Die lange Nacht - Ernst Israel Bornstein - E-Book

Die lange Nacht E-Book

Ernst Israel Bornstein

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Beschreibung

Im Alter von 17 Jahren wurde Ernst Israel Bornstein von den deutschen Besatzern zur Zwangsarbeit verschleppt. Vier Jahre lang wurde er in sieben verschiedenen Arbeits- und Vernichtungslagern geschunden und gequält. Nur knapp überlebte er Hunger, Krankheit, die körperliche und seelische Folter. Seine Leidensstationen, über die er in seinen Erinnerungen berichtet, waren die Konzentrationslager Grünheide, Markstadt, Fünfteichen, Großrosen, Flossenbürg, Leonberg, Mühldorf. Die deutsche Erstausgabe erschien 1967 in der Europäischen Verlagsanstalt und 2015 in englischer Übersetzung mit einem Geleitwort von David Cameron. Die Neuausgabe erscheint zum 75. Jahrestag von Befreiung und Kriegsende mit einem Vorwort von Charlotte Knobloch und einem Anhang mit Dokumenten und Artikeln von Ernst Israel Bornstein.

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Seitenzahl: 404

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Als Jugendlicher wurde Ernst Israel Bornstein von den deutschen Besatzern aus Familie, Schule und Leben herausgerissen und zur Zwangsarbeit verschleppt. Vier Jahre lang wurde er in sieben verschiedenen Arbeits- und Vernichtungslagern geschunden und gequält. Nur knapp überlebte er Hunger, Krankheit, die körperliche und seelische Folter. Seine Leidensstationen, über die er in seinen Erinnerungen berichtet, waren die Konzentrationslager Grünheide, Markstadt, Fünfteichen, Großrosen, Flossenbürg, Leonberg, Mühldorf.

Nach dem Krieg studierte und promovierte er in München zum Dr. med. dent. und anschließend zum Dr. med. und gründete eine Familie. Seine Erinnerungen aufzuzeichnen, fiel ihm außerordentlich schwer, da das bedeutete, von Angstträumen gepeinigt, die Erlebnisse der Lagerzeit immer wieder neu zu durchleiden. Sie erschienen erstmals 1967 in der Europäischen Verlagsanstalt und 2015 in englischer Übersetzung mit einem Geleitwort von David Cameron. Die Neuausgabe mit einem Vorwort von Charlotte Knobloch richtet sich gegen das Vergessen: »Fast ein Menschenleben nach dem Holocaust verblasst die Erinnerung immer mehr, und manch einer meint heute sorg- und verantwortungslos, seine Stimme an Nationalisten und Menschenfeinde verschwenden zu können.«

Ernst Israel Bornstein

Die lange NachtEin Bericht aus sieben Lagern

Neuausgabemit einem Vorwort vonCharlotte Knobloch

© E-book-Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2020

Alle Rechte vorbehalten.

Foto Umschlagseite: Ernst Israel Bornstein als Jugendlicher

Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)

Covergestaltung: Susanne Schmidt, Leipzig

eISBN 978-3-86393-551-1

Auch als gedrucktes Buch erhältlich, ISBN 978-3-86393-092-9

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im

Internet unter www.europaeische-verlagsanstalt.de

Inhalt

Vorwort von Charlotte Knobloch

Einleitung zur Erstausgabe

Das Leben im Getto

Grünheide

Markstadt

Fünfteichen

Großrosen

Flossenbürg

Leonberg

Mühldorf

Anhang

Zum Andenken

an meinen Vater Usher Bornstein

der immer an das Gute im Menschen glaubte

meine Mutter Hella Bornstein

sowie meine Schwester Noemi Bornstein

und meinen Bruder Jehuda Bornstein

die 1943 von den nazistischen Barbaren

als Juden im Konzentrationslager Auschwitz

vergast worden sind

Charlotte Knobloch

Vorwort zur Neuauflage von »Die lange Nacht. Ein Bericht aus sieben Lagern« von Ernst Israel Bornstein

Wenn ein Buch über fünfzig Jahre nach der ersten Drucklegung erneut herausgegeben wird, dann ist dies meist eine Anerkennung der Tatsache, dass die Botschaft des Werkes aus Sicht von Verleger und Publikum ungeachtet der vergangenen Zeit noch immer aktuell ist. Dies trifft ganz besonders auch auf die Neuauflage von »Die lange Nacht« zu, die Sie in Händen halten.

Die Aufzeichnungen von Ernst Israel Bornstein (1922-1978), der während der NS-Zeit jede denkbare Hölle durchlebte, die das nationalsozialistische Regime für jüdische Menschen ersonnen hatte, haben in der Zeit seit ihrer Erstveröffentlichung im Jahr 1967 nichts an Bedeutung und Eindrücklichkeit verloren. Im Gegenteil: Wie viele andere Zeitzeugenberichte entfaltet auch Bornsteins Rückblick seine volle menschliche und historiographische Wucht erst mit zunehmendem zeitlichem Abstand zu den Vorkommnissen von damals. Das mag paradox erscheinen – und ergibt doch gerade vor dem Hintergrund der heutigen Zeit Sinn.

Wir leben längst in einer Epoche, deren Haltung gegenüber der Zeit des Nationalsozialismus von einer seltsamen Zweideutigkeit bestimmt ist; die sie zugleich ernst nimmt und ignoriert, sie einerseits ins Zentrum des politischen Diskurses stellt und andererseits in der politischen Praxis oft genug völlig ausblendet. Vordergründig betrachtet scheint unsere Gesellschaft die Schrecken der Vergangenheit präsent zu halten: Eine Fülle von Spielfilmen und Dokumentationen, Büchern und Hörspielen für alle Altersstufen sollen die Erinnerung medial bewahren, es gibt Gedenktage und -wochen, dazu öffentliche Orte der Erinnerung wie das besonders prominente Denkmal für die ermordeten Juden Europas im Herzen Berlins und viele lokale Gedenkstätten, denen zu den entsprechenden Jahrestagen Spitzenpolitiker aller demokratischen Parteien ihre Aufwartung machen. Doch sagt all das mehr über die Sichtbarkeit des Gedenkens aus als über die Ernsthaftigkeit des Erinnerns. Kein Film kann aufrichtige Beschäftigung mit der Thematik ersetzen und kein Jugendbuch die ehrliche Ansprache durch Eltern oder Lehrer. Gedenkorte, die nach dem 9. November und 27. Januar voller Kränze liegen, sind den Rest des Jahres den meisten Menschen weder Besuch noch Beachtung wert. Insgesamt scheint unser Land, das seine demokratische Neugründung nach dem Zivilisationsbruch des Holocaust moralisch und politisch vor allem durch die nötige Abgrenzung von der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft legitimierte, der praktischen Verantwortung, die aus diesem abstrakten Bewusstsein erwächst, heute nicht immer gewachsen zu sein.

Das zeigen Untersuchungen, die erschreckende Wissenslücken zur NS-Zeit unter Schülern offengelegt haben, ebenso wie die Wahlergebnisse der jüngeren Zeit. Beide Entwicklungen lassen erahnen, wie groß der Bevölkerungsanteil womöglich doch sein könnte, den die bundesrepublikanische Erinnerungskultur in den Jahrzehnten seit 1949 nie erreicht hat (um die unter dem bequemen Schlagwort »Antifaschismus« firmierende Ignoranz der ehemaligen DDR auf diesem Gebiet samt ihren negativen Folgen gar nicht zu erwähnen).

Die Gefahr von Rückfällen war bereits Ende der Sechzigerjahre, zum Zeitpunkt der ersten Veröffentlichung dieses Buches, latent vorhanden. Vor ihr zu warnen, entsprang damals durchaus keiner übertriebenen Angst, sondern war die logische Folge vieler Entwicklungen in der Frühphase der Bundesrepublik. Die personellen Kontinuitäten zwischen Diktatur und Demokratie, die ausgebliebene Strafverfolgung hochrangiger Nationalsozialisten nach 1945 und die Widerstände überall dort, wo dies wie im Falle des Frankfurter Generalstaatsanwalts Fritz Bauer doch versucht wurde, machten eindrücklich klar, dass die Entnazifizierung ein langer und steiniger Weg war, der mit Gründung eines demokratischen Staates noch lange nicht abgeschlossen war.

Ich selbst erinnere mich aus jener Zeit noch gut an die große Skepsis, die die jüdische Gemeinschaft hier in München Ende der Vierziger- und zu Beginn der Fünfzigerjahre der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft entgegenbrachte. Vorfälle wie die Auerbach-Affäre als Kulminationspunkte der nahezu täglichen Erfahrung, dass der Antisemitismus in Deutschland eben nicht im Mai 1945 verschwunden war, verstärkten bei vielen den Eindruck, im »Land der Mörder« könne es für jüdische Menschen keine Zukunft geben. Viele setzten diese Überzeugung auch in die Tat um und wanderten aus, sobald es ihnen rechtlich und praktisch möglich war. Zurück blieb eine kleine Gemeinschaft von wenigen Tausend, deren Verbleib zumeist mehr eine Folge äußerer Umstände als innerer Überzeugungen war.

Unter ihnen war auch Ernst Israel Bornstein, dessen Geschichte als in Polen Geborener und in Deutschland Hängengebliebener typisch war für viele Mitglieder der jüdischen Gemeinden in der frühen Bundesrepublik. Während der NS-Zeit überlebte Bornstein nicht weniger als sieben Konzentrationslager und einen Todesmarsch. Nach seinem Studium der Zahnmedizin wurde er in München bald zu einem beliebten Arzt und einem angesehenen Mitglied der hiesigen Kultusgemeinde, in deren Vorstand er neben seinen zahlreichen anderen Verpflichtungen über Jahre tätig war. Die Akkuratesse und Genauigkeit, die die Beschreibungen in seinem Buch prägen, machten ihn auch als Person aus. Auch wenn ein uneingeweihter Beobachter ihm in jenen Jahren kaum etwas hätte anmerken können, vermochte er der gewaltigen Last des Erlebten doch nie zu entkommen. »Das KZ«, so schrieb er, »hält mich immer noch umklammert.«

Zur Zeit dieser Neuauflage seines Buches wirft bereits der 75. Jahrestag des Kriegsendes seine Schatten voraus. Die Zahl der Überlebenden sinkt mit jedem Tag, und viele der wichtigsten Stimmen der Erinnerung an die Gräuel der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft sind inzwischen verstummt. Menschen, deren Worte in der öffentlichen Debatte Gewicht hatten, sind heute nicht mehr unter uns – und werden schmerzlich vermisst.

Als Folge dieser Entwicklung offenbart sich mir bei meinen zahlreichen Besuchen in Schulen etwas, das man das Paradoxon der Demokratie nennen kann: In einer Zeit, da nicht nur die heutigen Schüler, sondern auch ihre Eltern und oft sogar Großeltern nichts anderes kannten als den Frieden und Wohlstand einer liberalen und offenen Demokratie, wird es immer schwieriger – und damit auch dringender – den Beweis für deren Notwendigkeit zu führen.

Die Zeitzeugen, die aus eigener Anschauung davon berichten können, wie es ist, wenn vorgeblich unantastbare Menschenrechte plötzlich außer Kraft gesetzt werden und wenn das eigene Leben aufgrund der jüdischen Herkunft nichts mehr gilt, vermitteln ein Gefühl dafür, warum es sich lohnt, immer und überall gegen Antisemitismus und damit gegen Unfreiheit, Intoleranz und Hass einzutreten. Es ist auch kein Zufall, dass politische Kräfte, die wie bereits im 20. Jahrhundert an die niedrigsten und zerstörerischsten Instinkte im Menschen appellieren, just dieser Tage wieder Erfolge feiern: Fast ein Menschenleben nach dem Holocaust verblasst die Erinnerung immer mehr, und manch einer meint heute sorg- und verantwortungslos, seine Stimme an Nationalisten und Menschenfeinde verschwenden zu können.

Die lange Phase von Frieden in Freiheit ist eine epochale Errungenschaft und zugleich eine große Herausforderung, denn was der Mensch nicht selbst erlebt hat, das kann er sich auch nicht vorstellen. Um unsere Demokratien zu erhalten, stellt sich für uns mit umso größerer Dringlichkeit die Aufgabe, Erinnerung und Gedenken in neuer, dauerhafter Form weiterzutragen und dafür zu sorgen, dass die Berichte der Überlebenden weiter gehört und gelesen werden. Die aktuelle Neuauflage ebenso wie die erst vor wenigen Jahren erstmals erfolgte Übersetzung ins Englische zeigen dabei deutlich die nochmals gewachsene Bedeutung der persönlichen Erinnerungen von Überlebenden. »Die lange Nacht« ist in ihrer schonungslosen Klarheit ein Dokument von besonderem Wert, dem jeder von uns nur eine möglichst große Verbreitung bei Jung und Alt wünschen kann. Ernst Israel Bornsteins Schilderungen haben gerade in der heutigen Zeit das Potenzial, von oberflächlichen Erinnerungsritualen zu einem Gedenken zu führen, das für jeden einzelnen mit einer tiefen, individuellen Einsicht und Bedeutung verbunden ist. Nur so können wir bewahren, was wir heute genießen und für dessen Erhalt auch Dr. Bornstein eintrat. Nur wer weiß, was geschehen ist, kann verhindern, dass es sich wiederholt; und wer dieses Buch liest, der kann nicht länger sagen, dass er nichts wisse.

Einleitung zur Erstausgabe

An einem für die Jahreszeit ungewöhnlich sonnigen Dezember Tag des Jahres 1956 begegnete ich in der Münchner Universität meinem verehrten Lehrer Professor Mikorey. Bis jetzt hatte ich mich noch für keines der von ihm vorgeschlagenen Themen für meine Doktorarbeit entscheiden können, und ich nutzte die Gelegenheit, ihn darauf anzusprechen. Als Student der Zahnheilkunde hörte ich die Abendvorlesungen Mikoreys in der Nervenklinik, und gleich vielen meiner Mitstudierenden war ich von seiner menschlichen Ausstrahlung tief beeindruckt. Das Wissen, dass ich hier gewann, half mir auch bei meinen weiteren Studien, und als ich später allgemeine Medizin studierte, begegnete ich Professor Mikorey wieder in seinen Vorlesungen.

Als ich mich nun um eine Doktorarbeit bei ihm bemühte, kamen wir auch auf die Judenverfolgungen zu sprechen, und er regte mich an, meine eigenen Erlebnisse aus jener Zeit niederzuschreiben. Mit 19 Jahren hatte man mich ins KZ gesperrt und in vier Jahren und drei Monaten war ich durch zwölf verschiedene Lager gegangen. Ich sei geistig reif genug, so meinte Mikorey, mein Schicksal nun noch einmal zu durchleben und als Augenzeuge von dem Leidensweg meines Volkes zu berichten.

Zu jener Zeit war ich noch Mitarbeiter des Jüdischen Wissenschaftlichen Instituts in New York und damit beschäftigt, die Erlebnisse junger Menschen, die die Jahre der Haft hinter sich hatten, zu sammeln. Meine Aufgabe bestand darin, diese Aufzeichnungen in der Sprache der Augenzeugen niederzulegen und sie von literarischen Zutaten freizuhalten. In dieser Art, so meinte Professor Mikorey, sollte ich auch meine Erlebnisse beschreiben, Begebenheiten einer Zeit, in der der Mensch seine humanen Grundeigenschaften soweit verlieren konnte, bis er sein menschliches Wesen ganz abgelegt hatte. In der Medizin weiß man von Versuchen, bei denen durch Hormongaben die menschliche Physis beeinflusst wird – unter dem nationalsozialistischen Terror aber wandelte sich die Psyche des Menschen total bis zur Auflösung oder Verkehrung der Persönlichkeit. Unter seinem Terror sank der Mensch von Stufe zu Stufe, der Mensch wurde zum Unmenschen. Die natürlichen Gefühle des Menschen wurden systematisch zerstört. So konnte z. B. eine Mutter ihr Kind weggeben, um sich selbst zu retten, ein bisher gutartiger Mensch wurde unter dem Einfluss von Angst und Hunger zum bösartigen Tier. Mancher verwandelte sich zum unterwürfigen Sklaven, der dem gleichen Herrn diente, der ihn später kaltblütig ermordete.

In diesem Bericht soll versucht werden, rückschauend das Erlebnis zu sehen und nur die Tatsachen sprechen zu lassen ohne Kommentar, ohne den Leser mit persönlichen Emotionen zu belasten. Dennoch wird es schwerfallen, meinen Worten immer Glauben zu schenken. Kann man heute nach so vielen Jahren Ereignisse, Gedanken und Empfindungen noch so schildern, wie man sie damals gesehen, gedacht, empfunden hat? Wohl kaum. Was z. B. fühlt ein Mensch, wenn er unterwegs merkt, dass ihn die Füße nicht mehr tragen, dass er nur noch wenige Schritte weitergehen kann und dabei sieht, wie sein Nachbar, der nicht mehr zu gehen vermag, beim Zurückbleiben erschossen wird? Freilich, zunächst versucht er weiterzugehen, er will leben, greift nach der Hand des Nachbarn, um sich an ihm festzuhalten. Doch der ist selber am Ende seiner Kräfte, er stößt die Hand weg und will den Zurückbleibenden nicht weiterschleppen. Der Schwache bleibt hinter den anderen zurück – aber das muss man selbst gesehen haben. Dies erlöschende Gesicht, die flackernden Augen eines Menschen, der meint, kurz vor dem Ziel zu sein. Da erreicht die Kugel seinen Nachbarn – gleich kann sie auch ihn treffen. Wer kann sagen, was solch ein Mensch erlebt, während er die letzten Schritte seines Lebens tut? Wer kann beschreiben, was er in diesen Sekunden fühlt, leidet.

Und was habe ich selbst an diesem Tage erlebt? Als »auserwählter« Häftling musste ich dem Kapo den Brotsack tragen und als Letzter in der Reihe neben ihm und dem SS-Mann marschieren. Der SS-Mann erschoss alle, die zurückblieben, und der Kapo musste die KZ-Nummer der Erschossenen notieren. Ich schaute in den Pistolenlauf, bevor die Kugel dem schwankenden Menschen vor mir ins Genick gejagt wurde, schaute auf den dünnen Strahl Blut, der noch langsam lief, als das Leben den Körper schon verlassen hatte. Ich beobachtete den SS-Mann, sah, wie er trotz seiner blutigen Arbeit mit gutem Appetit im Gehen die sorgfältig belegten Brote aß. Auf den nahen Feldern waren Bauern beim Säen, und in einem der Häuser am Straßenrand goss eine Frau Blumen am Fenster. In diesem Augenblick durchbohrte wieder eine Kugel den Kopf eines Zurückbleibenden, ein kleiner Blutstrahl lief die Schläfen hinab. Und all das geschah inmitten von bebauten Feldern und liebreich gepflegten Blumengärten! Leben wir noch in dieser Welt oder war das alles ein nie enden wollender böser Spuk? Wie war es möglich, dass Menschen fünfzig Meter weit von uns entfernt ruhig ihrer Arbeit nachgingen, während in ihrer unmittelbaren Nähe entkräftete, wehrlose Menschen erschossen wurden?

Eigentlich wollte ich den Plan, diese Erinnerungen zu schreiben, wieder aufgeben, denn nachdem ich damit begonnen hatte, war ich von Angstträumen gepeinigt worden, in denen ich die Erlebnisse der Lagerzeit immer von neuem durchleiden musste. Eines Tages jedoch kam eine junge Patientin zu mir. Sie fragte mich unter anderem, ob ich Jude sei und ob es wahr sei, dass es KZ-Lager gegeben habe, in denen man die Juden vergaste? Ob man tatsächlich auch Frauen und Kinder umbrachte? Ich erzählte ihr vom Schicksal meiner Eltern und Großeltern. Tief bewegt sagte sie darauf, dass Sie mir glaube. Bis dahin war sie der Meinung gewesen, Berichte dieser Art wären pure Propaganda und von der Besatzungsmacht ausgestreut, um das Ansehen der Deutschen herabzusetzen.

Das also ist die Meinung der demokratisch erzogenen Nachkriegsjugend, dachte ich. Wenn diese Jugend glaubt, dass die blutige Ära des Nationalsozialismus nur eine Erfindung der Propaganda ist, so will ich meinen Teil dazu beitragen, diese Meinung zu erschüttern. Ich bin meinen Eltern, die man in Auschwitz vergaste, die Wahrheit schuldig, bin sie meinem kleinen, lustigen, impulsiven Bruder und meiner zarten kleinen Schwester schuldig, die man in Auschwitz in der Gaskammer ermordete.

Heute, über 20 Jahre später, stellen junge Menschen häufig die Frage, wie es denn überhaupt möglich war, dass große Volksmassen, deren Zahl in die Millionen ging, der Vernichtung zugeführt werden konnten und dass diese Massen sich kampflos ihrem Schicksal ergaben. Und wirklich ist, von heute ausgesehen, dass damals Geschehene kaum verständlich; ich hoffe aber, mit dem vorliegenden Bericht diese Frage wenigstens zum Teil beantworten zu können. Nicht eine Sammlung der schlimmsten Erlebnisse der Juden, sondern eine Darstellung des jüdischen Alltags in den Jahren von 1939 bis 1945 soll es dem Leser ermöglichen, sich in die damalige Situation der Juden einzufühlen und ihr Verhalten zu begreifen. In keinem der Lager, durch die ich ging, gab es Gaskammern, in denen Frauen und Kinder vergast wurden. Doch selbst in unserem Lager, dass keine 100 km von dem Vernichtungslager Auschwitz entfernt war, wurde alles so verschleiert, dass wir länger als ein Jahr brauchten, ehe wir begriffen, dass nicht weit von uns täglich massenweise Männer und Frauen, Kinder und Alte vergast und verbrannt wurden. Die Verheimlichung des Vernichtungssystems war ein Teil der teuflischen Methode, durch die man nach und nach den Menschen zum Sklaven machte, und damit jede Möglichkeit eines allgemeinen Wiederstandes der Juden ausschaltete. Trotzdem leisteten in Hunderten von Fällen Einzelne und Gruppen mit dem Gewehr in der Hand oder mit bloßen Fäusten erbitterten Widerstand, der aber von vornherein aussichtslos war und zum Tode führte. Ich zeichne eine Chronik von Erlebnissen auf, die in einem Jahrhundert geschahen, da man zum Tierschutz aufrief und entsetzt protestierte, als Kaninchen zur Vivesektion benutzt wurden. Im gleichen Jahrhundert in der gleichen Gesellschaft wurde eine Mordmaschinerie betrieben, deren Räder anscheinend so lautlos mahlten, dass Sie selbst empfindliche Ohren nicht störte.

Meine Geschichte verfolgt noch ein anderes Ziel. Sie soll eine Hilfe, ein Leitfaden sein für jene Wissenschaftler, die sich mit den Überlebenden dieser Katastrophe befassen, mit Menschen also, die eine eigenartige, beispiellose psychologische und soziologische Gruppe innerhalb der menschlichen Gesellschaft darstellen. Denn diese Überlebenden sind zumeist in ihrer Psyche gebrochen durch ein Trauma, dass nicht zum Restitutio ad Intergrum führen kann. Obwohl viele ehemalige KZ-Häftlinge wieder ganz im Leben zu stehen scheinen und Erfolge erlangen, sind sie psychisch kranke Menschen geblieben. Ihr gegenwärtiges Leben ist durch die Vergangenheit belastet, und kein Erfolg ist imstande, die erlebten Schrecken auszulöschen. Nicht selten hört man in intellektuellen Kreisen ehemaliger KZ-Häftlinge die fatalen Worte: »Eigentlich sind wir schon gestorben in den Jahren zwischen 1940 und 1945. Unser äußeres Leben haben wir zwar gewonnen, doch unser inneres ist tot.« Diesen Ausspruch hörte ich oft als ich die Lebensgeschichte junger KZ-ler für das Institut in New York aufnahm. Von der Last, die man als zur Vernichtung Verurteilter, als entmenschte Kreatur Jahre lang getragen hat, kann man sich nicht mehr befreien. Die Jahre der Angst und Unterdrückung hinterließen in der Psyche Schäden, die irreparabel sind wie Schäden in der grauen Substanz der Nervenzentren. Der ehemalige KZ-Häftling kann wohl mit den anderen lachen und fröhlich sein, aber sein Inneres schmerzt und blutet, da sich die alten Wunden nicht schließen wollen. Er hat zwar das räumlich begrenzte Konzentrationslager verlassen, aber die furchtbare Atmosphäre des Lagers umschließt ihn noch, es ist, als ob das KZ noch in ihm wäre. Das müssen besonders diejenigen in Betracht ziehen, die sich mit der Psyche der KZ-Häftlinge beschäftigen, diejenigen, die helfen und heilen und – urteilen sollen. Wie oft höre ich selbst, besonders an Abenden, wenn ich allein bin, meine Eltern und meine Schwester sprechen. Ich sehe ihre Gesichter, die oft ruhig und zufrieden erscheinen. Wenn aber mein kleiner Bruder kommt, entsteht ein gespenstischer Wirbel in meinem Gehirn. Ich sehe mich dann wieder, wie man mich mit Gewalt aus unserer Wohnung zerrt, ich höre das Schreien meiner Angehörigen – und ich glaube, so haben sie auch in den Gaskammern geschrien. Nur meinen Vater sehe ich als stillen, schweigenden Mann mit ernstem Blick, wie er zu der Mutter und den Kindern sagt: »Mit Ruhe soll man den Mördern begegnen, mit Stolz soll man aus dieser Welt gehen. Die Mörder werden schon ihre Strafe bekommen.« Das waren die Worte meines Vaters als sie in Auschwitz ankamen, so erzählte mir meine überlebende Schwester.

Ich werde weiterschreiben, denn in meinen Ohren klingt die Stimme meines kleinen Bruders. Schon dir zuliebe, weil man dich erstickt hat, dich mit deinem fröhlichen Herzen, mit deinen ernsten Kinderaugen, mit denen du mir beim Lesen über die Schulter sahst, dir zuliebe Bruder, mit deinen unschuldigen Augen, die man in Auschwitz barbarisch auslöschte. Du siehst mich in der Finsternis der Nacht, wenn ich schlaflos liege, und deine Augen mahnen mich: »Vergiss es nicht!« Für dich will ich schlaflose Nächte haben, mein kleiner Bruder, für dich will ich die Geschichte der langen blutigen Nacht erzählen.

Ehe sie begann, die Nacht, die fünf Jahre und acht Monate dauerte, waren wir eine glückliche Familie. Wir vier Kinder (ich war der Älteste von zwei Buben und zwei Mädchen) wurden umsorgt von guten Eltern und einem großen Verwandtenkreis. Mein Vater, der ein geachteter und verehrter Mittelpunkt der Familie war, wusste Rat in schwierigen Fragen und hatte das letzte Wort bei schwierigen Entschlüssen, wohl auch, weil er der Älteste von sieben Geschwistern war. Seine Haltung, die geistigen Interessen über die materiellen zu stellen, trugen ihm die Sympathie und Achtung unserer Mitbürger ein. Jahrelang bemühte er sich um die Erziehung der jüdischen Jugend und war ehrenamtlicher Vorstand des Elternrates der Jüdischen Schule in unserer Stadt. Seine Tätigkeit in der zionistischen Bewegung nahm einen Großteil seiner freien Zeit in Anspruch; ich erinnere mich gut, dass seine Abende mit Sitzungen und Vorträgen für diese Bewegung ausgefüllt waren. Er sah seine Lebensaufgabe darin, tatkräftig für sie zu wirken. In der Verwirklichung eines jüdischen Staates auf dem Gebiet des damaligen Palästina lag für ihn die Zukunft des Judentums begründet. Unsere Erziehung war stark von seinen Idealen getragen. Ich darf wohl sagen, dass sich unsere Eltern in ihren Bemühungen ergänzten, uns geistig auf die Zukunft vorzubereiten. Ihr harmonisches Familienleben war nur der äußere Rahmen zu diesem unablässigen Bestreben. Doch mit einem Schlag wurden wir aus der normalen Bahn eines bürgerlich dahin fließenden Lebens geworfen.

Im Herbst 1939 zeigten sich die ersten Auswirkungen der schon seit Jahrzehnten andauernden dunklen Hetze gegen die Juden. Verordnungen und Begrenzungen jagten einander. Noch konnten wir die ersten Maßnahmen, wie z. B. das Tragen einer weißen Armbinde mit gelbem Judenstern oder das Verbot, bestimmte Straßen und Plätze zu besuchen, nicht fassen, erfolgte bereits das Verbot, die Eisenbahn zu benutzen, die Ausweisung aus den Schulen, die Anordnung, nachts bei Strafe die Wohnung nicht zu verlassen. Aber das Leben ging weiter, auch wenn Wohnungen und Geschäfte enteignet wurden, auch wenn riesige Summen an Kontributionsgeldern aufgebracht und Gold, Schmuck, Pelze und Radioapparate abgeliefert werden mussten und die Juden allmählich in ein zunächst großes Ghetto eingeschlossen wurden. Es ging weiter, trotz des Zwanges, täglich bei Polizei und Wehrmacht schmutzige Arbeiten zu verrichten, von denen man oft zerschlagen und blutend nach Hause kam. Es ging weiter, bis schließlich die Verschleppung zur Zwangsarbeit kam und als letzte Etappe die »Endlösung« der Judenfrage, d. h. der Tod in den Gaskammern von Auschwitz. Im August 1943 wurden auch meine Eltern, Geschwister und Verwandten in den Gaskammern und Krematorien von Auschwitz getötet. Und mit ihnen waren die letzten Juden aus der Stadt verschleppt worden. Die nun folgende Aufstellung (s. S. 270/271) meiner Familienangehörigen väterlicher- und mütter-licherseits zeigt das Bild einer Familie, der das Schicksal unter den gegebenen Verhältnissen noch gnädig war, da sich wenigstens zwei junge Menschen aus der Massenvernichtung retten konnten. Von vielen Familien überlebte niemand, deren Spuren wurden verwischt und zerstreut wie die Asche aus den Krematorien von Auschwitz, Strutthof und Treblinka.

Ernst Bornstein, München, 1967

Das Leben im Getto

Am 1. September 1939 wurden wir frühmorgens durch laute Donnerschläge geweckt. Wir konnten nicht unterscheiden, ob es sich um Bombenabwürfe handelte oder ob das Gedonner von Flakgeschützen herrührte. Zugleich forderte der Rundfunk unablässig zur Landesverteidigung auf: zum Luftschutz, zum Dienst beim Roten Kreuz, zum Grabenausheben. Der Krieg des nationalsozialistischen Deutschland gegen Polen hatte unwiderruflich begonnen. Ununterbrochen brausten Flugzeuge über uns hinweg, wir konnten jedoch nicht unterscheiden, ob es sich um eigene oder feindliche handelte. Gegen Mittag verbreitete sich die Nachricht, dass die deutsche Wehrmacht die Grenze überschritten habe und schon etwa 30 km tief in polnisches Gebiet einmarschiert sei. Diese Nachricht löste in mir seltsamerweise kein Angstgefühl aus. Ich dachte zunächst auch nicht daran, einen der Luftschutzräume aufzusuchen. Voller Spannung, aber nicht unruhig beobachtete ich das Manövrieren der Flugzeuge und fühlte, dass nun ein neuer Abschnitt der Geschichte begonnen hatte.

Die ausweglose Situation der jüdischen Jugend unter dem ultranationalistischen polnischen Regime des Obersten Beck hatte bewirkt, dass auch ich eine Veränderung der bestehenden Gesetzlichkeit unseres Lebens herbeisehnte. Wie freilich diese Veränderung aussehen sollte, davon hatte ich nur vage Vorstellungen, es waren mehr Wünsche und Ahnungen. Als ich mittags zufällig bei einem Fliegerangriff in einem Hausflur mit dem Polizeipräsidenten unserer Stadt beisammen war, merkte ich, wie dem gefürchteten Mann beim Einschlagen der Bomben die Hände zitterten und gleich so, dass er die Zigarette nicht zum Munde führen konnte. Er, vor dem sonst die ganze Stadt in Ehrfurcht erstarrte, stand versteckt, geduckt und zitternd unter der steinernen Stiege. Das Bild erschütterte mich und ließ mich plötzlich ahnen, dass die Situation um vieles ernster sein musste, als ich im Augenblick wahrhaben wollte.

Dies war auch der erste Freitagabend, an dem das Schabbatfest nicht geheiligt wurde. Dass die Familienfeier so schweigend übergangen wurde, stimmte mich traurig. In unserer Wohnung waren viele Nachbarn versammelt, und wir hörten zusammen die großsprecherischen Reden der polnischen Militärführung an, die versprach, man werde die deutschen Eindringlinge bald schlagen und verjagen.

Die Neuigkeiten überschlugen sich. Versprengte polnische Soldaten erzählten von aufgeriebenen Kompanien, von der motorisierten deutschen Wehrmacht, die auf uns zurollte. Eine drückende Stimmung legte sich auf uns – verschwunden war meine Gier, Interessantes zu erleben. Langsam wurde mir klar, dass die Flugzeuge alle deutscher Herkunft waren und das polnische Militär dem deutschen Einbruch keinen wirksamen Widerstand entgegenzusetzen vermochte. Samstag früh sahen wir, wie sämtliche Regierungsgebäude evakuiert wurden. Das gesamte öffentliche Leben und der Verkehr waren bereits lahmgelegt. Gerüchte gingen um, dass Panzerspitzen der deutschen Wehrmacht schon vor unserer Stadt stünden und dass besonders die Männer von der deutschen Wehrmacht Gewalttaten befürchten müssten.

Mit ein wenig Handgepäck machten mein Vater, einige Nachbarn und ich uns auf den Weg, der uns zur nächsten östlich gelegenen Ortschaft führen sollte. Meine übrigen Angehörigen waren schon am Tag zuvor geflüchtet. Die Straßen waren mit Flüchtlingen verstopft, viele zogen Ochsen, Kühe oder Ziegen hinter sich her. Andere schoben kleine Handwagen, auf denen sich ihre ganze Habe befand. Obenauf saßen weinende Kinder. Umherirrende Kinder schrien nach ihren Eltern, die sie in dem Gewimmel verloren hatten. Der ganze Zug wirkte chaotisch und gespenstisch. Artilleriegeschosse pfiffen über unsere Köpfe hinweg und erfüllten uns mit Angst und Schrecken. Wir kamen nur langsam vorwärts, denn das Militär sperrte zeitweise die Straßen ab. Ich sah überall in erschrockene Gesichter, alles schien in Auflösung begriffen. Gerüchte wollten wissen, dass sich Hunderte von Spionen, als polnische Soldaten und Offiziere verkleidet, unter der flüchtenden Menge befanden und den deutschen Flugzeugen Zeichen gaben. Uns zur Seite ritt ein polnischer Offizier, und neben ihm, an ein Pferd gebunden, lief ein Soldat, angeblich ein deutscher Spion. Die aufgebrachte Menge stieß und schlug auf ihn ein.

Am Sonntag kamen wir im Morgengrauen bei unserer Großmutter in Pilica an, wo uns unsere Mutter mit den Geschwistern erwartete. Nachmittags berieten die Familien, ob man weiterflüchten oder bleiben sollte. Der Vormarsch der deutschen Truppen setzte jedoch den Beratungen ein Ende. Vorhuten der Deutschen waren schon in die Ortschaft eingedrungen. Als wir am nächsten Morgen erwachten, wimmelten die Straßen von deutschen Panzerwagen und Soldaten. Nachbarn kamen und sagten, es sei alles gar nicht so schlimm, wie man sich immer erzählte. Die Soldaten seien friedlich, sie unterhielten sich mit den Männern, teilten Schokolade an die Kinder aus und täten niemandem etwas zuleide. Unsere jüngste Tante ging auf die Straße hinaus, um sich von der Wahrheit dieser Worte zu überzeugen. Als sie nach einiger Zeit zurückkam, bestätigte sie die allgemeinen Aussagen. So gingen einige Stunden ohne weitere Behelligung vorbei. Plötzlich war eine wilde Schießerei zu hören. Wir spähten durch das Fenster auf die Straße und sahen gerade noch, wie sich deutsche Soldaten auf den Boden warfen und ihre Gewehre in Anschlag brachten. Eine Nachbarin kam mit der Nachricht, dass im Nebenhaus deutsche Soldaten bereits die Männer aus der Wohnung holten. Wir liefen in den Keller hinunter und versteckten uns. Gleich darauf erschienen auch bei uns Soldaten in der Wohnung und befahlen: »Alle Männer raus!« Über unseren Köpfen dröhnten die schweren Tritte der Stiefel und wildes Geschrei: »Verfluchtes Pack! Wo sind die Männer?« Einen Augenblick lang hielten wir den Atem an, dann aber leuchteten uns Taschenlampen ins Gesicht, und unsere Häscher trieben uns mit Gewehrkolben und Fußtritten auf die Straße, wo schon mehrere Männer versammelt waren. Als wir zu einer größeren Gruppe angewachsen waren, führten uns einige Soldaten auf den Marktplatz. Hunderte von Männern standen hier zusammengedrängt, umgeben von Soldaten mit schussbereitem Gewehr.

Einige schossen in die Luft, um die allgemeine Verwirrung zu steigern. Dann ertönten die Kommandorufe: »Reihenweise zu fünft aufstellen! Auf geht’s! Marsch! Marsch! Schnell anschließen!« So marschierten wir mit ungewissem Ziel aus der Ortschaft hinaus, bis wir vor einer großen Fabrikhalle haltmachten, in die wir mit Geschrei und Schlägen hineingepfercht wurden. Sofort traten die älteren Männer zusammen, um eine Delegation zu wählen, die sich erkundigen sollte, warum man uns hier gefangen hielt. Nach ihrer Rückkehr erzählten die Männer, man habe von einem Versteck aus auf deutsche Soldaten geschossen und jeder zehnte Mann von uns würde erschossen werden, falls wir die Schuldigen nicht preisgäben. Unsere Delegierten forderten uns auf deutsch, polnisch und jiddisch auf: Wer ein Gewehr besitzt, soll sich melden! Aber niemand meldete sich. Schließlich beschworen sie uns eindringlich, diejenigen, die Waffen besäßen, sollten vortreten. Um den Rabbiner versammelten sich nun die Gemeindeältesten und berieten, wie ein großes Blutvergießen zu vermeiden sei.

Schließlich traten einige alte Männer auf die Gruppe der Beratenden zu und teilten ihnen ihren Entschluss mit, ihr Leben freiwillig für das der übrigen Gemeindemitglieder zu opfern. Ich drückte mich indessen fester an meinen Vater, der traurig, aber gefasst abseits stand. Er war voll düsterer Vorahnungen. »Wir sind zu spät davongelaufen«, sagte er zu mir. »Schon vor einem Jahr hätten wir Europa verlassen sollen, das wäre richtig gewesen.« Unter schwerer Bewachung wurden wir schließlich von den Soldaten von der Fabrikhalle hinaus ins freie Feld geführt und erhielten den Befehl, uns hinzulegen. Jeder zitterte vor Angst, da er glaubte, er könne jener Zehnte sein, der das Leben lassen sollte. In diesem Augenblick hielten vor uns einige Militärautos. Ein hoher Offizier stieg aus und versammelte die übrigen Offiziere um sich. Nach einigen Minuten Beratung erhielten wir den Befehl: »Aufstehen! Ihr könnt wieder nach Hause gehen! Ihr seid frei!«

Nachträglich erfuhren wir, dass man tatsächlich auf deutsche Soldaten geschossen hatte, worauf der Kommandeur den Befehl gegeben hatte, alle Juden zusammenzutreiben und jeden zehnten zu erschießen. Inzwischen aber hatte die Feldgendarmerie die wirklichen Täter aufgespürt. Es waren einige versprengte polnische Soldaten, die entschlossen waren, unter allen Umständen Widerstand zu leisten. Sie hatten sich auf dem Kirchturm verschanzt und von dort aus auf die deutschen Soldaten geschossen.

Noch einmal war uns die Rückkehr ins großelterliche Haus vergönnt. Wie glücklich leuchteten die Augen unserer Mutter, als wir zurückkamen. Im Überschwang der Freude waren wir geneigt, gleich alles zum Guten auszulegen, und meinten, dass die Deutschen wohl nichts Böses im Schilde führten und mit ihren Maßnahmen nur die Schuldigen zu treffen suchten; benähme sich nur jeder vorschriftsmäßig, so würde ihm kein Unrecht geschehen. Von anderen Ortschaften jedoch drangen bedrohliche Nachrichten zu uns. Man erzählte, dass man Männer zu Hunderten erschossen habe und dass im Chaos der Besetzung ganze Ortschaften ausgesiedelt worden seien. Andere Gerüchte dagegen besagten, dass in manchen Städten vollkommene Ruhe und Ordnung herrsche. Die deutsche Besatzung habe dort befohlen, die Geschäfte wieder zu öffnen, die Betriebe wie bisher weiterzuführen; mit einem Wort, sie sorge für eine schnelle Normalisierung des Lebens, ohne aber bei der Behandlung der Bevölkerung einen Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden zu machen.

Auch hier in dem kleinen Städtchen Pilica legte sich die anfängliche Aufregung wieder. Wir konnten sehen, wie die Soldaten sich friedlich mit der Bevölkerung unterhielten. Man tat niemandem etwas zuleide, und so wich die Angst langsam von uns. Gerüchten von Geiselerschießungen und Gräueltaten, die sich in anderen Ortschaften ereignet haben sollten, wollten wir einfach kein Gehör mehr schenken. Zu tief war in der jüdischen Bevölkerung der Glaube eingewurzelt, dass die Deutschen ein Volk von hoher Kultur seien, bekannt als Träger humanitärer und freiheitlicher Ideen, das Volk der Dichter und Denker. Die ältere jüdische Generation wusste noch von Begegnungen mit dem Deutschland vor 1918 zu berichten, zudem sie Vertrauen hatten und dem sie Respekt entgegenbrachten. So neigten auch jetzt die meisten Juden dazu, die verschiedenen Gräueltaten, von denen sie hörten, nur als unvermeidbare Ausschreitungen einzelner Frontsoldaten auszulegen, und hofften im Übrigen, der humanitären Gesinnung des deutschen Volkes vertrauen zu können, die sich zeigen musste, sobald die Frontsoldaten abgezogen waren.

Nach einem Aufenthalt von zwei Wochen beschloss auch meine Familie, wieder in die Heimatstadt zurückzukehren. Auf dem Rückweg begegneten uns unaufhörlich Einheiten aller Waffengattungen der deutschen Wehrmacht, die nach Osten marschierten. Doch man hinderte und belästigte uns nicht auf dem Heimweg. Als wir schließlich wieder zu Hause eintrafen, verkündeten uns große Plakate, dass alle Juden männlichen Geschlechts ab dem 14. Lebensjahr sich in der großen Textilfabrik einzufinden hätten. Da dieser Befehl jedoch schon eine Woche alt war, befolgten wir ihn nicht. Die Juden, die bereits in den großen Fabrikhallen interniert waren, wurden noch weitere zehn Tage festgehalten und schließlich wieder entlassen.

Der Feldzug gegen Polen ging schnell zu Ende. Die Besatzungsmacht bemühte sich zunächst, das tägliche Leben wieder in Gang zu bringen. Doch einige Einschränkungen für Juden waren in Kraft, so das Verbot, die Wohnungen nachts zu verlassen, Gottesdienst oder Versammlungen anderer Art abzuhalten. Die Synagoge wurde gesperrt und die jüdischen Schüler von den Schulen, in denen wieder normaler Unterrichtsbetrieb herrschte, ausgeschlossen. Immer häufiger und rücksichtsloser wurden wir bei Arbeiten aller Art eingesetzt. So zwang man die Männer besonders am Schabbat und an den jüdischen Feiertagen zur Arbeit. Mit vielen anderen holte man eines Tages auch mich an unserem größten Feiertag, dem Versöhnungstag, damit ich beim Abladen von Kohlen am Bahnhof mithelfe. An diesem Tag, der für uns ein strenger Fasttag ist, trieb man uns in die Waggons, die von je zwei jungen Wehrmachtsangehörigen bewacht waren. Der Kohlenstaub brannte uns in den Augen und trocknete uns den Mund aus, aber man erlaubte uns nicht, die Waggons zu verlassen, um etwas zu trinken. Einer der jungen Soldaten war gutmütig und erlaubte uns, Ruhepausen einzulegen, da uns die Hände, die an die schwere Arbeit nicht gewöhnt waren, vom Schaufeln brannten. Erschien aber sein strenger Begleiter, so passte er sein Verhalten dem seines Vorgesetzten an. Solche Schikanen zeigten uns deutlich unsere Situation. Aber noch wollten wir versuchen auszuwandern. Wir nahmen Verbindungen mit verschiedenen Konsulaten auf und nährten eine Zeitlang Hoffnungen, die dann wieder kläglich dahinschwanden. Allgemein gab man sich dem trügerischen Glauben hin, der Krieg könne nur wenige Monate dauern. Sei er aber einmal zu Ende, so gäbe es bestimmt eine Möglichkeit zum Auswandern. Deshalb nahm man auch beherrscht Schikanen und Entrechtung hin und wollte in ihnen nur kriegsbedingte Maßnahmen sehen. Wir glaubten allen Ernstes, der Zwang, für die Besatzungsmacht Arbeit zu leisten, sei das Schlimmste, was uns geschehen könnte, und das sei, wenn nötig, mit Geduld zu ertragen.

Einige Monate nach Beendigung des Polen-Feldzuges hatte man unser Gebiet, Polnisch-Oberschlesien, dem Deutschen Reich eingegliedert. Unsere Stadt mit dem polnischen Namen Zawiercie wurde in »Warthenau« umbenannt. Durch Schikanen wollte man die nichtjüdische polnische Bevölkerung nötigen, sich als Volksdeutsche zu melden. Man spiegelte ihr vor, sie stiege damit zum »Herrenvolk« auf. Aber weite Kreise wehrten sich dagegen, allen voran die Mitglieder der sozialistischen Partei PPS, von denen viele verhaftet wurden, um den Widerstand der Polen zu brechen. Die ersten »Volksdeutschen« waren vor allem polnische Geschäftsleute, die Hitlerbilder und Hakenkreuzfahnen in ihre Auslagen stellten. Gleichzeitig wurden die Juden unter Androhung schwerer Strafen gezwungen, weiße Armbinden mit einem gelben Stern zu tragen, in den das Wort »Jude« eingedruckt war. So wurden wir Gezeichnete, Menschen zweiter Klasse.

Auf Befehl der Gestapo bildete sich ein »Judenrat«, dem aufgetragen wurde, Kontributionsgelder einzutreiben und den deutschen Behörden täglich einige hundert Männer für verschiedene Arbeiten zur Verfügung stellen. So musste auch ich mich zunächst jeden zweiten Tag zum Arbeitseinsatz melden. Wir wurden damit beschäftigt, die Straßen zu reinigen, die Polizeireviere sauber zu machen, Pferdeställe in Ordnung zu halten und verschiedene Transportarbeiten auszuführen. Oft genügte die Zahl der Arbeiter nicht, die dem Judenrat zur Verfügung stand, dann holte die deutsche Polizei gewaltsam jüdische Männer aus ihren Wohnungen.

Anfang 1940 hatte man die Juden aus dem deutschen Grenzgebiet um Teschen und Kattowitz ausgesiedelt und in unseren Kreis eingewiesen. Auch in unsere Stadt kamen einige hundert Familien. Die Vertriebenen hatten aus ihren Wohnungen nur einen Koffer Wäsche mitnehmen dürfen und waren völlig mittellos, da man ihnen alles Bargeld abgenommen hatte. Das heillose Elend der Vertreibung stand uns nun erstmals vor Augen. Auch in unserem Haus musste man für einige vertriebene Familien Platz machen, sie mit dem notwendigsten Hausrat versorgen und ihnen mit Geld aushelfen, damit sie die ohnehin kärglichen Lebensmittelrationen auf Karten kaufen konnten. Alle Bedürftigen wurden schließlich von der jüdischen Wohlfahrt betreut. Sie richtete Wohlfahrtsküchen ein, in denen die Mittellosen umsonst essen konnten, und gab kostenlos Lebensmittel aus. Unter den Familien, die in unser Haus aufgenommen wurden, war auch eine Familie mit vielen Kindern aus der deutsch-polnischen Grenzstadt Tarnowitz. Der Vater der Familie, Herr Hadda, war ein stolzer deutscher Nationalist, im Ersten Weltkrieg war er Offizier gewesen, hatte dann die oberschlesischen Kämpfe mitgemacht. Für seine Heldentaten im Kampf um Annaberg hatte er eine hohe Auszeichnung erhalten, und stolz erzählte er, dass auch auf seine Initiative hin das oberschlesische Gebiet Annaberg verteidigt und für das Deutsche Reich erhalten wurde. Täglich predigte er uns, dass es sicher ein Irrtum sei, dass gegenwärtig die deutschen Juden in alle Schikanen und Verfolgungen einbezogen wurden. »Es sind nur die Ostjuden gemeint«, sagte er. Und oft gebrauchte er sogar den Ausdruck »der Führer«, ein Wort, das er mit Stolz und Respekt aussprach. Er meinte, es wären nur kriegsbedingte Vorsichtsmaßnahmen, dass man die deutschen Juden verfolge. Sobald der Krieg vorbei sei, würde man ihnen ihre Rechte wiedergeben. Doch auch ihm, dem begeisterten Patrioten, sollten seine Kriegsauszeichnungen, die er für seinen tapferen Kampf ums deutsche Vaterland erhalten hatte, wenig nützen. 1943 wurde er zusammen mit seiner Familie nach Auschwitz gebracht und mit anderen jüdischen Einwohnern von Zawiercie vergast und verbrannt.

Der Frühling 1940 zeigte seine ersten blutigen Spuren. In einer Nacht verhaftete man zwölf Personen, meistens junge Menschen, die sofort verschwanden, ohne dass man je wieder von ihnen hörte. Es hieß, dass die deutschen Behörden aus Sicherheitsgründen alte Kommunisten in ihrem Gewahrsam haben wollten. Unter den Verhafteten waren aber nur wenige Kommunisten. Auch unser Nachbar Yehuda Grünkraut wurde in dieser Nacht von der Gestapo geweckt. Er musste sich eilig anziehen und mitkommen. Grünkraut war ein aktives Mitglied der zionistischen Bewegung »Bejtar«, einer rechtsgerichteten nationalen Partei. Die Verhaftung Grünkrauts war auf eine Denunzierung zurückzuführen. Überhaupt blühte das Denunziantentum. Die Zuträger waren meist Polen, die sich nun als Volksdeutsche bei der Gestapo meldeten und sich als emsige Helfer verdingten. Um der Gestapo ihren Eifer zu beweisen, stellten sie willkürlich Namenslisten zusammen. Auf Grund dieser Listen wurden oft Menschen verhaftet, an denen die Gestapo gar nicht interessiert war. Nach einigen Wochen erhielten die Eltern Grünkrauts ein Kleiderpaket und die Nachricht, dass ihr Sohn an Herzschwäche verstorben sei. In dieser Zeit wurde ich einmal das Opfer einer Namensverwechslung. Wie schon erwähnt, musste die jüdische Gemeinde oder, wie sie sich jetzt nannte, der »Judenrat«, eine ziemlich hohe Kontributionssumme an die deutsche Verwaltung abliefern. Da die Summe nicht rechtzeitig beschafft werden konnte, verhaftete die Gestapo dreißig Juden, die man vornehmlich aus den Reihen der wohlhabenden älteren Bürger unserer Stadt wählte. Auch der Name Bornstein stand auf ihrer Liste. So geschah es, dass eines Tages zwei Gestapobeamte bei uns erschienen und mich mitnahmen, da ich zufällig allein zu Hause war. Zusammen mit einigen anderen Leidensgefährten wurde ich auf einem Lastwagen nach Sosnowitz gebracht, wo die SS ein Ausbildungslager hatte. Jungen SS-Leuten wurde dort der »richtige« Umgang mit Untergebenen und Gefangenen beigebracht. Zum ersten Mal in meinem Leben verbrachte ich Tag und Nacht in der Nähe der SS. Wie sich herausstellte, sollten wir als Versuchstrupp für die SS dienen. Die Nächte verbrachten wir in einem zugigen Schuppen, in voller Bekleidung auf harten Holzpritschen ausgestreckt. Frühmorgens weckte uns ein durchdringendes Pfeifsignal. Wir bekamen eine Tasse schwarzen Kaffee und ein Stück Brot, dann wurden wir auf den Exerzierplatz getrieben. Nun begannen stundenlange strapazierende Übungen, denen viele von uns nicht gewachsen waren. Den Erschöpften wurde mit Schlägen wieder auf die Beine geholfen.

So vergingen einige Tage in ständiger Hetze. Später schickte man uns ohne weitere Erklärung wieder nach Hause. In unserer Heimatstadt fanden wir schlimme Veränderungen vor. Wir stießen unvermittelt auf so ungewohnte Beschränkungen und Einengungen, dass die eben erduldeten Demütigungen daneben geringfügig erschienen. Hatte man schon bisher jüdische Familien, die in der Nähe von öffentlichen Ämtern und Behörden lebten, zur Umsiedlung in andere Straßen und Stadtteile gezwungen, so waren diese vereinzelten Maßnahmen nun zu einer Großaktion ausgeweitet worden, deren Ziel auch dem Wohlmeinendsten nicht verborgen bleiben konnte: Man baute planmäßig ein Getto auf, in dem wir bald wie in einem Käfig lebten. Da der Zustrom der jüdischen Bevölkerung von den umliegenden Stadtteilen anhielt, nahm die Wohnraumnot ständig zu – nicht zu sprechen von der finanziellen und wirtschaftlichen Notlage, da ja besonders die geistig Schaffenden durch die behördlichen Zwangsmaßnahmen aus ihren Stellungen verdrängt worden waren und keine Möglichkeit hatten, eine neue Existenz aufzubauen.

Wir erhofften uns nichts Gutes von den kommenden Tagen und versuchten, wenigstens einige Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. So besorgten wir uns bereits im Sommer schwere Winterschuhe und Winterkleidung, da sich hartnäckig das Gerücht hielt, dass für die Juden Arbeitslager errichtet würden und unser aller Weg dorthin führen musste. Aber noch fanden einige Polen Mittel und Wege, in unser Getto zu kommen und uns zusätzlich mit verschiedenen Lebensmitteln und anderen Dingen zu versorgen, die es bei uns schon nicht mehr gab. Besonders Textilien standen hoch im Kurs. Langsam schwand unser Hab und Gut bei diesen Tauschaktionen dahin.

Die Mühen und Gefahren, die wir auf uns nehmen mussten, um das tägliche Leben zu fristen, lenkten uns zunächst von allen Zukunftsplänen ab. Der Spuk musste ja einmal ein Ende nehmen. Im Übrigen hatten wir längst keine Möglichkeit mehr, aktiv über unser Schicksal zu bestimmen. Jeder wusste, dass eine Flucht aus dieser Gefangenschaft von vorneherein zum Scheitern verurteilt war.

Bald darauf wurden die Schikanen weiter verschärft. Eine neue Verordnung zwang alle Juden, ihre Geschäfte Treuhändern zu übergeben. In unserem Gebiet wurden einige hundert Ruthenen- Deutsche angesiedelt, denen die jüdischen Geschäfte übereignet wurden. Auch mussten einige hundert jüdische Familien ihre Wohnungen räumen, um für die Volksdeutschen Platz zu schaffen, so dass das Getto immer kleiner und der verbliebene Raum immer überfüllter wurde, denn die Obdachlosen mussten wiederum bei anderen jüdischen Familien Unterschlupf suchen. Im Spätsommer 1940 erhielt der Judenrat den Befehl, einige hundert Männer zum Arbeitseinsatz zur Verfügung zu stellen. Sie sollten beim Bau der Autobahn eingesetzt werden. Als ich erfuhr, dass auch mein Name auf der Verschickungsliste stand, flüchtete ich und versteckte mich zwei Wochen lang in der benachbarten Stadt. Erst als der Transport für dieses Zwangsarbeitslager abgegangen war, kehrte ich zurück. Inzwischen waren einige meiner Kameraden verschleppt worden. Der Kummer ihrer Angehörigen war so groß, dass ich es verständlicherweise nicht wagen konnte, ihnen gegenüberzutreten, da ich dem Schicksal der Verschleppten noch einmal entgangen war.

Kaum erholte man sich von einem Schlag, folgte der nächste. Vermögensenteignung und Sklavenarbeit waren an der Tagesordnung. Wir waren Freiwild für die deutsche Polizei und die Besatzungsbehörden, da jeder von ihnen die Möglichkeit hatte, jüdisches Eigentum zu konfiszieren und jüdische Menschen abzuführen und zu verschleppen. Wir waren umgeben von strengen deutschen Bewachern, und zu ihnen gesellten sich jene feindselig gesinnten Polen, die sich jetzt als Volksdeutsche fühlten und die Unterdrücker eifrig unterstützten. Es gab aber auch Polen, die zu uns Juden gute Beziehungen unterhielten. Meist waren es einfache Arbeiter oder kleine Bauern, fromme und aufrichtige Katholiken, die jede noch verbliebene Möglichkeit ausnützten, uns zu helfen. Freilich waren ihre Bemühungen nicht ungefährlich, denn die Hilfsbereiten mussten die Macht jener einflussreichen Polen fürchten, die judenfeindlich gesinnt waren. So konnten wir keine entscheidende Hilfe erwarten. Der Fluchtweg war von einer unbezwingbaren Mauer verstellt. Nicht nur die Besatzungsmacht riegelte uns von der Außenwelt ab, auch die breite Schicht der polnischen Bevölkerung bildete eine Art Sperrmauer. Die systematisch durchgeführte Judenhetze in Bild und Schrift hatte in vielen Köpfen so viele Vorurteile erzeugt, dass man nie wusste, wie der betreffende Pole eingestellt war, an den man gerade geriet – judenfreundlich oder judenfeindlich. Mochte die Flucht infolge einer Verkettung von Glücksfällen gelegentlich Einzelnen gelingen, ganze Familien konnten nicht fliehen. Und welcher verantwortungsbewusste Familienvater oder Sohn hätte sich in solchen Notzeiten von den Seinen getrennt? So blieb kein anderer Ausweg als das standhafte Ausharren angesichts einer Gefahr, die täglich drohender auf uns zukam.

Grünheide

Seit Anfang 1941 sprach man davon, dass die jüdische Jugend der benachbarten Städte zum dauernden Arbeitseinsatz ausgehoben worden sei. Da sich nicht genügend junge Leute zum freiwilligen Einsatz meldeten, führten die Gestapo und die unter ihrem Kommando stehende jüdische Polizei Überfälle auf die jüdischen Einwohner durch, holten sie nachts aus den Betten und verschickten sie zwangsweise in Arbeitslager. In nächster Zeit würden sich auch bei uns solche Überfälle ereignen, davon waren wir überzeugt.

An einem Freitag dieser schreckerfüllten Tage fanden wir uns zum letzten Male zur Heiligung des Schabbats ein. Die Zeremonie wurde in großer Hast durchgeführt. Bei zwei kleinen Kerzen, die unruhig flackerten und unser Zimmer spärlich beleuchteten, heiligte mein Vater mit dem stillen Schabbatgebet diesen sonst so fröhlichen, jetzt aber von Angst erfüllten Schabbatabend. Zitternd und mit ängstlichen Gesichtern saßen wir vier Kinder beim Gebet. Unablässig bohrte in mir der Gedanke: »Wer weiß, ob das nicht der letzte Schabbat ist, bei dem ich dem Gebet am Tische meines Vaters lausche.«

Nach dieser kurzen Andacht gab mir meine Mutter schnell das Päckchen mit dem Abendessen und geleitete mich mit tränenfeuchtem Gesicht aus dem Haus, denn ich musste nun schnell in mein Versteck verschwinden, um nicht nachts von der Gestapo geholt zu werden.

Einige Nächte hindurch versteckte ich mich bei christlichen Freunden, die außerhalb der Stadt wohnten. Dann aber blieb ich wieder im Elternhaus. Am Abend des 25. März – es war ein Dienstag – erzählte jemand, dass der Überfall für die kommende Nacht geplant sei. Bei dem letzten Überfall auf die benachbarte Stadt sei man vor Schießereien und Mord nicht zurückgeschreckt. Diese Berichte in ihren verschiedenen Versionen versetzten die jüdischen Einwohner in schreckliche Unruhe. War es wahr, dass man Leute, die man in ihrem Versteck aufgestöbert hatte, an Ort und Stelle erschossen hatte? Dass man ganze Familien als Geiseln verschleppt hatte, wenn irgendein gesuchtes Familienmitglied unauffindbar war? Solche Nachrichten ließen uns das Blut in den Adern gefrieren, und wir waren überzeugt, dass auch wir bald voneinander Abschied nehmen müssten. Manche Familien rannten planlos auseinander, um sich in Schlupfwinkeln außerhalb der Stadt zu verstecken.

Die angsterfüllten Nächte schienen kein Ende zu nehmen. Ich wanderte nachts von einem Versteck zum anderen. Einmal hauste ich auf dem Speicher, dann wieder im Keller, immer in der Hoffnung, meinen Verfolgern zu entkommen. An jenem Dienstagabend also, als viele meiner Freunde wieder in ihr Versteck gelaufen waren, beschloss ich, zu Hause zu bleiben. Vergebens flehte mich meine Mutter an, ich solle mich verbergen. Ein plötzlicher Widerwille gegen dieses nächtliche Versteckspiel schwemmte alle Bedenken weg und zwang mich wider mein besseres Wissen, die Nacht im Hause zu verbringen. Ich beschloss, der wilden Panikstimmung nicht nachzugeben und ging ruhig zu Bett. Um vier Uhr morgens klopfte unsere Nachbarin an die Wohnungstür. Im Nu waren wir hellwach. Es war zwar stockfinster, aber von der Straße her drang wirrer Lärm herauf, und das Knallen schwerer Soldatenstiefel auf dem Steinpflaster ließ augenblicklich die schlimmsten Befürchtungen wach werden. Mit einem Sprung war ich beim Fenster und schob vorsichtig den Vorhang beiseite. Ich glaubte, in einen gespenstischen Abgrund zu sehen. Die gegenüberliegenden Häuser wurden bereits von SS-Leuten bewacht. In einer Hand hielten sie das aufgepflanzte Gewehr, in der anderen eine Taschenlampe, mit deren Strahl sie die Häuserfront abtasteten. Aus einer Haustür wurden gerade Männer und Frauen mit Kolbenschlägen auf die Straße hinausgestoßen. Bei den Frauen vergewisserte man sich rasch, ob sie nicht verkleidete Männer waren. Dann stieß und schlug man sie in das Haus zurück. Mutter