Die Leichtigkeit des Schweren - Klaus Reichert - E-Book

Die Leichtigkeit des Schweren E-Book

Klaus Reichert

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Beschreibung

Klaus Reichert zählt zu den großen Übersetzerkoryphäen im deutschsprachigen Raum. Ein Leben für die Literatur – das ist es, was ihn seit frühen Jahren auszeichnet. Er lässt uns in seinem vorliegenden Band teilhaben an seinen Erfahrungen als Übersetzer, Autor, Wissenschaftler und Lektor. Dabei erzählt Klaus Reichert Anekdoten, die er mit den Größen des Betriebes erlebt hat, gibt Einblick in seine Poetik als Schreibender und in seine Maxime als Übersetzer: Das Wort und die Sprache sind höchste Güter, und »die wichtigste Antriebskraft war die Neugier.« Seine Ausführungen über die Bibel, Homer, Shakespeare und James Joyce sind dabei von bestechender Klugheit und sprachlicher Anmut. Selten hat ein Autor und Übersetzer seine Leserschaft so uneitel und unterhaltsam an seinem Leben für die und mit der Literatur teilnehmen lassen.

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Seitenzahl: 118

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Klaus Reichert

Die Leichtigkeit des Schweren

Lesen. Verstehen. Übersetzen

Literaturverlag Droschl

Vorbemerkung

Sprache ist ja auch eine Kunst, eine Poesie, d. h.

eine Darstellung, und umfassender als alle übrigen Künste. Sie involviert das Ideelle, Abstrakte der Plastik, das Mannigfaltige, Sinnliche der Malerei, das Anregende, Andeutende der Musik.1

1 Zitiert nach Wert und Ehre deutscher Sprache. In Zeugnissen herausgegeben von Hugo von Hofmannsthal, Verlag der Bremer Presse, München 1927, S. 118

(Goethe im Gespräch mit Riemer)

Wer noch das Glück hatte, als Kind Schönheit und Reichtum der deutschen Sprache in Märchen und Liedern zu erfahren, wird diese erste Liebe nie verraten – es war das einzige Paradies, aus dem ich nicht vertrieben werden konnte. Eine Kindheit ohne Radio und Fernsehen, ohne Kino und Schallplatten. Doch es waren Jahre im Krieg, Nächte im Luftschutzkeller, die brennenden Häuser, Leben in Ruinen, untergekommen bei filzigen Bauern, deren maulfaule Sprache ich nicht verstand. Unverloren, aus den Trümmern gerettet, blieb meine Sprache, die bald selbst gelesene und entdeckte, die Sprache der Psalmen Luthers oder der Lieder Paul Gerhardts in einer oberhessischen Dorfkirche nach dem Krieg.

Es kam dann, mit elf, das Gymnasium mit dem Erlernen einer ganz fremden Sprache, deren Satzbau und Wörter mit meiner nichts zu tun hatten und trotzdem zur ›Entstehung‹ der meinen nicht unerheblich beigetragen hatte. Meine Sprache war also nicht vom Himmel gefallen, nicht ›sakrosankt‹, und hatte sich aus dem Kreuzungspunkt verschiedener Handels-, Militär- und Kulturwege hybrid entwickelt. Mit dem Latein begann auch mein lebenslanges Übersetzen und die Einsicht, daß es ›eigentlich‹ nicht ging, weil sich allenfalls der Inhalt schlecht und recht herüberstümpern ließ, nicht aber die jeweilige Kunst der Sprache, Kunst des Schreibens, auf die es aber doch – bei Catull, bei Horaz – einzig ankam.

Das Griechische war noch fremder, aber zugleich formenreicher als das Lateinische. Es kostete Mühe, bis man die Alladinshöhle seiner Literatur betreten konnte, aber was war das dann für ein Leuchten und Funkeln seiner unermeßlichen Schätze. Homer, Sappho, die Tragiker, Platon, Thukydides – sie zu übersetzen war noch weniger möglich als die Römer, aber der stete Reiz war da, es dennoch zu versuchen. Ein nach vielen Anläufen aufgegebenes Chorlied zeigte zweierlei: die unerreichbare Kunst des Dichtens und die vielfältigen Möglichkeiten des Griechischen, die in einer anderen Sprache, meiner, nicht nachzubilden waren. Was ich damals aus fehlender Erfahrung nicht wissen konnte, aber aus Hölderlins Antigonae, die wir als Schüler im Stadttheater Gießen aufführten, hätte lernen können, war, daß die Verluste gutgeschrieben werden konnten durch die Möglichkeiten der eigenen Sprache, wie heikel das von Fall zu Fall auch sein mochte. Ich habe später die Übersetzung des als unübersetzbar geltenden, vielsprachigen Weltepos Finnegans Wake in ›alle‹ Sprachen mit dem Argument verteidigt, erst wenn es um die Möglichkeiten der anderen Sprachen ergänzt sei, sei es wirklich ›zu sich‹ gekommen.

Wie es mit meinem Bildungsgang weiterging, ist in den Vorlesungen dargelegt. Jede neue Sprache bedeutete eine neue Welt, veränderte aber auch den Blick auf die eigene. Warum haben die indoeuropäischen Sprachen ein differenziert ausgebautes Tempusgefüge, andere Sprachen – das Hebräische, das Chinesische – nicht? Warum liegt in ›unseren‹ Sprachen die Zukunft vor uns, die Vergangenheit hinter uns? (»Time hath, my lord, a wallet on his back, / Wherein he puts alms for oblivion.«) Im Hebräischen ist es umgekehrt. Das Vergangene liegt vor uns wie ein aufgeschlagenes Buch, in dem wir ja wieder und wieder lesen; die Zukunft ist das, was wir nicht kennen: sie sitzt uns im Nacken. Es erstaunt, daß sich diese Vorstellung bei Walter Benjamin wiederfindet. Zu einem Bild von Paul Klee, dem Angelus Novus, schreibt er: »Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. (…) Ein Sturm weht vom Paradiese her (…). Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst.«2

2 Walter Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen, IX

Beim Schreiben hatte ich oft die Neigung, mir zu überlegen, wie das wohl in einer anderen Sprache zu formulieren wäre und ob sich das nachbilden ließe. Von solchen Optionen habe ich manchmal profitiert – auch da war Hölderlin eine Fundgrube –, wie überhaupt die Schulung des Übersetzens mein Schreiben mitgeprägt hat. Ich machte dabei auch eine Entdeckung an der deutschen Sprache, die an den anderen Sprachen nicht zu machen war außer am Bibelhebräischen: ihre Konkretheit, ihre Anschaulichkeit, ihre sinnliche Vorstellbarkeit, auch bei Abstracta: Begriff, begreifen, Einbildungskraft, er-innern, Verdrängung, Verschiebung, Übertragung. Freud hat aus anschaulichen deutschen Wörtern eine ganze Wissenschaftssprache gewonnen, die in den Übersetzungen seiner Werke leider verlorenging (etwa Super-Ego für Über-Ich, empathy für Einfühlung, cathexis für Besetzung). In den romanischen Sprachen, auch im Englischen mit seinem normanno-französischen Substrat, und ihren lateinischen Wurzeln ging diese Konkretion verloren. Samuel Beckett las und liebte die deutsche Sprache eben wegen ihrer Anschaulichkeit. Sein gern benutztes Beispiel war das Wort ›Zweifel‹. In doubt, doute, dubbio, duda ist die Zwei versteckt zwar noch da, aber nicht mehr zu hören.

Der Respekt vor der deutschen Sprache und vor denen, die sie meisterhaft handhabten in Dichtung und Wissenschaft (Goethes Fachprosa, die Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert, Georg Simmel, Freud, Blumenberg) führte dazu, daß das eigene Schreiben sehr langsam vonstatten ging. Immer mit der Hand in winziger Schrift, denn nur so konnte ich denken, und ich wußte erst, was ich dachte, wenn ich es aufgeschrieben hatte. Und nie habe ich unterschieden zwischen wichtigen und läßlichen Texten, alles wollte gleichermaßen sorgfältig geschrieben, auch laut gelesen sein auf die Satzmelodie hin, auf die Reihenfolge der Wörter und ob sie saßen wie die Steinchen in einem Mosaik. Mit ›alles‹ meine ich Vorträge und Abhandlungen ebenso wie Briefe und Tagebücher, Essays und Klappentexte, Predigten, Nekrologe und was nicht sonst noch alles. Hinzu kam der Anspruch, gelesen oder gehört werden zu wollen, und das verlangte, daß die Sätze lauten sollten wie von leichter Hand hingeworfen und waren doch das Ergebnis langen Probierens.

Diese Vorlesungen sind – auch im Hinblick auf die anglophone Monokultur selbst in den geisteswissenschaftlichen Fächern unserer Universitäten – der traurige Abschied von einer Welt von Gestern.

Frankfurt am Main, im September 2020

Gelehrsamkeit und PoesieÜber das fragende Verstehen

Wann fängt sie an, die Lust an den Wörtern und ihren Verbindungen, die Lust an der Sprache? Wenn die Kindheit nach Jean Paul das Paradies sein soll, aus dem wir nicht vertrieben werden können, so gilt das zumindest für diese Lust. Man erwirbt sie sich nicht im Lauf des Lebens, man hat sie seit der Frühe. »Dichter wird man als Kind«, hat Peter Hamm einmal geschrieben. Die Kindheit ist die Zeit des Staunens und des Entdeckens. Dazu gehört, wohl als erstes, der Bereich der Laute, der gehörten, gesungenen, gesprochenen, anders nachgesprochenen, wie ein eigener, zu eigen gemachter Besitz. Die Laute führen ein Eigenleben, beziehen sich auf nichts als sich selbst, sind beweglich wie das übrige Spielmaterial auch und ebenso strapazierfähig. Man kann sie zertrümmern und anders wieder zusammensetzen, kann mit ihnen etwas anstellen wie Ottos Mops oder etwas benennen, was es vorher nicht gab und mit einem Mal Wirklichkeit wird. Kinder sind geborene Lautdichter. Und irgendwann entdeckt das Kind, daß zusammengesetzte Laute auch etwas bedeuten – das Kind entdeckt die Wörter. Und nach der Zeit des Staunens beginnt die Zeit des Fragens – Was heißt das und warum? –, wobei die Antworten gern zu neuen Fragen führen, zumal bei der Reihung der Wörter im Hintereinander des Satzbaus. Das Kind lernt im Gebrauch, daß das besitzanzeigende Fürwort vor dem Nomen steht – »unser Haus, unser Hof« – und wundert sich, daß das wichtigste Gebet anfängt »Vater unser«. Warum? Oder das Abendgebet, das ich aufsagen mußte: »Müde bin ich, geh zur Ruh, schließe beide Augen zu«. Das »geh« war ja eigentlich eine Aufforderung, ein Befehl, und »Ruh« müßte »Ruhe« heißen, wenn es nicht lautlich auf »zu« bezogen wäre. Das Kind entdeckte also den Reim und Fügungen, die vom normalen Sprachgebrauch abweichen durften, weil sie ein eigenes Gebilde schufen, das vom alltäglichen Sprechen unterschieden war. Das Kind entdeckte die Poesie.

Poesie, das waren für ihn Kinderreime, Weihnachtslieder, Choräle, also Gesungenes. Das war die frühe Prägung, die ihm sein Lebtag erhalten blieb, denn wenn er später Gedichte las, versuchte er sie immer erst zu hören in ihrer Rhythmik und Klangschicht. Bei der später besonders geliebten Dichtung, dem Minnesang und dem Psalter, wußte er, daß etwas Wesentliches verlorengegangen war: die Musik. Nun hatten die Lieder ja aber auch einen Inhalt, erzählten eine Geschichte, die anfangen konnte wie »Vom Himmel hoch da komm ich her« oder »Es ist ein Ros entsprungen«, die mit der Wirklichkeit, die das Kind zu erkunden begann, wenig zu tun hatte. Ebendies aber war das Anziehende: die Bilder, die im Kopf entstanden und nur dort ihren Ort hatten. Noch faszinierender waren die Wörter, die er nicht verstand: »in dulci jubilo« oder »unsres Herzens Wonne leit in praesepio«, ein dreisprachiger Vers, was er freilich nicht wußte, aus Hochdeutsch, Mittelhochdeutsch und Latein, wobei ihm das »leit« für »liegt« aus seinem oberhessischen, von den Marktfrauen gehörten Heimatdialekt vertraut war. Natürlich übersetzte ihm die Mutter die fremden Wörter, aber darum ging es nicht. »Krippe« sagte ihm vermutlich genausowenig wie »praesepio«. Worum es für mich ging, das war der Klang des Fremden, des Unverstandenen und damit auch des Geheimnisvollen, weil es die Produktivkräfte der Phantasie in Gang setzte. Auch hier gibt es eine Kontinuität, denn in meinem Leben als Literat, Übersetzer oder Philologe hat mich vor allem das gereizt, was als inkommensurabel galt, also das Schwierige, das Dunkle, das Überkomplexe, das, was sich gegen ein Übersetztwerden sträubte, das, was ohne Kommentar nicht lesbar war.

Was ich Ihnen hier erzähle, mag Ihnen wunderlich erscheinen. Es kommt aus einer anderen Zeit. 40er Jahre, der Krieg, die Nächte im Keller. Es gab keine Musik außer der, die aus einem Grammophon hätte kommen können, wenn die Abspielnadeln nicht gefehlt hätten; es gab kein Radio außer dem Volksempfänger mit den Heeresberichten; es gab für das Kind kein Kino. Es gab nur die Bücher, wieder und wieder gelesen, nein vorgelesen, später selbst gelesen. Grimms Märchen, Andersen, Bechstein, Hauff, Tausendundeine Nacht, Robinson Crusoe. Es wurde viel gesungen zu Hause und in der Kirche, zumal in der Adventszeit. Und das Kind hatte keine Ablenkungen, es hatte Zeit, viel Zeit, es lebte langsam mit immer denselben Büchern und Liedern, in denen es immer neues entdeckte. Das schärfte den Blick und das Ohr für das Detail, für das vielleicht lange Übersehene, Überhörte, denn es gab – und das hat mit der Langsamkeit zu tun – keinen Unterschied zwischen wichtig und unwichtig. Auch das mag eine Erfahrung für später gewesen sein: im Gedicht ist jede Silbe, jeder Laut wichtig, die betonten wie die unbetonten gleichermaßen.

Mit dem Schreiben hatte ich Mühe. Wenn die Mutter mir den eigenen Namen in Großbuchstaben vorschrieb, schrieb ich ihn in Spiegelschrift ab ohne zu merken, daß es verkehrt herum war. Ich sah es nicht. Der 1944 eingeschulte Linkshänder wurde freilich zwanghaft umerzogen. Das war lange eine Qual. Ich malte die Buchstaben archaisch einzeln statt sie zu verbinden, weshalb mir später das Griechische mit seinen unverbundenen Buchstaben gleich vertraut vorkam. Dabei wollte ich unbedingt schreiben lernen, eigene Sätze auf dem Papier bilden, Gedichte schreiben. Das war wie ein Trieb. Es gibt ein Schlüsselerlebnis für das eigene Schreiben. August 45, wenige Wochen nach dem Krieg. Ich liege auf einer bunten Blumenwiese und über mir steht fast reglos eine blütenweiße dicke Frau Holle-Wolke. Ein Bild der Ruhe, des Friedens und der Schönheit. Sofort ist der Gedanke da: das mußt du aufschreiben. Also gehe ich heim in die kleine Stube, in der meine Mutter und ich nach der Ausbombung bei Bauern untergekommen sind, und schreibe auf, was ich gesehen und empfunden habe. Das geht langsam, sehr langsam, ich merke, daß mir die Wörter fehlen, oder daß die, die ich finde, nicht das treffen, was ich sagen will. Ich versuche es wieder und wieder. Als ich schließlich das mühevoll Geschriebene lese, weiß ich: das ist nicht meine Wiese, nicht meine Wolke. Diese Erfahrung steht am Anfang meines Schreibens: etwas schreiben, es verwerfen, es wieder schreiben mit dem Satz Becketts später im Ohr: »Fail better next time«, und dabei wissen, immer noch nicht genau das gesagt zu haben, was zu sagen war. Also zurück auf Anfang.

In den unmittelbaren Nachkriegsjahren wurde das Ohr geöffnet für fremde Klänge, so daß ich irgendwann nicht mehr wußte, was mit Muttersprache gemeint war. Die Dorfkinder sprachen ihr Oberhessisch, das ich erst wie eine eigene Sprache lernen mußte: »zwei Kinder« hießen »zwa kirn«, aber »zwei Kühe« waren »zwu koi«, und das R konnte im Rachen oder mit der Zungenspitze gesprochen werden. Dann kamen die Flüchtlinge oder Vertriebenen, die wieder eigene Sprachen mitbrachten: Schlesisch, Ostpreußisch, Sudetendeutsch. Am eindrucksvollsten war natürlich das Amerikanisch – oder wie die Dorfkinder sagten: amiganisch –, das die schwarzen Soldaten mitbrachten, das überhaupt nicht zu verstehen war, von dem aber ein paar Ausdrücke in der eigenen Phonetik hängenblieben, etwa »Schwinggum« für chewing gum. Alles zusammen ergab ein tägliches Stimmenbabel (oder Gebabbel), das verhinderte, mich ausschließlich in einer einzigen Sprache einzurichten; die Wörter schwappten über von einer in die andere. Das war gewissermaßen die Elementarstufe des Verfahrens, das Joyce für Finnegans Wake entwickelt hatte.