Paul Celan - Klaus Reichert - E-Book

Paul Celan E-Book

Klaus Reichert

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Beschreibung

Diese Erinnerungen sind wohl die letzten, die über Begegnungen mit Paul Celan geschrieben werden. Klaus Reichert war Celans Lektor nach dessen Eintritt in den Suhrkamp Verlag und mehr noch: gemeinsam mit Siegfried Unseld verantwortlich dafür, dass sich der Dichter Ende 1966 für Suhrkamp als seinen künftigen Verlag entschied. Doch geht der Kontakt zwischen Celan und Reichert weiter zurück, bis 1958, als der damals angehende Student den Autor anschrieb und etwas später in Paris besuchte. Über die Jahre hinweg bis zu Celans Tod wurden Briefe gewechselt, Bücher geplant und realisiert, kam es zu weiteren Begegnungen, »dienstlich« und privat, in denen sich das Wesen des Dichters in immer neuen, oft überraschenden Facetten offenbarte.

Der Band bietet über Klaus Reicherts Erinnerungen im engeren Sinn hinaus die mehr als 60 in zwölf Jahren gewechselten brieflichen Sendungen mitsamt einzelnen für das Verständnis der Korrespondenz aufschlussreichen Dokumenten: Dazu zählen Autographen, Gedichtgenesen mit wichtigen Korrekturen, die Auseinandersetzung mit dem Dichter über Klappentexte, die groß angelegte Celan-Planung im Suhrkamp Verlag und signifikante Zeugnisse zu Celans Übersetzungsstrategien. Im Zentrum des Bandes aber stehen immer wieder die Person des Dichters in der Lebendigkeit ihrer Erscheinung und das Ringen darum, die Texturen Celans, auch in der Diskussion mit Dritten, zu durchdringen.

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Seitenzahl: 295

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Klaus Reichert

Erinnerungen und Briefe Paul Celan

Suhrkamp

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

Erinnerungen

Vorbemerkung

Ein Haus in Paris

Fünfziger Jahre

Universität Marburg 1958/59

London 1959/60

Zwei Berliner Semester

Anfänge in Frankfurt am Main

Im Insel Verlag

Frankfurt, Eiserne Hand 33 oder »Frankfurt, September«

1966 – Erste Besuche im Verlag

1967 – Das Jahr der

Atemwende

Erinnerungen

Erinnerungen

1968 – Revolution, Heidegger,

Fadensonnen

1969 bis April 1970

1970

Danach

Die Briefe

1 Klaus Reichert an Paul Celan

Gießen, 31. März 1958

2 Widmung Paul Celan für Klaus Reichert

April 1958

3 Widmung Paul Celan für Klaus Reichert

April 1958

4 Klaus Reichert an Paul Celan

Marburg, 8. Dezember 1958

5 Klaus Reichert an Paul Celan

Gießen, 9. März 1959

6 Paul Celan an Klaus Reichert

Paris, 27. März 1959

7 Klaus Reichert an Paul Celan

Gießen, 25. August 1959

8 Klaus Reichert an Paul Celan

Gießen, 27. März 1963

9 Widmung Paul Celan für Klaus und Eleonore Reichert

Frankfurt am Main, September 1965

10 Klaus Reichert an Paul Celan

Frankfurt am Main, 2. August 1966

11 Widmung Paul Celan für Klaus Reichert

Highgate, 15. August 1967

12 Paul Celan an Klaus Reichert

Moisville, 28. August 1966

13 Paul Celan an Monika und Klaus Reichert

Paris, 21. Oktober 1966

14 Klaus Reichert an Paul Celan

Frankfurt am Main, 25. November 1966

15 Widmung Paul Celan an Monika und Klaus Reichert

Frankfurt am Main, 19. Dezember 1966

16 Paul Celan an Klaus Reichert

Paris, 18. April 1967

17 Klaus Reichert an Paul Celan

Frankfurt am Main, 9. Mai 1967

18 Paul Celan an Klaus Reichert

Paris, 29. Mai 1967

19 Von Celan korrigierter Klappentext zu

Atemwende

o. ‌O., o. ‌D.

20 Klaus Reichert an Paul Celan

Frankfurt am Main, 20. Juni 1967

21 Paul Celan an Klaus Reichert

Paris, 22. Juni 1967

22 Klaus Reichert an Paul Celan

Frankfurt am Main, 22. Juni 1967

23 Paul Celan an Klaus Reichert

Paris, 27. Juni 1967

24 Klaus Reichert an Paul Celan

o. ‌O., 15. Juli 1967

25 Paul Celan an Klaus Reichert

o. ‌O., 17. Juli 1967

26 Vorsatzblatt mit Bemerkungen von Paul Celan

o. ‌O., 14. Juli 1967

27 Aktennotiz Siegfried Unseld über Gespräch mit Paul Celan

Frankfurt am Main, 26. Juli 1967

28 Aktennotiz Siegfried Unseld über Gespräch mit Paul Celan

Frankfurt am Main, 29. Juli 1967

29 Widmung Paul Celan für Monika und Klaus Reichert

Frankfurt am Main, 30. Juli 1967

30 Gruß an Monika Reichert

Frankfurt am Main, 31. Juli 1967

31 Paul Celan an Klaus Reichert

Paris, 4. August 1967

32 Klaus Reichert an Paul Celan

Frankfurt am Main, 8. August 1967

33 Paul Celan an Klaus Reichert

Paris, 10. August 1967

34 Paul Celan an Klaus Reichert

Paris, 11. August 1967

35 Klaus Reichert an Paul Celan

Frankfurt am Main, 31. August 67

36 Klaus Reichert an Paul Celan

Frankfurt am Main, 22. September 1967

37 Albert Friedlander an Klaus Reichert

Harrow, 18. September 1967

38 Paul Celan an Klaus Reichert

o. ‌O., 5. Oktober 1967

39 Paul Celan an Klaus Reichert

Paris, 26. Oktober 1967

40 Klaus Reichert an Paul Celan

27. Oktober 1967

41 Paul Celan an Klaus Reichert

Paris, 6. November 1967

42 Paul Celan an Klaus Reichert

Paris, 10. November 1967

43 Paul Celan an Klaus Reichert

Paris, 20. November 1967

44 Klaus Reichert an Paul Celan

Frankfurt am Main, 11. Dezember 1967

45 Klaus Reichert an Paul Celan

Frankfurt am Main, 20. Dezember 1967

46 Gedicht »Du liegst« mit Datierung von Paul Celan

Berlin, 22./23. Dezember 1967

47 Begleitblatt zum Gedicht »Du liegst«

Berlin-Tegel, 29. Dezember 1967

48 Peter Szondi an Klaus Reichert

o. ‌O., 23. Februar 1971

49 Klaus Reichert an Paul Celan

Frankfurt am Main, 20. Februar 1968

50 Paul Celan an Klaus Reichert

Paris, 28. März 1968

51 Klaus Reichert an Paul Celan

Frankfurt am Main, 10. April 1968

52 Paul Celan an Klaus Reichert

London, 14. April 1968

53 Paul Celan an Klaus Reichert

Paris, 24. April 1968

54 Klaus Reichert an Paul Celan

Frankfurt am Main, 24. April 1968

55 Paul Celan an Klaus Reichert

Paris, 5. Mai 1968

56 Klaus Reichert an Paul Celan

Frankfurt am Main, 8. Mai 1968

57 Paul Celan an Klaus Reichert

Paris, 14. Mai 1968

58 Klaus Reichert an Paul Celan

Frankfurt am Main, 10. Juni 1968

59 Paul Celan an Klaus Reichert

Paris, 18. Juni 1968

60 Klaus Reichert an Paul Celan

Harvard, 12. August 1969

61 Klaus Reichert an Paul Celan

Harvard, 12. August 1969

62 Paul Celan an Klaus Reichert

Paris, 17. November 1969

63 Klaus Reichert an Paul Celan

Frankfurt am Main, 24. November 1969

64 Paul Celan an Klaus Reichert

Paris, 28. November 1969

65 Klaus Reichert an Paul Celan

Frankfurt am Main, 11. Januar 1970

Dokumente

1 Große Dichtung unserer Zeit

Rezension zu »Von Schwelle zu Schwelle«

2 Aktennotiz Siegfried Unseld vom 27. Juli 1967

Gespräch mit Paul Celan am 26. Juli 1967

3 Ergänzung Klaus Reichert vom 8. August 1967

zur Aktennotiz Siegfried Unseld vom 27. Juli 1967

Gespräch mit Paul Celan am 29. Juli 1967

4 Brief von Paul Celan an Urs Widmer

Paris, 28. März 1968

5 Brief von Klaus Reichert an Klaus Demus

Frankfurt am Main, 10. September 1970

6 Brief von Klaus Demus an Klaus Reichert

Wien, 22. September 1970

7 Klaus Reichert

Nachbemerkung

zu: Paul Celan, Ausgewählte Gedichte, Suhrkamp, Frankfurt a. ‌M. 1970 (Bibliothek Suhrkamp 264)

8 Brief von Hans-Georg Gadamer an Klaus Reichert

Heidelberg, 19. April 1993

Abbildungen

Faksimiles Photographien

Editorische Notiz

Dank

Literaturliste

Zu den Abbildungen

Namenregister

Fußnoten

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Erinnerungen

Für Bruno Ganz

Vorbemerkung

»Sprich auch du«

Diese Erinnerungen an Paul Celan sind wohl die letzten, die noch geschrieben werden konnten: die noch ausstanden. Alle früheren sind über Jahre und Jahrzehnte hin erschienen. Überlebende Freunde, die sich noch äußern könnten, gibt es nicht mehr. Bernhard Böschenstein ist als letzter, am 18. Januar 2019, gestorben.

Wie authentisch können Erinnerungen an einen Menschen sein, der vor fünfzig Jahren starb und den ich in den letzten zwölf Jahren seines Lebens kannte? Ich kann mich auf keine eigenen Aufzeichnungen stützen, habe kein Tagebuch geführt. Wohl aber habe ich immer wieder Freunden von meinen Begegnungen mit Paul Celan erzählt oder sie mit einstigen Weggefährten Celans ausgetauscht. Er ist mir immer gegenwärtig geblieben.

Es ist bekannt, daß selbst bei einem sehr guten Gedächtnis im Lauf der Jahre sich manches verschiebt, mit anderem überlagert oder falsch zusammensetzt. Aber zumindest die Datierungen ließen sich mit Hilfe unseres in Marbach liegenden Briefwechsels sowie der unschätzbaren Zeittafel von Bertrand Badiou genau angeben. Ich habe mich bemüht, das Erinnerte, das persönlich Erlebte, von dem zu trennen, was durch die Veröffentlichung der vielen Briefeditionen ans Licht kam. Manchmal stieß ich allerdings in einem Brief anderer auf etwas, das ich vergessen oder verdrängt hatte, und habe es in einer Fußnote angefügt.

Es schien mir nötig, auch den zeithistorischen und persönlichen Hintergrund darzustellen, vor dem unsere Begegnungen stattfanden, etwa die sich zunehmend politisierende Literatur und Gesellschaft in den sechziger Jahren. Da hatte Celan keine Aussicht, seinem Rang entsprechend wahrgenommen zu werden. Zu den ganz wenigen, die sich für ihn einsetzten, gehörten Peter Szondi, Bernhard Böschenstein, Beda Allemann, Theodor W. Adorno und Siegfried Unseld. Die literarische Öffentlichkeit nahm von ihm wenig Notiz, sieht man ab von der schändlichen Goll-Affäre, die ihn zerstörte.

Ich bin 1955, mit 17, in einem Prospekt zur Ankündigung einer neuen Zeitschrift, Texte und Zeichen, auf Gedichte Celans gestoßen, die mich sofort in ihren Bann zogen. So ist es geblieben von Band zu Band, auch wenn ich viele der späteren Gedichte nicht ›verstand‹. Zugleich hatte ich aber noch ganz anders geartete literarische Interessen, zum Beispiel an den Dichtern der Wiener Gruppe oder an den neueren amerikanischen Dichtern, die ich auch übersetzte. Im Suhrkamp Verlag bereitete ich die deutsche Joyce-Ausgabe vor, im Insel Verlag betreute ich die neue Reihe sammlung insel. Aber über das, was mich beschäftigte, woran ich arbeitete, konnte ich mit Celan nicht sprechen, weil ich merkte, daß es ihn nicht interessierte, wenn ich einmal davon zu sprechen anfing. Er erwartete, daß man ganz für ihn da war, ihm zuhörte, seinen Gedanken folgte, Anteil nahm an dem, was ihn irritierte.

Ich habe versucht, den Menschen Paul Celan, so wie ich ihn in Erinnerung habe, zu beschreiben. Dafür sind Interpretationen seiner Gedichte nicht der Ort. Nur wenn mir Hinweise zu einzelnen Gedichten noch im Kopf sind, die andere nicht kennen können, teile ich sie mit, möglichst im erinnerten Wortlaut.

Eigens gelesen für dieses Buch habe ich vor allem die Briefwechsel und verschiedene Erinnerungsschriften. Celans Tagebücher waren mir leider nicht zugänglich.

Im Sommer 2019

Ein Haus in Paris

Am Karfreitag, dem 4. April 1958, nachmittags gegen vier Uhr, klingelte ein noch nicht Zwanzigjähriger an der Wohnungstür von Paul Celan, Rue de Longchamp 78 im 16. Arrondissement. Er hatte dem bewunderten Dichter einen langen, umständlichen Brief (1)[1]  geschrieben und sich vorgestellt; er sei dann und dann in Paris und wolle ihn besuchen. Jetzt steht er vor der Tür im fünften Stock. Als Paul Celan die Tür öffnet, stammelt er einen französischen Satz, wird aber gleich unterbrochen: »Sie sind …«, nennt meinen Namen, sieht mich aus dunklen Augen prüfend, ein wenig ironisch, aber freundlich an und bittet mich herein.

Ich merke, daß ich ungelegen komme. Es ist Besuch aus Deutschland da. Im Hintergrund läuft eine Platte. Ich höre kurz hin und sage vorlaut: »Ah, die Triosonate aus dem Musikalischen Opfer. Die Geigenstimme habe ich gespielt.« Und Celan zu seinen Gästen: »Er hat die Musik gleich erkannt.« Er läßt sich nicht anmerken, daß ich ein Eindringling in einen Freundeskreis bin. Die Freunde sind Hanna und Hermann Lenz, die über Ostern aus Stuttgart herübergekommen sind. Den Schriftsteller Hermann Lenz kenne ich noch nicht. Er hört den Gesprächen schweigend zu und wird mir beim Abschied in mein Autogrammbüchlein schreiben: »Beiseite gesprochen«. Als wir uns Jahre später nach einer Lesung des inzwischen berühmt Gewordenen wiedersehen und ich ihn frage, ob er sich an unsere Begegnung in Paris erinnere, sagt er: »Ich habe Ihnen damals in Ihr Büchlein geschrieben ›Beiseite gesprochen‹.«

Paul Celan ist ein schlanker, schöner, noch jugendlicher Mann, dessen Gesicht mich an das des jungen Kafka erinnert. Wenn er spricht, sehe ich, daß seine Schneidezähne etwas auseinanderstehen. Seine Stimme ist hell und hat eine leicht singende Melodie mit manchmal mir unbekannter Aussprache. Er sagt »Ding-ge«, »Schlang-ge«, das Idiom seiner österreichisch-rumänischen Herkunft. Beim Sprechen geht er Gauloises rauchend im Zimmer hin und her, und ich sehe, daß überall Aschenbecher stehen mit manchmal noch glimmenden Zigaretten, die er vergessen hatte auszudrücken, als er sich eine neue anzündete. Während er spricht, schweift mein Blick zu einem wandhohen Bücherregal, in dem ich einige Heidegger-Bände aus dem Neske-Verlag bemerke; sie sind an ihren pastelligen orange- und rosafarbenen Schutzumschlägen leicht zu erkennen.

Paul Celan fragt nicht, warum ich mich für seine Gedichte interessiere, er fragt allgemeiner, welche Lyrik mir etwas bedeute. So komme ich ins Erzählen, spreche von meiner Liebe zu Alkaios und Sappho, den Chorliedern der Antigone, Homer, die ich in der Schule gelesen hatte, rede mich ins Feuer über Ezra Pound und Gottfried Benn, die nicht in der Schule vorkamen. Von Ezra Pound nenne ich das ABC des Lesens als Schule des Dichtens und den ersten Gesang der Cantos in ihrem Bezug zur Odyssee. Von Benn erwähne ich den Marburger Vortrag über Probleme der Lyrik, aus dem ich gelernt hätte, daß Gedichte ›gemacht‹ seien, artistische Gebilde, daß man sparsam sein solle mit Adjektiven und Farbvokabeln. Ich erzählte auch, daß ich vor einem Jahr, als Primaner, Benns Witwe in Berlin, Bozener Straße 20, besucht hatte, weil ich das Ambiente sehen wollte, in dem der Verehrte dichtete, die dunkle Parterrewohnung, den trostlosen Hinterhof, daß Ilse Benn mich fragte, welche Gedichte ich besonders liebe, die sie mir dann mit leiser, versonnener Stimme vorsprach.

Alles, was ich sagte, trug ich mit der unerschütterlichen Selbstgewißheit der Jugend vor, ihrem Stolz, nicht um Eindruck zu machen, eher um meine Visitenkarte abzugeben – es ist kein Unwissender, der Sie hier besucht. Paul Celan hörte aufmerksam, aber schweigend zu; auch seinem Gesicht konnte ich keinen Kommentar ablesen. Als er dann sprach – und er sprach lange und leise –, nahm er keinen direkten Bezug auf das Gesagte, aber ich spürte, daß seine Sätze von ganz woanders herkamen. Woher, verstand ich noch nicht. Erst zwei Jahre später, nachdem ich die Bremer Rede, Sprachgitter und den Meridian gelesen hatte, begriff ich, was ich in meiner Naivität dahergeplappert hatte. Von einem Propagandisten Mussolinis und einem Anhänger der Rassentheorie gelernt zu haben war Celan gegenüber gewiß eine Taktlosigkeit, ein Affront aus Unwissenheit. Aber er ließ sich nichts anmerken, widersprach nicht, blieb freundlich und liebenswürdig. Als ich ihn bat, mir etwas in Mohn und Gedächtnis und in mein Autogrammbüchlein zu schreiben, hob er den Arm und rief seiner Frau, seiner zarten, scheuen Frau, die sich ihren Gästen gewidmet hatte, zu: »Mon stylo!« Ins Büchlein schrieb er: »Im Sinne einer radikalen Entmythologisierung. Nix Styx!« (2) Und in den Gedichtband: »Klaus Reichert, / an einem runden Tisch / in Paris / Paul Celan / April 1958«. (3) Dabei wies er mit der Hand auf den Tisch und sagte: »Dies ist ein runder Tisch.« Dieser Satz kam mir später oft in den Sinn, wenn er sagte, seine Gedichte seien »ganz und gar nicht hermetisch«, nicht in einer übertragenen Bedeutung zu lesen, sie seien »konkret« und hätten – auch wenn er es so nicht ausdrückte – immer ein ›fundamentum in re‹: »Dies ist ein runder Tisch.«

Beim Abschied sagte er noch: »Sie interessieren sich ja für Lyrik. Hier in Paris lebt ein junger deutscher Dichter, den Sie noch nicht kennen dürften, er heißt Günter Grass –« Ich unterbrach ihn: »O doch, letztes Jahr erschien sein Gedichtband Die Vorzüge der Windhühner, den kenne ich ‌…« »– besuchen Sie ihn, er ist mein Freund, und sagen Sie, ich hätte Sie geschickt. Hier ist seine Adresse.«

Erst als ich wieder auf der Straße war, merkte ich, daß meine Uhr stehengeblieben war. Ich hatte manchmal darauf geschaut und muß gedacht haben, es ist ja gar nicht spät. So blieb ich sogar noch zum Abendessen, zu dem Gisèle Celan-Lestrange mich freundlich einlud. In diesem Stehenbleiben der Uhr, während ich Celans Worten lauschte, habe ich später ein Zeichen gesehen.

Es ist mir unverständlich, warum ich mich für die erfüllten Stunden erst am 8. Dezember bedankte. (4)

Fünfziger Jahre

Mich haben von früh an Verse gebannt: Kinderreime, Weihnachts- und Volkslieder, später der nicht auszuschöpfende Schatz des protestantischen Kirchenliedes. Namen wie Luther, Paul Gerhardt, Tersteegen, Christian Knorr von Rosenroth merkte ich mir. Was mich daran faszinierte, war nicht so sehr die Eingängigkeit – die auch –, es war vor allem die Gewalt der gebundenen Sprache, die sich über die Regeln der Grammatik hinwegsetzte, es waren die vielen Wörter, die ich nicht verstand. Das waren Springquellen für die Phantasie, waren Produktivkräfte, Um- und Abwege.

Für den Gymnasiasten begann 1949 der Ernst des Lebens mit Latein und Griechisch, der erhellt wurde durch Schwabs Sagen des Klassischen Altertums. Dann, in der Schule, begann bald die Plackerei mit Homer, aber die archaische Wucht seines Erzählens ging mir erst in den Übersetzungen von Voß und Thassilo von Scheffer auf. (Erst ein Jahrzehnt später, ausgelöst durch die minutiöse Lektüre des Ulysses, sah ich, was für ein großer, im modernen Sinn bewußt arbeitender Künstler [artifex] der Schöpfer der Odyssee gewesen war.) Das Pflänzchen Poesie hegte ich daneben weiter. Ich versuchte es mit dem wieder zu Ehren gekommenen Josef Weinheber, von dessen Vergangenheit ich nichts wußte (»Glocken und Zyanen, / Thymian und Mohn, / Ach, ein schwaches Ahnen / Hat das Herz davon«), versuchte es mit Hans Carossa, mit dem Rilke der Neuen Gedichte, mit George. Sie reizten mich nicht lange. Anders ging es mir mit dem jungen Hofmannsthal, mit Georg Heym, Franz Werfel, so verschieden sie auch waren, und vor allem mit Georg Trakl. Bei ihnen spürte ich wieder das Geheimnis, etwas, das über mein Verstehen hinausging, wie ich es aus der Kindheit kannte. Zugleich war in Trakls Versen eine sanfte Melancholie, eine Einsamkeit, die den Gefühlen des Pubertierenden vertraut waren.

Aber es war Gottfried Benn, der mich mit dem »scharfen Pfeil des Unendlichen« (Baudelaire, bei Hofmannsthal gelesen, bei Celan später wiedergefunden) traf. Hier herrschte ein anderer Ton als in aller Lyrik, die mich bisher berührt hatte: klar, illusionslos, Wörter verwendend, die lyrisch tabu waren, ganz gegenwärtig und dabei die Griechen im Kopf behielten, die Götter statt Gott, was mir die frommen Flausen austrieb. Sein Marburger Vortrag über Probleme der Lyrik galt mir als das letzte Wort zum Thema. Gedichte waren machbar, eine Sache des Trainings wie die Kunststücke der Artisten in der Zirkuskuppel, was allerdings die Gefahr des Absturzes mit sich brachte. Der Titel Statische Gedichte weckte noch eine andere Vorstellung: die der Statue, die, von ihrem Schöpfer abgelöst, einsam im Raum steht, ein Mal des »sich umgrenzenden Ichs«.

Der erste lebende Dichter, den ich kennenlernte, war Günter Eich. Ich kannte seine geradezu magischen Hörspiele, die regelmäßig im Südwestfunk und im Hessischen Rundfunk gesendet wurden, konnte antiquarisch seine Abgelegenen Gehöfte (1948) kaufen mit den nüchtern, gar nicht ›poetisch‹ protokollierenden Gedichten aus der Kriegsgefangenschaft, darunter das für eine ganze Generation stehende Gedicht »Inventur«. Mit seinem neuen Band Botschaften des Regens (1955) hatte er zu einer freien Versform gefunden, von der ich naiv meinte, so könnte ich es auch versuchen. Bevor Eich zu einer Lesung in meine Heimatstadt Gießen kam, war ich so unverfroren oder tapfer, ihm meine Gedichte zur Beurteilung nach Lenggries zu schicken. Der scheue, stille Günter Eich nahm sich tatsächlich vor der Lesung eine Stunde Zeit, die Gedichte mit mir durchzusprechen. Es blieb nichts von ihnen übrig. Am Ende sagte er: »Sie merken, wie schwierig es ist, Gedichte zu schreiben«, empfahl mir aber eine gerade erschienene Auswahl der Gedichte und Essays von Ezra Pound mit den Worten: »Der wird Ihnen liegen. Bei ihm können Sie viel über das Handwerk des Dichtens (condensare) lernen.« Das war im Herbst 1956.

Ich habe vorgegriffen. 1955 fiel mir der Prospekt eines Verlages in die Hände, den ich nicht kannte, Luchterhand, der eine neue Zeitschrift ankündigte: Texte und Zeichen, herausgegeben von Alfred Andersch. Darin stieß ich auf zwei Autoren, deren Namen ich schon gehört, von denen ich aber noch nichts gelesen hatte: Arno Schmidt und Paul Celan. Von Schmidt stand ein Auszug aus Seelandschaft mit Pocahontas im Prospekt, von Celan war eine Handvoll Gedichte abgedruckt. Ich sparte lange, bis ich das für mich viel zu teure Heft kaufen konnte, und las und las. Mit Schmidts Erzählung kam ich nach Anfangsschwierigkeiten einigermaßen zurecht und erfreute mich an der frechen, auch typo- und orthographischen Originalität dieses Schreibens. Von den fünf Gedichten Celans verstand ich erst einmal nichts, merkte aber, daß hier eine Sprache gefunden war, die an nichts anknüpfte, was ich kannte, die wie aus einer anderen Welt kam, obwohl sie deutsch war.

Schon die Titel waren eigentümlich – »Zwiegestalt«, »Inselhin«, »Mit zeitroten Lippen« –, dann die Bilder, die nichts Wiedererkennbares vorstellten, auch keine Metaphern in dem Sinn waren, den ich gelernt hatte, und die doch eine blitzartige Evidenz erzeugten; dann der Gebrauch der Präpositionen und Vorsilben, um dem Stammwort eine neue, eine andere Richtung zu geben. In »Argumentum e silentio«, dem später René Char gewidmeten Gedicht, stieß ich auf das Wort »erschweigen«. Ich wußte, daß der Titel ein römischer Rechtsterminus ist, der bedeutet, daß man durch Schweigen einer Sache, einem Casus, zustimmt. Aber »erschweigen«? Konnte es das Gegenwort zu »verschweigen« sein? Sich an etwas »heranschweigen« (müssen), weil es so schlimm, so unsagbar ist, daß es eben verschwiegen (oder verdrängt) wurde? Die Implikationen waren deutlich. Die vielen Schichten des so nie Gelesenen wurden aber zusammengehalten durch die zwingende Rhythmik und Melodik, die hämmernden Daktylen dieser Verse. Es ging ein Sog von ihnen aus. Und ich wußte, daß es dieser Dichter war, den ich verstehen wollte. Es würde viele Mäander geben, das wußte ich auch, ich würde Pound, Benn, Eich und alle die anderen nicht ›verraten‹, aber ich würde an ihn gebannt bleiben wie die Motte ans Licht. Das ist der Hintergrund für den überlangen Brief, mit dem ich mich mit dem Selbstbewußtsein eines noch nicht Zwanzigjährigen bei Paul Celan eingeführt hatte.

Universität Marburg 1958/59

Gotisch, Althochdeutsch, Altenglisch, etwas Sanskrit, Phonetik, englische Idiomatik, Shakespeare, drei Mittelaltervorlesungen, Romantik, sog. deutsches Gegenwartsdrama mit Georg Kaiser, Franz Werfel, Ernst Barlach, in näselndem Schwäbisch doziert. Zum Vergnügen eine Vergil-Vorlesung von Carl Becker, einem Reinhardt-Schüler, eine Proust-Vorlesung bei einem Französischlektor, Anfangsgründe des Chinesischen und das Malen der Ideogramme beim großen Alfred Hoffmann.

Ein Augenöffner war die Vorlesung des Philosophen Klaus Reich über die Sophistikoi Elenchoi des Aristoteles. Er demonstrierte an der Tafel, warum die und die Textstelle falsch überliefert (ein Hörfehler?) sein müsse. Ein Jota zuviel oder zuwenig, ein irriger spiritus asper. Minutiae, aber doch ein Unterschied ums Ganze. Unter den Hörern meldete sich oft ein schmaler alter Herr, der Neukantianer Julius Ebbinghaus, Reichs Vorgänger, und begann: »Herr Kollege, das glaube ich Ihnen nicht ‌…«, und so entspann sich ein langer Disput über das Für und Wider. Das war für mich ein Propädeutikum der Philosophie, ein Hinundherwenden der Wörter und Zeichen, um eine Grundlage zu schaffen, von der aus überhaupt erst sinnvoll zu sprechen wäre. Aber es blieb die Frage, ob nicht alle Überlieferungsschichten ins Verstehen eines Textes einbezogen werden müßten. Später, nach Erscheinen der kritischen Ausgaben der Gedichte Celans, stellte sich mir die Frage, ob nicht die Phasen der Entstehung Aufschluß gäben über das am Ende »enthülste«, komprimierte, fertige Gedicht. Aber die Quellen gab es damals noch nicht.

Das wichtigste Ereignis in meinem ersten Marburger Semester war ein Film. In einem Studentenkino wurde Nacht und Nebel von Alain Resnais gezeigt. Ein Student sagte zur Einführung, der Film hätte bei den Filmfestspielen in Cannes vorgeführt werden sollen, aber die Bundesregierung habe interveniert: Der Film könne dem Ansehen der noch jungen Bundesrepublik schaden, die doch ›alles‹ getan hätte ‌… und so weiter. Er kam denn auch nicht in den offiziellen Verleih, denn die Bilder waren zu schrecklich, das heißt, ›den Deutschen nicht zumutbar‹. Den Text hatte Jean Cayrol, ein Überlebender von Mauthausen, geschrieben, der ihn als »Kommentar« verstand zu den von Resnais montierten Bildern. Die deutsche Übersetzung stammte von Paul Celan. Cayrols Prosa hatte er zu Versen angeordnet. So entstand eine Spannung zwischen den Dokumenten des Grauens, die ich in diesem Film zum erstenmal sah, und den nüchtern konstatierenden Versstücken, Atemeinheiten, die sich zu einem großen Poem zusammenfügten. Mich erinnerte das Verfahren der registrierenden Reihung an Schönbergs spätes Stück Ein Überlebender von Warschau. Jahre später, 1983, entnahm ich der Gesamtausgabe der Übertragungen, daß Celan seine frühe Übersetzung nicht lange vor seinem Tod noch einmal durchgesehen und korrigiert hatte. Wie ihn diese erneute Begegnung mit dem Unfaßbaren verstört haben muß, wagt man sich nicht vorzustellen.

Im März 1959 erschien Sprachgitter bei S. Fischer, Celans neuem Verlag. Daneben lag in der Buchhandlung ein dünnes Heftchen, das sein früherer Verlag herausgegeben hatte und das seine Dankesrede für den Bremer Literaturpreis enthielt. Die Rede, so kurz sie ist, benennt die Richtpunkte – ›Windstriche‹ – seines Schreibens. Der furiose Einsatz mit Wörtern gleicher Herkunft – »Denken, Danken, gedenken, eingedenk sein, Andenken, Andacht« – macht hellhörig für das in einem Wort Mitgedachte, Mitgemeinte Andere, Nahe oder Ferne. So scheint in Celans Denken das Eingedenksein mitgemeint. Es war bewegend zu lesen, daß er als das einzige Unverlorene die Sprache nennt, »ja, trotz allem«. Er vermied, sie »die deutsche Sprache« zu nennen, aber er sagte, daß sie, die Sprache, »hindurchgehen [mußte] durch die tausend Finsternisse todbringender Rede«. Das hieß, daß seine Sprache nicht anknüpfen konnte an die Großen seiner Jugend – Hofmannsthal, Trakl, George, Rilke –, daß vielmehr bei jedem Wort mitzuhorchen ist auf das, was mit ihm seitdem geschehen war. Auch der dialogische Charakter der – seiner – Gedichte kommt zur Sprache: »Sie halten auf etwas zu.« Sie können »eine Flaschenpost sein«. Und dann: die Sprache seiner Ansprache: »Infinite riches in a little room.«

Sprachgitter war ganz anders als die früheren Gedichtbücher. Auch schon eine »Atemwende«. Es war eine andere Sprache, nicht mehr eine durch- und heraushörbar vertraute wie trotz allem Neuen bei Eich und Bachmann. Vielleicht sollte man (ich) durch die abgelagerten Schichten des Deutschen hindurchgegangen sein, um des Unvertrauten der eigenen Sprache gewärtig zu werden. Wieviel Vergessenes ist in ihr aufgehoben? Es gab Gedichte, die sich bis zu einem gewissen Grad ›öffnen‹ ließen. »Tenebrae« zum Beispiel mit der Vergegenwärtigung der Karfreitags- und Osterliturgien, mit der Zwiesprache mit Gott wie im Hiob der Bibel und im Roman von Joseph Roth. Oder »EIN HOLZSTERN, blau, / aus kleinen Rauten gebaut. Heute, von / der jüngsten unserer Hände.« Das konnte nur von Eric gesagt sein, der jetzt vier Jahre alt sein mußte und der bei meinem Besuch in Paris zwischen den Zimmern und Sprachen hin und her gelaufen war. Oder »Matière de Bretagne«, in dem der arturische Sagenkreis eine Anknüpfung zu bieten schien, die sich aber erst einmal als loser Faden erwies. Bei den meisten Gedichten fehlte die Möglichkeit, sie in meinen Verstehenshorizont zu übertragen. Sie waren wie Wassertropfen, die erst unter dem Mikroskop zeigten, was alles in ihnen wimmelte. Schon die Anfangsverse des Eingangsgedichts – »Stimmen, ins Grün / der Wasserfläche geritzt« – waren ›immun‹. Stimmritze? Glottis? Kaum. Die Verse hatten eine eigene Evidenz, jenseits des Darstell- oder ins Verstehen Übersetzbaren, waren ein herrliches Bild, das die Frage nach der Bedeutung wie ein Sakrileg erscheinen ließ. Die größte Herausforderung war »Engführung«, das lange Schlußgedicht, das ich mir und anderen immer wieder vorlas, um übers Ohr das Übereinander der Stimmen herauszuhören. Die Fugentechnik der Engführung war eine mögliche Herangehensweise: das ›Thema‹ ist noch nicht fertig, da wird es schon überlagert vom Selben, das das Selbe nicht ist wie die Überschichtungen der Erinnerung. So las ich und verlas mich, setzte mich den Gedichten von Sprachgitter aus, fasziniert, zugleich ahnend und ahnungslos.

Damals schrieb ich Paul Celan einen weiteren Brief, um ihn zu Lesungen nach Marburg und Gießen einzuladen. (5) Wir hatten in Paris darüber gesprochen. Und er antwortete am 27. März 1959 (6), wofür ich mich erst im August bedankte. (7)

Es muß im Sommersemester 1959 gewesen sein, daß ich einen Vortrag von Rolf Schroers hörte, dessen Name als Schriftsteller mir vage bekannt war, von dem ich aber nichts gelesen hatte. Er sprach über die atomare Bedrohung im Kalten Krieg. Vor zwei Jahren hatten Göttinger Professoren, Physiker und Philosophen, ein Manifest gegen die atomare Aufrüstung der Bundeswehr verfaßt und waren dafür von Adenauer als für solche Fragen nicht zuständig abgekanzelt worden. Das hatte mich empört. Also ging ich zum Vortrag von Schroers, ging hinterher zu ihm, stellte ihm ein paar Fragen, und er lud mich zu einem Glas Wein ein. Er gehörte einem ›Komitee gegen Atomrüstung‹ an und saß in einem Ausschuß ›Kampf dem Atomtod‹. Schroers war ein äußerst beredter Mann, bestens informiert, engagiert, aber kein ›Linker‹, weil er das atomare Drohpotential des Ostens genauso kritisierte wie das des Westens. Er öffnete mir die Augen für vieles, was in Westdeutschland schieflief, sprach von den alten Nazis in der Justiz und vom sich wieder offen zeigenden Antisemitismus. Er war ein freundlicher, zugewandter Mensch, uneitel, klar, ein Aufklärer, der andere Menschen erreichen wollte, sonst hätte er mich, den jungen Anonymus, nicht zum Wein eingeladen. Als er von Antisemitismus sprach, erwähnte ich Resnais' Film Nacht und Nebel. Es war er, Schroers, der mit ein paar wenigen Gleichgesinnten öffentlich gegen den ›Wunsch‹ oder die ›Empfehlung‹ der Bundesregierung, den Film in Cannes nicht zu zeigen, protestiert hatte. Über den Film kamen wir auf Paul Celan zu sprechen. Er war erstaunt, daß ich diesen scheuen Menschen kannte, und erzählte von der Verleumdungskampagne, die gegen ihn im Gange sei und ihn nervlich zerrütte. Auf der anderen Seite hätten seine Verteidiger es schwer, es ihm recht zu machen. Das war das erste Mal, daß ich von der ›Goll-Affäre‹ hörte. Von Celan kamen wir auf ein anderes Opfer der Nazi-Jahre zu sprechen, auf Wolfgang Hildesheimer, den ich wenige Wochen zuvor bei einer Lesung in Gießen kennengelernt hatte. Gerade das Exil in England und Palästina habe ihn immun gemacht gegen die Verseuchung der deutschen Sprache, die bei manchen unserer Gegenwartsautoren sich doch noch zeige. Von Kahlschlag könne keine Rede sein. Das, was Schroers damals zu mir sagte, hat er in einem Brief an Celan genauer formuliert, als ich es erinnere: »Ich selbst habe bei Wolfgang Hildesheimer ein Verhältnis zur deutschen Sprache konstatiert und auch beschrieben, wobei ich – freilich mit positivem Akzent – ausführte, er bediene sich des Deutschen wie einer exzellent beherrschten Fremdsprache, frei von den gerade unter Hitler darin aufgestauten Ressentiments und Mißklängen, frei auch von Muff.«[2]  Der Satz steht im Zusammenhang der Celan empörenden Sprachgitter-Rezension von Günter Blöcker, gegen die zu protestieren er von seinen Freunden erwartete. Celan schreibt in seiner Antwort auf Schroers: »Dass Du aus diesem Anlass auf Hildesheimer und dessen Deutsch zu sprechen kommst, ist – Du weißt, dass ich Hildesheimer nicht sonderlich schätze – mehr als peinlich.« Der Jude Celan mochte den Juden Hildesheimer nicht. Der Jude Groß und der Jude Klein.

Aus diesem heißen Sommer 1959 taucht ein anderes Bild in der Erinnerung auf. Der Blick aus dem Fenster meines Zimmers am Marburger Barfüßertor ging hinunter auf den Bergweg mit den Verbindungshäusern, aus deren wegen der Hitze aufgerissenen Fenstern die Lieder der Korporierten vom Vaterland und von alter Burschenherrlichkeit heraufgrölten. Schon wieder?

London 1959/60

Im August 1959 ging ich für zehn Monate nach London. (7) Ich wollte nach drei Semestern aus dem mir zu eng gewordenen Marburg heraus und anständig englisch sprechen lernen. Unter den mitgenommenen Büchern waren die Gedichtbände Paul Celans, seine Mandelstamm-Übersetzung und eine dreibändige Novalis-Ausgabe. Ein Stipendium hatte ich nicht, aber eine Arbeitsbewilligung, um als eine Art Handlungsgehilfe in einem Agent's Office for Haberdashery (ich übersetzte das mit ›Galanteriewaren‹) mein Brot zu verdienen. Die Arbeit war leicht und abwechslungsreich. Ich mußte mit zwei Musterkoffern kreuz und quer, von Hammersmith bis Whitechapel, mit der Tube durch London fahren und den großen Kaufhäusern des West End und den ärmlichen Großhändlern im East End die neuesten Kollektionen – Knöpfe, Gürtel, Hosenträger, Modeschmuck, Damendessous – zeigen und die Bestellungen aufnehmen. In der Stadt – besonders um St. Paul's Cathedral, wo mein Arbeitsplatz war, und im Osten – waren noch die Bombentrichter des ›Blitzkriegs‹, die Schuttberge und halbwegs bewohnbar gemachten Ruinen zu sehen. Ein Wirtschaftswunder hatte es hier nicht gegeben.

Aber London lebte und steckte voller Anregungen. Das Royal Court Theatre spielte die neuesten Stücke von Beckett. In einem Club-Theater, dessen Mitglied man sein mußte, um hineinzukommen, wurden erste Stücke eines unbekannten Autors aufgeführt: Harold Pinter. Michael Horowitz, wenige Jahre älter als ich, Sohn eines Frankfurter Rabbiners, erfand die Jazz Poetry und gab eine Zeitschrift heraus, Departures. Der Emigrant Otto Klemperer dirigierte regelmäßig in der Royal Festival Hall. Dort sah und hörte ich auch zum ersten Mal Pierre Boulez mit seinem Marteau sans Maître zu einem Gedicht von René Char. Daß Paul Celan ihn übersetzt hatte, wußte ich aus dem Texte und Zeichen-Heft, in dem ich auch auf ihn gestoßen war.

Gleich in den ersten Wochen lernte ich Erich Fried kennen, dessen Übersetzung von Dylan Thomas' Hörspiel Under Milk Wood ich als ein poetisches Meisterstück bewunderte, zudem hatte er gerade seinen ersten Gedichtband in Deutschland veröffentlicht. Ich schrieb ihm, und er lud mich ein. Ich hatte einen Dichter erwartet und lernte einen politischen Beobachter kennen, der mich sofort nach meiner Einschätzung beunruhigender Vorkommnisse in der Bundesrepublik fragte – über den alt-neuen Antisemitismus zum Beispiel –, Dinge, die ich mit Schrecken wahrgenommen hatte. Es war Erich Fried, durch den ich politische Aufmerksamkeit auch auf das bisher nicht Wahrgenommene lernte. Als Deutschland-Kommentator für die BBC las er alle ihm erreichbaren Zeitungen und reagierte umgehend, wenn er irgendwo ›Ostzone‹ oder ›SBZ‹ las. (Hellhörigkeit für politische Sprache, für gedankenlos oder absichtsvoll nachgeplapperte Stereotype, war nichts, wofür man als junger Mensch in den Adenauer-Jahren – zumal in meinem Gymnasium – empfindlich werden konnte.) Dabei war Fried kein Eiferer; er glaubte, durch geduldiges oder hartnäckiges Argumentieren überzeugen zu können; selbst mit Mördern aus politischer Überzeugung glaubte er reden zu sollen.

Erich Fried hatte als Sechzehnjähriger kurz nach dem ›Anschluß‹ mit seiner Mutter aus Wien nach London flüchten können. Den Vater hatten Nazis vor seinen Augen totgetreten. Er erzählte das ganz sachlich, ohne Klage, ohne Anklage. Er schien auch nicht traumatisiert zu sein, nur wollte er nie vergessen, er wollte – verstehen. In seinem einzigen Roman – Ein Soldat und ein Mädchen – verliebt sich ein amerikanischer Soldat, ein Jude aus Deutschland, in eine junge KZ-Aufseherin und will verstehen, wie die Verbrechen im Denken und Fühlen der jungen Frau überhaupt hatten möglich sein können. Er erhält, wenn ich mich richtig erinnere, keine Antwort. Und der Roman wurde in Deutschland nicht beachtet; er kam ›zu früh‹.

Ich erzähle das alles, weil Erinnerung an die Greuel und deren Darstellbarkeit, vor allem aber das Fortleben braunen Gedankenguts, auch in unseren Gesprächen über Paul Celan und seine Gedichte eine Rolle spielten. Fried kannte Rezensionen über Sprachgitter, die er für ungerecht hielt, auch im Ton, auch in einem latenten Antisemitismus, den er heraushörte, meinte aber, sie könnten den Rang dieses Dichters doch nicht schmälern. Ich erinnere mich nicht mehr, ob Fried von der Goll-Affäre gehört hatte. Hätte er darüber gesprochen, hätte ich mich sicher daran erinnert, als ein Jahr später Peter Szondi in Berlin davon sprach.

Für Fried war die »Todesfuge« das einzige authentische Gedicht, in dem das Grauen durch Motivverkettungen, Wiederholungen, hämmernde Daktylen, nie gesehene Bilder eine Form, eine eigene Wirklichkeit gefunden hatte, jenseits jeder Abbildlichkeit. Frieds eigene Lyrik – lapidar, Dinge beim Namen nennend, wortspiel- und pointenreich – hatte freilich nichts zu tun mit Celans Gedichten. Ihn störten an ihnen manche »preziösen«, »erlesenen« Wörter, ein Pathos. Im Englischen nenne man das »purple style«. Er sprach von »Verfeierlichung« und illustrierte das mit dem Gedichtanfang: »So bist du denn geworden / wie ich dich nie gekannt.« Ich sagte: »Aber die Gedichte in Sprachgitter sind doch ganz anders.« Ich weiß nicht mehr, ob er mir zustimmte.

Mein engster Freund war Lionel Blue, der, acht Jahre älter als ich, schon Rabbi an einer reformjüdischen Gemeinde in West Hampstead war. Von ihm lernte ich in nächtelangen Gesprächen viel über jüdisches – genauer: über rabbinisches – Denken und dessen beständiges Fragen und In-Frage-Stellen in den unendlichen ›Diskursen‹, wie sie im Talmud überliefert sind. Ausgangspunkt der Frage ist immer das Wort in seiner konkreten Bedeutung (eine Waage ist zum Wiegen da, nicht zum Abwägen; »Dies ist ein runder Tisch«), aber was ist, wenn man das Wort anders vokalisiert und ein »Gegensinn« (Freud) erscheint? Was ist, wenn man die Wortgrenzen anders setzt, als sie einmal ›oktroyiert‹ (masoretisch), aber von Fall zu Fall von den Rabbis in Frage gestellt wurden? Was ist, wenn ein dunkles Wort erst von einem weit entfernten Wort auf der Schriftrolle erhellt wird (R. Ben Akiba in seinen hermeneutischen Regeln aus dem 1. Jahrhundert)? Eine solche Annäherung an die Sprache, dachte und denke ich, könnte den Blick auf die Dichtung Paul Celans verändern. Anderes kam hinzu: Die jüdische Religion – ist es eine ›Religion‹ außer in der Wortbedeutung? – ist kein Glaube, sie ist ein Bund, ein Vertragsverhältnis, in dessen Zentrum kein Kultbild, kein Symbol wie das Kreuz steht, sondern der Name Gottes, das unaussprechbare Tetragramm. Celans Bilder sind wie Ver-Bildlichungen von ›etwas Anderem‹. Und welche Bedeutung gerade Namen in Celans Dichtungen hatten, war etwas, dem ich nachgehen müßte.