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Marysol ist gefangen in ihrem festgefahrenen Alltag aus Arbeit, überzogenem Anspruch an sich selbst und hartnäckigen Selbstzweifeln. Als sie durch Zufall die Bekanntschaft einer spirituellen Ikone und wahren Lebenskünstlerin macht, findet sie sich plötzlich auf Bali, in einem Strudel aus abenteuerlichen und lebensverändernden Ereignissen wieder, die ihr buchstäblich den Boden unter den Füßen wegreißen. Marysol lässt sich auf das große Abenteuer ein und nimmt uns als Leserinnen und Leser auf ihre Reise mit. Sie zieht uns in ihren Bann und lässt uns auf den Workbookseiten dieses Buches, an ihrer unglaublichen Entwicklung teilhaben und im Rahmen der gestellten Aufgaben unsere eigenen Wunder, parallel zu ihrer Geschichte, selbst schreiben. Tauche in dieses magische Buch ein, das uns nicht nur mitlesen, sondern direkt miterleben lässt und uns, mit Marysol an der Hand, einlädt, unsere eigene Lebensgeschichte neu zu schreiben. Das Buch beinhaltet, neben dem Romanteil, einen Selbstlernerkurs, der dir als Leser*in die grundlegenden Fragen rund um das Thema individuelle Persönlichkeitsentwicklung stellt und dich zu immer neuen Herausforderungen einlädt. Du findest auf insgesamt 138 farbigen Seiten eine Mischung aus Workbookanteilen, Kunst, motivierenden Affirmationen und Raum für eigene Gedanken. Dabei geht es beispielsweise um dein "Warum", beziehungsweise deine Werte, alte Glaubenssätze oder auch verschiedenste Anregungen zu den Themen Selbst- und Körperliebe. Informationen zu der E-Book Version: Es gibt in der Taschenbuch Version immer wieder Aufgaben, bei denen die Leser*innen aufgefordert werden, direkt in das Buch zu schreiben, es folglich als Journal/Arbeitsbuch zu verwenden. Diese Leerstellen, die von den Leser*innen genutzt werden können, tauchen so auch in der E-Book Variante auf. Der Workbookanteil muss somit eigenständig in einer separaten Kladde oder in einem Tagebuch bearbeitet werden. Die E-Book Version ist aus diesem Grund zu einem wesentlich geringeren Preis zu erwerben.
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Seitenzahl: 463
Veröffentlichungsjahr: 2023
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I wasn`t made to work a 9-5, I was made to swim in turquoise waters, eat fruit and paint in a small house by the sea.
unknown
Für meine Kinder hier und dort
HALLO DU,
es gab einen Tag, da kam meine Geschichte einfach so aus mir herausgesprudelt. Ich war wohl so weit. Es ist eine Geschichte, ja. Meine Geschichte.
Aber nicht nur. Es ist auch eine Schatzkarte. Du kannst meine Worte lesen und genießen oder dich ganz bewusst dazu entscheiden, ein Teil des Weges mit mir gemeinsam zu gehen, um aus meiner Geschichte deine Geschichte zu machen. In meinem Buch findest du immer wieder kleine Hinweise, Aufforderungen, Lieder, Herzensempfehlungen. Wenn du für dich ein JA spürst, darfst du diesen Wegweisern gerne folgen, bis du deinen eigenen Schatz findest.
Jetzt hast du die Möglichkeit, dein Leben für dich als Kunstwerk zu gestalten.
Du darfst und sollst in diesem Buch Markierungen machen, Vermerke hinzufügen und Passagen unterstreichen. Du darfst es knicken, Sätze streichen oder neue ergänzen, Merkzettel einkleben oder Seiten heraustrennen.
Im Buch sind kleine Übungsaufgaben vorzufinden bitte benutze hierfür ein extra Blatt Papier.
Lass das Buch für dich persönlich lebendig werden.
Trau dich und spring!
Deine Marysol
Prolog
Kapitel 1: Im Winter
Kapitel 2: Wenn der Schüler bereit ist, erscheint der Lehrer
Kapitel 3: Über das Töten
Kapitel 4: Drake
Kapitel 5: Whatever you are not changing, you are choosing
Kapitel 6: Guru
Kapitel 7: Neo
Kapitel 8: Love and feel
Kapitel 9: Schattenarbeit
Kapitel 10: Farbenrausch
Kapitel 11: Blut und Wasser
Kapitel 12: Vergebung
Kapitel 13: Feuer und Honig
Kapitel 14: Raue Nächte
Kapitel 15: Fragen und Antworten
Kapitel 16: If you can imagine, half way is done
Kapitel 17: the reason and the goal
Marysol erkannte eine Panikattacke, wenn sie kam, schon von Weitem. Es war, als ob sie plötzlich aus einem langen, schönen Traum aufwachte und hart in die Realität fiel. Alles um sie herum erschien ihr plötzlich viel intensiver, viel detailreicher. Die weiße, sterile Tapete neben ihr, mit abwaschbarer Farbe gestrichen. Die gleiche Tapete, die sie damals in ihrer Studentenwohnung gehabt hatte, als die Welt noch in Ordnung war. Das gleiche Flechtmuster. Hoch, runter, hoch, runter… der Klos im Hals wurde immer größer. Sie versuchte vergeblich, ihn herunter zu schlucken und hatte stattdessen nur noch stärker das Gefühl, dass er sie irgendwann ersticken würde. Ihr war furchtbar kalt. Die Flüssigkeit, die aus dem Tropf beständig in ihren linken Arm sickerte, war eisig und die gesamte Körperhälfte kühlte gleichmäßig aus. Sie versuchte ungeschickt, die linke Hand mit der rechten zu kneten. Die Finger waren schon ganz steif. Marysols Zähne begannen zu klappern und sie hörte das Blut in ihren Ohren rauschen.
Sie wusste, dass sie langsamer und kontrollierter atmen müsste, um das, was da zu kommen drohte, irgendwie aufzuhalten. Aber ihr war alles egal. Du darfst,… dachte sie und ergab sich endlich ihren Gefühlen. Das hier ist Grund genug. Du musst nicht mehr kämpfen. Nicht mehr lächeln. Es ist Grund genug und niemand wird dir jetzt noch sagen können, du müsstest dich zusammenreißen. Niemand wird behaupten, es könnte noch schlimmer kommen. Du darfst, dachte sie noch einmal und hieß die erste Welle willkommen.
Ihr Zahnfleisch begann zu kribbeln und sie hörte ihren eigenen Atem stoßweise. Marysol hechelte immer heftiger und heiße Tränen quollen aus ihren Augenwinkeln, während alles um sie herum verschwamm.
„Hey, hey,… ganz ruhig, ganz ruhig!“
Schnelle Schritte kamen näher und eine kalte Hand legte sich auf ihre Stirn. „Versuchen Sie ganz ruhig zu atmen. Gleich können Sie schlafen.“
Sie hörte, wie die Geräte neben ihr unangenehm laut zu fiepen begannen. Marysol nahm noch einmal all ihre Kräfte zusammen.
„Das Versprechen, der Arzt hat mir versprochen…“. Ihre eigene Stimme klang belegt und rau, als hätte sie sie tagelang nicht benutzt.
Hatte sie tatsächlich tagelang nicht gesprochen?
Die kalte Hand legte sich auf ihren Arm. „Wir wissen von der Abmachung. Schlafen Sie jetzt, bald ist alles vorbei. Alles wird gut“, sagte die Stimme.
Nein, das wird es nicht, dachte Marysol und schlief ein.
Es war bitterkalt im Garten und der Wind pfiff um das Haus. Marysol hatte ihre Mütze vergessen und der Luftzug erzeugte ein fieses Stechen in ihrem rechten Ohr. Ihre Socken in den Stiefeln waren nass. Die Dinger waren offenbar undicht, aber sie besaß keinen Antrieb mehr, um irgendetwas zu ändern. Das kleine Loch zu buddeln hatte sie alle Kraft der Welt gekostet und nun saß sie hier, alleine vor der Kiste und starrte auf das Sammelsurium vor sich. Hatte sie den richtigen Baum gewählt? Hätte sie nicht lieber den Ginkgo nehmen sollen? Sie seufzte und ihre Schultern sackten nach vorne. Was machte das jetzt noch für einen Unterschied? Nun hatte sie das Loch bereits gebuddelt. Unter dem Amber. Für mehr hatte sie sowieso keine Kraft.
Marysol atmete tief ein und strich sich mit den kalten Fingern eine Strähne aus der Stirn. Verdammt, es wird schon dunkel, dachte sie, während sie in den wolkenverhangenen Himmel blickte und sich zu sammeln versuchte.
Sie nahm die Box und legte zuerst das Foto von ihnen beiden hinein. Es war in einer Zeit entstanden, als sie noch lachen konnten. Als sie beide noch das Gefühl hatten, eine Zukunft voll unbestimmter und köstlicher Momente läge vor ihnen. Wo war er jetzt? Jedenfalls nicht hier, dachte sie. Dies war nicht seine Art, sich zu verabschieden.
Als nächstes legte sie ihren Brief dazu. Marysol machte das Ganze nicht für sich, das war ihr klar. Trost oder Heilung waren nicht zu erwarten, aber es war ihr unmöglich, das Kleine ohne Abschied zu begraben. Der Brief hatte ihr einiges abverlangt. Mit zitternden Händen legte sie noch einen bemalten Stein und ein gepresstes Kleeblatt hinein. Wem das jetzt noch Glück bringen sollte, wusste sie selbst nicht.
Und jetzt du, dachte sie, und griff in ihre Manteltasche. Sie hatte das kleine Plastikdöschen mehrfach in Taschentücher eingeschlagen. Es war durchsichtig. Als die Schwester es ihr in der Klinik in die Hand gedrückt hatte, war sie kurz versucht gewesen, es sich noch halb unter Narkose anzuschauen, aber die Schwester hatte ihre Hände zusammen mit dem Döschen unter die Bettdecke geschoben und sich den Zeigefinger an die Lippen gehalten. Sie wusste, dass der Arzt dafür seine Lizenz verlieren könnte. Aber er hielt sein Versprechen. Er hatte ihr ein unbeschreibliches Geschenk gemacht. Sie hätte die Klinik nicht ohne das Kleine verlassen. Nun hatte sie zumindest noch diesen einen Auftrag. Diese eine wichtige Aufgabe. Es vernünftig zu beerdigen. Ob es wirklich in dem Döschen war? Oder nur ein bisschen totes Gewebe, um sie zu besänftigen? Ob es längst in einem Abfluss heruntergespült worden war? Ob man sie in dem romantischen Glauben gelassen hatte, sie hätte die Möglichkeit, ihr totes Kind zu begraben? Dieser Gedanke war zu grausam, um ihn auszuhalten und sie kniff verzweifelt die Augen zu. Marysol klammerte sich mit allen Sinnen in ihrer Erinnerung an das liebe Gesicht des Arztes. Das warme Lächeln.
Sie schluchzte leise. Ihre Hände klammerten sich um das Döschen und weil es die ganze Zeit in ihrer Jackentasche, nah an ihrem Körper, gewesen war, strömte es eine unbestimmte Wärme aus.
Ihr war, als käme die Wärme aus dem Inneren. Ein Zittern durchströmte ihren Körper und sie hob die Hände und presste die kleine Dose an ihre kalte Wange.
Warum?
Man hatte ihr gesagt, es sei nicht ihre Schuld. Aber egal, wie sie es drehte und wendete, sie kam immer wieder bei sich an.
Was, wenn sie die Tasche nicht getragen hätte? Wenn sie die eine Tablette nicht so spät genommen hätte? Sie mehr Wasser getrunken hätte? Sie mehr Schlaf und weniger Stress gehabt hätte. Und wieder rasten ihre Gedanken.
Dieser Moment, als sie auf dem Klo gesessen hatte. Als sie auf das Papier in ihrer Hand geguckt hatte. Auf den roten Fleck, der da nicht hätte sein dürfen. Nicht zu dem Zeitpunkt, nicht mehr so spät. Als sie den Schrei tief in sich gespürt hatte. Diese völlige Verzweiflung, diese Angst. Dieser Schrei, der niemals herausgekommen war und wie sie sich panisch zwischen die Beine gegriffen hatte, alles voller Blut, ihre Hände voller Blut.
Das hatte sie nun von ihrer Stärke. Alles hatte sie erreicht. Alles. Mit viel Disziplin, Selbstbeherrschung, Arbeit, mit vielen lächelnden Masken, die den Stress und Schmerz unterdrückten. Sie konnte sich alles kaufen, was sie nur wollte. Mit ihrer Stärke konnte sie alles erreichen. Alles, aber das nicht.
Sie legte die kleine Dose in das Kästchen und schloss behutsam den Deckel darüber. Dann nahm sie den Kasten und legte ihn vorsichtig in das Loch.
Wenn ich jetzt noch einmal zögere, mache ich es nicht! Marysol stand mit einer fließenden Bewegung auf. Sie griff die Schaufel und begann, das Loch mit der Erde zu füllen, die sie zuvor auf einen kleinen Haufen geschichtet hatte. Zum Schluss packte sie das Stück Grasnarbe, welches sie ordentlich aus dem Rasen getrennt hatte, und legte es zurück an seinen Platz. Vorsichtig drückte sie das feuchte Grün mit ihrer Stiefelspitze wieder fest. Es sah aus, als wäre nie etwas gewesen. Marysol schmeckte die bittere Verzweiflung wieder in ihrer Kehle und bückte sich nach ein paar besonders schönen Blättern, um sie unter den Baum zu legen.
Machs gut, dachte sie und drehte sich schnell um. Aber schon bei den ersten Schritten Richtung Haus kam es mit voller Wucht:
Mein Baby!!!!! Mein Baby!!!!!
Die ganze Welle der Verzweiflung kam wieder hoch und sie konnte sie nicht mehr unterdrücken.
Es liegt jetzt da unten im Loch und kühlt aus. Alleine. Alleine im dunklen Garten in der eiskalten Erde und ich konnte es nicht halten!!!
Der Schmerz und die Angst pulsierten durch ihre Adern, als sie sich zum Haus schleppte und sie spürte die dunklen Bäume des Gartens in ihrem Rücken.
Das Rauschen der Blätter.
Zu viele Bäume. Zu viele Kästchen.
Die Dunkelheit verschluckte sie vollkommen.
„It is the evening of the day I sit and watch the children play Smiling faces I can see But not forme I sit and watch as tears go by
My richness can't buy everything I want to hear the children sing All I hear is the sound Of rain falling on the ground I sit and watch as tears go by
It is the evening of the day I sit and watch the children play Doing things I used to do Thinking of you I sit and watch as tears go by“
Marianne Faithfull
Magst du dir das Lied einmal für dich anhören? Welche Trauer wohnt momentan in dir?
Ein Ort für deinen Schmerz:
Entschlossen klappte Marysol den Laptop zu.
So, das musste reichen. Sie hatte das letzte Protokoll geschrieben und auch abgeschickt. Jetzt konnte sie nichts mehr tun.
Sie drehte sich auf dem Schreibtischstuhl herum und blickte in den großen Spiegel der Schranktür.
Oh Gott. Entschieden rutschte sie näher heran und rieb an der verschmierten Wimperntusche. Ihr Nacken brannte und sie wusste genau, dass sie in der kommenden Nacht kein Auge schließen würde, wenn sie sich jetzt noch einen Kaffe machte. Trotzdem ging sie mit der Tasse wieder in die Küche und stellte sie vor die Maschine. Nun gut. Nicht ganz so stark wäre wohl besser. Sie wählte eine Kapsel mit Vanillegeschmack. Während die Maschine arbeitete, entsperrte Marysol ihr Handy und öffnete ihre SocialMedia App. Eine schöne heile Welt.
Sie seufzte. Da war sie wieder, die Hübsche.
Wenn sie ehrlich zu sich war, mochte sie diese Frau noch nicht einmal besonders. Sie trug bauchfreie Kleidung, für die Marysol schon zu alt war, und bewarb Dinge, die sie nicht wirklich interessierten. Trotzdem nahm sie immer wieder an diesem Leben teil. Die Frau war ihr noch nicht einmal besonders sympathisch! Marysol hatte das unbestimmte Gefühl, dass diese Dame im „echten Leben“ fürchterlich zickig sein könnte. Es störte sie, dass die Blonde ihren Kopf immer ein wenig schräg in die Kamera hielt. Vielleicht, um ihre Schokoladenseite besser zu präsentieren?
Trotzdem schaute sich Marysol die Seite jeden Tag an. Jeden einzelnen Tag. Und nicht nur diese! Auch einige andere. Perfekte, makellose Frauen. Am Strand, in ihren wundervollen Wohnungen, mit ihren teuren Taschen. Sie wusste selbst, dass das ein unheimlicher Zeitfresser war, aber das war ihre Art, um vom Alltag abzuschalten.
Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal ein Buch gelesen hatte.
Viel zu oft ertappte sie sich dabei, wie sie nach dem Handy in ihrer Hosentasche tastete. Viel zu oft! Manchmal guckte sie nur auf die Uhr, aber ohne, dass sie die Uhrzeit tatsächlich registrierte. Dann schaute sie noch einmal. Oder sie überprüfte, ob sie eine Nachricht hatte. Dann bemerkte sie plötzlich, dass sie ihre Fotos geöffnet hatte, nur, um sie unbewusst wieder zu schließen und wieder zu öffnen! Was sie dabei genau suchte, war ihr nicht klar.
Das Handy vibrierte in ihrer Hand.
Er war es.
Ein Videoanruf.
Nicht jetzt, nicht so, wie ich aussehe!
Marysol wartete, bis das Summen in ihrer Hand endete. Er war jetzt schon drei Wochen unterwegs. Sie erinnerte sich vage an die Zeiten, in denen sie noch die Tage gezählt hatte. Marysol hatte ihm nichts zu berichten. Mit schlechtem Gewissen griff sie nach ihrem Kaffee. Langsam ging sie damit zum Fenster und blickte durch den Dampf ihres Getränks nach draußen. Je mehr Koffein sie trank, desto lauter rauschte es in ihren Ohren. Sie nahm einen vorsichtigen Schluck und drehte dabei die Schultern nach hinten. Sie knackten beide. Es war ein langer Tag gewesen. Vollzeit. Ihr Masseur hatte gesagt, die Ohrgeräusche würden durch die Verspannungen verursacht. Aber was sollte sie noch tun? Mehr als zwei Mal die Woche Sport war unmöglich unterzubringen. Sie hörte die hübsche Frau aus dem Lautsprecher ihres Handys in der vergessenen Hand kichern und blickte voller Verachtung auf das schlanke Wesen, bevor sie das Handy weglegte.
War das jetzt alles?
WAR DAS WIRKLICH ALLES?
Plötzlich spürte Marysol ein merkwürdiges Gefühl in ihrer Magengegend aufsteigen. Es schlich sich durch den Nebel der Gleichgültigkeit und erfüllte unvermittelt ihren ganzen Körper. Den ganzen Raum. Es dehnte sich aus und wurde größer und größer.
Es war pure, blanke Wut.
Marysol ballte ihre Fäuste und biss die Zähne zusammen. Sie hatte so gekämpft! Nach dem Abitur die Ausbildung, nach der Ausbildung das Studium, in den Semesterferien die Zusatzkurse, dann der gut bezahlte Job direkt im Anschluss. Ihre stolze Mutter. Die Heirat. Und irgendwann das Gefühl, dass sie dieses Pensum so nicht ewig würde halten können und dann… kam der Traum von der Freiheit in der Elternzeit.
Gemeinsam mit dem Wunschkind.
Dem zarten Etwas, das sie aus dem Hamsterrad befreien und ihr Nähe und Wärme schenken würde.
Peng. Traum geplatzt. Nun endgültig.
Eine nagende Unruhe kam in ihr auf und sie knallte die Kaffeetasse auf den Tisch. Sie musste raus! Marysol drehte sich um, griff den Schlüssel und stürzte zur Tür. Sie warf sich die Jacke über, hechtete die Treppe herunter, durch die Haustür, in den Regen, über die Straße, auf den Feldweg. Ihre Gedanken überschlugen sich. Das kann nicht alles gewesen sein. Das kann nicht alles gewesen sein. Das kann…
Sie wusste keinen Ausweg.
Ihre Stiefel schmatzen durch den Schlamm und sie spürte, wie einige Spritzer beim Laufen an ihre Hose klatschten. Und trotzdem, obwohl sie so ausgelaugt war, konnte sie nicht mit dem Gesicht gen Regen laufen. Ihr Nacken verkrampfte sich. Sie wusste, wie sie aussehen würde, wenn der Regen auf ihre Schminke traf und der Gedanke daran, dass sie noch jemandem begegnen könnte, ließ sie mit gesenktem Kopf voran stolpern. Verdammt! Verdammt!
Sie war so kaputt. Alles war kaputt.
Als Marysol zurück nach Hause kam, war es draußen bereits stockdunkel. Wieder ein verlorener Tag, dachte sie resigniert, aber ruhiger. Die Wut war verpufft und hatte völlig unerwartet Platz für eine Frage gemacht: Was nun?
Marysol war plötzlich auf eine unbestimmte Weise klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Aber wo sollte sie ansetzen? Der nächste Urlaub war noch nicht einmal geplant und wenn sie ehrlich war, wollte sie auch gar nicht fahren. Wie hätte sie gemeinsam mit ihm an ihrer Seite die Stille füllen sollen? Und sie konnte schlecht verkünden, dass sie am liebsten alleine fahren wollte. Dann könnte sie auch gleich die Scheidung einreichen. Sie griff ganz automatisch zu ihrem Handy, öffnete ihr SocialMedia. Die Blonde schon wieder!
Entschlossen entfolgte sie der Hübschen und weil Marysol gerade danach war, der Nächsten in der Liste auch. Dann zögerte sie und ein Gedanke keimte in ihr auf.
Könnte sie nicht die Lücke, die diese Frau hinterlassen würde, mit einer Person füllen, die sie wirklich mochte? Gab es da draußen Menschen, die Wärme und Liebe ausstrahlten? Die in irgendeiner Weise einen positiven Mehrwert darstellen könnten?
Gab es nicht… Irgendwen?
Wie im Fieber klickte sie sich durch ihre Liste… löschen, löschen, löschen, löschen… Von manchen Profilen machte sie sich vor dem Entfernen einen Screenshot, falls sie sie doch vermissen würde,… sie vielleicht im Nachhinein doch nicht ohne sie leben könnte.
Zu diesem Zeitpunkt konnte Marysol noch nicht wissen, dass sie diese Fotos nie wieder anschauen würde. Und diese Menschen auch nie mehr vermissen würde.
Dass sie, ohne es zu merken, einen winzig kleinen Schritt gegangen war.
Es war ein Dienstag und Marysol hatte soeben eine fürchterlich respektlose Mail von ihrer Kollegin bekommen:
Sie hätte den Nachnamen in der Mailliste falsch geschrieben, wodurch sie nicht rechtzeitig informiert worden wäre. Marysol hätte sich gefälligst zu schämen, schrieb besagte Kollegin.
Marysol hatte resigniert geantwortet, dass so etwas nicht noch einmal vorkommen würde und sich nun niemand länger schämen müsste.
Aber in ihr blieb ein ungutes Gefühl.
Das Gefühl etwas Gravierendes falsch gemacht zu haben.
Das Gefühl nicht gut genug zu sein.
Das Gefühl, dass sich ihre Kolleginnen und Kollegen über sie austauschten.
Sie wusste, dass es morgen besser und übermorgen fast weg sein würde, aber heute war nun einmal heute und sie war jemand, der sich so etwas zu Herzen nahm.
Sie stütze den Kopf in die Hände.
Um ihren eigenen Gedanken zu entkommen, griff sie zum Handy und öffnete die App.
Da war sie wieder. Die Neue! Sie hatte keine Ahnung, wie sie sie gefunden hatte, aber diese Frau war… anders und der Begriff „Influencer“ war wohl der letzte, der Marysol zu ihr eingefallen wäre.
Joy. Sie saß auf ihrer Korkmatte in einem Garten in der Sonne und strahlte mit dieser um die Wette.
„Namaste! Guten Morgen meine wundervollen Ladys!“, grüßte sie und Marysol musste fast lachen, so albern war das Ganze.
Trotzdem hatte diese Frau etwas Leichtes.
Etwas Tröstendes.
Und obwohl sie nicht halb so schön war, wie die Anderen und definitiv äußerst sympathisch, mochte Marysol sie noch viel, viel weniger.
Joy lebte augenscheinlich auf Bali, in einem kleinen Holzhaus mit Pool. Sie besaß offenbar nicht viel, aber das, was ihr gehörte, passte alles irgendwie zusammen und war auf eine fremde Weise wunderschön. Joy verkaufte nichts. So viel hatte Marysol bereits begriffen. Aber sie verstand sich wohl als eine Art Mentorin.
So weit, so gut. Marysol hörte, was Joy sagte.
Zwar widerwillig,
aber etwas in ihr hörte zu.
„Hello, hello, hello!“, rief Joy überschwänglich und breitete die Arme aus!
Dieses alberne Denglisch ist kaum zu ertragen! dachte Marysol.
„Meine Lieben. Ich habe gestern lange meditiert und darüber nachgedacht, was ich ab heute mit euch teilen möchte, denn heute ist ein besonderer Tag!“ Ihre Augen strahlten. „Heute Nacht haben wir Neumond und ihr wisst, was das heißt! Genau. Diese Kombination der Sterne ist eine Besondere und verheißt uns eine ganz andere Art von Neuanfang! Wir haben heute die Möglichkeit, unsere Zukunft zu manifestieren! Viel intensiver und realer als sonst und ich lade euch wunderschönen Wesen heute Abend zu einer Live-Session ein, die es in sich hat!“
Marysol seufzte: Spiritualität. Sterne. Astrologie.
War sie wirklich so verzweifelt?
Ja. Definitiv.
Marysol stellte sich ihren Timer und drückte das Handy aus. Schlimmer konnte es mit ihr eh nicht mehr werden, dachte sie und klappte seufzend ihren Laptop wieder auf.
Als es draußen bereits dunkel geworden war arbeitete sie immer noch. Der kleine Muskel unter ihrem Auge zuckte, als ihre Erinnerung piepste. Ach ja, verdammt! Sie drückte den Timer weg.
Doch nun war die Arbeit sowieso bereits unterbrochen und das, was sie da gerade tat, war eigentlich ein Vorarbeiten.
Also Joy. Auf Bali. Mit ihrem schrecklichen Grinsen. Ok, dachte Marysol.
Eine Chance gebe ich ihr.
Joy saß unbeweglich auf ihrer Matte in der Sonne. In diesem wunderschönen grünen Palmengarten vor ihrem Haus.
Der Muskel in Marysols Gesicht zuckte wieder.
Über ihr der blaue Himmel. Joy.
Noch immer völlig unbeweglich, mit geschlossenen Augen. Was zur Hölle macht sie da?, dachte Marysol. Ich sitze hier! Wir alle sitzen doch hier. Wir warten!
Aber Joy saß einfach nur im Schneidersitz da, die Augen geschlossen. Und ihr gegenüber ein Stativ mit ihrem Handy, dachte Marysol ketzerisch. Ob sie sich wohl fühlt, so von uns allen beim Sitzen beobachtet? Womit verdient diese Frau eigentlich ihr Geld? Mit Nichtstun? Marysol fühlte ein aggressives Kichern in ihrer Kehle aufsteigen, schluckte es aber wieder herunter. Sie rutschte auf ihrem unbequemen Bürostuhl hin und her. Vielleicht hätte sie doch weiter arbeiten sollen? Marysol warf wieder einen Blick in den Spiegel an der Schranktür. Warum riss sie die Augen immer so auf?! Sie sah so gehetzt aus. Entnervt legte Marysol zwei Finger an die Schläfen und zog an ihren Augenwinkeln. Du siehts fürchterlich aus!
Und Joy? Noch immer nichts.
Marysol war kurz davor, das Handy wieder auszuschalten, als Joy mit einem langgezogenen und betont lautem „Ahhhhhhhhhhhh“ aus ihrer Trance „erwachte“ und sich zu strecken begann. Noch einmal dieses unverschämt laute „Ahhhhhhhhhhhhh!“ Niemand auf der Welt atmet so laut aus, dachte Marysol pikiert.
„Namaste, ihr Wunderschönen!“
Nun ja, wie man es nimmt.
Joy blinzelte in die Sonne. „Ich habe heute Einiges mit euch vor!“ Sie strahlte und legte beide Handflächen aneinander.
„Ich weiß, wie ihr euch fühlt. Ich war an dem gleichen Punkt.“ Unwahrscheinlich, dachte Marysol bitter.
„Ich weiß aber auch, dass ich euch helfen kann. Ich werde mit euch ab heute meinen Weg teilen und der erste Schritt dazu ist, dass ihr euren Nordstern wiederfindet. Euer Ziel. Euer WARUM im Leben.“
Das ist völlig vermessen, dachte Marysol ärgerlich.
„Die Meisten von euch leben ein Leben, das gar nicht ihres ist. Für das sie nicht gemacht sind. Das sie nicht ausfüllt und schon gar nicht glücklich macht. Ein Leben, in dem ihre Stärken nicht zum Vorschein kommen, weil sie vielleicht in einem Beruf feststecken, der sie nicht strahlen lässt. In einer Kultur, die sie nur laufen und laufen lässt. Sie mit Werbung betäubt. Ihnen erzählt, was sie alles brauchen, damit sie endlich, endlich, glücklich werden! Damit sie kaufen und sich kurz gut fühlen. Dann wieder schlechter und dann wieder dieses gute Gefühl haben wollen, um wieder zu kaufen und zu kaufen.
Ein Leben, in dem sie umgeben sind von Dingen, um die sie sich kümmern müssen, für die sie verantwortlich sind. Immer mehr und mehr, bis es sie schließlich erdrückt. Weißt du überhaupt noch, was du alles besitzt? Weißt du, wie viele Dinge du eigentlich hast? Hast du eine Ahnung davon, wie sehr diese Masse an Besitz dich belastet? Weißt du eigentlich, was dieser Satz „weniger ist mehr“ wirklich für dich bedeuten könnte, wenn du ihn aufrichtig leben würdest? Komm, nimm meine Hand!“, rief Joy, sprang auf und streckte Marysol auf dem Bildschirm ihren Arm entgegen.
„Komm, spring mit mir und ich verspreche dir, du wirst es nicht bereuen! Vertrau mir! Heute beginnt dein neues Leben!“
Marysol kicherte, weil sie es lustig fand und ihr das Ganze gleichzeitig vollkommen bescheuert vorkam. Sie musste sich tatsächlich eingestehen, dass diese Frau sie in ihren Bann zog und, leider, war sie wohl noch immer so naiv, sich von so einem kindischen Blödsinn begeistern zu lassen.
„Wer dabei sein möchte, schickt mir noch heute eine Mail! Du bekommst von mir einen Link und wir treffen uns ab morgen jeden Abend online. Gib mir die Chance, dein Leben zu verändern. Sei ein Teil meiner Gemeinschaft von wundervollen, inspirierenden Menschen und tauche in ein neues, einzigartiges Leben ein, voller Vertrauen, voller Liebe!“
Marysol starrte auf ihr Handy. Mist, dachte sie. Ich kaufe hier garantiert eine Waschmaschine und klebe für den Rest meiner Tage an einem kostspieligen Abo. Mit diesem Gedanken tippte sie ihre Mailadresse in die Nachrichtenzeile und klickte auf senden.
Mittwoch, 19Uhr, Marysol drückte in ihrem ausgekühlten Büro auf den Link.
Ihr Rücken war schon ganz verkrampft von der angespannten Körperhaltung, die sie immer einnahm, wenn sie fror.
„Warten sie auf den Host - das Meeting wird gleich beginnen“, stand auf dem Bildschirm und der kleine Wartekreis, der sie in ihrem Leben schon so oft hypnotisiert hatte, drehte sich und drehte sich.
Eigentlich muss ich aufs Klo, dachte Marysol.
Der Bildschirm wurde plötzlich freigegeben und die Neue war wieder da: „Hello, hellllo, hellllo, meine allerliebsten Power-People!“
Sie richtete die Kamera ihres Laptops aus, vor dem sie wohl gerade tatsächlich live und in Farbe saß. Joy hatte schulterlange, hellbraune Haare, die sie mit einem Band um die Stirn im Zaum hielt und einige Ketten um den Hals, an denen undefinierbare Anhänger baumelten. Es sah so aus, als ob sie nur einen schwarzen Sport-BH tragen würde oder zumindest irgendein enges Top und darüber ein locker über die Schultern geworfenes Hemd. Oder eine Bluse? Oder nur ein Tuch? Marysol konnte es nicht richtig erkennen. Joys Haut hatte durch die Sonne einen warmen Honigton angenommen und ihre weißen Zähne blitzen. Irgendwie ist sie doch auf ihre Art schön, dachte Marysol.
Joy saß in ihrem Häuschen am Esstisch. Im Hintergrund hatte man einen freien Blick in den Garten und auf den Pool. Das Wasser schillerte im Mondschein.
„So! Ihr Lieben! Bevor ich beginne, gebe ich euch erst einmal ein paar Minuten Zeit, um es euch gemütlich zu machen!“ Joy strahlte.
„Holt euch eine Decke, euer Journal…,“ Bitte was??
„und macht euch bestenfalls ein paar Kerzen an und schnell einen Ingwertee!“
Ähhhhh, einen WAS???
Marysol sprang gehetzt auf. „Falls die Blase drückt, könnt ihr auch gerne noch kurz aufs Klo!“, rief Joy und Marysol atmete erleichtert auf. Das kriege ich hin, dachte sie und sprintete ins Bad.
Als Marysol, an ihrem Hosenknopf nestelnd, zurück ins Büro eilte, saß Joy noch immer lächelnd und schweigend vor der Kamera und hatte scheinbar alle Zeit der Welt. Was war das noch alles, dachte Marysol fiebernd und drehte sich einmal um die eigene Achse. Ach ja! Journal! Habe ich nicht, also etwas zum Schreiben im einfachen Sinne. Marysol zerrte ein Blatt aus dem Drucker, welches dabei ein bisschen zerknitterte und an der oberen Ecke einen Riss bekam. „Verdammter Mist!“ Marysol knallte das Blatt, zusammen mit einem Kugelschreiber aus der Ablage, neben den Rechner. Kurzer Kuli-Schreibtest am oberen Rand. AHHHHH. Leer natürlich, Kuli zurück. Der Zweite funktionierte
Was noch? Ach ja, Ingwertee! Ha, ha, dachte Marysol. Noch nie getrunken und jetzt noch ganz entspannt einen Tee aufsetzen? Dazu hatte sie nicht die Ruhe. Also ein Wasser. Sprint in die Küche, Wasserhahn an, Sprint zurück.
Joy saß noch immer schweigend da, als Marysol sich zurück in den Schreibtischstuhl fallen ließ. Puh. Das wäre geschafft. So weit, so gut.
Es dauerte allerdings noch fünf weitere quälende Minuten, bis Joy endlich damit aufhörte, ausschließlich selig zu lächeln und hin und wieder an ihrer Tasse zu nippen.
„So, meine Lieben, ich sehe, ihr seid alle wieder da, wie schön, dann können wir ja langsam beginnen.“ Joy blickte auf ihrem Bildschirm hin und her.
Ich SEHE!? dachte Marysol alarmiert und untersuchte fieberhaft die Desktopoberfläche ihres Rechners. Tatsächlich! Die Kameras waren automatisch AN! Joy hatte sie sehen können! Wie sie hin und her gelaufen war und sich die Hose zugemacht hatte! Hilfe! Was war mit dem Ton…? Zum Glück aus. Marysol versuchte die Einstellung zu finden, die die Kamera deaktivierte.
„Nein, nein, meine Lieben! Lasst bitte eure Kameras an! Wir wollen uns doch gegenseitig kennenlernen, miteinander in Kontakt kommen! Hier gibt es kein Verstecken und keine Anonymität. Wir sind ab jetzt eine Familie!“ Joy lachte laut. Scheinbar waren auch einige andere Teilnehmer auf die Idee gekommen. Peinlich, dachte Marysol und drehte ihre Schreibtischlampe nach hinten, damit man ihre Augenringe nicht sehen konnte.
„Also, meine Schönen! Es geht los. Ich sehe, ihr habt es euch gemütlich gemacht. Und einige haben auch Kerzen an.“ Joy lächelte.
Ach Shit, dachte Marysol. Die Decke. Die Kerzen. Dabei war ihr doch so kalt und sie hätte auf jeden Fall mehr als genug Zeit gehabt. Sie kam sich wie ein Idiot vor.
„Wir machen heute, an unserem ersten Abend, eine Werteübung!“, verkündete Joy. „Ich werde euch ganz langsam viele verschiedene Begriffe vorlesen und ihr notiert euch die, die ganz intuitiv zu euch gehören. Dabei muss es nichts sein, das bereits ein Teil eures Lebens ist, es können auch einfach Wörter sein, zu denen ihr ganz intuitiv eine besondere Verbindung spürt. Lasst euer Bauchgefühl entscheiden, welche Wörter ihr mitschreibt und welche nicht. Es können nur einige wenige oder fast alle sein. Lasst euch einfach auf diese Übung ein und vertraut auf eurer Gefühl.“
Ok, damit hatte Marysol nicht gerechtet. Interessant. Sie setze sich auf und hielt den Stift über das Papier.
„Trinkt zunächst einen Schluck!“ Marysol gehorchte. „Und nun atmet erst einmal tief in den Bauch und verbindet euch mit eurem Herzen.“
Marysol musste lachen. So ein Scheiß, ich werde hier gerade Teil einer Sekte, dachte sie, bis ihr einfiel, dass die Kamera an war und sie sich zusammenreißen musste.
Dann begann Joy mit dem Vorlesen. Wort, für Wort, für Wort, für Wort. Ihre Stimme hatte etwas Besonderes an sich, etwas, das Marysol erstmals seit Wochen in eine Art Entspannung abgleiten ließ. Es kam ihr irgendwann so vor, als würden die Worte niemals enden. Wie eine Art Meditation. Ein gesprochenes Lied. Es hatte etwas Magisches an sich und tatsächlich fiel es ihr ganz leicht, die für sie wichtigen von den unwichtigen Wörtern zu unterscheiden. Ihr Blatt füllte sich mehr und mehr und als Joy plötzlich schwieg, erwachte Marysol, wie aus einem Traum. Verwundert schüttelte sie den Kopf und starrte auf die vielen verschiedenen Begriffe auf ihrem zerknitterten Blatt.
Leichtigkeit
Selbstvertrauen
Schönheit
Mut
Optimismus
Dankbarkeit
Einzigartigkeit
Familie
Gesundheit
Sexualität
Aktivität
Und jetzt?
„Und nun, meine Lieben,“ sagte Joy, als würde sie auf ihre unausgesprochene Frage antworten, „gebe ich euch drei Minuten, um für euch die zehn wichtigsten Wörter unter den zuvor notierten zu finden!“
Augenblicklich verkrampfte sich Marysols Nacken, wie immer, wenn sie auf Zeit arbeiten musste und sich nicht sicher war, ob sie den Anforderungen gerecht werden würde.
Gehetzt blickte sie auf ihrem Blatt hin und her. Es waren sicherlich mehr als 30 Begriffe, die sie notiert hatte. Wie sollte sie diese so schnell auf zehn reduzieren?
„Stresst euch bitte nicht!“, rief Joy fröhlich, „Euer Herz kennt die richtigen Begriffe. Macht es per Ausschlusskriterium. Welcher Begriff spricht euch mehr an? Ist der Eine vielleicht indirekt im Anderen enthalten? Beginnt bei den Wichtigsten!“
Marysol arbeitete konzentriert und schaffte es in den drei Minuten knapp, ihre zehn Favoriten zu finden. Sie war erleichtert und stolz auf sich. Seufzend lehnte sie sich zurück und massierte mit den Händen ihre verspannten Schultern.
„Und jetzt“, rief Joy, „habt ihr noch einmal drei Minuten, um aus den zehn - fünf Begriffe zu wählen!“
Ahhhhhh! Marysol schnaubte frustriert und starrte auf die Wörter. Fünf. Nur Fünf. Drei waren sofort klar und dann durfte sie noch zwei wählen. Das war schwer.
Nach weiteren drei Minuten fühlte sich Marysol ausgelaugt und erschöpft und es wunderte sie dann auch nicht mehr, als Joy die Mitglieder noch einmal bat, letztlich auf drei Wörter zu reduzieren. Das fiel ihr dann zum Glück deutlich leichter und somit umkreiste sie abschließend ihre drei Lieblinge und schrieb sie noch einmal in Schönschrift ganz unten an den Rand des Blattes:
Familie
Gesundheit
Kreativität
Joy lächelte noch immer: „Ihr Lieben. Ihr habt nun eure drei Werte gefunden. Ganz intuitiv sind sie zu euch gekommen und tief im Herzen wisst ihr, dass sie genau richtig für euch sind. Diese Werte sollen ab heute eine Bedeutung für euch haben. Bei jeder Entscheidung, die ihr ab jetzt in eurem Leben treffen werdet, sei sie noch so klein, fragt euch bitte, ob sie mit euren Werten im Einklang steht. Ihr habt nun einen Kompass, der euch Halt und Hilfe bietet und ich möchte, dass ihr eure Werte ehrt und sie euch auf einem besonderen Papier notiert, dort hinhängt, wo ihr sie ab heute immer sehen könnt. Sie sind nun ein Teil von euch. Namaste und bis morgen!“
Dann winkte sie noch einmal und der Rechner wurde dunkel.
Marysol war geflashed.
Sie fühlte sich wie verzaubert und fragte sich ganz ernsthaft, woher gerade diese absolute Gewissheit in ihrem Inneren kam, dass diese Wörter etwas Besonderes für sie sein würden. Sie schüttelte entschieden den Kopf, um das Gefühl zu verscheuchen, aber es blieb.
Sie war den ersten Schritt gegangen, in dieses neue Leben gesprungen und auf unbestimmte Art und Weise spürte sie, dass es ab jetzt kein Zurück mehr geben würde.
HALLO DU,
traust du dich für dich JETZT einen Anfang zu machen und die Werteübung ganz in Ruhe auch auf dich und dein Leben wirken zu lassen? Sei es dir wert und nimm dir diese Zeit.
Gerne kannst du dir ruhige Musik anmachen, die dich nicht ablenkt und die Begriffe ein erstes Mal langsam lesen und einkreisen. Lass dich nicht stressen. Die richtigen Werte werden ganz automatisch zu dir kommen. Geh nach Joys Vorgaben vor und umkreise alle Werte, zu denen du ganz intuitiv eine Verbindung spürst. Sie müssen noch nicht zwingend Teil deines Lebens sein. Es reicht, wenn du ein JA spürst, wenn du sie liest (s. Seite →).
Reduziere dann innerhalb von drei Minuten auf 10, dann auf 5
und dann auf 3 Werte!
und… ja, ab jetzt darfst du Wunder erwarten!
Deine Marysol
Deine Werte:
____________ ____________ ____________
Abenteuer
Freiheit
Würde
Aufmerksamkeit
Humor
Freude
Familie
Bildung
Ehrlichkeit
Glaube
Beziehungen
Charme
Herausforderung
Schönheit
Aktivität
Selbstständigkeit
Achtsamkeit
Harmonie
Reichtum
Einfluss
Anerkennung
Intelligenz
Respekt
Extase
Beliebtheit
Intuition
Ruhe
Gemütlichkeit
Hingabe
Kontrolle
Neugier
Hilfsbereitschaft
Bescheidenheit
Gerechtigkeit
Selbstvertrauen
Verlässlichkeit
Dankbarkeit
Kreativität
Sexualität
Energie
Demut
Leidenschaft
Sicherheit
Klarheit
Lebenskraft
Minimalismus
Tiefgang
Geselligkeit
Begeisterung
Offenheit
Leichtigkeit
Entschlossenheit
Disziplin
Fantasie
Nachhaltigkeit
Entspannung
Sinnlichkeit
Leistung
Spiritualität
Gewinnen
Ordnung
Empathie
Treue
Stärke
Ehrgeiz
Liebe
Unabhängigkeit
Höflichkeit
Authentizität
Genuss
Vernunft
Lernen
Innovation
Loyalität
Frieden
Nächstenliebe
Einzigartigkeit
Macht
Vertrauen
Privatsphäre
Erfolg
Mut
Stabilität
Professionalität
Spontanität
Optimismus
Wachstum
Großzügigkeit
Weisheit
Ausgeglichenheit
Gelassenheit
Religiosität
Solidarität
Spannung
Sparsamkeit
Gesundheit
Flow
Flexibilität
Zugehörigkeit
Abwechslung
Zufriedenheit
Spaß
…eigene Ideen?
Donnerstag. Marysol hetzte durch die Innenstadt. Sogar für die Geschäfte hatte sie keinen Blick mehr. Es war alles nicht mehr von so großer Bedeutung. Früher war sie noch geschlendert. Das gab es nun nicht mehr. Leider war sie kein besonders pünktlicher Typ und aus diesem Grund, als möglichst gut funktionierendes Rad im allgemeinen Getriebe der Zeit, meistens spät dran. Und somit hetzte sie für gewöhnlich. Auch jetzt. Obwohl es nichts zu hetzen gab auf dem Weg nach Hause und auch niemanden, der sie dort erwartete.
Was er wohl gerade tat… ob er wohl ab und zu an sie dachte?
Liebevoll?
Oder rief er nur aus Pflichtgefühl an? Heute hatte er es noch nicht versucht. Vielleicht hatte er ja schon eine Neue und war klüger als sie. Vielleicht hatte er schon aufgehört, an etwas zu glauben, was es so gar nicht mehr gab, und war nur noch aus Mitleid mit ihr zusammen, bis auch sie jemand Neues gefunden hatte oder gefestigt genug war, um sich zu trennen.
Sie dachte an seinen warmen Blick. Früher.
Später lag Marysol im Bett und starrte in die Dunkelheit. Sie hatte sich auf den Abend mit Joy gefreut, aber die aktuelle Challenge hatte schon zu Beginn darin bestanden, in Stille zu sitzen, die Stille kennenzulernen. Jene verdammte Stille, die Marysol ganz bestimmt am besten auf der Welt kannte und der sie in nächster Zeit ganz sicher nicht noch einmal Raum geben wollte, um sie mit purer Panik zu füllen. Nach kürzester Zeit hatte sie es aufgegeben, Joy bei ihrer gleichmäßigen, so genannten „Ujjayi-Atmung“ zu beobachten und sich gefragt, was sie da zur Hölle eigentlich tat.
Nun lag sie alleine im Bett, fühlte sich leer und fragte sich unverwandt, ob Joy wohl danach noch etwas Wichtiges gesagt hatte. Etwas, das ihr jetzt, hier in der Dunkelheit, vielleicht geholfen hätte. Sie hob den linken Arm und sah schwach in der Dunkelheit ihre drei Werte, die sie am Morgen mit Kugelschreiber heimlich auf ihren Arm gekritzelt hatte. Sie lebte keinen dieser Drei. Nicht einmal ansatzweise.
Frustriert kniff sie die Augen zu und lag gerade und unbeweglich unter der Bettdecke.
Sie dachte erneut an die falsch verschickte Mail. Die Bilder hinter ihren geschlossenen Augenlidern kreisten immer schneller. Um das Chaos zu stoppen, öffnete sie die Augen wieder.
Er war nicht hier. Sie hatte auch keine Ahnung, wann er letztlich wiederkommen würde. Das war immer ungewiss und sie hatte sich mental schon darauf eingestellt, dass es noch ein paar Wochen dauern würde. Seine Kunden waren sehr anspruchsvoll und es gab häufig Verschiebungen, wenn Zusatzwünsche zu einem Auftrag, den er angenommen hatte, aufkamen. Lag er jetzt schon alleine in seinem Hotelbett? Ob er sie in den Arm nehmen würde, wenn er jetzt da wäre?
An Schlafen war so nicht zu denken, das wusste sie, aber sie kannte eine Art, ihren Körper ein bisschen zu beruhigen. Langsam wanderte ihre rechte Hand zwischen ihre Beine.
Ihre Finger waren fürchterlich kalt und sie konnte nur hoffen, dass der Schlaf danach, gemeinsam mit der Entspannung, kommen würde.
Ungeschickt versuchte sie, ihre Hände an ihren warmen Oberschenkeln aufzutauen. Es gelang ihr nicht besonders gut und als sie ihre Mitte berührte, zuckte sie leicht zusammen. Langsam begann sie, sich zu streicheln. Woran sollte sie denken? Fieberhaft suchte sie hinter ihren geschlossenen Lidern nach einem Bild. Er. Sein Blick, leer und kraftlos, blickte durch sie hindurch. Verdammt! So wird das nichts. Von einem Gefühl von Feuchtigkeit war sie meilenweit entfernt. Wer dann?
Sam. Ihr Exfreund, der Betrüger. Sie dachte an seine Augen, an den intensiven Blick. An das Kribbeln im Bauch, das sie damals gespürt hatte. An seine Kraft, seine Leidenschaft. In ihrer Vorstellung war er vorsichtiger und langsamer. Ging auf ihre Bedürfnisse ein. In ihrer Vorstellung erwiderte sie seine Küsse und war bereit für ihn. Sie rieb stärker, bis ihr Höhepunkt ganz plötzlich und viel zu schnell kam. Marysol zuckte zwei Mal kurz. Das wars.
Dann klappte sie ihre Augen wieder auf und die Erkenntnis kam auf dem Fuße. Hatte sie sich gerade tatsächlich bei dem Gedanken an einen Mann befriedigt, der sie damals unbeschreiblich gekränkt hatte? Hatte sie denn überhaupt keinen Stolz, nicht einen Funken Respekt oder Selbstliebe mehr im Leibe? Sie bekam ein furchtbar schlechtes Gewissen und es dauerte noch sehr lange, bis sie endlich in den Schlaf fand.
Ihr Kopf dröhnte, als der Wecker sie unsanft aus ihren unruhigen Träumen riss. Die ersten Minuten lang war sie nicht in der Lage, irgendeinen klaren Gedanken zu fassen. Erst als der Wecker zum zweiten Mal klingelte, kam sie dem, was man Bewusstsein nannte, etwas näher.
Oh Gott, wie soll ich den Tag überleben, dachte sie völlig erschlagen. Sie schleppte sich zum Medikamentenschrank. Eine 600, anders geht es nicht.
Marysol spülte die Kopfschmerztablette mit etwas Cola runter und schlurfte ins Badezimmer. Erst als das heiße Wasser minutenlang über ihre verspannten Schultern gelaufen war, ging es ihr ein bisschen besser. Sie schaffte es, sich vernünftig zu schminken, anzuziehen und war sich gleichzeitig sehr deutlich bewusst, dass sie sich gerade in einem Zustand befand, den man ohne schlechtes Gewissen als „ziemlich krank“ hätte bezeichnen können. Die Augäpfel schmerzten in den Höhlen und ihr wurde abwechselnd warm und kalt, während sie schnell die letzen Sachen in ihre Tasche packte. Aber es war leider keine Option, sich auch tatsächlich krank zu melden. Alles, was sie nicht erledigte, würde auf Andere übertragen werden und sie wusste ganz genau, wer ihre Vertretung übernehmen müsste. Und ausgerechnet dieser einen Kollegin wollte sie um keinen Preis noch mehr Anlass zur Beschwerde liefern. Ihr graute vor dem Tag.
Zu Beginn hatte sie ihre Arbeit geliebt, aber die Zeiten, in denen sie jedes Projekt in Ruhe hatte vorbereiten und im Anschluss den Erfolg für sich hatte feiern können, waren lange vorbei. Sie war tatsächlich eines der guten Pferde im Stall und darauf war sie verdammt stolz.
Sie wusste, was sie konnte und andere wussten das auch. Marysol war dafür bekannt, eine Aufgabe vernünftig und gewissenhaft zu Ende zu bringen und aus diesem Grund hatte man ihr im Laufe der Jahre immer mehr Verantwortung übertragen. Sie galt als belastbar und meldete sich nie krank. Nie. Auch darauf war sie stolz.
Als sie endlich wieder im Auto Richtung Heimat saß, war ihr Kopf völlig überlastet. Sie hatte eine kleine Kritik für eine Unachtsamkeit bekommen. Kein Wunder! Marysol hatte es nur mit großer Mühe geschafft, sich zu konzentrieren. Die geballte Ladung der negativen Gedanken schwirrte nun wieder durch ihren Kopf und sie bekam ihre inneren Stimmen einfach nicht mehr ruhig. Verzweifelt griff sie zum Handy und wischte durch die verschiedenen Informationen auf dem Display, nur, um nicht mehr denken zu müssen. Es war ein langer Tag gewesen, aber bald, bald würde sie sich endlich verkriechen können.
Es dämmerte bereits und sie fuhr viel zu schnell für die schmale Landstraße.
Ein Vogelpärchen kam ganz plötzlich von rechts. Zwei Meisen, die in der Dämmerung miteinander spielten.
Hoch, runter - sie flogen umeinander und POCK! Eines der kleinen Tierchen knallte mit voller Wucht gegen ihre Windschutzscheibe.
Marysol erschrak fürchterlich, trat mit voller Kraft auf die Bremse, die Reifen quietschten.
Sie sah dem kleinen Körper hinterher. Es war nur ein Bruchteil einer Sekunde, während ihr Auto weiter rutschte und sie sehen konnte, wie der kleine Körper auf dem Asphalt aufkam und dort noch ein Stück weiter rollte. Mit einer Art zarter Eleganz.
Sie kam endlich zum Stehen.
Marysol hatte die Finger um das Lenkrad gekrallt und ihre Knöchel standen weiß hervor. Ihr Herz klopfte wild. Das Handy lag im Fußraum. Sie öffnete die Autotür und die Abendluft strömte ihr entgegen. Trotz der Kälte bildete sich ein dünner Schweißfilm auf ihrer Stirn und an ihren Schläfen.
Um sie herum war alles still. Die Landstraße lag verlassen vor ihr. Hier gab es keine Laternen und nur ihre Scheinwerfer erhellten den klaren Winterabend. Marysol atmete tief ein. Dann setzte sie sich in Bewegung und ging angespannt auf der Straße einige Meter zurück.
Sie fand den Vogel tatsächlich. Eine Kohlmeise. So klein und zart. Sie lag dort auf der Straße auf einer Seite und hatte den oberen Flügel, wie, um eine Decke über sich zu ziehen, ein wenig ausgebreitet. Die kleinen Augen waren geschlossen und der Schnabel einen Spalt breit geöffnet. Der Vogel bewegte sich nicht. Kein Blut, dachte Marysol. Man könnte meinen, sie schläft nur. Wahrscheinlich hätte ich sie auch getötet, wenn ich nicht auf das Handy geguckt hätte.
Um diese Uhrzeit war sie regelmäßig die Einzige auf dieser Straße und nichts hätte sie dazu veranlasst, langsamer zu fahren.
Marysol spürte plötzlich eine große Verzweiflung in sich aufsteigen. Ich habe sie getötet, dachte sie. Ich habe sie getötet.
Sie wirbelte herum, rannte zurück zum Auto und knallte die Fahrertür hinter sich zu. Dann nestelte sie mit zitternden Finger den Schlüssel ins Zündschloss, würgte das Auto einmal ab, versuchte es wieder und fuhr dann endlich mit quietschenden Reifen los. Das Auto schlingerte ein wenig. Marysol krallte sich wieder an das Lenkrad und fuhr noch schneller. Ich habe sie getötet. Ich habe sie getötet. Ich habe sie getötet. Ich habe sie getötet!
Sie spürte, wie der Schrei endlich seinen Weg fand. Dann schloss sie die Augen und schrie.
Marysol hatte keine Erinnerung mehr daran, wie sie an diesen Ort gekommen war. Sie hatte einfach geschrien, war gefahren, hatte geschrien und war irgendwann, irgendwo zum Halten gekommen. Ihr Auto stand auf einem dunklen Parkplatz, direkt neben der Landstraße. In einiger Entfernung erkannte sie im diesigen Abendlicht eine Häuserreihe. Sie zitterte am ganzen Körper, war aber ansonsten unversehrt.
Äußerlich.
Marysol hatte die Stirn auf dem Lenkrad abgestützt und mittlerweile mit Sicherheit einen ordentlichen Abdruck auf der Haut.
Dass ich mir über so etwas überhaupt noch Gedanken mache, dachte sie verächtlich und sah den kleinen feuchten Tränenkreisen zu, die in ihrer Hose versickerten.
Ihre Blase drückte fürchterlich. Marysol seufzte verzweifelt. Dann raffte sie sich auf, öffnete die Autotür, knallte sie hinter sich wieder zu und ließ den offenen Wagen, so wie er war, auf dem dunkeln Parkplatz stehen.
Mit schleppenden Schritten setzte sie sich langsam in Bewegung. Am Ende der Straße war noch Licht in einem Laden. Es war ein warmer Lichtton, wie der, den die alten Glühbirnen ausgestrahlt hatten. Marysol fühlte sich davon auf unbestimmte Weise angezogen. Vor dem Schaufester blieb sie stehen. Das Haus war das letzte in der Reihe. Ein altes Fachwerk mit großen Schaufenstern zur Straße hin. Die Dekoration hinter den Scheiben wirkte antik und auf eine märchenhafte Weise wertvoll.
Alte grobe Gefäße, getrocknete Blumen, aufgestellte Bücher mit vergilbten Seiten und darin fantasievolle Zeichnungen. Halbedelsteine, arrangiert zwischen schweren Samttüchern. Und dann wieder und wieder diese Zeichnungen: Lose, in Rahmen, in aufgeschlagenen Notizheften.
Sie erkannte skizzierte Trolle, Zwerge, Elfen, Ranken, Pilze. Undefinierbare Tiere, die miteinander verschmolzen, sich wieder trennten, zu weiteren Pflanzen mutierten. Marysol hob den Blick. Schwarze gotische Lettern auf der Scheibe luden sie in diesen kleinen, aber scheinbar einzigartigen, Laden ein. Sie löste sich von den Zeichnungen, ging die drei gefliesten Stufen zwischen den Schaufenstern hinauf und öffnete die alte Holztür. Ein Glöckchen kündigte sie an und sofort begrüßte sie dieses faszinierende und monotone Surren.
Der alte Mann saß in gebückter Haltung an einem blank polierten Holztisch und hatte sich mit seinem Werkzeug über ein großes Stück Fleisch gebeugt. Er hatte sie sicherlich bemerkt, aber noch reagierte er nicht.
Das Surren stoppte und der Alte tunkte die Maschine bedächtig in ein kleines Fass rabenschwarzer Tinte. Dann klopfte er sie kurz am Rand des Fässchens ab und beugte sich wieder über seine Arbeit. Marysol war fasziniert. Der gesamte Laden war über und über mit diesen besonderen Zeichnungen dekoriert. Sie waren mit kleinen silbernen Nägeln an die dunkeln Holzwände genagelt worden. dazwischen immer wieder getrocknete Blumen und Kräuter, die dem fremden Raum einen ganz eigenen Duft verliehen.
Marysol besann sich und fand schnell an der Rückwand des Ladens eine Schwingtür aus Holz, auf der der Weg Richtung Toilette gekennzeichnet war.
Als sie zurück in den Hauptraum kam, saß der Mann noch immer schweigend über seiner Arbeit und tätowierte den großen Schinken mit der ledernen Haut.
Sie blieb unschlüssig mitten im Raum stehen. Alles wirkte so unwirklich. Die Lampen wurden von einem feinen Rauch umwabert, der von einem kleinen, qualmenden Holzstück ausging, welches in einer Zimmerecke in einer Keramik-Schale lag. Links von ihr war in die Wand ein alter Kamin eingelassen. Ein Richtiger, mit einer offenen Feuerstelle und die Balken darüber und auch alle Zeichnungen drum herum trugen einen dunklen Schleier. Ihre Augen blieben immer wieder an der einen, dann der anderen Zeichnung hängen. Hunderte von Wesen schauten von den vergilbten Papieren auf sie hinab und beobachteten sie. Die meisten von ihnen schienen freundlicher Natur zu sein.
Irgendwann unterbrach er seine Arbeit und angelte nach einem alten Leinentuch, an dem er sich die tintenverschmierten Finger abwischte. Dann erst drückte er den Rücken durch und seine Knochen knackten, als er sich auf dem Stuhl zu ihr drehte.
Er war sicher einmal ein unglaublich schöner Mann gewesen, dachte Marysol ganz spontan und schämte sich im selben Augenblick für derart persönliche Gedanken, einem Fremden gegenüber.
Der Mann war groß und nach wie vor kräftig, aber es war ihr unmöglich, sein Alter einzuschätzen. Er hatte die langen, weißen Haare mit einem Band im Nacken locker zusammengebunden und einen dichten schneeweißen Vollbart. Der Schnitt seines Gesichts hatte etwas edles und seine strahlend blauen Augen schauten sie wachsam an.
„Hallo Marysol.“
Sie erschrak fürchterlich, als er sie ansprach. „Entschuldigen Sie, ich…“, stammelte sie, aber er winkte ab und stand langsam auf, während er nebenbei die Maschine und das Tintenfass griff.
„Schon gut, Mädchen“, raunte er. „Deine Mutter war ein paar mal hier in der Nachbarschaft, als du noch ein Kleinkind warst.“ Er begann seine Werkzeuge zu reinigen. „Du hast ihre Augen.“
Marysol war sprachlos.
Weil sie beim besten Willen nicht wusste, was sie sagen sollte und Zeit brauchte, um ihre Gedanken zu ordnen, sah sie dem Alten bei seiner Beschäftigung zu.
Die Ecke des Ladens, in die er geschlurft war, war die einzige, die optisch nicht zu dem Rest des Raumes passte. Sie erkannte ein Sterilisationsgerät, sorgfältig aufgereihte Fläschchen mit Desinfektionsmitteln und durchsichtige Kästchen mit eingeschweißten Gegenständen. Nadeln, vermutete sie.
Der Alte räusperte sich. „Sie wollen sich also tätowieren lassen?“, fragte er plötzlich ganz förmlich, aber es klang mehr wie eine Tatsache.
Überrumpelt erwachte Marysol aus ihrer Trance. „Nein! Äh, ja! Oder ich denke, eher heute noch nicht!“, rief sie unbestimmt und kam sich schrecklich unbeholfen vor.
„Aber darum sind Sie doch noch hier, oder nicht?“, setzte er nach und säuberte weiter mit kundigen Griffen seine Werkzeuge. „Sie haben schon eine Idee.“ Wieder so eine Frage, die eigentlich eine Aussage war.
Marysol hatte ganz plötzlich einen Geistesblitz. Er flackerte wie ein kleiner Stromschlag durch ihr Inneres und in ihrem Mundwinkel bewegte sich ein Muskel.
Plötzlich war sie ganz ruhig.
„Ja.“
Drake sprach nicht viel. So viel war ihr bereits klar. Wenigstens hatte er sich knapp vorgestellt und, nachdem sie ihren Wunsch geäußert hatte, mit kundigen Strichen angefangen, einen Entwurf in ein altes Notizbuch zu zeichnen. Marysol hatte sich unruhig auf einen Stuhl in seine Nähe gesetzt, ohne dass er es ihr angeboten hatte. Er hatte einfach mit einer Skizze begonnen, ohne weitere Worte zu verlieren. Und sie war zu erschlagen von dem Tag, um weiter aufrecht zu bleiben.
Ihre Ohren fühlten sich ganz warm an. Ob sie wohl Fieber hatte? Sie legte sich selbst eine Hand auf die Stirn. Also kalt war sie definitiv nicht. Ihre Augen brannten ein wenig von dem Räucherwerk in der Ecke, dessen Geruch sie mittlerweile angenehm eingelullt hatte.
Drake lehnte sich zurück und blickte auf seine Zeichnung.
Dann stand er auf, machte aber keine Anstalten, ihr sein Ergebnis zu zeigen. Er ging stattdessen zu einer Anrichte, griff mit einer Hand zwei grobe Becher aus Steingut und machte sich daran, eine goldene, schwere Flüssigkeit gleichmäßig in beide Becher zu füllen, die er aus einer in Stoff eingeschlagenen Flasche schüttete.
Na toll, dachte Marysol. Morgen wird man mich draußen mit aufgeschnittener Kehle im Graben finden.
Den Becher, den Drake ihr reichte, ergriff sie trotzdem. Er prostete ihr zu und nahm ein paar kräftige Schlucke. Sie starrte zu ihm hoch und sah dabei zu, wie sein Adamsapfel beim Schlucken auf und ab hüpfte.
Dann blickte sie auf den Becher in ihrer Hand. Er war schwer, rau und sah hochwertig aus. Grob, aber hochwertig. Sie hielt den Kopf ein wenig schräg und betrachtete den Becher genauer. Sauber sah er auch aus. Marysol wandte den Kopf und blickte auf das Regal an der Wand neben sich: Verschiedene Gegenstände, vermutlich Erinnerungsstücke und dazwischen, was sie viel mehr interessierte, kein Staub. Sie schaute noch genauer hin, drehte den Kopf zu dem anderen Regal. Poliertes Holz. Sauber, als wäre es noch am selben Tag sorgfältig abgewischt worden.
Also war dieser Raum, obwohl er so urig aussah, trotzdem gepflegt. Hmmm. Daraus ließen sich zwei mögliche Schlüsse ziehen. Entweder war er wirklich ein professioneller Mann, der seine Arbeit gewissenhaft ausübte oder ein verrückter Massenmörder.
Marysol seufzte und roch an dem Becher. Überrascht zog sie die Augenbrauen hoch. Es roch… gut!
Wie dieser spezielle Honiglikör, den sie in Spanien immer so gerne getrunken hatte. Marysol nahm einen beherzten Schluck.
Die goldene Flüssigkeit rann langsam in ihrer Speiseröhre hinab und breitete sich träge in ihrem leeren Magen aus. Augenblicklich entzündete sich eine wohlige Wärme in ihrem Bauch, wie ein kleines, angenehmes Flämmchen, was es sich ohne Umschweife zur Aufgabe machte, sie von innen aufzutauen. Seit wann hatte sie gefroren? Sie hatte es gar nicht registriert.
Marysol nahm noch einen Schluck und schloss selig die Augen. Himmel, war der gut und was für ein Glück! Sie hatte mindestens 100ml davon!
Sie schlug die Augen wieder auf und erwischte ihn dabei, wie er sie mit angespanntem Gesicht musterte.
Marysol setzte sich kerzengrade auf: „Die Zeichnung, bitte!“ Sie klang höflich, aber bestimmt, und streckte die Hand nach dem dicken Notizbuch aus. Er erwachte aus seiner starren Haltung, grunzte leise und nickte kurz. Dann reichte er ihr das Buch.
Marysol starrte auf das Bild, dann in sein Gesicht und dann wieder auf das Bild. Es war viel mehr als das, worum sie gebeten hatte, aber es war perfekt! Es war so unglaublich schön, so magisch, so zart, so feminin. Viel zu schön für sie!
Sie wollte es. Unbedingt.
„Es ist perfekt.“ Sie spürte nicht den leisesten Zweifel in sich. Als sie von dem Buch wieder zu ihm aufschaute, lächelte er zum ersten Mal seit sie den Laden betreten hatte.
„Nun denn“, sagte er und zuckte leicht mit den Schultern, als wäre er plötzlich verlegen.
Marysol mochte ihn.
Als sie viel später, definitiv am Leben, aber ziemlich angetrunken, den Laden verließ, spürte sie ein unglaubliches Gefühl in sich. Sie fühlte sich leicht, schwebte die drei Stufen zur Straße fast hinab.
Unter dem Arm hielt sie das alte Notizbuch mit vielen unglaublichen Zeichnungen, die sie sich während des Stechens hatte angucken dürfen, um sich von dem Schmerz abzulenken. Er hatte ihr das Buch geschenkt, obwohl es schon halb voll war mit seinen kleinen Meisterwerken. Er hatte es ihr geschenkt, einfach so. Als wäre es nichts Besonderes.
Marysol blickte auf und ein Windhauch blies ihr ein paar Haarsträhnen ins Gesicht.
Am Himmel vor ihr schwebte der Mond. Eine schmale Sichel. Genau so einer, wie sie ihn nun auf der Innenseite ihres Unterarms trug. Umgeben von einem Hauch von Nebel und ein paar fremdartigen Zeichen. Darunter dünne Linien, die sich auf ihrem Weg den Arm entlang, in eine stilisierte Blume verwandelten und letztlich in drei zarten Wörtern ausliefen:
Familie
Gesundheit
Kreativität
Wochenende. Was für ein Glück. Sie lag unbeweglich in ihrem warmen Bett. Marisol hatte den Eindruck, dass sie tatsächlich so krank war, dass sie ihr Nest in den nächsten zwei Tagen definitiv nicht oft verlassen können würde. Aber, stellte sie bei einer schnellen Bestandsaufnahme fest, sie hatte keine Kopfschmerzen! Sie fühlte sich so schlapp wie seit Jahren nicht mehr, aber sie hatte keine Schmerzen. Außer vielleicht ein bisschen am Unterarm.
AM UNTERARM?!
Marysol setzte sich ruckartig auf und starrte auf die Hautstelle, die gestern Morgen noch unauffällig und weiß gewesen war. Sie hatte ein Tattoo! Ein Tattoo!!! Es war kein Traum.
Sie hatte tatsächlich ein Tattoo. Am Unterarm auch noch, wo sie es kaum würde dauerhaft verbergen können!!!
Es war wunderschön.
Sie betrachtete die feinen Linien durch die dünne Schutzfolie, die ihr Drake auf den Arm geklebt hatte, um die frische Wunde zu schützen.
Es war wirklich wunderschön. Und passte absolut überhaupt nicht zu ihr. Sie musste kichern.
Es kostete sie tatsächlich richtig Mühe und sie musste sich selbst den Mund zuhalten, um nicht laut zu lachen. Marysol schaute es noch einmal in Ruhe an.
Ach Scheiß drauf, dachte sie dann trotzig und griff zum Handy. Aus einem plötzlichen Impuls heraus rief sie ihre Mutter an. Dora hob beim zweiten Klingeln ab.
„Tochter?“