eine Entscheidung? Der Zeitpunkt? Schließlich macht es einen Unterschied, ob man die Entscheidung sein Land zu verlassen, vor oder während eines Krieges trifft.

Vielleicht liegt darin das Geheimnis: im Zusammenspiel von Entscheidung und Zeitpunkt. Ein winziger Moment auf einer langen Krümmung, unser Leben: die Kurve der Zeit.

PROLOG

WEISSE SCHWÄNE

Jedes Licht wirft einen Schatten. Wo Schatten ist, da muss auch Licht sein. Der Schatten ist geheimnisvoll, und das Licht ist Klarheit. Schatten verbirgt, Licht enthüllt. Das ist die ganze Kunst – zu wissen, was man enthüllt und was man verbirgt, in welchem Maße, und wie man das tut.

(Josef von Sternberg: „Das Blau des Engels“)

Ich weiß nicht genau, was mich auf das Schiff trieb. Der Tag war sonnig, eine steife Brise aus Nord-West, so wie sich das für Hamburg gehört. Mein Freund Said und ich drehten ein arabisches Musikvideo im Hafen. Die Diva kam zu spät – wie sich das für arabische Divas eben gehört. Nachtschwärmerinnen, die spät ins Bett gehen und spät aufstehen, dann Stunden vor dem Spiegel in der Maske verbringen. Was für eine sinnlose Zeitverschwendung, dachte ich, schließlich kannte man mich als den „orientalischen von Sternberg“. Es war der Grund, warum Said mich angeheuert hatte.

In der arabischen Popbranche eilte mir lustigerweise der Ruf als der Kameramann voraus, der die Frauen zu fotografieren wusste. Dabei hielt ich mich an nichts anderes als den alten Schüftan Trick: Porträts leicht über Augenhöhe fotografieren und dann weiches Licht bis zum Anschlag. So wie bei Marlene Dietrich. Promised Filter hießen damals die aktuellen Weichzeichner-Filter für die Kameras und der stärkste hatte den Wert 12, der sollte es immer sein.

Ich war Mitte 30, als ich mein letztes Musikvideo mit Said drehen sollte. Nach vielen Jahren hatte ich genug von den nervenaufreibenden bis zu 20 Stunden dauernden Drehtagen und den Eskapaden arabischer Musikdiven. Also, noch ein letztes Mal. Ein Clip mit der syrischen Sängerin Houaida. Said, der Optimist, hatte sich ein Video im Stile von Lola rennt vorgestellt. Houaidi in Franka-Potente-Manier sollte rennen, rennen, rennen. Als der Produzent die ersten Testaufnahmen dieser ganz und gar unsportlichen im Entengang (Verzeihung Houaida, sonst warst du echt in Ordnung!) laufenden Sängerin sah, war er schockiert und schasste alle – bis auf Said. Aber sein Besetzungsfehler kam Said teuer zu stehen. Er musste nun auf eigene Kosten ein Video drehen, denn sein Ruf stand auf dem Spiel. Also, alles zurück auf Anfang.

Wir drehten vor Hafenkulisse. Houaidi im weißen Gewand auf einem Schlepper, singend und tanzend durch die Speicherstadt, eine riesige Windmaschine davor, arabische Rhythmen … das war die Idee. Alles war eingerichtet, doch wer fehlte: der Star. Wie so oft brauchte es bei Maske und Kostüm Stunden. Und so ließ ich das Set Set sein und machte mich zu einem kleinen Hafenspaziergang auf.

Neben mir ragten die roten Backsteingebäude wie Felsen aus dem Wasser. Es roch nach altem Hafenbecken. Wie sich diese alten Gebäude doch von der neuen Hafencity unterschieden. Mit ihren offenen mannshohen Fenstern, aus denen schwere Flaschenzüge hingen, ragten sie sich gen Himmel. Noch 50 Jahre zuvor hatte man damit Waren aus aller Welt hineingezogen. Aus den Bäuchen der Schiffe, die nach monatelanger Fahrt an den Kais der Lagerhäuser anlegten, um hier ihre Wunder aus der fremden Welt auszuschütten. Aus China, Australien, Indien, Persien. Jede Ladung eine Überraschung.

Die neue Hafencity könnte überall stehen, dachte ich. Blanke, sandgestrahlte Farben, ein monochromes Schneckengehäuse. Eindrucksvoll und austauschbar zugleich. Während man in den alten Gebäuden der Speicherstadt fast noch den Schweiß der Matrosen roch, stand die Hafencity für das neue Hamburg. Wandel durch Handel. Ich habe mal gelesen, daß bis ins 20. Jahrhundert große Schiffe noch von Architekten entworfen wurden. Und in der Hafencity standen nun viele Gebäude, die wie Schiffe aussehen sollen. Vielleicht war es ja so, daß die Gesellschaft angekommen war, in den Hafen eingelaufen und festgemacht hatte. Mit diesen Gedanken erreichte ich schließlich die Landungsbrücken. Und blieb plötzlich vor einem Schiffe stehen. Es war lang, weiß und rot. Wie ein Schwan.

Ich weiß nicht warum, doch ich löste tatsächlich ein Ticket, um es zu besichtigen. Ich betrat die Cap San Diego. 1961 von der Deutschen Werft AG, Hamburg, für die Reederei Hamburg Süd als letztes Schiff einer Serie baugleicher Stückgutfrachter der Cap-San-Klasse hergestellt. Zusammen mit ihren fünf Schwesterschiffen bediente die Cap San Diego die Route Hamburg–Südamerika. Die weißen Schwäne des Süd-Atlantiks, so nannte man die eleganten Schiffe. Sie transportierten Maschinen, Chemikalien und Automobile, aber auch trächtige Kühe, Äpfel, Birnen, Weintrauben nach Südamerika. Und kamen mit Orangen, Textilien, Kaffeebohnen, Süßölen und Fruchtsaftkonzentrat nach Hamburg zurück. Selbst Gefrierfleisch konnte befördert werden, damals eine Seltenheit. Und weil die Ladung Kühlfleisch in Buenos Aires oft durch Kuhfelle ergänzt wurde, die einzeln in den unteren Laderäumen ausgebreitet und eingesalzt werden mussten, lag die Cap San Diego oft bis zu vierzehn Tage in Buenos Aires vor Anker. Aber das ist lange her.

Es war die Zeit, als der Interkontinental Verkehr mit Flugzeugen noch keine Selbstverständlichkeit war. Und es war die Zeit als Passagiere noch die Möglichkeit hatten, auf diesen Frachtern zu reisen und es sich gut gehen zu lassen. Die jeweils bis zu zwölf Fahrgäste an Bord erfreuten sich eines Service, den sonst nur Passagier- und Kombi Schiffe bieten konnten – von klimatisierten Kabinen über ein eigenes Passagierdeck mit Lounge und separatem Speisesaal bis zum Außenschwimmbad mit Poolbar. Fast 20 Jahre fuhr die Cap San Diego im Liniendienst zwischen Europa und der Ostküste Südamerikas.

Ich stand an Deck der Cap San Diego und tastete mich den teakhölzernen Handlauf entlang, der das Schiffsdeck umrahmte. „Ja, ein Schiff wie dieses. Ja, ein lustiger Zufall.“, dachte ich, und mir kam meine Kindheit in Brasilien in den Sinn.

Dort lebten meine Eltern Anfang der 1970er Jahre im Süden des Landes. Für meinen Bruder und mich bedeutete das eine Kindheit wie in den Straßenfeger-Sagas jener Zeit. Der Seewolf. Die Schatzinsel. Auch wir hatten ein Gürteltier, einen Hund namens Ratata und einen persönlichen Grillmeister. Aber als Kind stellt man nichts infrage. Weder das Angenehme noch das Unangenehme. So erschien mir damals auch unsere außergewöhnliche Zeit in einem südamerikanischen Land ganz normal. Erst als sich meine Eltern trennten, platzte diese Seifenblase. Meine Mutter packte ihre Sachen und verließ mit uns dieses wilde, grüne Land. An Bord eines Schiffes.

Mittlerweile war ich in den Bauch der Cap San Diego hinab gestiegen. Die Kabinen und den Speisesaal durchwehte diese muffige, gediegene Atmosphäre aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Diese vergangene Eleganz des Reisens weckte in mir eine Sehnsucht.

Ich stellte mir vor, wie mein Bruder und ich hier schliefen. Auf einem Kreuzer wie diesem. Meine Mutter, die uns zu Bett brachte. In ein anderes Leben in der neuen Heimat. Und ich dachte an meinen Vater, wie er alleine in Brasilien saß. Mit Ratata.

Die Passagen nach Südamerika dauerten im Schnitt 14 Tage. So zumindest stand es auf den schlichten Tafeln in diesem Schiffsmuseum. Wieder an Deck, wehte mir der Wind um die Nase. Ich dachte an unsere arabische Diva und schielte auf die Uhr.

Ich war in der Mitte des Decks angekommen, doch wo ich eine Tanzfläche vermutet hatte (irgendwie passte das zu meiner mondänen Vorstellung eines Linienkreuzers), befand sich ein kleines Schwimmbecken. Leer, aber azurblau. Die kleine Leiter aus Metall am Rand glitzerte. Aber es war dieses Licht, das das Becken zurückwarf, das in mir eine Erinnerung weckte. Bei manchen Menschen sind es Gerüche, bei anderen Klänge, die Szenen aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurückholen. Bei mir sind es Licht und Farben. Etwas an dem kleinen Pool auf diesem Schiff, kam mir bekannt vor. Dieses Azurblau weckte Bilder in mir: Ich im Wasser, mit Schwimmflügelchen an den dünnen Oberarmen. In so einem Pool hatte ich meine ersten Schwimmversuche gemacht ... Aber meine Pause war um, entschied ich. Bye Bye altes Hamburg. Adeus Cap San Diego. Hello Hafencity. Also: Ausleuchten, Warten. Filmen.

Das Gefühl jedoch, das mich auf der Cap San Diego überwältigt hatte, ließ mich nicht mehr los. Abends griff ich zum Telefon und rief meine Mutter an. „Barbara, wie hieß das Schiff mit dem wir aus Brasilien gekommen sind?“

„Cap San Diego. Wieso?“ Ein großer Scheinwerfer ging an, und alle meine Erinnerungen fingen sich im Licht.

Zufälle gab es doch laut meinem Freund Said nicht. Entweder „du triffst Entscheidungen“ oder „das Leben trifft sie für dich.“ Und Said traf Entscheidungen. Said wartete nicht auf das Leben und auf das, was es für ihn vorsah. Und ich?

Warum war ich ausgerechnet auf dieses Schiff geraten? Und warum waren mir das dicke Tau und diese Seemannsknoten, diese letzte Verbindung zwischen Festland und unendlicher Weite, auf dem Deck des „Schwanes“ so ins Auge gefallen? Sind es vielleicht die Geheimnisse und Knotenpunkte, die die eigene Biografie zusammenhalten?

Ich war Mitte Dreißig und ein Gefühl von angekommen sein wollte sich nicht einstellen. Ich hatte als Filmemacher und Kameramann schon viel von der Welt gesehen, aber ein Hafen zum Anlegen tat sich irgendwie nicht auf. Heimatlos für immer?

Warum hatte ich eigentlich nie wieder nach Brasilien fahren wollen? Vielleicht war es an der Zeit, wieder einmal über den Atlantik zu reisen ...

MORGEN

ABENTEUER IN RIO

Meine Seele singt: ich sehe Rio de Janeiro. Ich sterbe vor Sehnsucht. Rio, dein Meer, deine endlosen Strände. Rio, du bist für mich gemacht.

(Tom Jobim: „Samba do Avião“)

Was sind Erinnerungen, was traumhafte Bilder, entstanden aus Erzählungen?

Ich war gerade zwei Jahre alt geworden und saß im Bauch eines tausend Tonnen schweren Schmetterlings. Es heißt ja, daß in diesem Alter die Erinnerung einsetzt. War es auf der Cap San Diego noch die Farbe, dieses besondere Blau, die meine Erinnerung auslöste, so erinnere ich mich heute noch an die Form der Wendeltreppe, die uns ans Oberdeck des Schmetterlings, eine Boing 747, führte. Unsere Reise nach Brasilien im Juni 1970 begann auch für mich mit lauter Wundern. Eigentlich ganz normal in einer Zeit, in der Wunder (fast) eine Selbstverständlichkeit waren: Im Dezember 1967 pflanzt Christiaan Barnard in Kapstadt einem Todkranken ein neues Herz ein.

1968 wird der Pharaonen-Tempel Abu Simbel abgebaut und woanders wieder komplett neu zusammengesetzt, nur um ihn vor den Fluten des Nasser-Stausees zu retten. Bei den Olympischen Spielen in Mexiko läuft zum ersten Mal ein Mensch 100 Meter in weniger als zehn Sekunden, und Bob Beamon springt mit 8,90 Meter ins 21. Jahrhundert. Im Jahr darauf landen zum ersten Mal Menschen auf dem Mond. Und auch im US-amerikanischen Seattle tat sich Unerhörtes: Dort hebt ein neues Passagierflugzeug zu seinem Jungfernflug ab, das die Welt so noch nie gesehen hatte. Die Boeing 747-100, genannt „Jumbo“. Ein Riesenschmetterling, den auch die deutsche Lufthansa haben wollte. Ab 1970 durchkreuzte dieser Riesenschmetterling der Himmel zwischen Frankfurt und Rio de Janeiro: die Verbindung LH3257 gibt es bis heute. Damals gab es allerdings ein kleines Problem. Die Reichweite dieser ersten Jumbo Generation lag bei 9 800 Kilometern. Zwischen Frankfurt und Rio liegen auf dem direktesten Weg aber 9 650 Kilometer. Eine Zwischenlandung in Afrika war unausweichlich. Aber wer wollte dieses Flugzeug, damals der Gipfel des luxuriösen Reisens, schon verlassen. Diesen Riesen, der durch seine schiere Größe das Fliegen nun mit einem Schlag von einem Privileg für die wenigen Wohlhabenden zu einem erschwinglichen Verkehrsmittel für alle machte. Schneller, höher, demokratischer – alles schien möglich in diesen ersten Monaten des Jahres 1970. Nicht nur in luftigen Höhen.

Auch in Deutschland geschah das Unvorstellbare. Die Bundesrepublik wählte erstmals einen sozialdemokratischen Bundeskanzler. „Mehr Demokratie wagen“, versprach Willy Brandt, der ein Jahr später mit seinem Kniefall im Warschauer Ghetto das Zeichen für Versöhnung und Völkerverständigung setzen sollte.

Bei soviel Zukunft durfte mein Vater nicht fehlen. Ein glühender Willy-Brandt-Anhänger, ein technik- und fortschrittsgläubiger Sozialdemokrat. In gewisser Weise der Prototyp einer neuen deutschen Generation, die vor Neugier und Tatendrang platzte. 1969 als frisch gebackener Dr.-Ing. an die Abteilung Raumplanung die neu gegründete Universität Dortmund gewechselt, hatte er Großes vor. Er sollte einen neuen Studiengang entwickeln: Raumplanung. Ein interdisziplinärer Ausbildungsgang zwischen Ingenieuren, Volkswirten, Soziologen und Architekten. Etwas ganz Neues schaffen, ohne Vorbild, in die Zukunft gerichtet. Das war sein Ding. Doch die Diskussionen über den neuen Studiengang zogen sich, und bevor je ein Student ein Seminar im Studiengang in Raumplanung betreten hatte, waren