Die letzte Äbtissin - Sandhya Hasswani - E-Book

Die letzte Äbtissin E-Book

Sandhya Hasswani

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Beschreibung

1751: Die junge Mari-Anna erlebt, wie ihr Lebensmittelpunkt – das Stiftsmünster von Säckingen – in nur einer Nacht niederbrennt, zudem fällt dem jungen liberalen Kaiser Joseph ein, sämtliche Klöster in Süddeutschland aufzulösen. Das Frauenstift ist in seiner Existenz bedroht. Wird es Mari-Anna gelingen bei all den gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen ihren Weg zu beschreiten? Welt, Geist, Leben im 18. Jahrhundert am Hochrhein: Der spannende historische Roman erscheint anlässlich des 300. Geburtstags der Säckinger Fürstäbtissin Mari-Anna F. von Hornstein-Göffingen (1723-1809), Stifterin des Fridolinschreins. Eine starke Frau, die uns heute in einer ähnlich unruhigen Welt durch ihren Mut inspiriert.

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Seitenzahl: 782

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Titelbild und Bild S. 535:

© 2022 Stadt Bad Säckingen, Tourismus- und Kulturamt, Hochrheinmuseum Schloss Schönau

Alle Rechte vorbehalten

© 2022 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel

Projektleitung: Beatrice Rubin

Korrektorat: Daniel Lüthi

Layout: Siri Dettwiler

eISBN 978-3-7245-2703-9

ISBN der Printausgabe 978-3-7245-2574-5

Der Friedrich Reinhardt Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

www.reinhardt.ch

Sandhya Hasswani

Die letzte Äbtissin

Ihr bewegtes Leben in Säckingen

Friedrich Reinhardt Verlag

Inhalt

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

Nachwort

Zeittafel

Über die Autorin

Prolog

»Wie rätselhaft sind unsre Tage, im Aufgang und im Untergang! Zu kurz sind sie, des Thoren Klag; dem Wunsch des Weisen oft zu lang …«

Friedrich Karl Kasimir von Creutz (1724–1770)

Noch vor wenigen Minuten war der Himmel über Säckingen in ein helles Blau getaucht, mit einem schwachen Anflug von dunstigem Weiß hinter den Dächern der Stadt. Doch im Westen versank die Sonne unaufhaltsam tiefer in den Horizont und verlieh der Welt ihren rotgoldenen Schimmer. Wie jedes Jahr im November würde der Nebel bald aus dem Rhein aufsteigen, über die Giebel der Altstadt ziehen und mit dem Dunkel der Nacht alle Farbe schlucken, wusste Mari-Anna, die Arme auf die Fensterbank gestützt, den Blick auf dem Münsterplatz ruhend.

In letzter Zeit waren ihre Handgelenke immer steif. Die Gicht, meinte ihr Physikus. Irgendein Zipperlein, um sie daran zu erinnern, dass mit sechsundachtzig Jahren kein Grund zu Übermut bestand.

Sie sog die würzige Luft ein. Der herb-frische Duft stammte von dem Gesteck aus Tannenreisig und Glasperlen auf dem runden Tischlein neben ihr. Mitten im Gesteck war Platz für die Kerze frei, die der junge Fridolin, wie jedes Jahr, vorbeibringen würde. Er würde sie auch diesmal besuchen, versprochen hatte er’s. Seltsam, nun wohnte Anna über vierzig oder fünfzig Jahre in Säckingen und hatte diesen Adventsbrauch aus ihrem Elternhaus in Göffingen all die Zeit bewahrt. Anna rechnete nach: vierzig, fünfzig, sechzig, einundsechzig Jahre! Gütiger Himmel! Wie sich die Welt doch gewandelt hatte!

Seufzend wandte sie sich vom Fenster ab. Sie sollte wohl fortfahren, die Briefe auf ihrem Sekretär zu ordnen: immerhin hatte sie beschlossen, nicht alles aus ihrem Leben der Nachwelt zu hinterlassen. Und da waren weiß Gott wie viele Korrespondenzen, die sie all die Jahre verwahrt und immer wieder gern hervorgeholt hatte, von denen sie aber keine einzige in fremden Fingern wissen wollte. Doch der frühe Abend war ihre Lieblingszeit, eine ganz besondere Stunde, wenn es nicht mehr Tag, aber auch noch nicht Nacht war, wenn die Schatten von Blassgrau zu Purpur wechselten und die Kerzen und Lampen in Sälen und Kammern angezündet wurden. In letzter Zeit verträumte sie die Nachmittagsstunden öfter. Dann erwachte sie schlagartig, als wäre ihr ein Kraftschub gegeben worden, um die Abendstunden bis zur Nachtruhe in Gesellschaft verbringen zu können.

Aus dem Briefbündel vor ihr löste sich ein Couvert. Anna hob das vergilbte Papier auf und erkannte die vertraute Handschrift: Die sauber geschwungenen Lettern auf dem dicht beschriebenen Papier waren ihr eingängig wie ihre eigenen.

»Geliebte Mari-Anna, ma chère sœur,

deinen Brief erhielt ich gestern. Er war mir ein lieber Beweis, dass du so fürsorglich an mich denkst, wie es nur eine Schwester kann. Ich hatte immer geglaubt, dich an das Stift zu verlieren, sobald du dort eintrittst. Doch nun weiß ich, dass du mir immer noch verbunden bist. Jedem anderen würde ich an dieser Stelle gewiss von heiteren Stunden in meinem neuen Heim berichten, von glücklichen Stunden an der Seite meines Gemahls. Ich könnte dir von der komfortablen Einrichtung und all den Nettigkeiten berichten, die uns in diesen Wochen erzeigt wurden. Doch das, liebe Anna, wäre nur die halbe Wahrheit. Meine Lage ist alles andere als komfortabel …«

Anna ließ den Brief sinken. Sie sah das Gesicht ihrer älteren Schwester noch vor sich, jung und schön, aber in ihrer Erinnerung verblasste sie immer mehr. Sie hatte den gleichen Namen wie sie getragen: Marianna, doch ihr Leben war völlig anders verlaufen. Anna hatte sich nie gefragt, was gewesen wäre, wenn sie selbst geheiratet hätte. All die Arbeit, das Stift, das Münster, ihr Fridolin! Sie hatte nie einen Gedanken daran verschwendet, dies alles aufzugeben und Säckingen zu verlassen, obwohl es ihr einstweilen freigestanden hatte.

Die Briefe ihrer Schwestern und Brüder hatte sie regelrecht verschlungen, hatte stets den lilienverzierten Riegel ihrer Kammertür vorgeschoben, bevor sie, in den salbeigrünen Schal von Maman gehüllt, die privaten Korrespondenzen auf dem Canapé neben dem Fenster entfaltete. Und das Band, das die fünfzehn Geschwister von Hornstein einte, war niemals gerissen. Bis sie einer nach dem anderen verstorben waren. Nur Mari-Anna lebte noch.

Sie schmunzelte. Hatten nicht alle ihre Schwestern mit erstem Namen Maria geheißen? Wie die Kaiserin. Natürlich hatten Annas Eltern damit ihren Glauben und ihre Treue zur römischen Kirche bezeugen wollen, was ihnen hinsichtlich der Karrieren ihrer Kinder durchaus belohnt worden war.

Annas Blick wanderte hinüber an die Wand hinter dem Schreibpult. Hier hatte stets das Porträt der mächtigen Habsburgerin gehangen, Maria Theresia. Auch sie lebte schon lange nicht mehr. Nun war ihr Bild mit all den anderen Gemälden und prunkvollen Zeugnissen jener Zeit an einem anderen Ort, in irgendeinem staubigen Winkel eines Staatsarchivs. Man hatte die Wohnräume der Fürstäbtissin nicht völlig leer geräumt. Anna waren nach der Inventarauflösung einzelne Möbelstücke aus ihrem Familienbesitz geblieben. Mit jedem verband sie eine besondere Erinnerung. Aber was sagten diese schon über sie aus, fragte sie sich. Ein großes Bett, obwohl sie allein darin schlief. Gegenüber ein Kamin, der nicht richtig abzog, weshalb sie die Ofenschale bevorzugte. Ihr Blick blieb an dem sperrigen Eichenschrank hängen. Er hatte nie in diese Zeit gepasst, zu wuchtig die Standfüße, zu klobig seine Verzierung. Und doch hing Anna an dem Erbstück. An seinen schweren Türen prangte eingeschnitzt das Familienwappen: drei Felskuppen, über die ein lang gebogenes Hirschhorn rankte. Das Wappen derer von Hornstein. Im fahler werdenden Licht konnte Anna es kaum noch ausmachen. Doch sie kannte die rauen Stellen im Holz ganz genau, stellte sich vor, wie ihre Fingerkuppen, wie so oft, über die Rundungen glitten. Jedes Mal, wenn sie an ihre Notreserve ganz oben im hintersten Fach musste, hatte sie vor dem Wappen an der Tür innegehalten. Maman hatte ihnen immer gesagt, dass eine junge Frau mit ihren Mitteln gut haushalten müsse, dass Leichtsinn und Prasserei keiner Herrschaft gut zu Gesicht stünden. Ob sie es vorausgeahnt hatte?

Anna seufzte. Sie hatte ein gutes Leben geführt, kein luxuriöses. Dabei waren ihre Rücklagen oft die einzige Rettung gewesen. Genau genommen waren es zwei: ein Ledersäckchen und ein Beutel aus Brokat. Von ihren Pfründen hatte sie stets einen Teil beiseitegelegt für Zwecke wie Familienfeste, Geburten, Hochzeiten und Helferdienste für Verwandte und hatte die Säckel stets sorgsam vor den Augen des Rentmeisters gehütet. Weder er noch Stiftsamtmann Baptist von Senger hatten es gern gesehen, wenn die Damen ihr Geld außerhalb des Stifts oder gar für Verwandte ausgaben. Verhielt es sich jedoch umgekehrt, war der Geldzufluss natürlich willkommen. Nur, zuletzt hatte ihr die Notreserve auch nicht mehr genutzt.

Sie öffnete die Eichentüren, der geräumige Schrank bot viel Platz für ihre Roben. Es waren gut verarbeitete Kleider in dunklen, gedeckten Farben. Nicht prunkvoll, wie die einer Gräfin oder wie man sie am Kaiserhof sah. Nein, Annas Kleider beeindruckten durch zurückhaltende Eleganz: Ihre Unterröcke waren aus bauschigem Musselin und Pariser Taft, die Überkleider aus Seide oder feinem Wollstoff. Volants und Seidenbänder schmückten die Abschlüsse an Elle und Saum. Eines ihrer Lieblingsstücke hatte ihre Kammerjungfer am Ausschnitt mit schwarzer Spitze umkränzt. Die Wirkung war so mondän. Sie hatte es an dem Abend der Garten-Charité mit einer funkelnden Schmucksteinbrosche getragen und damit alle Blicke auf sich gezogen. Wo war er hin, der Glanz jener Tage? Gab es ihn nur noch in ihrer Erinnerung, die langsam bröckelte, immer blasser und faltiger wurde, wie ihre Haut an den Händen und Gesicht?

Wieder durchblätterte sie das Briefbündel vor ihr. Sie wollte vorwärts machen. Jeden Augenblick würde Martha sie zur Vesper rufen.

Aus dem Augenwinkel nahm sie ein helles Leuchten wahr. Anna hob den Kopf und schaute hinaus. Die untergehende Abendsonne warf ihr letztes Licht auf die beiden Kuppeln des Münsters. Dort drüben, ja, dort war ihr Platz. Alles, was ihr je lieb und teuer gewesen war, würde man dort finden. Bald würde sie selbst dort drüben ruhen. Zu Füßen ihres Fridolins.

Es klopfte.

»Ehrwürden? Besuch für Euch.«

Die helle Stimme ihrer Kammerjungfer riss sie aus den Gedanken.

»Wer ist’s?« Anna räusperte sich.

»Der junge Herr Fridolin«, antwortete die helle Stimme.

Anna lächelte. Er war gekommen. »Dann immer nur herauf mit ihm.«

Sie sammelte die Briefe ein und erhob sich.

Wie sie zur Tür schritt, griff sie nach dem Bündel und warf es in die Ofenschale, wo das Papier langsam in der Glut verbrannte und zu Asche zerfiel.

1

Kapitel

1751

»Bei allen Zerstörungen lässt sich aber eines behaupten: weil uns die Ökonomie der Weltgeschichte im großen Dunkel bleibt, wissen wir nie, was geschehen sein würde, wenn etwas – und sei es das Schrecklichste – unterblieben wäre.«

Jacob Burckhardt (1818–1897), Schweizer Kunsthistoriker

Anna fröstelte.

Der Brandgeruch hatte sich ins Gewebe ihrer Kleidung eingenistet. Die Kragenbluse, der schwere Chormantel, das hochgesteckte Haar unter der Haube, die Brokatvorhänge an den Fenstern im Speisesaal – alles roch nach dieser strengen Mischung aus verkohltem Holz, Rauch und Schutt. Trostlos hing der Gestank über der Inselstadt, deren Häuser grau-in-grau in den Morgenhimmel des zweiten Dezembers stachen, verlassen von ihren Bewohnern, die sich in kleinen Gruppen um das schwarze qualmende Gerippe auf dem Münsterplatz scharten.

Das Unfassbare war geschehen.

Anna schauderte. Sie wandte sich von den Ruinen der Stiftskirche ab und strich sich über die Lider. Ihre Augen brannten nach der durchwachten Nacht.

»Hier. Trink etwas.« Franziska trat zu ihr ans Fenster des Speisesaals und reichte ihr ein Glas Wasser. Der erste Schluck schmeckte süß, doch konnte es das Kratzen in ihrem Hals nicht lindern.

Resigniert schaute Anna in den Saal. Ihre Stiftskolleginnen saßen zu zweit, zu dritt an der langen Tafel und warteten auf die Ehrwürdige Mutter, die sich in ihrem Arbeitszimmer mit Oberamtmann Baptist von Senger besprach.

»Wie konnte das nur passieren?«, wisperte Anna.

»Ich weiß es nicht. «Franziskas Stimme brach. »Die Ehrwürdige Mutter wird bestimmt …«

Weiter kam sie nicht, ein klagendes Wimmern unterbrach sie: »Wenn sie das Stift schließen, schicken sie uns alle nach St. Trudpert. Ich will aber nicht zu diesen armen Betschwestern! Das ist doch alles Annas Schuld!«, schluchzte Violanta.

»Bitte, was?« Entsetzt blickte Anna hinüber.

»Hattest du nicht Altardienst und solltest nach dem Rechten sehen?« Verwirrt starrte Violanta sie an. Mit ihrem fülligen Gesicht, der kleinen, spitzen Nase und dem trotzigen Blick hatte ihre Cousine etwas Kindliches an sich, fand Anna, dabei war Violanta einige Jahre älter als sie selbst. Sieben Jahre, um genau zu sein. Anna spürte, wie die anderen Damen sie beobachteten.

»Was soll das, Violanta? Du warst doch selbst noch zur Komplet im Münster, wir alle waren dort«, erwiderte sie beherrscht.

»Aber du warst oben, beim Orgelbauer. War er wieder betrunken?«

»Sie war oben, um den Feierabend anzukündigen, stimmt’s, Anna?«, wandte Barbara genervt ein. »Und jeder weiß, dass er ein Säufer ist. Also, mich würde es nicht wundern, wenn so jemand eine Kerze umstößt.« Die anderen tuschelten.

»Es ist Annas Pflicht, solchen Unfällen vorzubeugen und nach dem Rechten zu sehen.« Violanta ließ nicht locker.

»Was sollen diese Vorwürfe?«, fragte Anna. »Ich habe alles kontrolliert.« Oder doch nicht? Plötzlich war sie sich nicht mehr so sicher.

»Nun, der Bischof wird auch wissen wollen, wie es zu dem Brand kam«, meinte Violanta. »Und ich werde es dir nie verzeihen, sollte meine Zeit hier in Säckingen vorzeitig enden, weil das Stift wegen deiner Nachlässigkeit geschlossen wird. Das wird noch Konsequenzen haben!« Sie ließ Anna stehen.

»Oh, diese …!«

»Lass sie, Anna«, meinte Franziska besänftigend. »Es war für alle zu viel. Diese schreckliche Nacht!«

Anna sah ihre Freundin traurig an. Zentnerschwer lastete das Geschehene auf ihrem Herzen. Wie stand es bloß um den Sarkophag mit den Heiligen Gebeinen im Münster, fragte sie sich. Der Sarg war immerhin aus Holz, nicht auszudenken! Hatte das Feuer wenigstens ihn verschont? Anna schauderte.

Sie ertappte sich selbst in Abwehrhaltung: Unbewusst hatte sie ihr Kinn vorgerückt, das ohnehin markant geraten war. Trotzig erwiderte sie den forschenden Blick ihrer Stiftsschwestern. Es fiel ihr schwer, die Fassung zu bewahren. Ihre Nerven lagen genauso blank wie die der anderen. In diesem Zustand hätte sie sich gar nicht auf Violantas Anspielungen einlassen sollen. Ihre Cousine ließ kaum eine Gelegenheit aus, ihr das Leben schwer zu machen. Violanta hatte es wohl nie verwunden, dass Annas Vater, Freiherr Franz Marquard von Hornstein-Göffingen, für Anna ebenfalls eine der begehrten Exspektanzen für das Säckinger Damenstift erworben hatte. Ein Stift, das ausschließlich Töchter von frei-adeligem Rang aufnahm. Seit Annas Eintritt vor elf Jahren fühlte sich Violanta dazu berufen, sie bei allem zu kontrollieren, zu kritisieren und klein zu halten. Anna hatte sich von ihren Sticheleien wenig beeindrucken lassen, sie hatte ihre Aufgaben stets gerne angenommen und sorgfältig ausgeführt, ganz zur Zufriedenheit der Ehrwürdigen Mutter. Doch diese Nacht änderte alles: Womöglich hätte der Brand im Münster verhindert werden können.

Denk nach, Anna, denk nach.

Sie rieb sich die schmerzenden Knie, die noch immer steif vom langen Beten auf dem kalten Kachelboden waren, während vor ihrem inneren Auge erneut die Bilder der vergangenen Nacht aufstiegen:

Sie hatten sich wie immer zur Komplet im Altarraum des Münsters eingefunden. Erst kurz davor hatte Anna dort mit der jungen Exspektantin Xaveria altes Tannenreisig durch frische, duftende Zweige ersetzt. Danach war sie zur Orgelempore hinaufgestiegen, um dem Orgelbauer den Feierabend anzukündigen. Anna hatte sich beeilt, hatte gleich zwei Stufen auf einmal genommen.

Denk nach, Anna, ist dir irgendetwas aufgefallen?

Oben angekommen, saß neben der Drechselbank der schmächtige Gehilfe des Orgelbauers, Werkzeug lag verstreut herum. Weiter hinten glomm ein Kohlebecken, das aber kaum gegen die Winterkälte ankam. So eine Verschwendung von Brennholz! Die Äbtissin hatte den Gebrauch solcher Wärmebecken im Kirchenraum untersagt, zu kostspielig, zu unnütz in so einem weitläufigen Gebäude.

»Löscht das Becken und dann ist Schluss für heute. Feierabend!« Folgsam hatte der Junge genickt. Von hinter den metallenen Pfeifenröhren kam ein unverständliches Geschimpfe, das ihr zu verstehen gab, dass auch der Meister ihre Worte vernommen hatte.

»Ich sag’s ihm nochmal, gnädige Frau«, hatte der Gehilfe versprochen, bevor Anna sich den Stufen wieder zuwandte.

Hätte sie das Kohlebecken nochmals kontrollieren müssen, fragte sie sich zweifelnd. Doch als sich die Damen nach der Komplet im Abteigebäude versammelten, war es bereits zu spät gewesen.

»Feuer im Münster, Feuer!« Die Rufe des Burschen hallten noch in ihren Ohren. Blass und atemlos war er im Türrahmen des Speisesaals gestanden, durch den sonst nur die Mägde Zutritt hatten. Anna hatte den Gehilfen des Orgelbauers sofort erkannt. Hinter ihm war der Pförtner aufgetaucht, der ihn zurück auf den Gang zerrte. »Hört Ihr nicht? Es brennt! Feuer, Feuer!«, rief der Junge, der kurz darauf unter der ersten Ohrfeige des Pförtners aufjaulte. Der Bursche hatte eindeutig nichts bei den Damen zu suchen.

Auch Oberamtmann Baptist von Senger hatte ihn gehört, war ans Fenster gesprungen, vermeldete jedoch, nichts erkennen zu können. Die Ehrwürdige Mutter schien von allem nichts bemerkt zu haben. Regungslos saß sie an ihrem Platz an der Tafel. Hatte sie den Jungen nicht gehört? Oder haderte sie mit der Nachricht? In diesem Moment war draußen ein Tumult ausgebrochen, Stiftsbedienstete rannten ins Entree und Anna sprang gleichzeitig mit Franziska ans Fenster.

»Mari-Anna! Franziska! Contenance!«, mahnte Koadjutorin Helena. Doch die beiden jungen Chordamen öffneten bereits die Fensterflügel zum Münsterplatz, kalte Luft schlug ihnen entgegen. Angestrengt starrte Anna hinaus ins Dunkel der ersten Dezembernacht im Jahr des Herrn 1751.

Die schwarzen Umrisse des Fridolinsmünsters hoben sich kaum vom Dunkel der Nacht ab. Sie hatte Mühe, auch nur irgendetwas zu erkennen, und wollte sich bereits abwenden, als sie es wahrnahm: ein kaum merkliches Flackern hinter den schmalen Fenstern des Portals. Es konnte nicht von den Kerzen beim Altar herrühren. Das unstete Licht kam von vorne, beim Aufgang zur Empore. Eine böse Ahnung durchfuhr Anna wie ein Wespenstich. In diesem Moment betrat der Pförtner den Saal, flüsterte der Ehrwürdigen Mutter etwas zu, was ihrem Gesicht alle Farbe nahm. Ohne Antwort abzuwarten, eilte er wieder hinaus.

»Heiliger Fridolin, steh uns bei!«, flüsterte Mutter Regina, bevor sie blass auf ihrem Stuhl zusammensackte. Geistesgegenwärtig fing sie Barbara zu ihrer Linken auf. Barbara von Roll war selbst nicht mehr die Jüngste, doch in ihren üppigen Armen wirkte Mutter Regina gebrechlicher als sonst. Anna hatte sie noch nie so verletzlich, so alt gesehen.

»Zu den Kübeln«, brüllte jemand auf dem Gang, dann brach unter den Damen im Saal ein fürchterliches Durcheinander aus. Stühle kippten um, Frauen rannten zu den Fenstern, um einen Blick hinauszuwerfen. Die Seniorinnen warfen sich betend auf den Kachelboden und riefen zu allen möglichen Heiligen um Hilfe.

Irgendwo in der Stadt läutete hektisch eine Glocke. Schnell öffnete man die Pforte der Stiftsmauer, durch die die herbeieilenden Menschen auf den Vorplatz strömten, um beim Löschen zu helfen. Klein wie Ameisen wirkten sie vor dem riesigen Münster. Der flackernde Feuerschein war nun deutlich durch die Kirchenfenster zu sehen. Als sie das große Portal öffneten, schlugen den Männern die Flammen wild entgegen. Großer Gott!

Nun sahen es alle: Das Innere des Münsters brannte lichterloh.

Entsetzt schrie Anna auf. »Zur Spritze! Schnell, Wasser! Schnell, sie müssen die Spritze holen!« Sie rannte ins Entree hinab, dicht gefolgt von Franziska. Fast stießen sie mit Anton zusammen, der Knecht steuerte ebenfalls die Feuerspritze unter der Treppe an.

»Geht zurück!« Barsch wies er die beiden Frauen an: »Zurück in die Halle! Und achtet darauf, dass alle beisammenbleiben – falls wir die Stadt verlassen müssen.«

»Gott bewahre!« Erschrocken wichen Anna und Franziska zurück und sahen, wie Anton weitere Männer anwies, die sperrige Spritze nach draußen zu rollen. Sämtliche Mägde schafften Eimer herbei, es herrschte Gedränge.

Die Feuerspritze würde es schaffen. Ja! Mit ihrem Strahl konnte das Löschwasser weit genug ins Innere des Münsters gespritzt werden, war sich Anna sicher. Doch irgendetwas stimmte nicht. »Warum bewegen sich die Hebel nicht?«, rief sie aufgebracht.

»Da!« Franziska zeigte auf einen Mann, der sich einen Weg durch die Menge bahnte. Es war der Schmied. Nach Minuten, die Anna wie eine Ewigkeit vorkamen, hatte er die Klemmschaltung gelöst, schwerfällig setzten sich die Hebel in Bewegung. »Mehr Wasser, los!«, brüllte Oberamtmann von Senger dazwischen. Zögerlich, dann immer kräftiger ergoss sich der Wasserstrahl auf die fauchenden Flammen im Kirchenportal. Doch das Feuer war bereits zu weit fortgeschritten, erkannte Anna mit Entsetzen.

Im Entree drängten sich noch immer Mägde mit Bottichen. Anna und Franziska standen ihnen hilflos im Weg. »Geht hinein, um Himmels willen! Wir schaffen das schon.« Entschieden wies ihnen eine Angestellte den Weg zurück in den Saal, folgsam eilten Anna und Franziska wieder nach oben. Mutter Regina hing immer noch schlaff in Barbaras Armen. »Gütiger Herr im Himmel! Es muss ein schwerer Schlag für sie sein«, raunte Franziska.

»Hat sie nicht ihr ganzes Privatvermögen fürs Münster verpfändet?«, murmelte Anna. Helena, die an Mutter Reginas Seite kniete, nickte bitter. »Ihr Vermögen? Ihr ganzes Leben hat sie dem Münster verschrieben!«, erklärte sie. »Und jetzt, kurz vor Vollendung, brennt es ab!« Die Koadjutorin wischte sich über die Augen. »Es ist eine Tragödie!«

Die anderen Stiftsdamen hatten vom Fenster aus das Geschehen draußen verfolgt. Langsam fraß sich die Szene in ihre Köpfe ein: entsetzliche Bilder, wie Teufelsfratzen, die man zu vergessen versucht, aber nicht mehr loswird. Nie hätte Anna geglaubt, dass die mächtigen Sandsteinmauern des Münsters jemals brennen könnten.

Als Anna das erste Mal mit siebzehn Jahren das Säckinger Fridolinsmünster mit seinem hohen Deckengewölbe, den barock geschwungenen Rundbögen und dem prunkvollen Altarraum betreten hatte, wurde die Kirche gerade renoviert. Die vielen Pilger, die Jahr für Jahr nach Säckingen strömten, hatten große Summen für den lang ersehnten Umbau nach italienischer Art gespendet. Kleine Leute wie vermögende Familien, aus der Nähe wie auch aus dem fernen Glarus, fühlten sich dem Fridolinsmünster und seinem Patron verbunden. Ihr Zuspruch, der sich an den Wänden der Stiftskirche spiegelte, hatte Anna von Anfang an tief beeindruckt. Und dann diese Heiligenlegende: Von dem Mönch Fridolin, der nach Säckingen kam und die Rheininsel aus den Händen eines frommen Mannes für den Bau eines Klosters erhielt und dann von weltlichen Neidern bedroht wurde, und wie Fridolin schließlich durch ein göttliches Wunder vor Gericht Recht erhielt – als habe ein einmal vor Gott gegebenes Versprechen für alle Zeit Bestand. Diese Legende barg etwas Tröstliches, Aufrichtendes vor dem Hintergrund dieser oft ungerechten Welt, fand Anna.

Ja, ungerecht war sie.

All die Arbeit und Kunst an den Wänden: Maler und Stuckateure hatten jahre-, jahrzehntelang daran gearbeitet, Woche um Woche war die Kirchendecke zu einer prachtvollen Wolkenspirale in höhere Sphären erwachsen. Und nun, in nur einer Nacht war all diese Kunst unwiederbringlich verloren.

Anna – und nicht nur sie – hatte sich so sehr auf die Fertigstellung dieser Kirche gefreut! Oft hatte sie sich gefragt, ob es für die Menschen Höheres gäbe, als Gott durch Lobpreisung nahezukommen und ihr Leben nach dem Vorbild der Heiligen auszurichten. Und sie war immer zu dem Schluss gekommen: Stünde sie vor der Wahl, so würde sie für sich selbst genau diesen Weg wählen wollen. Und das Fridolinsstift in Säckingen war so ein Ort, an dem sie diesen Weg als Chorfrau gehen konnte.

Die kunstvolle Ausschmückung des Münsters war in ihren Augen keine Eitelkeit, sondern Ausdruck von Hingabe. Ähnlich sahen es auch die Pilger: Das Fridolinsmünster hätte nach der Renovierung leicht mit anderen modernen Klosterkirchen mithalten können – und das, obwohl die Säckinger jahrzehntelang Kriegsreparationen an Frankreich hatten zahlen müssen. Gewiss, es gab Adelsfamilien, die stolz darauf waren, ihre Töchter nach Säckingen schicken zu können, und denen es wichtig war, dass man dort mit den anderen Prunkbauten im Umland, die derzeit in die Höhe schossen, mithalten konnte. Prunk war nun einmal angesagt, alte Gemäuer hingegen kaum noch etwas wert.

Anna hatte gemerkt, dass es auch ihren Eltern vornehmlich um die Absicherung ihrer Kinder ging. Sie war mit vierzehn Geschwistern auf dem alten Schloss in Göffingen bei Biberach aufgewachsen. Ihrem Vater, Franz Marquard Freiherr von Hornstein-Göffingen, Oberhofmarschall des Augsburger Fürstbischofs in Dillingen, war es zu Lebzeiten nicht mehr gelungen, das alte Gemäuer zu renovieren – aber immerhin hatte er die Sankt-Nikolaus-Kirche vor Ort neu ausschmücken lassen und eine neue Glocke gestiftet. Mittlerweile hatten Annas Brüder bedeutende Kanonikate in Augsburg, Freising, Konstanz, Mainz und Würzburg inne oder studierten Theologie in Dillingen, und ihre Schwestern waren auf angesehene Damenstifte zwischen Donau und Rhein verteilt. Diese Karrieren hatten ihre Eltern schon früh für sie eingefädelt – was nahe lag, denn Annas Mutter, als eine geborene Von Sickingen und Cousine des Bischofs von Rodt, hatte beste Verbindungen nach Konstanz. Sie hatte vorgesorgt, denn sie hatte gewusst, dass ihr Mann in einem der vielen Kriege jederzeit sein Leben verlieren könnte – wie schließlich vor elf Jahren.

»Du wirst der Äbtissin bei ihren Regierungsgeschäften helfen und dabei deine Talente und Fähigkeiten mehren, Mari-Anna«, hatte ihr der Vater einmal erklärt. »Das ist mehr als manch eine Frau an der Seite ihres Gemahls erhoffen kann.« Sie hatte ihren Vater geliebt und verehrt und wollte ihn nicht enttäuschen. Auch jetzt nicht, nach seinem Tod.

Später, als sie in Säckingen ankam, hatte sie erkannt, dass es für sie das Richtige war. Sie hatte die Entscheidung nie bereut. Im Damenstift galten im Vergleich zu einem Nonnenkonvent lockere Regeln. Anna konnte an der Seite der Äbtissin an vielen gesellschaftlichen Anlässen teilnehmen.

Im September war die schönste Zeit, mit der Weinlese, wenn alle hinaus auf das nahe gelegene Gut im Schweizer Hornussen fuhren. Ein Fest, worauf sich alle Chordamen das ganze Jahr hindurch freuten. Schon frühmorgens ließ man die Wagen anspannen, die Damen eilten in ihren Chormänteln geschäftig durch die Gänge hin und her, einige versahen noch ihre Kanarienvögel mit Futter, andere packten Taschen, und wenn endlich Abschied von den Kammerfräulein genommen war, knallten die Kutscher und der Tross rollte über die Holzbrücke zur Stadt hinaus. Anna saß meist an Mutter Reginas Seite in der mit vier Rappen bespannten Fürstenkutsche, die mit ihrem vergoldeten Schnitzwerk kostbar anmutete. An so heiteren Herbstmorgen klang das münsterliche Glockengeläut weit durchs stille Land, überall grüßten Passanten den wohlbekannten Zug. Auf der sonnenbeschienenen Hornusser Weinhalde nahmen sie in der Laube auf gepolsterten Chaisen Platz, mit Aussicht auf die fremden Berge im stillen Grün mit dem klaren Himmelsblau darüber, vor ihnen Tische mit Astern geschmückt, und über ihnen lärmende Spatzen im Laub. Kinder aus den umliegenden Dörfern stellten sich auf und sangen ein Ständchen, Mutter Regina ließ sie anschließend zu sich kommen, freute sich, dass sie das Jahr über gewachsen waren, und ermahnte sie mit freundlichen Worten. Dann gab sie jedem aus ihrem Tuch ein Fridolinsbild und ein großes Stück Kuchen dazu. Lustig sprangen sie an die Reben, wo fleißig gelesen wurde, und halfen mit und naschten, und fröhliche Stimmen belebten den großen Hang. Teils wandelten die Damen dazwischen, teils ruhten sie im Schatten, ihre Schleier im Wind flatternd, und beteten ihr Brevier. Was war das für eine schöne Schwesternschaft!

Anna hätte auch jederzeit gefreit werden können, wie kürzlich ihre Schwester Walburga im Stift zu Augsburg, doch so leicht wollte Anna ihre Stellung als Chordame nicht aufgeben. Das Fridolinsstift war Anna in den vergangenen elf Jahren zu einem zweiten Zuhause geworden: Die geregelten Abläufe und Aufgaben, die liebgewonnenen Bewohnerinnen, die gemeinsamen Feste und Prozessionen, besonders aber die regelmäßigen Zeiten für Gebet und Kontemplation hatten ihrem Leben eine Richtung gegeben. Ihr Herz gehörte Säckingen und dem Heiligen Fridolin, der dort drüben im Münster ruhte.

Und nun – nun lag womöglich der hölzerne Schrein mit den Gebeinen des heiligen Fridolin in Schutt und Asche. Ein Gefühl der Beklommenheit lastete zentnerschwer auf Annas Herz.

»Hoffentlich überlebt sie es.« Franziska sah besorgt zu Mutter Regina, die noch immer ohnmächtig in Barbaras Armen lag.

»Wo bleibt nur der Physikus?«, wimmerte Violanta.

»Einen Moment, das haben wir gleich«, erwiderte Barbara und zog aus ihrer Ärmeltasche ein Riechfläschchen, das sie der Äbtissin vorhielt. Ihre Gesichtszüge regten sich, und sachte halfen ihr Barbara und Helena auf.

»Lasset uns … beten«, erklärte sie matt, nachdem die beiden Damen ihr den Ernst der Lage geschildert hatten.

»Ehrwürden?« Barbara suchte nach Worten.

»Lass gut sein, Barbara. Das ist, was alle jetzt von uns erwarten: Unser Wort in Gottes Ohr! Und es ist das Einzige, was wir jetzt tun können.« Ernst sahen die anderen zu ihr hinauf, einige nickten.

»Beten wir für das Heil der Menschen, unserer Kirche und der Stadt!«, forderte Mutter Regina sie alle auf. Folgsam knieten die Ersten nieder. »Nur Mut!«, sagte Mutter Regina. »Sie werden uns holen, wenn es zu gefährlich wird.« Dann stimmte sie mit schwacher Stimme das Vaterunser an.

Beten, nur beten! Anna konnte es nicht fassen. Sie folgte der Vorgabe, wollte aber nicht verstehen: Wie konnten sie nur in dieser Situation beten, während draußen die Leute um das Münster kämpften? Sie musste die Reliquien retten! Da fiel ihr die barsche Anweisung von Knecht Anton ein, und wie alle anderen kniete sie sich auf den kalten Boden und stimmte in das gemeinsame Gebet ein. Sanctificetur nomen tuum … fiat voluntas tua … Langsam zog das monotone Gemurmel der lateinischen Verse ihre ausbrechenden Gedanken in seinen Bann. O Heiliger Fridolin, lass dies ein gutes Ende nehmen!, flehte sie innerlich. Lass das Feuer die Reliquien verschonen!

Gegen Mitternacht hatte der Brand seinen Höhepunkt erreicht: Das Feuer war auf beide Türme übergesprungen. Die gefräßigen Flammen hatten sich den Glockenstuhl einverleibt, der nun einknickte und in die Tiefe stürzte. Das dröhnende Getöse, als die lodernden Turmbauten samt den schweren Glocken am Boden aufschlugen, ließ die Stadt für einen Moment vor Schreck erstarren. Wie gelähmt verharrten auch die Stiftsdamen an ihrem Platz. Draußen irgendwo schrie ein Kind vor Angst. Keiner wagte sich zu rühren.

Langsam erkannten die Helfer, dass mit den Türmen auch gewaltige Schuttmengen auf die Flammen niedergegangen waren und sie für einen Moment unter sich begraben hatten. »Los! Nach vorne!«, schrie geistesgegenwärtig einer der Männer in das grausame Toben hinein. Da erkannten auch die anderen die Gelegenheit, den Brand endlich unter Kontrolle zu bringen. Bis zum Morgengrauen kämpften die Säckinger mit den immer wieder aufflammenden Brandherden zwischen Mauerwerk und Geröll.

»Anna!« Sie spürte Franziskas kantigen Ellbogen in ihrer Seite. »Wach auf!«

Sie musste auf ihrem Lehnstuhl im Kapitelsaal eingenickt sein. Kein Läuten wie sonst. Als sie den Brandgeruch wieder merkte, verkrampfte sich ihr Magen. »Die Ehrwürdige Mutter?«

»Sie ist noch nicht zurück. Wir sollten uns frisch machen, Anna. Kommst du?«

Verschlafen schaute Anna in Franziskas rotgeränderte Augen. Anna fuhr sich übers Gesicht, sie hatten es wohl beide nötig. Also folgte sie ihrer Freundin hinauf in die Wohnräume. In den elf Jahren hatte sich Franziska kaum verändert: Sie hatte kein Pfund an Gewicht zugelegt, passte noch immer in die guten alten Kleider von damals, im Gegensatz zu anderen Damen, denen der eintönige Tagesablauf im Stift zeitweilig aufs Gemüt drückte und sie zu Leckereien greifen ließ. Vielleicht lag es an Franziskas robuster Frohnatur, an ihrem aufgeweckten Wesen, dass sie immer eine sinnvolle Beschäftigung für sich fand und oft Partei für die Minderheit ergriff. Mit Franziska ließ es sich vortrefflich plaudern, Anna konnte mit ihr wirklich jedes noch so unbedeutende Thema geistreich erörtern. Sie teilten sich sogar die Kammerjungfer.

»Du hättest Violanta längst in die Schranken weisen sollen, vorhin auch, Anna. So kenne ich dich gar nicht – dass du dir so etwas gefallen lässt«, befand Franzi, als sie in ihrem Appartement vor dem Spiegel saß und die alte Henriette ihre braune Lockenflut mit einem Toupierkamm zu bändigen versuchte. »Das rächt sich nun zu einem ungünstigen Zeitpunkt.«

»Violanta wird sich nie ändern«, antwortete Anna vom Polstersitz in der Ecke aus. »Eher wird dich ein vermögender Freier von ihren Sticheleien befreien.«

»Bloß nicht! Wer sagt, dass ich heiraten will? Überhaupt, erst müsste der Richtige kommen – und mich dann ohne Haare nehmen, wenn Henriette mich länger so malträtiert!« Sie warf der Kammerjungfrau einen pikierten Blick zu.

»Excuséz, Mademoiselle Francis! Doch sind die Haare erst aus, werdet Ihr mich erst recht brauchen!« Die Damen lachten. Mit Henriette hatten sie es immer lustig. Für einen Moment löste sich die Anspannung.

»Meinst du, sie werden das Münster wieder aufbauen?«, fragte Franziska leise und ernst, als Henriette fertig war und für einen Moment mit der Wäsche hinausging.

»Sie müssen! Es wurde doch nach jeder Zerstörung wieder aufgebaut.«

»Aber es wird das Stift ruinieren. Ich meine …«

Anna sah ihre Freundin besorgt an. »Franzi, sie müssen das Münster wieder aufbauen. Das Stift wird bleiben, wir werden bleiben. Wir können doch jetzt nicht gehen.«

»Es ist nur …« Franziska stockte. »Woher soll denn so viel Geld kommen für den Wiederaufbau? Was, wenn wir gehen müssen? Ich will bleiben.«

»Ich weiß«, seufzte Anna. »Ich auch. Maman wäre sicher nicht einverstanden, wenn ich in ein anderes Stift ziehe. Schau dir Buchau an! Dort speisen die Damen von goldenen Tellern in prunkvollen Sälen und eine nach der anderen erkrankt an der Wassersucht. Sie haben so gut wie keine Aufgabe mehr in der Messe und träumen in ihren Appartements in den Tag hinein. Da haben wir es in Säckingen mit unseren Diensten und dem Heiligen Fridolin noch gut getroffen.«

Franziska nickte. »Es gibt nicht mehr viele freie Stifte mit einer so geistlichen Ausrichtung wie unseres. Aber … wenn der Sarg in den Flammen … ich meine …« Sie schniefte und fing zu weinen an.

Anna nahm sie kurz in den Arm. »Schscht, ich weiß. Wir schaffen das, mit Gottes Hilfe.«

»Wir werden Spenden erbitten müssen. Von unseren Familien, Freunden und Gönnern im Umland. Und ich hoffe, dass uns geholfen wird. Ich kann unmöglich woandershin, Anna!«

»Ja, das geht den anderen auch so. Meine Brüder werden sicher spenden, aber eigentlich haben sie anderes zu tun, als sich um mein Auskommen zu sorgen. Ich kann ihnen unmöglich dauerhaft auf der Tasche liegen.« Franziska fasste sich langsam wieder. »Lass uns wieder hinuntergehen und nachsehen, was wir machen können, ja? Immer eins nach dem anderen.« Anna versuchte Franzi anzulächeln. Sie nickte.

Anna wollte tapfer sein, wollte Franziska Mut machen, dabei hatte sie selbst Zweifel an einem günstigen Ausgang der Brandkatastrophe. Und sie zweifelte noch immer an sich selbst, ob sie den Brand nicht doch hätte verhindern können. Was, wenn man sie – Anna – für das Kohlebecken auf der Empore verantwortlich machte? Wer hatte sonst noch Kenntnis davon? Sie musste dringend mit jemandem darüber sprechen. Aber nicht jetzt, und nicht mit Franzi. Dafür hatte sie jetzt keine Kraft und das Entsetzen war noch zu frisch. Anna versuchte die bedrückenden Gedanken abzuschütteln.

Wenigstens fühlte sie sich nicht mehr ganz so schmutzig und erschöpft mit frischem Puder im Haar und sauberen Strümpfen, als die beiden kurz darauf die Treppe hinabliefen. Keine Minute zu früh, denn als sie unten ankamen, kam ihnen Mutter Regina entgegen. Sie machte einen gefestigten, wenn auch ziemlich erschöpften Eindruck. Auch sie hatte sich frisch gemacht, und sie trug ihren offiziellen Chormantel. Hinter der Äbtissin tauchte Helena auf. »Da seid ihr ja! Mari-Anna, du wirst uns als Zellulardame bei der offiziellen Begehung begleiten. Ehrwürden trifft sich gleich mit den Stadträten.«

Anna knickste folgsam. »Wann gehen wir los?« – »Sofort«, meinte die Koadjutorin. Anna sah besorgt zu Franziska, die ihr den Chormantel und einen Muff für die Hände reichte. »Das wird dich warm halten.« Anna nickte dankbar.

Im Tageslicht offenbarte sich das ganze Ausmaß der Zerstörung: Es war verheerend.

Dem Feuer waren nicht nur die Orgelempore und die kunstvolle Holzdecke samt dem Langdach über dem Kirchenschiff zum Opfer gefallen, die oberen Teile beider Türme mit ihren Kuppeln und Kreuzen waren mit dem massiven Glockenstuhl herabgestürzt, die Glocken lagen von der Glut deformiert im Schutt, und die Fenster am Westportal waren alle zerborsten.

Die kleine Gruppe, bestehend aus den Stadtobersten, den Stiftsamtsleitern und dem Pfarrer, sowie der Äbtissin, ihrer Koadjutorin und Zellulardame, wagte sich vorsichtig unter der Führung des Zunftmeisters der Zimmerleute an den glimmenden Schutthaufen. Wie mahnende Wächter ragten die schwarzen Reste der Türme gen Himmel. An der Südseite lief die Gruppe an den östlichen Altarraum heran, der weniger Schaden genommen hatte. Hier strahlten die Mauern kaum Hitze ab und man konnte sich einige Schritte ins Kircheninnere wagen. Der Anblick war herzzerreißend: Überall – auf den goldenen Kreuzen, Heiligenstatuen und Fresken – lag eine dicke Schicht von Ruß und Asche. Verkohlte Balken und Schutt lagen auf dem Boden, die Decke war zerstört, Fenster zerbrochen und vorne beim Portal klaffte ein riesiges Loch. Es würde Jahre dauern, bis das Münster wieder aufgebaut und restauriert wäre, schloss der Zimmermann.

»Wir werden Hilfe brauchen«, erkannte die Äbtissin und stützte sich benommen auf Annas Arm. Bekümmert blickten die Damen auf die Überreste ihrer Kirche, deren Neueinweihung in drei Monaten zum Fridolinsfest geplant gewesen war – was für ein makabres Unglück.

»Wie steht es um die Krypta?«, fragte Anna besorgt.

»Soweit ersichtlich ist das seitliche Gewölbe völlig intakt. Es ist vom Feuer verschont geblieben«, erklärte der Zimmermann.

»Oh heiliger Fridolin!«, entfuhr es Anna und auch die Äbtissin und Helena waren erleichtert.

»Was für ein Wunder! Der Schrein mit den heiligen Gebeinen ist ja aus Holz, nicht auszudenken …«, bemerkte Helena.

»Ja, das grenzt an ein Wunder, Ihr sagt es!«, meinte auch der Zimmermann.

»Doch wie sollen wir hier drinnen je wieder eine Messe abhalten?«, fragte die Äbtissin erschüttert. »Überhaupt das Patrozinium, die große Fridolinsmesse in drei Monaten – undenkbar!«

»Wenn nicht überall gebaut würde, jetzt wo der Krieg zu Ende ist, hätten wir vielleicht mehr Männer«, meinte der Zimmermann.

»Die Leute werden tratschen! Keiner wird mehr kommen«, murmelte Mutter Regina verzagt.

»Es werden alle kommen, Ehrwürden«, versuchte Helena die Äbtissin zu ermutigen.

»Wir könnten jetzt im März«, überlegte Pater Michael Pfeiffer, »die Andacht in die Martins-Kirche auf dem Festland verlegen.« Der Stiftspfarrer war ein praktisch veranlagter Geistlicher: Hager und mittleren Alters, hatte er ein runzliges Gesicht, einen weißen Haarkranz um die Tonsur und lebhafte dunkle Augen, denen nicht viel entging. Er war der jüngere Bruder des amtierenden Schultheißen Franz-Josef Pfeiffer.

»Eine Messe drüben an Land bringt aber keine Pilger in die Stadt«, warf nun der Schultheiß ein. »Und die Stadt ist ebenso auf die Pilger angewiesen.«

»Dann wird die Stadt eben beim Aufbau helfen, Herr Pfeiffer!«, sagte Mutter Regina ernüchternd. »Wir haben das Münster damals nicht umsonst für die Stadtbewohner geöffnet.«

Pfeiffer hob die Hand und stemmte seinen Gehstock steif aufs Pflaster, während sie wieder ins Freie traten. »Man muss mich sicher nicht an meine Pflichten erinnern, Hochwürden.«

Er nickte knapp und die Gruppe lief ein Stück weit auf den Münstervorplatz hinaus. Franz-Josef Pfeiffer ging auf die siebzig zu, schätzte Anna. Seine Gesichtszüge waren glatt, die Wangen akkurat rasiert. Er lief genauso aufrecht und würdevoll wie Mutter Regina. Doch seine stahlblauen Augen wanderten berechnend über den Platz und die Ruinen.

»Wir können von Glück sagen, dass keine weiteren Häuser Feuer gefangen haben und es so gut wie keine Verletzungen gab«, meinte nun einer der beiden Ratsherren. Es war der Chirurg Franziskus Leu, der in der Nacht bereits unter den Ersthelfern vor Ort gewesen war.

»Aber so ein Gebäude wieder aufzubauen braucht Arbeitskräfte – viele, viele Arbeitskräfte«, meinte nun der andere Ratsherr, Xaver Lehner.

»Es wird nicht ohne die Stadt gehen. Das muss Euch und dem Stadtrat klar sein, Franz-Josef«, erklärte Mutter Regina an den Schultheißen gewandt.

Es muss sie große Überwindung gekostet haben, sich so an Pfeiffer zu wenden. Ihr Verhältnis zum Schultheißen hatte unter den zähen Verhandlungen gelitten, in denen es bis vor wenigen Jahren um die Öffnung des Münsters für die Messe der Städter ging. Franz-Josef Pfeiffer hatte sich vehement dafür eingesetzt – so hatte die Stadt ihre baufällige Liebfrauen-Kirche abreißen können und neuen Bauplatz auf der Insel gewonnen. Der Ton, in dem diese Verhandlungen geführt worden waren, hatte bei Mutter Regina einen schlechten Nachgeschmack hinterlassen.

»Wir werden dem Stift Arbeiter bereitstellen. Aber wir können – und das werden Ehrwürden verstehen – sicher keine Wunder bewirken«, sagte Pfeiffer vorsichtig einschränkend. »Ist die Brandursache denn bereits festgestellt?«, fragte er den Zimmermann.

»Wir vermuten eine Unvorsichtigkeit bei der Reparatur an der Orgel«, antwortete Stiftsamtmann von Senger an seiner Stelle. »Ein Gehilfe hat den Brand auf der Empore gemeldet.«

»Unvorsichtigkeit bei der Orgel … ein Missgeschick also? Und wo steckt der Kerl? Er muss befragt werden.«

Die Haltung des Oberamtmanns versteifte sich. »Wir haben seinen Gehilfen«, wich er aus.

»Dann befragt ihn und sucht den Mann!«

»Die Büttel sind bereits verständigt«, fügte Senger hinzu.

»Das will ich hoffen. Keiner verschwindet einfach so, spurlos. Ich verlange umgehend eine Untersuchungskommission, es müssen richtige Erkundungen eingeholt werden! Gerade im Winter treibt sich haufenweise Tagelohnvolk herum!«

Der Schultheiß wirkte angespannt, er hielt die Faust fest um den silbernen Knauf seines Stocks geschlossen. »Was, wenn es sich am Ende um das Werk einer rebellischen Meute handelt? So wie in St. Blasien, wo sie einen Aufstand nach dem anderen anzetteln – Salpeterer nennt man sie. Und jetzt das hier, bei uns!«

»Nein, keine Salpeterer«, meinte von Senger. »Davon wüssten wir bestimmt.«

»Dies ist nicht das Werk von Salpeterern!«, erklärte auch Mutter Regina entschieden.

»Wie könnt Ihr da so sicher sein, Ehrwürden? Ich würde jeder möglichen Spur nachgehen, und ein Salpeterer-Aufstand ist gar nicht so abwegig – nach der neuerlichen Debatte um den Loskauf der Bauern. Ich an Eurer Stelle würde Erkundigungen einziehen und entsprechende Konsequenzen verhängen. Aufstände, wie in St. Blasien oder Waldshut, kann ich hier in unserer Stadt nicht gebrauchen.«

Die Äbtissin wirkte mit einem Mal blass und gab Helena ein Zeichen. »Wenn uns die Herren bitte entschuldigen würden!« Helena deutete entschieden den Abschied der Äbtissin an und die Herren verneigten sich förmlich vor der Stiftsmutter und den Damen, die sich nun zurückzogen.

Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt, und am Rand des Münsterplatzes begannen die Knechte mit Aufräumarbeiten, während Anna und Helena die Ehrwürdige Mutter stützten und zurück ins Abteigebäude begleiteten.

»Bitte schick nach Amtmann Senger, Anna. Wir müssen Hilfe organisieren.«

»Das kann einen Moment warten, Ehrwürden. Ihr benötigt Ruhe, Regina.« Helena sprach eindringlich auf die Äbtissin ein, und Anna schickte stattdessen nach dem Physikus und heißem Würzwein. Dann half sie Helena, Mutter Regina hinauf in ihre Privaträume zu bringen.

Das Appartement der Äbtissin lag im ersten Stock, rechter Flügel. Es war nicht luxuriös eingerichtet, doch mit allem notwendigen Komfort ausgestattet: Im Vorzimmer standen ein Sekretär, über dem das goldgerahmte Bild der Kaiserin hing, und eine Garnitur Polsterstühle um einen runden Tisch, und ein schmucker Kachelofen verbreitete wohlige Wärme. Schwere goldgelbe Jacquard-Vorhänge rahmten den Blick aufs Münster. Helena zog sie rasch zu, um der Äbtissin den Anblick zu ersparen. Eine Seitentür führte ins Schlafgemach.

»Wie kann mich dieser Franz-Josef nur so bloßstellen?« Steif legte Mutter Regina die feuchte Haube ab.

»Er befürchtet ganz einfach einen Aufstand wie in St. Blasien oder Waldshut.« Mit einer Geste schickte Helena die Bedienstete hinaus, die den Würzwein gebracht hatte.

»Schon verstanden, aber dieses Benehmen! So respektlos! Vor den Ratsherren!«

»Heute muss man nicht im spanischen Hofzeremoniell bewandert sein, um Schultheiß zu werden. Es genügt ein Studium der Rechtswissenschaften an der Albertina«, sagte Helena und tippte sich an die Stirn. »Hier oben muss ein gesunder Menschenverstand sitzen. Und wenn du mich fragst, könnte Franz-Josef mit seiner Vermutung Recht behalten.«

»Du glaubst, es war ein Anschlag?«, entfuhr es Anna verblüfft. Erschrocken sah sie Helena an. »Ein Bauernaufstand gegen uns?«

»Im Volk herrscht seit Jahren Missmut. Die Schollen, von denen die Menschen leben sollen, werden durchs Erbrecht immer kleiner, immer mehr verlegen sich auf die Heimweberei, um etwas hinzu zu verdienen. Viele Leute können die Summe für den Loskauf aus der Leibeigenschaft nicht aufbringen. Die Bauern schulden unserem Stift über viertausend Gulden.«

»Aber wir machen ihnen keinen Druck – im Gegensatz zum Fürstabt in St. Blasien. Warum sollten sie also bei uns Rache suchen?«, fragte Anna nachdenklich. »Wir haben den Leuten erst kürzlich die Tore zum Münster geöffnet. Die Leute lieben es, ihr Münster. Und der Loskauf ist sogar ein Privileg: Diese Leute bei uns sind in ganz Österreich die Ersten, die sich aus der Leibeigenschaft loskaufen können. Viele kommen deshalb aus Dankbarkeit ins Münster, sie danken dem heiligen Fridolin. Warum sollten sie ausgerechnet hier einen Anschlag verüben?«

»Weil sie glauben, dass sie seit jeher frei waren und daher kein Loskauf aus der Leibeigenschaft nötig sei.«

»Hört auf, ihr zwei«, wandte Mutter Regina müde ein. »Das hatten wir doch schon oft. Was nutzt es, darüber zu reden, wenn die Kaiserin es bereits beschlossen hat! Der Loskauf ist rechtsgültig.«

Helena kräuselte die Lippen. »Nun ja, man hört so einiges. Auch von Bauern, die dem Abt Troger in St. Blasien abschwören und nicht mal mehr den Zehnt zahlen wollen.«

»Und wie löst Troger das Problem? Mit Prügel und Zucht!«, raunte Anna möglichst leise, um Mutter Regina zu schonen. »Er hetzt jedem Bauern, der ihm nicht huldigt, den Waldvogt auf den Hals. Da soll er sich nicht wundern, wenn die Familien sich von ihm abwenden! Ich halte davon nichts, Helena. Mit dem Münsterbrand haben die Salpeterer von St. Blasien bestimmt nichts zu tun.«

»Und wenn der Orgelbauer zu diesen Salpeterern gehört?«, warf Helena ein, was Anna jedoch absurd vorkam.

»Und wenn es eine Unvorsichtigkeit war?«, fragte Anna zurück. »Meister Pirmin hatte dort oben dieses, dieses Kohlebecken …« Sie biss sich auf die Lippen, hielt aber Helenas entsetztem Blick stand.

»Kohlebecken? Das war doch ausdrücklich ver-bo-ten! Herrgott!« Helena fasste sich an den Kopf. »Du hast das Verbot hoffentlich – zu deiner Entlastung – ausgesprochen, oder nicht?« Sie sah Anna prüfend an.

»Ja, natürlich.« Anna nickte, sie konnte ihr nur nicht ihre eigenen Zweifel gestehen: Zweifel, ob der Orgelbauer tatsächlich ihrer Aufforderung nachgekommen war. Sie hätte ihn kontrollieren müssen, glaubte sie und machte sich selbst große Vorwürfe.

Mutter Regina nippte am warmen Wein.

»Der Stadtrat wird alles tun, die Schuld bei uns zu finden.« Helena grübelte. »Es könnte sein, dass man uns die Hilfe verwehrt.«

»Das glaube ich nicht. Die Stadt hat lange darum gerungen, das Münster zu nutzen. Nun wird man uns auch helfen, es wieder aufzubauen.« Anna versuchte zuversichtlicher zu klingen, als sie sich fühlte.

»Es wäre gut, Einblick in die Beratungen zu erhalten. Von Senger soll der Ratskommission beiwohnen«, beschied Mutter Regina.

Es klopfte. Herein trat der Physikus, ein sehr großer, beleibter Mann mit gepuderter Lockenpracht in braunem Surkot und weißen Kniestrümpfen. Sein Atem ging schwer, Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.

»Eure Treppen in Ehren, Hochwürden, aber hättet Ihr Euer Appartement nicht im Erdgeschoss einrichten können?«, schnaufte er.

Reginas Miene hellte sich auf: »Zacharias! Ich bedaure. Hier oben ist es nun mal weitaus wärmer.«

Zacharias Friedrich Gelderhorn war freischaffender Physikus zu Säckingen. Im Krieg hatte er ein kleines Vermögen im Salzhandel verdient und sich in der Inselstadt niedergelassen, wo sein Wissen um Pülverchen und Tinkturen bei feinen Kaufleuten, ihren Gattinnen und auch bei den Stiftsdamen sehr gefragt war.

»Ihr seht sehr mitgenommen aus, Hochwürden. Das wundert mich nicht – was für ein schreckliches Unglück!«

»Schrecklich! Ihr sagt es, Zacharias! All die Arbeit – für immer verloren! Es ist wie ein Albtraum, aus dem ich nimmer erwache. So fühlt es sich an.«

»Euch fehlt Schlaf, Hochwürden. Aber nur Mut! Was ließ die heiligen Apostel und Märtyrer ihre schweren Kämpfe ertragen, wenn nicht der Glaube?«

»Ihr sagt es.« Fröstelnd rieb sich die Äbtissin die Hände. »Es ist so kalt. Vielleicht sollten wir dieses Gebäude zur Abwechslung auch mal renovieren«, murmelte sie. »In Frankreich wohnen die Damen wie Engel im Himmel, sagt man. Davon sind wir in unserem schlichten Gemäuer mit den vielen Gängen und kleinen Kammern weit entfernt. Aber dieses Vorhaben rückt jetzt ohnehin ins Unerreichbare.«

»Es ist nicht wirklich kalt hier drinnen, Hochwürden. Es sind Eure Nerven. Wartet, das haben wir gleich«, erwiderte Gelderhorn. Er stellte seinen bauchigen Lederkoffer aufs Parkett, dass es in der Tasche klimperte. Dann verbeugte er sich und griff galant nach ihrem Handgelenk. »Wollen wir mal, Hochwürden?« Mit seinen fleischigen Fingern fühlte er ihren Puls.

Anna saß in der Nähe des Ofens und tat, als sei sie in die Lektüre einer Handbibel vertieft. Dabei behielt sie den Medicus verstohlen im Blick, der bald das Monokel zückte und der Ehrwürdigen Mutter in Augen und Ohren schaute. Scherzhaft zog die Äbtissin eine leidende Miene.

»Ihr wollt mich doch nicht hofieren, Zacharias? Es ist nur die Müdigkeit nach dieser langen Nacht!«

Der Physikus sah sie besorgt an. Sicher gehörte die Äbtissin zu Zacharias’ bestzahlenden Kundinnen. Mehrstellige Summen zahlte die Äbtissin im Jahr für Gelderhorns regelmäßige Visite, was Anna übertrieben fand. Aber sie mischte sich ungern in solche Dinge ein. Es stand ihr ohnehin nicht zu, darüber zu urteilen.

»Es scheint mir nicht nur die Müdigkeit zu sein, Hochwürden. Das Herz bereitet mir Sorge. Ihr solltet Euch in diesen Tagen nicht überanstrengen.«

Gelderhorn griff nach Federkiel und Papier und kritzelte ein Rezept für Rosmarin-Herzwein darauf. Dann öffnete er seinen Koffer und wühlte zwischen den Fläschchen und Phiolen mit Tinkturen und kostbaren ätherischen Ölen, bis er gefunden hatte, wonach er suchte: eine braune Ampulle mit Korkverschluss.

»Hier haben wir es: Tinctura crataegi. Das wird Eurem Herzen guttun. Davon nehmt Ihr morgens und abends jeweils fünf Tropfen zur Stärkung«, erklärte er und stellte das Fläschchen schwungvoll aufs Nachtpult, dass seine grauen Locken wippten. Dann packte der Physikus in einer fließenden Bewegung seinen Koffer, verbeugte sich und scheuchte Helena und Anna mit einem Wink hinaus. »Wir können uns später noch sprechen, Mesdames. Nun benötigt Hochwürden dringend Ruhe!« Mutter Regina lächelte ihnen matt zu, bevor Gelderhorn die Tür ihrer Schlafkammer schloss.

Anna fand Franziska an ihrem Lieblingsplatz neben dem angeheizten Kachelofen im Speisesaal. In der Küche klapperten die Mägde mit Töpfen und der herrliche Duft von gerösteten Kaffeebohnen strömte zu ihnen herüber. Wohlige Wärme umfing sie.

»Für dich auch eine Tasse?«

»Gern.«

Franziska rief in die Küche, und kurz darauf nippte Anna an einer rosenbemalten Porzellantasse mit frisch aufgebrühtem Kaffee. »Zu gut!«

»Nicht wahr? Nun erzähl schon! Seid ihr auch hinein gegangen?« Anna nickte, sie berichtete von ihrem Rundgang und auch von Franz-Josef Pfeiffer, dass er einen Brandanschlag der Salpeterer auf die Obrigkeit vermutete.

»Um Himmels willen! Das kann unmöglich sein. Ein Bauernaufstand, hier bei uns in Säckingen? Obwohl … in Blasien kam es unlängst zu heftigen Aufmärschen, in Waldshut auch.«

»Ich bezweifle es auch«, gestand Anna. »Ich habe … ich habe auf der Empore ein Kohlebecken gesehen.« Jetzt war es heraus. Aber Anna hatte es nicht länger für sich behalten können.

Franziska zog scharf die Luft ein. »Dabei hatte Mutter Regina doch solche Becken in der Kirche verboten.«

»Ja, ich weiß. Ich schäme mich ja so.«

»Das musst du nicht. Hast du es schon gemeldet?«

»Ja, und ich hatte es den Handwerkern sogar noch verboten, aber eben nicht mehr kontrolliert, ob sie es tatsächlich gelöscht hatten. Ich meine …« Anna setzte ihre Tasse ab. Ihre Lippen bebten. »Franzi, wenn ich … Wenn ich nun Schuld am Brand habe? Ich habe das Kohlebecken nicht mehr kontrolliert.«

»Himmel, du doch nicht! Das hast du nicht zu verantworten, Anna. Du hast die Löschung angeordnet, du kannst doch nicht die ganze Zeit daneben stehen. Und es war gut, dass du es Mutter Regina gemeldet hast, allein schon, damit niemand fälschlicherweise einen Salpeterer-Anschlag vermutet.«

»Aber ich …«

»Du bist erschöpft, Anna. Und was geschehen ist, kann man nicht mehr ungeschehen machen.«

Anna fasste sich wieder. Der Kaffee war heiß und gut und wärmte sie von innen. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie sich ein Schatten hinter dem Kachelofen löste und hervortrat. Violanta! Ohne Anna eines Blickes zu würdigen, schritt ihre Cousine an ihnen vorbei zum Saalausgang. Ihr bauschiges Kleid wippte bei jedem Schritt, dunkelgrün schimmerte es wie die Federn eines Auerhahns. Anna und Franziska sahen ihr mit gemischten Gefühlen nach. »Ich habe kein gutes Gefühl«, flüsterte Franziska. »Vermutlich hat sie gelauscht.«

Anna biss sich auf die Lippen. Jetzt würden bald alle Bescheid wissen.

Die Stunden des frühen Nachmittags nutzten die Damen, um einige Zeilen mit der schrecklichen Nachricht an ihre Familien aufzusetzen. Man bat um schnellstmögliche Hilfe und finanzielle Unterstützung für den Wiederaufbau des Münsters. Draußen an der Stiftspforte hatten sich etliche Helfer aus der Stadt eingefunden, Männer und Frauen räumten gemeinsam mit Stiftsknechten den Schutt vom Platz, und Oberamtmann von Senger war mit der Einteilung und Organisation an allen Ecken gefordert. Noch wurde Feuerwache bei den glimmenden Mauerresten gehalten, keinesfalls durfte ein Wiederaufflammen und damit ein Stadtbrand riskiert werden. Obwohl Annas Gedanken bereits um den Wiederaufbau des Münsters kreisten, fielen ihr kurzzeitig die Augen zu und sie erwachte nach dem Nickerchen gegen vier Uhr weitaus erholter als erhofft.

Kurz darauf wurde von der Äbtissin eine außerordentliche Kapitelsitzung im großen Saal einberufen, an der auch Chorherr Michael Pfeiffer und Oberamtmann von Senger teilnahmen. Alle sieben Kapitulardamen – Franziska, Barbara, Violanta, Helena, Josepha, Mari-Anna und Seniorin Theresia – waren zugegen, wie auch die beiden Exspektantinnen Xaveria und Antonia, deren Vormundschaft bei Mutter Regina lag.

Von Senger fasste die Situation kurz zusammen und dann beriet man über das weitere Vorgehen. Mutter Regina sah kaum besser aus als am Vormittag. Sie hätte sich nicht so früh wieder in die Arbeit stürzen dürfen, meinte Franziska. »Erst recht nicht, da Gelderhorn ein Herzleiden bei ihr festgestellt hat«, raunte sie Anna zu.

»Es ist wichtig, den Bischof umgehend zu informieren«, raunte Anna ebenso leise zurück. Tatsächlich gab die Äbtissin ein umfassendes Schreiben in Auftrag, und ein Kurier sollte es noch in derselben Nacht dem Bischof von Konstanz in Meersburg zustellen. Weitere Schreiben gingen nach Wien und nach Freiburg, um die dortige Regierungskammer in Kenntnis zu setzen. Die Damen verfassten eine allgemeine Proklamation, die in alle Lehensorte getragen werden sollte, auch in die Orte, wo Pilger und Förderer von Säckingen lebten.

»Nun gilt es, die verbleibenden Kreuze, Kerzenständer, Becher, Altarglocken und die Reliquien zu sichten und ihre Unversehrtheit während der Räumarbeiten sicherzustellen«, erklärte Chorherr und Stiftspfarrer Michael Pfeiffer. »Ich schlage vor, dass mit dieser Aufgabe gleich morgen früh begonnen wird. Wer könnte Zellulardame Mari-Anna dabei zur Hand gehen?«

»Obliegt es überhaupt ihrem Aufgabenbereich, sich der Reliquien anzunehmen?«, wandte Violanta ein.

»Bitte?« Pater Michael blickte verwirrt, doch Violanta fuhr fort: »Ich will nur sicherstellen, dass die Aktion nicht durch Nachlässigkeit gefährdet wird.« Das kam einer öffentlichen Ohrfeige gleich. Anna glaubte, sich verhört zu haben. Einige Damen tuschelten jetzt.

»Nun«, Pfarrer Michael räusperte sich, »wir planen, die Reliquien wie gewohnt nach Laufenburg zu bringen, wo sie sicher sind und dennoch jederzeit für die Messe herübergeführt werden können«, erklärte er.

»Wäre es nicht sicherer, sie vor Ort zu belassen?«, beharrte Violanta.

Pater Michael runzelte die Stirn, doch bevor er etwas sagen konnte, stand Anna auf.

»Der Fridolinsschrein«, sagte sie langsam und deutlich, »ist mir heiliger als alles andere in dieser Welt. Und das Zellular-Amt habe ich bisher gewissenhaft und sorgfältig ausgeführt, Violanta. Ein Verleumder, der anderes behauptet. Wenn du mir aber helfen möchtest, die Asche und den Dreck von den Kreuzen und Bechern zu putzen, darfst du mir gerne in den nächsten Wochen dabei zur Hand gehen!«

Violanta schürzte die Lippen und schwieg, während Anna sich wieder setzte.

»Ich bitte Sie, Mesdames, vor dieser riesigen Herausforderung nicht zu kapitulieren«, unterbrach Koadjutorin Helena das peinliche Schweigen der Damen. »Das Münster ist in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder durch Kriege, Brände, Plünderungen zerstört worden. Danken wir Gott und unserem Patron, dass es diesmal nicht schlimmer gekommen ist und wir alle die Möglichkeit erhalten, uns beim Wiederaufbau einzubringen. Jetzt gilt es mehr als zuvor zusammenzustehen. Ich bitte um contenance.«

Pater Michael bekreuzigte sich und Barbara neben Franziska tat es ihm gleich. Mutter Regina rieb sich die Stirn und auf ihr Zeichen nahmen die Damen die Besprechung wieder auf.

»Gut gemacht!« flüsterte Franziska und drückte Anna unter dem Tisch die Hand.

»Das weiß ich noch nicht«, meinte Anna.

2

Kapitel

1752

»Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant.«

Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798–1874), deutscher Dichter

Rhythmisch klopften die Hufe des Wallachs auf den verharschten Boden. Schaum flockte dem Braunen vom Maul, und die Eschen und Weiden am Straßenrand verschwammen im Augenwinkel des jungen Reiters zu einem schwarzen Strich. Ross und Reiter galoppierten über die Landstraße, ließen den Bodensee hinter sich und hielten eilig auf die Berge zu. Ihr Weg führte nach Osten, an Fichtenwäldern vorbei, dann steinig bergan. Schließlich gelangten sie auf eine Anhöhe, wo sich das Strauchwerk lichtete und den Blick auf die Ebene hinter ihnen freigab. Hier stieg der Bote ab und ließ den Blick schweifen. Wie ein matter Spiegel schimmerte der Bodensee in der Ferne, wo er im Horizont mit dem dunstigen Grau des Dezemberhimmels verschmolz.

Kein Regen in Sicht, wenn auch in den Bergen mit Schnee zu rechnen war. Anstrengend würde der Ritt durch das Tiroler Land nach Innsbruck ohnehin. Die große Stadt in den Alpen war Umschlagplatz für Briefe und Güter aller Art. Sie war vor allem das Tor in die Habsburger Lande. Und die Briefe in seiner Tasche würden zehn Tage früher in Wien eintreffen, wenn er sie in Innsbruck abgäbe, als mit der Reichspost auf dem Kurs von Schaffhausen über Regensburg und Passau in die Kaiserstadt. Den Boten erwartete immerhin ein guter Verdienst bei Übergabe der Briefe an der Poststation in Innsbruck. Dafür lohnte sich das Risiko der Berge allemal.

Der Reiter wollte bereits die Zügel wieder aufnehmen, als sein Ross schnaubend den Kopf hob. Zwei Fremde auf schwarzen Rössern trabten auf ihn zu.

»Gnädiger Herr«, rief der eine, »was schaut Ihr so in die Gegend, wenn ein guter Freund einen Rat braucht?«

»Ihr habt schon einen Ratgeber. Und in den Bergen ist ein guter Freund meist teuer«, entgegnete der Bote. Einer der Fremden winkte ihm mit einer bauchigen Flasche. »Kommt doch, auf einen Schluck und einen Plausch.« Der Bote zögerte, Durst hatte er eigentlich immer. Das brachte das Reiten so mit sich. Nun kamen die beiden heran.

»Seid Ihr auch nach Innsbruck unterwegs?«, fragte der Wortführer.

Der Bote schwieg und musterte die Männer. Blitzende Augen, wehende Zöpfe und ihre Hüte etwas vergilbt. Einer der beiden stieg ab. Sie schienen nicht unerfahren in diesem Gelände, waren tauglich gekleidet, ihre Pferde wach und kräftig. Sie seien geschäftlich nach Wien unterwegs, sagten sie, und suchten für die Berge einen Führer.

»Man muss vorsichtig sein. Aber bei Euch scheinen wir ja Glück zu haben. Wir ziehen lieber den Weg durch die Berge vor, als eine Reise auf einem schaukelnden Donaukahn zu dieser Jahreszeit zu ertragen«, erklärte der Fremde und zog eine Miene, dass der Bote laut auflachte. Als der andere ihm schließlich die Flasche hinhielt, willigte er ein und erklärte ihnen den Weg.

Doch kaum hatte der Bote die Flasche angesetzt, zückte der vermeintliche Kamerad eine beschlagene Schrotpistole und hielt sie ihm vor die Brust. Überrascht musste der Bote zuschauen, wie ihm in Windeseile die Briefe aus der Satteltasche entwendet wurden und die Diebe alsbald auf ihren Rössern das Weite suchten. Er rannte ihnen noch nach, aber sie waren schon in den Wald galoppiert und verschwunden. Seine Unvorsichtigkeit verfluchend, setzte sich der Bote neben seinen Braunen, der vorsichtig an einem Weißdorn zu knabbern begonnen hatte. Ihm blieb wohl nichts anderes übrig, als sich schadlos an der Bouteille zu halten, die man ihm dagelassen hatte, um das Ende seiner noch jungen Karriere zu betrinken.

Zehn Tage später trafen die Briefe der Äbtissin in Wien ein. Doch nicht der gewünschte Adressat, sondern ein gewisser Ständerat Eugenius Marquardt erhielt sie aus Händen eines Spitzels. Pünktlich zu Mittag war der leicht untersetzte Mann mittleren Alters aus seinem Arbeitszimmer in der Hofkanzlei auf den Gang getreten, wo er just dem Hofkommissar Freiherr von Sommerau über den Weg lief.

»Marquardt! Ihr noch hier?« Der hochgewachsene Freiherr warf dem geistlichen Ständerat einen missfälligen Blick zu. »Ist Eure Behörde nicht unlängst aufgehoben worden? Wie war nochmal Eure Funktion?«

Voller Abneigung musterte Eugenius den hageren Offizier. Lang und schmal, ist oben kahl! Er musste sich wahrlich zusammenreißen.

»Von Sommerau!«, nickte er kühl. Noch immer empfand Eugenius den Entscheid Ihrer kaiserlichen Majestät, der Erzherzogin Maria Theresia, als überzogen und entwürdigend, als vor zwei Jahren die altehrwürdige Ständekammer in Freiburg aufgelöst und die neu eingesetzte Hofkommission diesem unerfahrenen Landjunker überlassen worden war. Einem Emporkömmling, der Land und Leute in den Habsburger Vorlanden doch kaum kannte. Es gab andere, die zu diesem Amt besser taugten, glaubte Eugenius. Er selbst zum Beispiel. Zumal Eugenius Marquardt seit über acht Jahren als ständiger geistlicher Vertreter der Breisgauer Landstände am Hofe täglich ein- und ausging.

Doch die neue Verfassung der Erzherzogin hatte seine Position am Wiener Hof überflüssig gemacht. Beinahe zumindest.

»Wenn Ihr nach dem Fortschritt der Habsburger Familienchronik fragt, so kann ich Euch beruhigen, von Sommerau. Die Erforschung der kaiserlichen Ahnen wird bald in einem umfangreichen Band erscheinen. So lange gedenke ich meine Stellung am Hofe beizubehalten. Ich wünsche einen angenehmen Tag!«

Eugenius ließ den Freiherrn stehen, der ihm verstimmt nachsah. Soll er denken, was er will. Zum Pfeffer mit ihm, dachte Eugenius. Das Buch über die Habsburger Genealogie hatte Maria Theresia selbst in Auftrag gegeben, auch wenn die Idee dazu von Eugenius’ Vorgesetztem, dem sankt-blasischen Fürstabt Meinrad Troger, stammte, der bislang Präsident der Freiburger Ständekammer gewesen war. Immerhin lieferte ihm das Buch einen guten Grund, seine Abreise aus Wien so lange wie möglich hinauszuzögern. Schon einmal hatte ihm seine zweite Leidenschaft, die Geschichtsforschung, sein Fortkommen gesichert. Der gute Troger! Wohlwollend dachte Eugenius an den geadelten Abt in St. Blasien, der Eugenius’ Streben in der Geschichtsforschung stets gefördert hatte. Seine andere, erste Leidenschaft jedoch galt ganz und gar der geheimen Investigation. Beide Talente hatten ihren Ursprung in seiner Kindheit.

Eugenius hatte schon in jungen Jahren ein beachtliches Talent darin entwickelt, das Leben und Treiben anderer auszuspähen. Zu fördern wusste dies seine kleingeistige Mutter, eine Freiburger Kaufmannswitwe. Zwar geizte sie mit lobenden Worten, wenn der junge Eugenius mit den Ergebnissen seiner Schnüffeleien aus der Nachbarschaft zu ihr kam. Dennoch spürte er eine gewisse Zufriedenheit der Mutter, wenn sie mit den gewonnenen Erkenntnissen die Behörden aufsuchte, um die Nachbarn zu denunzieren.