Die Lade vom Untersberg - Michael E. Noll - E-Book

Die Lade vom Untersberg E-Book

Michael E. Noll

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Beschreibung

Ein Berg, der Zeit frisst. Ein Toter, der nicht gealtert ist. Am sagenumwobenen Untersberg in Oberbayern wird die Leiche eines seit vier Jahren Vermissten geborgen – ohne erkennbare Verwesung. Die K13-Ermittler Lars Bergener und Alexander Rindler folgen einer Spur, die von einer Steilwand in ein Labyrinth aus Höhlen, Legenden und verschwiegenen Kreisen führt. Gerüchte über Risse in der Zeit, eine schweigsame Ordensgemeinschaft und in den Fels geschlagene Zeichen – all das verdichtet sich zum Bild eines Geheimnisses, das älter ist als jede Karte. Was wie ein Unfall beginnt, wird zum Wettlauf gegen Kräfte, die sich lieber im Verborgenen halten – und zu einer Wahrheit, die mehr als nur ein Leben kosten könnte. Der zweite Fall für Lars Bergener und Alexander Rindler.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Die Lade vom Untersberg

Der Fall Pjotr H.

Mystery-Krimi

Michael E. Noll

MNbooks

Erstausgabe im September 2025

Alle Rechte bei Michael E. Noll

Copyright © 2025

MNbooks - Michael Noll

c/o IP-Management #6681

Ludwig-Erhard-Str. 18

20459 Hamburg

[email protected]

https://mnbooks.de

ISBN 978-3-912186-03-1

Inhalt

Hinweise

Prolog

Sizilien, Juni 1676

Untersberg, April 2014

Zwischen Fluss und Bergen

Zeit für Butterbrezen

Der Tote vom Untersberg

Kulturelle Differenzen

Familienangelegenheiten

Wandertag

Die Entdeckung

Bei Luigi

Mythen und Legenden

Parkplatzsünden

Andreas

Zwei Welten

Das bayerische Bermuda-Dreieck

Sankt Romanus

Freitagabend

Auf dem Kleinstadtrevier

Trautes Heim

Der Franzose

Die Spur

Am Rande der Realität

Bunte Fahnen und dunkle Ahnungen

Nah am Abgrund

Der Geheimcode

Der Bunker

Nachspiel und Neuanfang

Jagdfieber

Die Hütte

Sturmzeichen

Das steinerne Auge

Zeit

Zweite Chance

Die Ruhe nach dem Sturm

Der Autor

Hinweise

Markennamen und Produktbezeichnungen werden ausschließlich beschreibend verwendet. Sie sind Eigentum der jeweiligen Rechteinhaber; die Nennung impliziert keine Kooperation oder Billigung.

Dieses Werk ist fiktional. Namentlich erwähnte reale Personen erscheinen nur beiläufig; alle übrigen Figuren sowie einige Schauplätze sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig.

Sprache & Darstellung: Dieses Buch enthält explizite Sprache, Gewaltbeschreibungen sowie diskriminierende Begriffe in Figurenrede. Sie dienen der authentischen Milieudarstellung und spiegeln nicht die Haltung des Autors wider.

Prolog

Du glaubst, du würdest alles anders machen, wenn du die Chance hättest, in der Zeit zurückzugehen?

Lüg dich nicht an. Wahrscheinlich würdest du genau denselben Fehler noch einmal begehen – nur mit einem besseren Vorwand.

Sizilien, Juni 1676

An diesem Tag wusste sie: Etwas war gekommen, um sie zu holen.

Die sizilianische Sonne brannte über Palma di Montechiaro, doch innerhalb der Mauern des Klosters Santa Maria del Rosario lag eine kühle, schwere Stille. Selbst im schattigen Klostergarten, zwischen den Tomatensetzlingen, spürte sie dieses unsichtbare Gewicht. Seit sie vor einigen Jahren hierher gekommen war, bestand ihr Tag aus Beten und Arbeiten, war vor allem jedoch dem Schweigen gewidmet. Anfangs ungewohnt und schwer, hatte sie doch schnell die Vorzüge dieser Art der Ruhe und des Daseins kennengelernt. Es hatte sie näher zu sich selbst gebracht, dafür umso weiter entfernt von der rohen, verderbten und gefährlichen Welt da draußen.

Da sie ärmlichen Verhältnissen entstammte, war es die einzige Möglichkeit für sie gewesen, in einer geschützten Umgebung ein normales Leben führen zu können. So hatte sie zumindest geglaubt. Doch in den letzten Wochen zeigte sich, dass diese Sicherheit nur trügerisch war. Das, vor dem sie eigentlich hierher geflohen war, hatte sie bis in diese heiligen Gemäuer verfolgt – und niemand konnte sie davor beschützen. Warum hatte es gerade sie auserwählt? War sie Gott nicht immer treu ergeben gewesen, hatte der Unzucht und dem Frevel seit jeher abgeschworen, sich ganz und gar auf ihren Glauben eingelassen, ihre Unschuld gewahrt?

Die Anfälle steigerten sich. Es war, als würde sie jedes Mal die Kontrolle über ihren Körper verlieren. Ihre Mitschwestern begegneten ihr nur noch mit angsterfüllten Blicken und hielten Abstand. Beim Gebet entglitten ihr Worte, die sie niemals sagen würde – Worte, die sie nicht einmal kannte. Sie bespuckte das Antlitz Christi, fauchte wie ein Tier, sprach mit einer fremden, tiefen Stimme in einer Sprache, die nicht die ihre war. Nachts schrie sie stundenlang in ihr Kissen, während die Mitschwestern sich ängstlich vor ihrer Tür sammelten. Doch sie selbst fühlte ebenso viel Furcht. Bei alldem stand sie neben sich, konnte nur hilflos zusehen, wie sie mehr und mehr zum Werkzeug von etwas Unaussprechlichem wurde.

An diesem Abend, als sie ihr Zimmer betrat, spürte sie es sofort – eine Präsenz, so massiv und schwer, dass die Luft sich wie Blei anfühlte. Sie wollte sich umdrehen, doch ihre Füße gehorchten nicht.

Die schwere Holztür fiel krachend ins Schloss.

Die Kerzenflamme auf dem Nachttisch explodierte in gleißendes Licht.

Das Kruzifix über dem Bett ging in Flammen auf.

Ein stechender Geruch von verbranntem Metall lag in der Luft.

Etwas packte sie von hinten. Warf sie zu Boden. Riss sie an die Decke, wo sie festhing, als hätte jemand die Schwerkraft umgedreht.

Dann zeigte es sich.

Ein gefallener Engel. Ein Körper wie aus glimmender Asche, als würde etwas im Inneren brennen, die Augen schwarze Schächte ohne Grund. Man konnte nicht in sie blicken, ohne das Gefühl zu haben, den Halt zu verlieren. Ein Blick, der Schmerz, Angst und Verzweiflung zugleich in ihr aufriss.

Sie schrie. Schrie, bis die Stimme versagte.

Es riss sie zu Boden. Flüsterte, knurrte in einer Sprache, die wie Risse in der Erdkruste klang: Es habe eine Botschaft für diese Welt.

Und dann führte es ihre Hand.

Die Feder kratzte wie ein Messer über Stein. Wort für Wort. Zeile für Zeile. Blatt für Blatt.

Als sie zu sich kam, stand ein Halbkreis von Nonnen um sie. Der Raum roch nach kalter Asche. Die Äbtissin nahm ihr den Brief aus den verkrampften, tintenverschmierten Händen und starrte auf die fremdartigen Zeichen.

Es war das Manifest des Teufels, das nun seinen Weg in diese irdische Welt gefunden hatte. Und es würde bleiben.

Untersberg, April 2014

Dumpf hallten seine Schritte von den feuchten Wänden der Höhle wider, hastig, unregelmäßig, begleitet vom heiseren Echo seines Atems. Die warme Luft, die aus seinen Lungen stieß, kondensierte im Halbdunkel zu Dampf – wie eine rastlose Seele, die noch nicht wusste, ob sie bleiben oder fliehen sollte. Er musste raus. Raus, bevor sie ihn hatten. Gleich war er am Ausgang.

Seine Finger streiften das raue Gestein, als bräuchte er den Kontakt zur Realität, um nicht durchzudrehen. Noch ein paar Meter. Noch ein letzter Bogen. Wie konnten sie wissen, dass er zurückkehren würde? Nach all der Zeit? Es war unmöglich. Und doch waren sie hier.

Als er das Freie erreichte, schlug ihm dichter Nebel entgegen. Schwer, wabernd, wie ein atmender Vorhang. Die Nacht hatte das Land verschluckt. Nur das fahle Licht des Halbmondes zeichnete flüchtige Konturen. Er bahnte sich seinen Weg hangabwärts, fast blind, durch hohes, nasses Gras und Dornengestrüpp. Wurzelwerk griff nach seinen Beinen, Felsbrocken ragten aus dem Boden wie Mahnmale. Wenn seine innere Karte stimmte, müsste der Trampelpfad bald kommen. Der letzte Ausweg.

Hinter ihm knackte es. Stimmen, undeutlich. Schritte. Er rannte. Adrenalin jagte durch seine Adern.

»Verflucht«, keuchte er, als sich plötzlich der Hang unter ihm öffnete. Eine schwarze Leere. Der Boden brach jäh ab – eine Steilwand, fast senkrecht, tiefer als die Nacht.

Der Überlebensreflex zog ihn nach hinten – er stolperte beinahe. Fassungslos starrte er in die Tiefe. Keine Chance. Nicht ohne Seil, nicht ohne Halt.

Er wollte umdrehen, einen anderen Weg suchen. Doch da wusste er, dass es zu spät war. Drei Gestalten standen da. Dunkle Roben, die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. Keine Gesichter, keine Stimme. Nur Anwesenheit. Wie ein Schatten, der schon vor dem Licht existierte.

Er trat einen Schritt zurück. Der Abgrund hinter ihm. Vor ihm das Ende.

Und da begriff er: Es gab kein Entkommen. Es war zu spät.

Zwischen Fluss und Bergen

Das typische ›Klack‹, wenn Porzellan auf Porzellan trifft, zerschnitt die Stille. Er stellte seine leere Tasse in den Untersetzer zurück. Gerade war das Spiel der Heldenorgel verklungen, deren Klang täglich zur Mittagsstunde über die Dächer Kufsteins hallte. Die größte Freiluftorgel der Welt, ein Mahnmal für die Gefallenen der Kriege, ein musikalischer Appell an den Weltfrieden. Das hatte Lars erst kürzlich bei einer Führung durch die mächtige Burganlage erfahren, die über der geschichtsträchtigen Tiroler Stadt am Inn thronte – im strömenden Regen, versteht sich. Das passte zu seinem Gemütszustand. Jetzt schien die Sonne. Ein Sonntag im Frühsommer, den selbst das Wetter nicht verderben wollte. Doch in ihm fühlte es sich anders an. Als wäre all das Licht nur ein schmaler Firnis über einem Boden aus Fragen, die zu lange unbeantwortet geblieben waren. Er saß vor seinem Stammcafé an der Inn-Promenade, ein Platz in der ersten Reihe, direkt mit Blick auf den Fluss. Der Inn führte um diese Zeit aufgrund der langsam abklingenden Schneeschmelze viel Wasser. Seine sonst so wunderschön türkise Farbe war einer fahlen Mischung aus stumpfem Grau und Braun gewichen, voller Kraft und Sediment. Ein blonder Junge auf einem Tretroller hielt inne und starrte auf sein Smartphone, ein Fenster zur Welt, das ihn vollkommen zu verschlucken schien. Aus dem kleinen Lautsprecher dröhnte das Lied von ›Schnappi‹, dem kleinen Krokodil. Lars betrachtete die Szene einen Moment lang. Wie fremd ihm das alles war. Als wäre zwischen ihm und dieser Gegenwart ein unsichtbarer Vorhang gefallen, aus Stille, Zeit und einer Ahnung von Verlorenheit.

»Verdammter Ohrwurm, wie werde ich diesen Mist jetzt wieder los?«, sagte er zu sich. Vielleicht lag es an der fehlenden Ablenkung, dass sich das Lied wie eine Schraube in seinen Verstand bohrte. Oder daran, dass es zu still geworden war in seinem Leben. Zu viele Pausen, in denen Gedanken ungehindert aufsteigen konnten. Und manchmal, wenn man lange genug in die Leere starrte, kam nicht nur das Echo der Gegenwart zurück, sondern auch das, was man verdrängt hatte. Wie Ildikó. Er und Ildikó hatten sich vor zwei Wochen überworfen. Seit einem knappen Jahr hatten sie eine lockere Beziehung geführt – wie man sie mit Mitte fünfzig eben führt. Kein Drama, keine Verpflichtung. Viel Wandern, viel Sex, wenig Alltag. Jeder hatte sein eigenes Leben gelebt und sie hatten viele schöne Momente zusammen verbracht. Sie hatten sich bei einer Bergtour kennengelernt, er war gerade erst von Hamburg hergezogen, die Trennung von Bettina noch zu nah, um klar zu denken. Da kam so eine junge, hübsche Frau, die ihm geschmeichelt und ihn mit ihrer jugendlichen Art umgarnt hatte, gerade recht. Ildikó war jung, lebensfroh, fast zwanzig Jahre jünger. Anfangs hatte ihn das beflügelt. Am Ende war es genau das gewesen, was sie trennte. Wie das Leben nun einmal spielte, hatte ihre biologische Uhr zu ticken begonnen. Ihr Kinderwunsch war wie ein Beben über ihn hereingebrochen, unvorbereitet und überwältigend. Er hatte abgewiegelt, abgeblockt. Und das, obwohl er sich in seiner langjährigen Ehe mit Bettina immer Kinder gewünscht hatte – vergeblich. Und jetzt, mit vierundfünfzig, war dieses Thema für ihn abgeschlossen. Glaubte er. Oder wollte es glauben. Es hatte nicht gereicht. Die warme Liaison mit Ildikó war an der biochemischen Realität des Lebens zerschellt. Er hatte sie vor den Kopf gestoßen. Vielleicht auch sich selbst.

Das Klingeln seines Handys holte ihn aus seiner Gedankenspirale zurück in die Gegenwart.

»Bergener?«

»Der Kollege Bergener vom Kommissariat 13?«

»Ja, genau der. Ich wüsste nicht, wer sonst«, antwortete er auf seine nüchterne Art.

»Äh ja, Müller hier. Polizeiinspektion Berchtesgaden. Die Kollegen vom Kriminaldauerdienst haben mich an euch verwiesen.«

»So? Worum geht es denn?«

»Genau genommen geht es um einen abgestürzten Wanderer. Am Untersberg.«

»Okay. Warum ist das was für uns?«

»Nun ja, der Mann galt seit fast vier Jahren als vermisst.«

»Ihr habt also die skelettierte Leiche eines vermissten Wanderers gefunden. Hier in der Gegend erst einmal nichts Ungewöhnliches, würde ich sagen.«

»Genau das ist ja das Problem.«

»Was?«

»Der Tote ist nicht skelettiert, sondern sozusagen frisch. Der Amtsarzt hat den Todeszeitpunkt auf etwa eine Woche zuvor datiert.«

»Das klingt in der Tat ungewöhnlich.«

»Die Alpine Einsatzgruppe hat die Leiche geborgen. Sie liegt jetzt beim Bestatter in Traunstein. Wir gehen aber nach aktuellem Kenntnisstand davon aus, dass der Sturz todesursächlich war. Hinweise auf Fremdeinwirkung haben sich bislang keine ergeben.«

»In Ordnung. Ich werde mir das morgen einmal ansehen.«

»Ja sicher. Ich wollte nur schon mal vorab Bescheid geben. Die Leiche rennt ja nicht weg«, sagte der Kollege am anderen Ende der Leitung und untermalte seinen platten Spruch mit einem gekünstelten Lachen.

Man kann es sich ja mal anschauen, dachte Lars, nachdem er aufgelegt hatte. Der letzte ungewöhnliche Fall, bei dem sie ein seit zehn Jahren vermisstes Mädchen aufgespürt hatten, lag nun schon fast ein Jahr zurück. Auch hier waren die Umstände anfangs seltsam erschienen, hatten paranormalen Gerüchten Tür und Tor geöffnet. Am Ende war vieles auf natürliche Weise erklärbar gewesen. Fast alles. Zeitverschiebung, stehen gebliebene Uhren; ein Restzweifel blieb. Aber auch diese Dinge konnten subjektiver Natur oder dem Zufall geschuldet gewesen sein. Er stand auf und ließ die Gassen der Stadt an sich vorbeiziehen – still, geduldig, zeitlos. Während um ihn herum das Leben weiterfloss, schien in ihm selbst alles stehen geblieben zu sein. Wie eine Uhr, deren Zeiger längst streikten. Kufstein war friedlich, fast schläfrig. Hier, zwischen Fluss und Bergen, ließ es sich gut aushalten. Er bereute den Schritt nach wie vor nicht, auch wenn er seine so gegensätzliche Heimat Hamburg manchmal vermisste. Seit seinem Weggang war er nicht mehr dort gewesen. Oder war es doch eine Flucht gewesen? Zu viel Erinnerung befand sich dort, es war einfach noch zu früh. Er wollte warten, bis er sich genügend Abstand zu seiner Vergangenheit verschafft hatte. Hier hatte er sich inzwischen gut eingelebt, auch wenn sich der Winter endlos angefühlt hatte. Im südlichen Oberbayern und in Tirol hatte er nun seine Heimat gefunden. Der Schatten des Kaisergebirges lag kühl auf den Dächern. Hamburg war weit weg, in Kilometern und Erinnerungen. Er mochte die Menschen hier und auch mit dem Dialekt kam er mittlerweile ganz gut klar. Hatte er doch in seinem Kollegen Alex den besten Meister gefunden, um sein Hörverstehen zu schulen. Untersberg. Der Name war ihm im Zuge vergangener Recherchen schon einmal untergekommen. Er versuchte, sich zu erinnern, was er damals darüber gehört oder gelesen hatte. Und da war er wieder. Dieser verdammte Ohrwurm eines albernen Kinderliedes, der sich wie eine Zecke im Inneren seines Kopfes festgesaugt hatte. Als hätte sich der Teufel höchstpersönlich als Musikstück getarnt und es sich in seinem Gehirn gemütlich gemacht.

Zeit für Butterbrezen

Es war das erste Mal in diesem Jahr, dass er mit seinem alten Rennrad zur Arbeit fuhr. Am Wochenende hatte er es aus dem Keller geholt und aus dem Winterschlaf geweckt. Tief sog er die frische Morgenluft in die Lunge, kühl und klar, als er die acht Kilometer entlang des Inns dahin rollte. Der Freilauf des betagten Stahlrenners surrte leise, wann immer er aufhörte zu treten – ein Klang, der Erinnerungen weckte. Auf den holprigen Passagen des geschotterten Weges empfahl sich genau das: gleiten lassen. Die schmalen Reifen, prall aufgepumpt, machten jede Unebenheit spürbar – ein ständiger Kompromiss zwischen Tempo und Komfort. Er dachte kurz darüber nach, sich ein Mountainbike zuzulegen. Hier, in einer Region, in der selbst Spaziergänge schnell zu Anstiegen wurden, wäre das vielleicht praktischer.

Zur Rechten, auf der anderen Seite des Flusses, türmte sich das Kaisergebirge auf. Der Zahme Kaiser, wie er genannt wurde – ein Name, der trügerisch war. Seine höchsten Spitzen kratzten an der 2000-Meter-Marke. Eine Tour, die er bislang nicht in Angriff genommen hatte. Vielleicht würde es ja diesen Sommer klappen. In der Ferne ragte das Kranzhorn auf, markant wie ein steinerner Rücken. Auf ihm verlief die Grenze zwischen Österreich und Deutschland. Zwei Länder, zwei Kreuze, eine Aussicht. Einmal hatte er ihn bereits erklommen, zusammen mit Ildikó. Die hatte er auf dem Wildbarren kennengelernt, dem Berg gegenüber, jenseits des Inns. Ja, es hatte auch seine Vorteile, wenn man seinem Privatleben wieder mehr Raum gab, als er es in der Vergangenheit getan hatte. Selbst wenn es nun vorbei war – er bereute nichts.

»Guten Morgen zusammen«, sagte er, als er an diesem Montagmorgen das beengte Doppelbüro mit Vorzimmer und Bergblick betrat. Pauline, die Schreibkraft, saß bereits auf ihrem Platz im Vorzimmer. Sie war meistens vor ihm da, ganz im Gegensatz zu seinem Kollegen Alex. Das K13 in Kiefersfelden war das kleinste Kommissariat der übergeordneten Kriminaldienststelle in Rosenheim. Es bestand nur aus ihnen dreien, und er war dessen Leiter. Das Gebäude teilten sie sich mit der örtlichen Polizeiinspektion und dem Kommissariat 10 für grenzübergreifende Kriminalität. Ihre Abteilung war geschaffen worden, weil die Auslastung in den Deliktbereichen anderer Kommissariate in den vergangenen Jahren stark zugenommen hatte. Was so viel bedeutete wie: Sie bekamen alles, was sonst niemand wollte. Dazu gehörte auch die Prüfung alter, aber eben auch außergewöhnlicher oder unerklärlich erscheinender Fälle. Gerade lag wieder so einer auf dem Tisch.

»Guad’n Morgen, Lars. Soll i dir an Kaffee machen?«, sagte Pauline.

»Guten Morgen, Pauline. Ja, sehr gerne. Danke. Schönes Wochenende gehabt?«, fragte er höflich nach. Der gute Umgangston im Büro war ihm wichtig, und auch seinen Kollegen Alex hatte er inzwischen erzogen. Zumindest so einigermaßen. Das, was bei einem verkorksten, urbayerischen Stoffel eben möglich war.

»Schee war’s. Wir warn am Samstag in der Gießenbachklamm beim Wandern. Des erste Wochenend in dem Jahr, des sich so a bissl nach Sommer ang’fühlt hat. Und du?«

»Die Klamm kenne ich, da ist’s wirklich schön. Ich hab ehrlich gesagt nichts Besonderes gemacht. Ein wenig entspannt, gelesen und die Ruhe genossen.«

»Des muass a moi sei.«

Bei einer Tasse Kaffee ging er sein E-Mail-Postfach durch und hatte nach kurzer Zeit die bereits erwartete Nachricht von Groll, seinem Vorgesetzten, gefunden. Der Fall mit dem verunglückten Wanderer war nun offiziell ihrer. Er war sich nicht sicher gewesen, ob er den Kollegen am Telefon gestern richtig verstanden hatte. Nun hatte er es schwarz auf weiß.

»Guten Morgen, Alex!«, sagte er, nachdem sein Kollege das Büro betreten und sich zuvor auch gegenüber Pauline mühevoll eine Begrüßung abgerungen hatte.

»Guad Moing, Chef«, antwortete er karg und gewohnt brummig, mit verschlafenem Blick. Er war eben der Inbegriff eines klassischen Morgenmuffels.

»Alles klar bei dir?«, fragte Lars.

»I brauch erst a moi an Kaffee, damit i überhaupt gradaus schaun ko.«

»Vielleicht hilft dir eine kleine Motivationsspritze.«

»Du moanst, a bissl was anders, als den Scheißdreck, den i momentan bearbeit? Mittlerweile schmeißen’s uns ja wirklich jeden Dreck hi, auf den koa anderer Lust hod. Aber des war bei der Polizei scho immer so. Da is immer nur drum ganga, Arbeit abzuwälzen. Hauptsach, weg damit!«, konstatierte Alex mit, für diese Uhrzeit, ungewöhnlicher Wortgewalt.

»Das trifft sich gut. Wir fahren heute zu einer Leichenbeschau.«

»A Leichenbeschau?«

»Ja. Ich wurde gestern noch angerufen. Wir haben einen neuen Fall.«

»Interessant. Erzähl …«

»Am Untersberg ist ein Wanderer abgestürzt. Das sehen wir uns an.«

»A Bergleich? Na toll. I dacht eher so an Fall wie mit dem verschwundenen Mädl damals. Irgendwos Aufregends, mit Sinn.«

»Wenn ich mich recht entsinne, dann wolltest du dir die Sache mit dem Mädchen damals auch zuerst nicht ansehen.«

»Ah ja, stimmt scho. Do war ja wos. Punkt für di. Aber warum kriang mia an Fall mit am Abg’stürzten? I moan, hier in da Kiefer laufn ja a g’nug Abg’stürzte rum …«

»Dieser klingt etwas außergewöhnlich und hat wohl wenig mit den Abgestürzten zu tun, die du meinst … Offenbar galt der Mann als verschollen, seit er vor vier Jahren zu einer Bergtour am Untersberg aufbrach. Auf einem Wanderparkplatz fand man damals sein Auto verlassen vor. Bei der anschließenden dreitägigen Suchaktion gab es nicht die geringste Spur von ihm. Die nun aufgefundene Leiche scheint aber erst eine Woche alt zu sein. Das passt nicht zusammen.«

»Do schau her. Hamma also sozusagen wieder an Fall für de X-Akten. Also, wia is da Plan?«

»Wir trinken jetzt in aller Ruhe unseren Kaffee aus und dann machen wir uns auf den Weg nach Traunstein. Der Leichnam liegt in der Kühlkammer eines örtlichen Bestatters. Dort treffen wir uns mit dem Rechtsmediziner.«

»Leichen und Traunstoa, des basst eh zam.«

»Warum passt das zusammen?«

»Weilst in dem Kaff nix anders machen konnst, als drauf zu warten, dass’d stirbst.«

»Ist das wieder eine deiner speziellen urbayerischen Weisheiten?«

»Wenn ma so will … Wenn ma dort san, dann woast, vo wos i red.«

»Da bin ich ja mal gespannt. Hauptsächlich war mir der Ort bislang nur wegen des dort ansässigen Amtsgerichts ein Begriff.«

»Vui mehr gibt’s do a ned. Abg’sehn von am Beerdigungsinstitut. Ah ja, und am Wochinger.«

»Wochinger?«

»Des is a kloane Brauerei da im Ort. De ham a a guade Wirtschaft und an scheena Biergarten. Und des Bier is ned amoi so schlecht. Zumindest besser ois irgend a Ösi-Plörre.«

»Na, dann weiß ich ja, wo wir mittags essen. Das Wichtigste wäre also schon geklärt …«

»Zefix! Immer des Gleiche mit dene damischen Weiber …«, schimpfte Alex, als er in das Auto stieg, nachdem er seinen wuchtigen Körper, mit dem Bierbauch voran, behäbig durch die gläserne Schiebetür der Bäckerei geschoben hatte. Lars war hier stehen geblieben, weil Alex sich noch eine Butterbreze als Wegzehrung hatte besorgen wollen.

»Warum, was war denn?«, fragte er seinen Kollegen, der für ihn der Inbegriff dessen war, was er sich unter einem griesgrämigen Bayern immer vorgestellt hatte. Aber mittlerweile wusste er, dass unter der grantigen Schale ein weiches Herz schlug.

»Da stehn’s do drin, kauf’n den halben Laden leer und quatschen no a Stund mit da hohln Nuss von na Verkäuferin. I frag mi immer, wer den ganzen Scheiß fressn soll, den die da einkaufen. Die geh’n doch nur aus Langeweile do hi, und a Arbeiter wia i muass dann a Ewigkeit wega na g’schissnen Butterbrezn für an Euro zwanzig o’stehn …«, echauffierte sich Alex weiter.

»Was ist denn mit dir heute los? Du solltest dich mal entspannen. Du bist doch Beamter, oder? Oder hast du es so eilig, nach Traunstein zu kommen?«

»I hob einfach de Warterei dick, des is alles. Des is des Gleiche, wia mit’m Auto noch Rosenheim zum fahrn und dann ewig im Stau zum stehn. I kenn koa Stadt auf da Welt, die mehra Ampeln hod wia des Drecksnest. Des Leb’n is oafach z’kurz für so an Schmarrn.«

»Wenn du damit sagen willst, dass Lebenszeit unser wertvollstes Gut ist, dann stimme ich dir zu.«

»Schau, irgendwia kemma mir scho immer auf an Konsens.«

Der Tote vom Untersberg

Über die A 93 und die A 8 in Richtung Salzburg hatten sie die knapp 70 Kilometer von Kiefersfelden in gut einer Stunde zurückgelegt. Der Verkehr war moderat, die Landschaft, trotz dunkler Wolken am Himmel, beinahe postkartenwürdig. Das Bayerische Meer, wie der Chiemsee liebevoll genannt wurde, glitzerte silbrig im Licht. Für Lars war der Blick auf diese Weite noch immer etwas Besonderes, selbst nach einem Jahr im Süden. In Traunstein war er erst einmal gewesen, wegen eines Gerichtstermins. Die beschauliche Kleinstadt, benannt nach dem Fluss Traun, fasste etwa 20.000 Einwohner. Den Höhepunkt ihrer Anreise bildete eine gefühlt endlose, mit Autos verstopfte Abbiegespur mit viel zu kurzer Grünphase. Ein verkehrstechnisches Machwerk, das eigentlich nur jemand entworfen haben konnte, der eine tiefe Verachtung für Menschen hegte.

Nachdem sie sich am Empfang des Beerdigungsinstituts angemeldet hatten, nahmen sie auf einer dunkelgrau gepolsterten Stuhlreihe gegenüber dem Tresen Platz. Der Raum war nüchtern, die Atmosphäre irgendwo zwischen Krankenhausflur und Altbauapotheke. Es handelte sich offensichtlich um einen inhabergeführten Familienbetrieb. Der Mitarbeiter des Bestattungsunternehmens war ein großer, korpulenter Mann mit Brille, langen Haaren und einem schielenden Auge. Lars schätzte ihn auf Anfang dreißig. Er hatte unentwegt gesprochen, schien weder Punkt noch Komma zu kennen. Nachdem er mit ihnen fertig war, hatte er angefangen zu telefonieren. Seine tiefe und zugleich schrille Stimme hallte unangenehm tragend an den Wänden wider, während er offenbar mit seiner Mutter am anderen Ende der Leitung über das Abendessen diskutierte. Mit stiller Trauer hatte das Ganze wenig gemein, denn bei dieser unangenehmen Art von Lärm würde sich vermutlich sogar noch ein Verstorbener im Sarg herumdrehen. Leichen mit unklarer Todesursache wanderten in der Regel direkt in das Institut für Rechtsmedizin der LMU München. Dies schien man hier jedoch nicht für notwendig befunden zu haben. So war der Tote nach dessen Bergung durch die Alpine Einsatzgruppe von einem vertraglich gebundenen Bestatter abgeholt und bis zum endgültigen Verbleib in dessen Kühlkammer eingelagert worden. Auch wenn sich Lars von der Leichenbeschau keine nennenswerten neuen Erkenntnisse erhoffte, so war sie für ihn stets Pflichtteil einer gewissenhaften Todesfallermittlung.

»Sie müssen die Herren von der Kriminalpolizei sein«, unterbrach eine Stimme seine Gedanken. Vor ihnen stand ein dunkelhäutiger Mann mit weißen Haaren und Brille. Er war etwas kleiner als Lars mit seinen eins fünfundachtzig, hatte einen leichten Bauchansatz und trug einen karierten Pullover, unter dem der Hemdkragen hervorlugte.

»Ja, und wer sind Sie?«, entgegnete Lars.

»Dr. Josef Prinzlbauer. Ich bin der zuständige Rechtsmediziner.«

»Ah. Sehr erfreut. Lars Bergener, mein Name, und das ist mein Kollege Alexander Rindler. Schön, dann lassen Sie uns mal loslegen.«

»Die Freude ist ganz meinerseits …«, sagte der Arzt, doch bevor er seinen Satz vollenden konnte, wurde er bereits von dem langhaarigen Mitarbeiter unterbrochen.

»Wenn Sie mir folgen würden«, insistierte er mit knarrender Stimme.

Sie folgten ihm durch einen langen Flur und schließlich durch eine Schleuse mit breiter Schiebetür, in der ein Bullauge eingelassen war. Sie fanden sich in einem beige gefliesten Saal wieder, dessen Zentrum von einem fest verankerten Edelstahltisch mit integriertem Waschbecken gebildet wurde. Grell und kalt strahlten weiße Neonröhren von der Decke herab. An der rechten Wand befanden sich ein Telefon und ein Regal, auf dem unter anderem Desinfektionsmittel und Latexhandschuhe zur Verfügung standen. Zur Linken befanden sich die Kühlfächer, die zweireihig in der Wand eingelassen waren. Der Mitarbeiter ging zielstrebig darauf zu, öffnete eines der unteren Fächer und zog eine Bahre heraus, auf der sich ein abgedeckter Leichnam befand. Kalte Luft wälzte sich ihnen entgegen. Die Metallführungen quietschten, der Auszug rastete ein. Zwei geübte Griffe an den Trageösen – dann lag der Körper auf dem Tisch.

»Viel Spaß damit«, warf er salopp mit seiner nervtötenden Stimme hin. Anschließend stellte er sich kommentarlos in die Ecke des Raums und überschlug die Hände vor seinem speckigen Bauch, wie ein gelangweilter Türsteher der Hölle.

»Waren Sie nicht der Kommissar, der letztes Jahr dieses verschwundene Mädchen aufgespürt hat?«, fragte Prinzlbauer beiläufig.

»Ja, das bin ich. Also wir beide. Das war ja sozusagen eine Teamleistung. Sie erinnern sich daran?«

»Natürlich erinnere ich mich. Der Fall ging ja damals durch sämtliche Zeitungen.«

»Ja. Und dort stand nur die halbe Wahrheit. Wissen Sie … zur Presse habe ich eher ein gespaltenes Verhältnis, um es milde auszudrücken.«

»Wie dem auch sei, es ist doch schön, wenn ein Fall auch mal ohne Leiche aufgeklärt werden kann. So haben wir von der Rechtsmedizin wenigstens keine Arbeit damit«, sagte er lächelnd und zog das grüne Tuch vom Toten. Es offenbarte sich der stark entstellte Körper eines jungen Mannes. An jeweils beiden Armen und Beinen zeigten sich offene Brüche. Gesplitterte Knochen ragten heraus, und das Fleisch hing an einigen Stellen in Fetzen weg. Der gesamte Leib war mit dunkelblauen Hämatomen übersät, der Brustkorb teils eingedrückt, teils mit herausstehenden Rippen. Der Kopf stark deformiert und offen, sodass Teile des Gehirns sichtbar waren. Die Verwesung hatte bereits eingesetzt, und an manchen Stellen konnte Lars Spuren von Tierfraß erkennen. Hinter ihm ertönte ein würgendes Geräusch. Nach einem kurzen prüfenden Blick konnte er feststellen, dass nun Teile einer erbrochenen Butterbreze den Fliesenboden zierten.

»Boah, i pack des ned …«, gab der kreidebleiche Alex zu Wort und übergab sich erneut.

»Nun, zugegebenermaßen kein schöner Anblick. Als Fotomodell bekommt der jedenfalls keinen Job mehr«, kommentierte der Arzt die Szene trocken.

»Was können Sie mir zu dem Toten sagen?«, fragte Lars, nachdem er durch das Gespräch mit dem Mediziner in Erfahrung gebracht hatte, dass dieser den Leichnam bereits begutachtet hatte. Der Anblick ließ ihn selbst keinesfalls kalt, auch wenn er sich in seinen Jahren bei der Hamburger Mordkommission diesbezüglich eine gewisse Routine angeeignet hatte. Er war nicht abgestumpft, aber sein Blick dafür trainiert. Vor ihm lagen die Überreste dessen, was einmal ein fühlendes Wesen war. Ein Mensch wie er, mit inneren Konflikten und Träumen, die niemals erfüllt werden würden.

»Das Opfer heißt Pjotr Hallberger. Er hatte Papiere bei sich, sodass wir den Angehörigen eine Identifizierung ersparen können, denke ich. Er war siebenunddreißig Jahre alt und körperlich in guter Verfassung, wenn auch leicht unterernährt. Die Todesursache ist eindeutig. Einen Aufschlag aus einer Höhe von etwa fünfzig Metern überlebt wohl niemand, es sei denn, er ist Superman. Ob nun zuerst das schwere Schädel-Hirn-Trauma mit Austritt der zerebralen Flüssigkeit, das gebrochene Genick oder die Rippe, die sein Herz durchbohrt hat, zum Tode geführt hat, ist in diesem Fall wohl zu vernachlässigen. Keine der entstandenen Verletzungen ist mit dem Leben vereinbar. Geschätzter Todeszeitpunkt: 27. April 2014, etwa zweiundzwanzig Uhr.«

Lars nahm die Ausführungen des Mediziners schweigend zur Kenntnis und streifte sich ein Paar Latexhandschuhe über. Seine Stirn spannte sich. Er beugte sich über den Toten, zog nacheinander beide Augenlider nach oben und ließ das weiße, grelle Licht seiner LED-Taschenlampe auf die Pupillen fallen.

»Keine Einblutungen in den Augäpfeln erkennbar«, sagte er. Anschließend öffnete er mit beiden Händen den Mund der Leiche, wozu er etwas Kraft aufwenden musste, da die Leichenstarre bereits fortgeschritten war. Auch dort leuchtete er hinein und betrachtete das Innere einige Minuten lang.

»Gebiss vollständig, Zungenbein intakt«, sagte er schließlich. Nachdem er den Hals auf Würgemale untersucht hatte, waren die Hände und Unterarme des Verstorbenen an der Reihe.

»An Händen und Unterarmen sind keine Abwehrmale erkennbar.«

Er begann damit, den Rest des Körpers sorgfältig auf Einstich- oder andere äußere Verletzungen zu untersuchen, die auf einen stattgefundenen Kampf schließen lassen konnten. Im Anschluss drehte er den Körper mithilfe des Arztes auf die Seite, um auch den Rücken zu untersuchen.

»Keine Hinweise auf Fremdeinwirkung. Vorerst gehe ich daher von einem Unfall aus«, sagte Lars.

»Das sehe ich genauso«, sagte Prinzlbauer mit einem bestätigenden Nicken.

»Dennoch will ich, dass ein toxikologisches Gutachten angefertigt wird«, fuhr Lars fort.

»Wozu das denn? Sie haben doch gerade selbst gesagt, dass Sie von einem Unfall ausgehen …«, sagte der Arzt.

»Ja, ich gehe davon aus, solange sich keine weiteren Erkenntnisse ergeben. Ich nenne es mal Instinkt.«

»Das wird Ihnen kein Staatsanwalt genehmigen …«

»Der zuständige Ermittler in dieser Sache bin immer noch ich. Das werde ich dem Herrn Staatsanwalt schon verklickern«, fuhr er dem Doktor dazwischen.

»Gut, sind wir hier fertig?«, fragte dieser nach einer kurzen Pause, die von unangenehmer Stille durchtränkt war.

»Ja. Der Leichnam kann zurück in die Kühlung.«

»I hob ja scho einige Leichen g’sehn, aber der war heftig. Des war ja a oanziger Hauf’n Matsch. Vor allem der Gedanke da dro, dass wahrscheinlich da Fuchs scho des hoibe Hirn rausg’schleckt hod … Dazu no die Stimm von dem krätzigen Hund da drin … hod wieda amoi ois zammpasst«, sagte Alex und zog an seiner ›Beruhigungszigarette‹, wie er es nannte. Sein breites Gesicht hinter dem Vollbart hatte inzwischen wieder etwas Farbe angenommen. Sie standen unter einem Vordach am Haupteingang des Beerdigungsinstituts, nachdem sie sich von Dr. Prinzlbauer verabschiedet hatten. Der Himmel hatte sich zugezogen, und feine Regentropfen plätscherten auf den Asphalt herab.

»Wolltest du nicht aufhören mit dem Mist? Weißt du eigentlich, was das Zeug mit deinem Körper anrichtet?«, sagte Lars.

»Ja ja. Aber des brauch i jetzt, nach dem Anblick. Schlimmer als bei dem do drin werd’s eh ned.«

»Dann hat sich das für heute Mittag wohl erledigt mit deinem Wochinger.«

»I würd sagen, des verschieb ma, bis sich mei Magen wieder eig’pendelt hod. Sog a moi, wozu brauch ma da jetz bittschön a Tox-Gutachten?«

»Ist so ein Gefühl. Irgendwas passt da nicht.«

»Na, da bin i ja mal g’spannt, wie du dei G’fühl dem Staatsanwalt erklärn mechst.«

Kulturelle Differenzen

»Also, der Doktor hod aber a ned ausg’schaut wia a Prinzlbaumer Sepp«, sagte Alex, der gerade eine warme Leberkässemmel verdrückte. Es war Dienstag, und sie saßen sich im Büro gegenüber, während es draußen in Strömen regnete. Wenn das schlechte Wetter einmal zwischen den Bergen festhing, dann konnte es sich hier am Alpenrand eine gefühlte Ewigkeit halten. Das hatte Lars bereits festgestellt.

»Wie sieht denn so ein ›Prinzlbaumer Sepp‹ aus?«, entgegnete er.

»Na ja, ned so dunkel jedenfalls.«

»Da wird wohl mindestens ein afrikanischer Vorfahr mit im Spiel gewesen sein, schätze ich.«

»Immerhin is mir a Neger lieber wia a Preiß. Äh, für di mach i natürlich a Ausnahme. Du bist ja immerhin scho zum Zuag’roasten aufg’stiegen.«

Lars stellte seine Kaffeetasse abrupt ab. Porzellan klickte.

»Überdenk deine Wortwahl, Alex. Wir schreiben 2014 und nicht 1914«, sagte er. Sein Kollege zuckte mit den Schultern, wich dem Blick aus.

»War ja ned so g’moant. Wos steht heut an?«

»Eigentlich wollte ich mir einmal den Fundort des Toten, dort am Untersberg, ansehen. Aber bei dem Regen können wir das vergessen. Also habe ich beschlossen, die Besichtigung auf Donnerstag zu verschieben und dafür einen Termin mit einem Polizeibergführer ausgemacht. An dem Tag soll es laut Wetterbericht wieder besser sein.«

»Du willst da aufekraxeln? Hoffentlich erwartst jetz ned vo mir, dass i da mitgeh.«

»Na klar kommst du mit. Du kannst für Donnerstag schon mal deinen Rucksack packen.«

»Vergiss es. Koan Bock.«

»Hab ich dir eigentlich schon erzählt, dass der Bergführer in Wahrheit eine Bergführerin ist?«

»Jetz verarscht du mi aber.«

»Nein. Marietta Almbauer heißt die Kollegin.«

»Almbauer, des basst ja dann wia die Faust aufs Aug. I schau mir mal des Foto von der im Intranet an. Danach entscheid i.«

»Tu das. Aber zurück zu deiner Frage … Wir können die Zwischenzeit nutzen, um mit den Angehörigen zu sprechen. Seine Eltern leben beide in der Nähe von Bad Reichenhall. Das ist unser erster Ansatzpunkt.«

»Hod eigentlich de Abfrage wos ergeben?«

»Nein. Dieser Pjotr Hallberger war ein absolut unbeschriebenes Blatt. Der hatte sozusagen noch nicht einmal einen unbezahlten Strafzettel.«

»Pjotr, wos is’n des überhaupt für a Vorname?«

»Das ist die slawische Entsprechung von Peter.«

»Aha. Dann nenn i ihn jetz Bäda. Des is mir sympathischer. Klingt wenigstens nach Mensch und ned wia a russischer Agent.«

»Ihm wird’s wohl egal sein …«

»Pisswetter, elendigs … Da berühmte boarische Sommer is wieder im Anmarsch. Grau, nass und zum Davolauf’n«, sagte Alex. Sie befanden sich auf der Autobahn in Richtung Süden, und der Scheibenwischer des Dienstwagens lief auf vollen Touren.

»In der Tat nicht besonders einladend heute. Das perfekte Wetter zum Recherchieren. Deshalb habe ich mir heute Vormittag mal einiges an Lektüre zum Thema Untersberg zu Gemüte geführt.«

»Und zu welchem Ergebnis bist kemma?«

»Das Internet sprudelt nur so vor Infos. Oder es ertränkt einen geradezu in Halbwissen und Spinnereien … Das macht es natürlich schwer, die Spreu vom Weizen zu trennen. Fakt ist: Über diesen Berg gibt es mehr Sagen und Mythen als über irgendeinen anderen in Deutschland. Da hat sich über die Jahre eine regelrechte Szene an selbst ernannten Forschern und Mystikern gebildet. Es gibt sogar einen österreichischen Schriftsteller, Dan Steiner, der eine ganze Buchreihe dazu veröffentlicht hat. Das Thema scheint viele Menschen zu bewegen und zu faszinieren.«

»Unser Bäda is ja ned der erste, der an dem Berg umkemma is, soweit i woas.«

»Nein, das stimmt. Über die Zeit sind dort etliche Menschen umgekommen oder spurlos verschwunden.«

»Dass oana nach vier Jahr plötzlich wieder auftaucht, aber erst a Woch verstorben sein soll, is neu.«

»Richtig. Das macht den Fall ja so ungewöhnlich. Aber wie du weißt, bin ich da eher rational gepolt. Ich glaube also nicht, dass Pjotr Hallberger die letzten vier Jahre in irgendeiner Zeitspalte zugebracht hat. Auch wenn mir unser letzter Fall bewusst gemacht hat, dass es durchaus Dinge gibt, die sich herkömmlichen Erklärungsmustern entziehen.«

»Des host jetz aber fein ausgedrückt. I hätt g’sagt, des war völlig irre, wos mir do zum Teil erlebt ham.«

»Es hat uns zu dem gebracht, was wir jetzt tun. Da wir jetzt den Mystery-Stempel haben, bekommen wir eben solche Fälle. Auch wenn diesmal leider ohne Happy End für das Opfer«, sagte Lars trocken. Er setzte den Blinker, um die Abfahrt bei Bad Reichenhall zu nehmen. Links und rechts von ihnen wuchsen die Silhouetten wolkenverhangener Berge aus dem Nebel. Geografisch gesehen befuhren sie nun den südöstlichsten Ausläufer Bayerns.

»Bad Reichenhall … Des is de Heimat vom Söllner Hansi.«

»Wer ist denn der ›Söllner Hansi‹?«

»Also, des ko wirklich nur a Preiß fragen. Des is a berühmter boarischer Liedermacher. Kulturgut sozusagen. Er hod bloß oa Manko. Er hod sozusagen a g’spaltenes Verhältnis zum Staat, b’sonders zur Polizei.«

»Und warum hat er das?«

»Des recherchier am besten mal oder du frogst ihn selber.«

»Aha. Dann hab ich wohl wieder eine Bildungslücke geschlossen. Ich kannte die Stadt bislang hauptsächlich wegen der Therme dort. Die ist wirklich schön.«

»Da vorn gibt’s an McDonald’s. Konnst du da durch’n Drive fahrn?«

»Warum? Hast du schon wieder Hunger?«

»Na, den Dreck friss i ned. Aber i brauch no an Kaffee to go.«

Familienangelegenheiten

In Unterbuchberg stoppte Lars den Wagen vor einem Doppelhaus. Im Grunde war der kleine Durchfahrtsort nichts anderes als die Ansammlung einiger Häuser entlang der Landstraße, die von Norden in Richtung Berchtesgaden führte.

»Tu mir bloß den Gefallen und lass deinen Kaffeebecher hier. Diese Leute haben vor Kurzem ihren Sohn verloren, da ist etwas Pietät angebracht«, sagte Lars und stieg aus dem Auto.

»Bei dem Sauwetter tät’s mir den Kaffee sowieso verdünnen, bevor i an der Haustür bin«, sagte Alex. In leicht geduckter Haltung sprinteten sie zum Eingang der Haushälfte, die laut dem Klingelschild von den Eheleuten Hallberger bewohnt wurde. Lars drückte die Klingel, und kurz darauf öffnete sich die helle Holztür mit dem eingelassenen, vergitterten Opalglasfenster. Eine kleine Frau um die 65 mit weißgrauen Haaren und dunkel unterlaufenen Augen sah sie durch den Spalt fragend an, während die goldene Türsicherungskette sich gefühlt bis zum Zerreißen spannte.

»Ja bitte?«, sagte die Frau mit markantem osteuropäischem Akzent.

»Frau Hallberger? Bergener, Kriminalpolizei. Dürfen wir hereinkommen?«, sagte Lars und hielt ihr seinen Dienstausweis vor das Gesicht. Sie löste den Sicherungsriegel der Kette, ließ die Tür offen und ging wortlos ins Haus. Lars nahm das als Einladung und folgte ihr, Alex tat es ihm gleich.

Einige Schritte später befanden sie sich im Wohnzimmer. Auf einem alten Röhrenfernseher in der Ecke flackerte ein Nachrichtensender in schlechter Auflösung. Der Ton war stummgeschaltet, nur das leise Brummen der Bildröhre mischte sich ins Zimmer. Man sah Bilder von maskierten Männern in Uniform, dazu die Einblendung: Ukraine-Krise – prorussische Kräfte besetzen Verwaltungsgebäude. Lars’ Blick blieb kurz daran hängen, bevor er sich wieder der Frau zuwandte. Mit einer Handgeste bot sie ihnen einen Platz auf einer trostlosen grauen Stoffcouch an, vor der ein Fliesentisch stand. Auch der Rest des Raums wirkte wie eine Filmrequisite aus den frühen 80er Jahren. Einige dunkel lasierte Holzmöbel, eine Wohnwand mit Vitrine und Plattensammlung sowie ein antiquierter Videorekorder erinnerten an ein Leben, das die Zeit vergessen hatte. Von der Decke hing ein funkelnder, leicht überdimensionierter Glaskronleuchter herab. Es roch verraucht und muffig, wie in einem dieser Hotelzimmer der weniger vornehmen Absteigen am Hamburger Kiez. Von draußen prasselte der Regen gegen das durchgehende Fenster der Terrassentür, hinter der sich ein verwilderter Garten auftat.

»Frau Hallberger, erst einmal möchte ich Ihnen mein aufrichtiges Beileid aussprechen«, sagte Lars.

»Das haben Ihre Kollegen bereits getan. Nun haben wir wenigstens Gewissheit«, entgegnete die Frau bedächtig, mit gedrückter Stimme.

»Ich maße mir nicht an, nachempfinden zu können, was Sie gerade durchmachen. War Pjotr Ihr einziges Kind?«

»So ist es.«

»Ist Ihr Mann auch da?«

»Nein. Ich habe ihn seit dem Mittagessen nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich sitzt er gerade beim Wirt und lässt sich volllaufen. Wie immer, wenn er nicht klarkommt. Das mit Pjotr hat ihn hart getroffen, auch wenn er es nie zugeben würde. Er zerbricht daran.«

»Das klingt für mich nach einem angespannten Verhältnis zwischen Vater und Sohn«, sagte Lars.

»Gar kein Verhältnis würde es besser treffen.«

»Warum?«

»Pjotr war schwul, und das hat mein Mann nie verkraftet. Er konnte einfach nicht damit umgehen, und er war damals außer sich, als er davon erfahren hat. Für mich war es auch schwer, das zu akzeptieren. Aber irgendwann habe ich es akzeptiert. Wissen Sie, ich bin in Polen aufgewachsen. Ein konservatives Land, in dem so etwas lange nicht gesellschaftlich akzeptiert wurde und auch heute noch nicht wird.«

»Das heißt, Sie hatten wenig Kontakt mit Ihrem Sohn?«

»Ja, das kann man so sagen. Er rief zu meinem Geburtstag und an Weihnachten an. Bis er dann eines Tages verschwand. Wir erfuhren erst davon, als die Polizei sein Auto auf diesem Wanderparkplatz gefunden hat. Dann haben sie tagelang nach ihm gesucht. Ich habe ihnen ein Bild von ihm gegeben, das dann in der Zeitung abgedruckt wurde.«

»Wie war Pjotr?«, fragte Lars.

»Er war schon immer ein schlauer Junge gewesen und sehr verschlossen. In der Schule gab es selten Probleme mit ihm. Nachdem er seine Ausbildung zum Fachinformatiker abgeschlossen hatte, ist er hier ausgezogen. Er liebte die Berge und das Extreme. Klettern und Bergsteigen, das war seine Leidenschaft. Sogar bis nach Nepal und Pakistan ist er gereist. Von dort hat er mir sogar einmal eine Postkarte geschickt, die leider erst hier ankam, nachdem er schon einige Monate verschwunden war.«

»Ich muss Sie das fragen, Frau Hallberger. Halten Sie es für möglich, dass Pjotr sich selbst etwas angetan hat?«

»Pjotr? Nein. Niemals. Trotz der Differenzen mit seinem Vater stand er mit beiden Beinen fest im Leben. Der brauchte uns nicht.«

»Waren Ihnen irgendwelche Probleme bekannt? Gab es etwas, das ihm zuletzt zu schaffen machte?«

»Nein. Ich weiß es nicht.«

»Hatte er Freunde?«

»Oh ja, er hatte viele Freunde. Er war ja auch ein gut aussehender Mann«, sagte sie und stand auf.

Sie ging zu einer Kommode, nahm ein eingerahmtes Foto herunter und reichte es Lars. Ein sportlicher junger Mann mit schwarzen Haaren unter einem Kletterhelm, grünen, wachen Augen, Brille und wildem Bartwuchs lächelte ihn verschmitzt an. In Siegerpose hatte er einen Fuß auf einen Felsen gestellt, im Hintergrund war ein Gipfelkreuz zu sehen.

»Eines der wenigen Dinge, die mir von ihm geblieben sind«, sagte die Frau traurig. Sie zögerte, sah zur Terrassentür hinüber.

»Neulich … also vor ein paar Wochen … stand die offen, als ich vom Einkaufen zurückkam. Ich hatte das Gefühl, jemand hat in den Schubladen gewühlt. Ich war mir nicht ganz sicher … ich weiß nicht, ob ich sie einfach vergessen hatte zu schließen oder ob jemand hier drin war«, sagte sie und winkte ab, fast entschuldigend.

»Ich hab es nicht der Polizei gemeldet. War bestimmt nur mein eigener Schusselkopf. Wissen Sie, in letzter Zeit bin ich etwas durch den Wind …«

Lars nickte lediglich, ließ den Gedanken aber nicht fallen.

»Es tut mir wirklich leid. Wer hat das Foto gemacht?«

»Der Andreas müsste das gewesen sein. Mit dem war er oft in den Bergen unterwegs.«

»Andreas? Wie noch?«

»Grubacher«, sagte die Mutter nach kurzem Überlegen, und Lars notierte sich den Namen.

»Sie haben nicht zufällig auch eine Adresse?«, fragte er nach.

»Nein. Ich weiß nur, dass der zuletzt in Berchtesgaden gewohnt hat. Aber das ist ja nun schon ein paar Jahre her …«

»Kein Problem.«

»Wissen Sie, das Schlimmste war die Ungewissheit. Die ist nun vorüber«, sagte die Frau mit gesenktem Kopf.

»Wussten Sie, Frau Hallberger, dass Ihr Sohn erst vor etwa einer Woche verstarb? Das hat die forensische Untersuchung ergeben«, sagte Lars, und die Frau sah ihn überrascht an.

»Nein. Das hat man mir nicht gesagt. Ihre Kollegen haben mir im Grunde überhaupt nichts gesagt. Nur, dass sie ihn gefunden haben«, erwiderte sie mit vorwurfsvollem Unterton.

»Deshalb forschen wir nach«, erklärte Lars.

»Wie ist das möglich? Glauben Sie etwa, dass er sich all die Jahre irgendwo versteckt gehalten hat?«

»Genau das versuchen wir herauszufinden.«

»Das hoffe ich. Ich denke, als Mutter habe ich das Recht, nach all diesen Jahren die Wahrheit zu erfahren …«

»Ich verspreche Ihnen, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun werden«, sagte Lars. Sein Blick fiel auf die Wand über dem Fernseher. Dort prangte ein Jesuskruzifix mit goldenem Heiligenschein, das seine Arme im leeren Pathos ewiger Vergebung ausbreitete – ein stilles Mahnmal religiöser Doppelmoral in einem Haushalt, in dem die Nächstenliebe am eigenen Sohn gescheitert war.

Draußen hatte der Regen inzwischen nachgelassen. Die Berge jedoch lagen weiter unter düsteren Wolken verborgen. Für einen Augenblick standen sie schweigend auf dem kleinen gepflasterten Weg vor dem Haus. Lars spürte noch den dumpfen Nachhall der Worte der Frau, den Geruch von kaltem Rauch und das Bild des Kruzifixes in seinem Kopf. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss. Ein kurzer, matter Klang, der sich in die Stille legte.

»Geh leck, war des bedrückend da drin … Da Vater hod seinen Sohn verstoßen, weil a schwul war. Zu wos Menschen fähig san … Und dass da katholisch-polnischen Verwandtschaft des ned basst hod, des ko i ma lebhaft vorstelln …«, sagte Alex, als sie wieder im Auto saßen.

»Wusstest du, dass sexuelle Handlungen zwischen Männern bis 1994 in Deutschland strafbar waren?«, fragte Lars.

»Na, des wusst i ned. Aber da siehst a mal, was des hier für rückständigs Land is.«

»Allerdings.«

»Mit’m Finger auf andere zoang und selber koan Deut besser – des hod ma hier scho immer gern praktiziert. I moan, i ko zwar nix damit anfangen, aber des is doch jedem sei Sach. Leben und leben lassen.«

»Das sehe ich ähnlich. Ich denke, das Gespräch mit dem Vater können wir uns ersparen.«

»Mit so am Arschloch red i eh ned. Auf des brauch i jetz definitiv erst amoi a halbe Bier. I kriag de Bilder grad ned aus’m Kopf. Da Bäda aufm Foto, de Mutter und dann des Bild von der damatschten Leich dazu …«

»Das kann ich verstehen. So was kann einem nahe gehen, auch wenn wir uns in unserer beruflichen Routine oft versuchen, etwas anderes einzureden. Wobei ich bezweifle, dass es dem Vater damit gut geht. Der hat sich selbst damit am meisten bestraft. Lass uns irgendwo zum Wirt fahren. Mir knurrt ohnehin der Magen«, sagte Lars und begann unbewusst damit, das Lied von ›Schnappi‹, dem kleinen Krokodil, zu summen. Dieser verdammte Ohrwurm …

»Jetz moan i, drahst aber du völlig durch …«, stellte Alex trocken fest.

Wandertag

»Du hast ja tatsächlich deinen Rucksack gepackt. Also gehe ich mal davon aus, dass du heute mitgehst«, sagte Lars. Es war Donnerstag, und die Wolkendecke hatte sich gelichtet, nachdem es seit Montag durchgeregnet hatte. Der Wetterbericht hatte also recht behalten. Ausnahmsweise.

»Freili. Heit is schließlich unser Wandertag. Des is der oide Bergrucksack vo meim Vater. De Marietta hob i mir angeschaut. Des ko i mir nur schwerlich entgeh lassn …«, gab Alex zum Besten. Der Rucksack war ein olivgrüner Klotz aus dickem Canvas, speckig an den Kanten, die Lederriemen rissig und nachgedunkelt; die Metallschnallen stumpf, als hätten sie jeden Gipfelregen gesehen. Aus den Trägern stieg ein Geruch nach Lederfett, kaltem Rauch und Jausenwurst – der Schweiß von Jahrzehnten schien noch darin zu kleben.

»Und du, Pauline, hältst die Stellung, während wir unterwegs sind. Ach ja, ich hab hier noch was für dich«, sagte Lars und reichte ihr den Zettel, auf dem er den Namen notiert hatte.

»Andreas Grubacher, wer is des?«, wollte Pauline wissen.

»Das war ein Freund unseres abgestürzten Wanderers. Er müsste ungefähr im gleichen Alter sein und in Berchtesgaden oder Umgebung leben. Könntest du versuchen, über das Einwohnermelderegister eine aktuelle Adresse für uns herauszufinden?«

»Na klar. Gern. Wenn’s sonst nix is. I wünsch euch viel Spaß beim Wandern«, entgegnete sie – mit einem Tonfall, der nicht ganz klar machte, ob sie das ernst meinte.

Etwa anderthalb Stunden später rollten sie auf den Wanderparkplatz nahe Marktschellenberg. Die Luft war frisch, klarer als die Tage zuvor, und irgendwo in den höheren Lagen hing noch der Duft nassen Gesteins vom Dauerregen. Dort wartete bereits die Polizeibergführerin auf sie. Marietta Almbauer war Anfang dreißig, groß gewachsen und schlank, mit einer Gelassenheit in der Haltung, wie sie nur Menschen haben, die in den Bergen zu Hause sind. Sie war in etwa so groß wie Alex, der sich mit seinen eins fünfundsiebzig eher im männlichen Durchschnitt bewegte. Unter der schwarzen Polizeikappe quollen lange, dunkle Haare hervor, die zu einem straffen Pferdeschwanz gebunden waren. Ihre markanten Wangenknochen und die dunkelblauen Augen gaben ihrem Gesicht etwas Unerschütterliches, während die eng anliegende Jacke und die Leggings ihre sportliche Figur betonten. An ihrem Rucksack hingen ein sauber aufgewickeltes Sicherungsseil, Karabinerhaken, eine Spitzhacke und ein roter Kletterhelm – alles in einem Zustand, als könnte sie jeden Moment in eine Rettungsaktion starten. Im Vergleich dazu wirkten Lars und Alex fast wie Wochenendwanderer. Die Dienstwaffen hatten sie im Waffentresor gelassen; hier oben zählten andere Werkzeuge.

Nach einer kurzen, freundlichen Vorstellungsrunde setzten sie sich in Bewegung Richtung Untersberg. Alex’ Mund stand die ganze Zeit über offen, und Lars hatte seine liebe Mühe, sich das Grinsen zu verkneifen.

»Ich hoff, ihr habt’s g’scheids Schuhwerk an. Durch die Regenfälle der letzten Tage wird’s stellenweise glitschig«, warnte Marietta, während sie den geschotterten Wanderweg entlanggingen.

»Wie weit ist es bis zu der Stelle?«, fragte Lars.

»Ich würd sagen: bei normalem Wanderschritt knapp zwei Stunden. Der Rest hängt von euch ab«, antwortete sie mit einem Seitenblick, der klar machte, dass sie ahnte, welcher von ihnen beiden das Tempo bremsen würde.

»I schwitz jetz scho wia die letzte Sau«, keuchte Alex kaum dreißig Minuten später, während feiner Nebel zwischen den Bäumen hing und der Boden federnd unter den Schuhen nachgab. Auch wenn es nicht regnete, war der Himmel noch immer wolkenverhangen und die Temperatur vergleichsweise kühl. Wettertechnisch gesehen ein guter Tag für eine Wandertour. Der Weg führte vorbei an rauschenden Wasserfällen, über kleine Brücken und unter Felsüberhängen hindurch, an deren Rändern immer wieder dunkle Löcher im Gestein klafften – Eingänge zu Höhlen, deren Schatten ins Ungewisse führten. Nur das Knirschen ihrer Schritte, das Rauschen des Wassers und das gleichmäßige Atmen Mariettas begleiteten sie. Zwischendurch mussten sie immer mal wieder eine Pause einlegen, damit Alex sich regenerieren und etwas trinken konnte. Er redete wenig und war die meiste Zeit damit beschäftigt, zu pumpen wie ein Maikäfer.

»Wart’s ihr eigentlich schon mal auf dem Untersberg?«, fragte Marietta.

»Nein, Premiere heute«, erwiderte Lars knapp.

»Schau i aus, wia da große Berggänger?«, japste Alex.

»Eher wie ein großer Müßiggänger«, rutschte es Lars heraus, und Marietta lachte leise.

»Is scho recht. Wer den Schaden hod …«

»Es gibt auch noch einen anderen Weg, der kürzer, aber eben auch steiler ist. Wegen der Rutschgefahr momentan eher nicht zu empfehlen. Wusstet ihr, dass der Untersberg das höhlenreichste Gebiet in den Alpen ist? Rund siebzig Quadratkilometer Bergstock, und ein Großteil davon ist unterhöhlt«, sagte Marietta.

»Ja, das habe ich gelesen. Ist das der Grund für die Vielzahl an Mythen und Sagen, die sich um den sogenannten Wunderberg ranken?«, entgegnete Lars.

»Im Grunde gehen diese Erzählungen auf eine Geschichte zurück: die des Lazarus Gitschners, eines Gehilfen des einstigen Stadtschreibers von Reichenhall, der in der frühen Neuzeit lebte. Er verschwand am Untersberg und tauchte viele Jahre später wieder auf – angeblich, ohne merklich gealtert zu sein. Dazu gibt’s tatsächlich alte Amts- und Kircheneinträge. Deshalb ist das die einzige Geschichte, die historisch gesehen halbwegs belegt ist. Der Rest sind Legenden, die daraus gewachsen sind«, erklärte sie.

»Aha. Das klingt jetzt aber sicher ernüchternd und desillusionierend für die ganzen Mystiker und Untersberg-Esoteriker.«

»Mag sein. Aber so ist nun einmal die Faktenlage: ein alter Eintrag – und viel Fantasie darum herum.«

»Also gibt es hier keine Zeitlöcher und auch keine ›Anderwelt‹?«, hakte Lars grinsend nach.

»Bisher nicht. Allerdings bin ich auch Bergführerin und keine Forscherin. Vielleicht wissen andere da mehr … Aber manche behaupten, man könne den Berg spüren. Als hätte er … eine eigene Stimmung.«

Lars schwieg darauf. Ihm fiel auf, dass das Rauschen des Wassers hier oben leiser wurde – und das Schweigen zwischen den Bäumen dichter. Abgesehen von ihren knirschenden Schritten und Alex’ schwerem Atem war so gut wie nichts zu hören. Hier und da knackte ein Ast, und die Vögel sangen ihre Lieder.

Nach knapp zwei Stunden traten sie auf ein Hochplateau hinaus, auf dem sich der Wald lichtete und den Blick auf mächtige weiße Bergketten in der Ferne freigab. Majestätisch thronten die steinernen Riesen über dem Land, wie stumme Könige einer vergangenen Zeit.

»Der Ausblick von hier ist wahrlich beeindruckend«, stellte Lars fest.

»Ja. Bei guter Witterung sieht man von hier sehr weit bis nach Österreich in das Salzburger Land hinein«, erklärte Marietta.

»De Aussicht is zwar schee, i bin mir aber grad ned sicher, ob des im Verhältnis zur Anstrengung steht«, schnaubte Alex.

»Oh doch. Das ist sozusagen die Belohnung, die für alles entschädigt«, sagte die Bergführerin lächelnd.

»Von hier an geht’s querfeldein. Haltet euch bitte dicht hinter mir«, kündigte sie kurz darauf an. Der Pfad wurde schmaler, die Wurzeln griffen wie Finger aus dem Boden. Bald standen sie vor einer hellen Felswand, die fast senkrecht aufragte. Die Szenerie hatte etwas Rohes – und nichts erinnerte daran, dass hier vor Kurzem ein Mensch gestorben war. Marietta blieb stehen, legte kurz die Hand auf den Fels, als würde sie seine Kälte prüfen, und sah dann zu den beiden hinüber.

»Hier haben wir die Leiche geborgen.«

»Übrigens ein ziemlich seltsamer Fall, den ihr da bearbeitet«, fügte sie nach einer Pause an, die sich beinahe angefühlt hatte wie eine Schweigeminute.

»Das ist er. Deshalb hat man uns mit der Untersuchung beauftragt«, antwortete Lars trocken. Er schirmte die Augen mit der Hand gegen das Sonnenlicht ab.

»Das dürften gut fünfzig Meter sein. Sieht von unten allerdings nie so schlimm aus wie von oben«, fügte er nach kurzer Pause an.

»Kommt hin. Von dort oben muss er gestürzt sein.«

Lars runzelte die Stirn.

»Ein erfahrener Bergsteiger, der schon im Himalaja war – und dann hier? Gibt es einen Weg, dort irgendwie hinaufzugelangen?«

»Es gibt einen Weg von hier, der führt allerdings größtenteils durch unbefestigtes Gelände. Man kommt auch anders hin, aber das wäre ein längerer Marsch«, sagte sie nach kurzem Überlegen.

»Also, ihr könnt’s mi jetz dann amoi sauber gern ham. No weiter geh i ned rauf. I hob eh scho mindestens zwoa Blodern, a weh’s Knie, und mei Motivation is grad unter null«, schimpfte Alex und zeigte auf seine Füße.

»Alles klar. Geh zum Parkplatz, ruh dich aus. Ich gehe mit Marietta da oben rauf. Das will ich mir auf jeden Fall aus der Nähe ansehen«, sagte Lars.

»Guad, genau des wollt i hören. Vui Spaß beim Kraxln«, entgegnete Alex, sichtlich erleichtert.

Die Entdeckung

Mit einem unbehaglichen Ziehen in der Magengegend trat Lars an die Schwelle des Abgrunds. Der Fels unter seinen Schuhen war rau, aber der Gedanke, dass nur wenige Zentimeter ihn von fünfzig Metern freiem Fall trennten, ließ seine Hand unwillkürlich den Sicherungskarabiner am Seil tasten. Marietta hatte ihn vorsorglich angebunden, doch sie selbst hielt respektvollen Abstand zur Kante.

In der Ferne zeichneten sich die Zacken des Watzmanns und die hellen Flanken des Steinernen Meeres gegen den wolkenverhangenen Himmel ab. Laut der Beschilderung, der sie bis zum Abzweig ins wilde Gelände gefolgt waren, befanden sie sich nun unterhalb des Stöhrhauses und irgendwo oberhalb der Zehnkaser.

»Was hast du hier gemacht, Junge? Was wolltest du hier oben?«, murmelte Lars mehr zu sich selbst als zu Marietta.

»Hier gäbe es doch genug Möglichkeiten, sich festzuhalten. Oder wie siehst du das?«, rief er Marietta zu. Sie stand etwa zehn Meter abseits und schien nicht das geringste Bedürfnis zu verspüren, sich der Abbruchkante zu nähern.

»Ein guter Bergsteiger würde da gar nicht erst ungesichert herumspringen. Vielleicht war es an dem Tag auch neblig und er hat überhaupt nicht gesehen, dass es hier nach unten geht«, entgegnete sie.

»Ausrüstung schien er zumindest keine bei sich gehabt zu haben …«, sagte Lars. Er löste sich von der Kante – der Blick zurück in die Tiefe hatte gereicht. Sie stiegen ein kurzes Stück höher, und der Hang wurde unwegsam. Nasses Gras, knorrige Büsche, zwischen denen moosüberzogene Felsbrocken wie schlafende Tiere lagen. Einzelne Sonnenstrahlen schnitten sich durch das dichte Geflecht aus Bergkiefern, malten helle Inseln ins Halbdunkel.

»Ich kann mir schon vorstellen, dass dieser Ort den Kopf der Leute füllt – mit allem, was sie glauben wollen«, sagte Lars leise. In der Ferne ragte ein kleiner Trupp entwurzelter Bäume wie zerbrochene Zündhölzer in den Himmel.

»Sturmschaden. Hier oben kann der Wind brutal werden«, meinte Marietta.

»Die scheinen tatsächlich wie Streichhölzer umgeknickt zu sein«, sagte er, nachdem sie die Stelle erreicht hatten. Für einen Moment ließ er die Faszination darüber wirken, wie die Natur sofort damit begonnen hatte, das Totholz zu verwerten und wieder ihrem Kreislauf zuzuführen.

»Ja …«

»Ich will mir das Gelände weiter oben noch ansehen. Irgendetwas muss hier gewesen sein, sonst wäre er wohl nicht hier herumgeklettert«, meinte er, nachdem die Bergführerin das Sicherungsgeschirr wieder von seinem Körper gelöst hatte.

Sie folgten dem steiler werdenden Abhang hinauf, wo der Wald sich nach wenigen Metern verdichtete und die umherliegenden Felsbrocken größer wurden. Einige von ihnen waren dunkelgrün, durchgehend mit Moos bewachsen. Im Halbschatten verlieh das der gesamten Szenerie einen beinahe märchenhaften Touch. Etwa hundert Meter weiter oben endete der Abhang vor einer Felswand, die ohne Kletterausrüstung kaum zu überwinden war.

»Hier ist wohl Sackgasse für uns«, stellte er fest.

»Es sei denn, du willst klettern.«

»Nein, kein Bedarf. Unser Toter hatte keine Ausrüstung dabei, und ohne eine solche hätte er das hier kaum überwinden können. Wäre er von dort oben gekommen, hätte er sich bereits an dieser Stelle alle Knochen gebrochen.«

»Das stimmt wohl«, sagte sie. Sie folgten der Wand einige Meter, als Lars’ Blick an einem schmalen, überwucherten Spalt hängen blieb.

»Sieh mal da. Das könnte eine Höhle sein?«, sagte er.

Ehe Marietta antworten konnte, hatte er bereits die LED-Lampe aus der Jackentasche gezogen und sich zwischen die Felszähne geschoben. Der Eingang zwang ihn, den Kopf einzuziehen, und der Temperatursturz traf ihn sofort. Mit einem Schlag waren Wind und Vogelrufe abgeschnitten: Drinnen stand die Luft kühl und mineralisch, sie roch nach feuchtem Stein und altem Staub. Jeder Schritt knirschte, die eigene Atmung wurde zum lautesten Geräusch, und das Licht der Lampe fraß nur eine kleine Insel aus Helligkeit in die Finsternis. War das vielleicht der Unterschlupf, in dem sich Pjotr Hallberger vier Jahre lang unbemerkt versteckt gehalten hatte? Im Schein des Lichtkegels folgte er dem steinernen Korridor, der etwa zwei Meter hoch und drei Meter breit war. Marietta hielt sich hinter ihm und hatte ebenfalls eine Lampe gezückt. Nur das Knirschen ihrer Schritte hallte von den Wänden wider.

»Ist dir diese Höhle bekannt?«, fragte Lars mit gedämpfter Stimme.

»Nein. Definitiv ist das zumindest keine der bekannten«, antwortete Marietta hinter ihm. Zwei flache Stufen führten nach unten, so unauffällig, dass er nicht sicher war, ob diese natürlich entstanden sein konnten oder von Menschenhand geschaffen worden waren. Die Wände wirkten unnatürlich eben, als hätte jemand sie vor langer Zeit bearbeitet. Nach etwa weiteren zwanzig Metern endete der Weg abrupt an einer glatten Steinwand.

»Hier ist der Weg wohl zu Ende. Schon wieder eine Sackgasse«, stellte Lars ernüchtert fest. Nichts deutete darauf hin, dass sich hier ein Mensch versteckt gehalten haben könnte.

»Eigenartig ist, dass die Höhle nicht so wirkt, als sei sie natürlich entstanden. Dafür sind ihre Abmessungen viel zu ebenmäßig«, fügte er an.

»Aber wer sollte sie angelegt haben und aus welchem Grund? Ich meine, es gibt schon künstlich angelegte Stollen am Untersberg. Dort wurde zum Beispiel Bauxit abgebaut. Aber diese sind normalerweise viel weiter unten.«

»Das hier kann uralt sein. Ich bin da jetzt aber kein Experte. Ich denke, das reicht für heute. Lass uns zurückgehen.«

Lars wollte sich schon abwenden, da fiel ihm auf Augenhöhe eine Gravur auf. Er wischte den Staub darüber hinweg. In der Wand lag ein eingetieftes Emblem, exakt im Zentrum gesetzt: eine Art Templerkreuz, dessen vier Enden in Schlangenköpfen ausliefen, dahinter zwei gekreuzte Doppelstreitäxte. Die Kerben waren tief und sauber geschlagen, die Rillen alt – aber erstaunlich wenig verwittert.

»Sieh mal hier. Hast du dieses Zeichen schon mal gesehen?«, fragte Lars.

»Nein, das sagt mir nichts. Ich bin jetzt aber auch keine Spezialistin, was die Untersberg-Mythologie betrifft.«

»Hast du ein Handy, mit dem man Fotos machen kann?«

»Na klar.«

Draußen war das Licht bereits weicher geworden, als sie zum Parkplatz zurückkamen. Mit dem ersten Windstoß kehrten Harzgeruch und ferne Geräusche zurück, als würde der Berg sie wieder ausspucken. Es war bereits später Nachmittag.

»Da seid’s ja endlich. I hob scho dacht, i muass heit hier mit de Gamsen und Eulen Brotzeit mach’n«, murrte Alex.

»Ich würde sagen, wir besorgen uns jetzt irgendwo etwas zu essen. Das haben wir uns verdient«, sagte Lars.

»Des wollt i a grad vorschlagen.«

»Auf dem Weg hierher hab ich einen Italiener gesehen. Da könnten wir hingehen. Wie sieht’s mit dir aus, Marietta?«

»Ja, warum nicht? Was Warmes könnte ich jetzt auch gut vertragen«, sagte sie.

Bei Luigi

Zu dritt hatten sie an einem Tisch des kleinen Lokals ›Da Luigi‹ im Ortskern von Marktschellenberg Platz genommen. Hinter der beschlagenen Scheibe lag der Untersberg wie ein dunkler Rücken im Dunst. Im Raum hing ein dünner Film aus altem Frittieröl und kaltem Espresso; irgendwo röchelte eine Eiswürfelmaschine und über der Bar liefen die Sky Sport News ohne Ton. Im Ticker flackerte: CL – Bayern vor Rückspiel gegen Real Madrid.

»Erst einmal möchte ich dir danken, Marietta, dass du dir heute die Zeit für uns genommen hast.«