Die letzten Byzantiner - Mirko Heinemann - E-Book

Die letzten Byzantiner E-Book

Mirko Heinemann

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Beschreibung

Das Osmanische Reich im Ersten Weltkrieg: Am Abend des 9. August 1917 schießen Kriegsschiffe des verfeindeten Russlands die Kleinstadt Ordu an der Schwarzmeerküste in Brand. Da die christlichen Minderheiten des Reichs verdächtigt werden, den Kriegsgegner insgeheim zu unterstützen, fürchten die ortsansässigen Griechen die Rache ihrer türkischen Nachbarn. Panisch versuchen sie, an Bord der Schiffe zu gelangen. Eine, die es schafft, ist die 15-jährige Alexandra. Doch ihre Heimat sieht sie niemals wieder. Nach dem Krieg werden aus dem Gebiet der heutigen Türkei etwa 1,2 Millionen Griechen zwangsausgesiedelt.
100 Jahre später reist Alexandras Enkel Mirko Heinemann auf den Spuren seiner Familie und der sogenannten Pontos-Griechen durch den Norden der Türkei. Er erzählt, wie Griechen seit der Antike an den kleinasiatischen Küsten lebten, mit Byzanz das Erbe Roms antraten, bis sie in den letzten Jahren des Osmanischen Reichs erst dem aufgeschaukelten Nationalismus und schließlich den Interessen der Großmächte zum Opfer fielen. Eine hierzulande fast vergessene Geschichte, die bis heute das Verhältnis zwischen der Türkei und Europa prägt.

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Seitenzahl: 325

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Mirko Heinemann

Die letztenByzantiner

Die Vertreibung derGriechen vom Schwarzen MeerEine Spurensuche

Ch. Links Verlag

Zur Schreibweise von Namen oder Orten: Im Allgemeinen werden die heutigen türkischen Ortsnamen verwendet, in den historischen Passagen auch die damals üblichen griechischen. Wenn es eine gängige deutsche Bezeichnung gibt, dann wird diese verwendet. Alle Gesprächspartner haben mir erlaubt, sie mit vollem Namen zu zitieren. Dass ich bei vielen von ihnen dennoch nur den Vornamen angebe, dient ihrem Schutz und ist der ungewissen politischen Entwicklung in der Türkei geschuldet.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnetdiese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überwww.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, April 2019entspricht der 1. Druckauflage von April 2019© Christoph Links Verlag GmbHSchönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0www.christoph-links-verlag.de; [email protected]: Nadja Caspar, Ch. Links Verlag,unter Verwendung einer Postkartenansichtdes Hafens von Ordu, um 1925Satz: Eugen Bohnstedt, Ch. Links VerlagFrontispiz: Familie Alexandra und Christos Markopoulos,Kavala 1937 (Archiv Mirko Heinemann)Karten: Peter Palm, Berlin

ISBN 978-3-96289-033-9eISBN 978-3-86284-448-7

Inhalt

Über Griechen, Türken, Deutsche

Einführung

Alexandra

Was aus Ordu erzählt wird

Zwiespältiges Trabzon

Was von der byzantinischen Metropole übrig blieb

Das verlassene Kloster

Am Ursprung der pontos-griechischen Kultur

Blut, das nicht zu Wasser wird

Von Rhomäern und anderen Völkern

Leben unter dem Sultan

Das osmanische Vielvölkerreich zwischen Asien und Europa

Pontos Euxinos

Wie die Griechen an das »gastfreundliche Meer« kamen

Die alte Heimat

Hinter den Fassaden von Ordu

Die leeren Häuser

Was geschah mit den Armeniern?

Revolutionäre aus Saloniki

Die Entstehung der jungtürkischen Bewegung

Am Scheideweg

Die Balkankriege und die ethnische Säuberung der kleinasiatischen Küste

Im Weltkrieg

Die Deportation der Griechen vom Schwarzen Meer beginnt

Schmach, Verzweiflung, Hoffnung

Das Ende des Kriegs ist erst der Anfang

Blutige Erde

Die Auslöschung der Pontos-Griechen

Der große Austausch

Zerstörte Hoffnung Konstantinopel

Die letzten Byzantiner

Zwischen der Türkei und Griechenland

Völkermord – oder nicht?

Nachwort

Anhang

Recherchehinweise und Danksagung

Literatur

Abbildungsnachweis

Personenregister

Ortsregister

Für meine Familie

Über Griechen, Türken, Deutsche

Einführung

Es sind schemenhafte Erinnerungen, die blitzartig auftauchen und wieder verschwinden: ein Kampfflugzeug, das den blauen Himmel über der Ägäis mit einem Knall zerreißt. Ein Fluch, den meine Großmutter ausstößt, in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Die Legende von meiner Großtante, die als todkrankes Kind ein Feuer prophezeit und damit die ganze Stadt in Schrecken versetzt. Mein Onkel, der von Konstantinopel schwärmt, einer Stadt, die es nicht mehr gibt. Das Schild an der Landstraße mit dem Umriss einer Insel, darunter die Aufschrift: »Cyprus – we never forget.« Rote Farbe, die Blut darstellen soll, tropft an ihr herunter.

Immer war es »der Türke«, dessen Schatten über diesen Szenen lag. »Der Türke« bedrohte die Idylle, in der ich meine Sommerferien verbrachte. Von der westdeutschen Stadt, in der ich aufwuchs, fuhr ich jedes Jahr mit meiner griechischen Mutter und meinem deutschen Vater in die griechische Hafenstadt Kavala im Norden der Ägäis, wo uns meine Großmutter, Onkel und Tanten und viele andere, die ich Onkel und Tante nannte, erwarteten.

»Der Türke« will Krieg, so hörte ich es von Verwandten, Freunden und aus dem Fernsehen. Er provoziert mit Grenzverletzungen, er bohrt in griechischem Territorium nach Öl und trägt überhaupt die Schuld am »Kaimos«, dem Leiden des griechischen Volkes. Außerdem ist er Urheber der Tragödie, die meine Familie die Heimat gekostet hat, die einst am Schwarzen Meer lag.

Bevor die Republik Türkei im Oktober 1923 ausgerufen wurde, vereinbarten die Türkei und Griechenland mit der Zustimmung der Siegermächte des Ersten Weltkriegs einen sogenannten Bevölkerungsaustausch: 1,2 Millionen orthodoxe Christen, also »Griechen«, die bisher als Bürger des Osmanischen Reichs auf dem Gebiet der Türkei gelebt hatten, mussten ihre Heimat verlassen und nach Griechenland umsiedeln. Im Gegenzug verloren 400 000 Muslime, also »Türken«, ihre Heimat im heutigen Griechenland und mussten in die Türkei. So etwas hatte es bis dahin nicht gegeben: Ein internationaler Vertrag zwischen den Großmächten, der Friedensvertrag von Lausanne, legalisierte die Vertreibung von 1,6 Millionen Menschen.

Meine Großeltern bestiegen im Winter 1922/23 das Schiff, das sie nach Europa brachte. Die Griechen vom Schwarzen Meer – dem Pontos Euxeinos oder kurz Pontos, wie die Hellenen sagen – stießen in Griechenland auf noch mehr Abneigung als etwa die griechischen Flüchtlinge von der kleinasiatischen Ägäisküste.

Die Heimat der Pontier lag weit entfernt vom griechischen Mutterland, die kulturelle Kluft war tief. Viele Pontier waren einfache Bauern gewesen, sprachen nicht einmal richtiges Griechisch, sondern nur Türkisch und ihren pontisch-griechischen Dialekt. Völlig mittellos kamen sie in das arme Griechenland, wo sie versuchten, sich als Tagelöhner über Wasser zu halten. Viele ihrer Nachkommen verdingten sich in den 1960er-Jahren als Gastarbeiter in der Bundesrepublik.

Unter Griechen hat man sich bis in die jüngste Zeit Witze über die Hinterwäldler aus Anatolien erzählt. Der Vergleich mit den Ostfriesen, den in Deutschland lebende Griechen gern ziehen, hinkt. Bei den Pontiern handelte es sich um Deportierte, die oftmals Familienangehörige verloren hatten und selbst vielleicht gerade noch mit dem Leben davongekommen waren. Viele von ihnen schämten sich ihrer Herkunft, wie auch ihres Status als Flüchtling. Umso mehr bemühten sie sich, zu den besten Griechen überhaupt zu werden. Meine Großmutter war stets bestrebt, Hochgriechisch zu sprechen. Sie arbeitete hart im Geschäft meines Großvaters mit. Ihre Schwermut überspielte sie, wie ich erst viel später verstand, mit Zurückhaltung und Bescheidenheit.

Ich weiß noch genau, wie das Zimmer in Kavala aussah, in dem meine Großmutter starb: ein rechteckiger Raum mit vielleicht zehn Quadratmetern Grundfläche, aber hohen Decken. Neben der einzigen Tür stand ein kleiner Kanonenofen. Die Tür führte in die offene Küche, an die sich wiederum die Diele anschloss. Von dort aus gelangte man in zwei weitere Räume. Der eine hatte einen Balkon zur Straße. In beiden Räumen standen Betten. Sie wurden nur genutzt, wenn Gäste oder Familienmitglieder zu Besuch kamen. Von der Diele aus ging es über eine Treppe hinunter und durch einen schmalen Gang zur belebten Straße hinaus. Das Ladengeschäft neben der Haustür gehörte einem Fleischer. Der hatte es über viele Jahre an einen Fischhändler vermietet, danach an einen Bäcker. Dann stand es leer. Keinem Passanten würde das Haus besonders ins Auge fallen, nur der Balkon mit der geschmiedeten Brüstung im ersten Stockwerk gab der Fassade einen Hauch Noblesse.

Das Zimmer meiner Großmutter lag im hinteren, im ruhigen Teil der Wohnung. Man hörte das laute Ticken der Standuhr in der Diele, aus dem alten Kleiderschrank duftete es streng. Ihr schmales Bett, auf dem eine dicke Matratze lag, stand an der Stirnwand gegenüber der Tür, es füllte beinahe die gesamte Breite des Raumes aus. An der Wand daneben hing das Familienfoto in Schwarz-Weiß, darauf war sie Mitte 30. Eine untersetzte, magere, aber entschlossen wirkende Frau mit markanten Wangenknochen und einer altertümlichen, runden Brille, die sie auch als alte Dame noch trug. Da war sie eine elegante Person, stets im Schwarz der Witwen gekleidet, das silbergraue Haar zu einem Dutt hochgesteckt. Ihr Name war Alexandra Markopoulou, geborene Tatsou.

Zwei Fenster hatte das Zimmer, die beide auf den engen Hinterhof führten. Das kleinere war mit Draht vergittert und diente zugleich als Durchstieg auf eine kleine, überdachte Terrasse; seine Flügel wurden mit einem Klemmbügel verschlossen. Von der Terrasse aus führte wiederum eine Treppe zu der Wohnung meiner Tante eine Etage darüber. Der normale Weg zu meiner Tante hätte eine Etage hinuntergeführt, durch den Hof und über die Außentreppe zwei Etagen hinauf. Stieg man durch das kleine Fenster, konnte man diesen Weg abkürzen.

Mein kleiner Bruder und ich fanden das Fenster großartig, wie auch die verschlungene und völlig unpraktische Verbindung zur oberen Wohnung. Meine Großmutter zwängte sich aber nicht mehr hindurch. Lieber blieb sie auf einem Hocker neben dem Fenster sitzen, während meine Tante sich auf der anderen Seite auf die Terrasse hockte. So sprachen sie miteinander durch das kleine, vergitterte Fenster wie zwei Delinquentinnen in einem bizarren Beichtstuhl, jede in ihrer eigenen Welt. Sie redeten und redeten, Stunde um Stunde, so kam es mir jedenfalls als Kind vor. Meine Mutter gab ab und zu ihre Kommentare aus der Küche dazu. Worüber sprachen sie?

Es waren Geschichten, die mich damals nicht interessierten und die ich auch nicht verstand. Meine Tante nickte zustimmend, und meine Mutter hatte mehr mit uns Kindern zu tun. Die Erzählungen schienen von etwas Fernem, lange Vergangenem zu handeln, durchsetzt mit vielen Klagelauten, »Ach« und »Aman«. Sie spielten in einer Zeit, in der das Haus meiner Großmutter woanders stand und die Welt eine andere war. Von all dem ahnten wir Kinder nichts. Über ihre frühere Heimat sprach meine Großmutter selten mit uns – und wenn wir sie fragten, klang es, als ginge es um eine andere Person in einem fremden Land.

Das war es nun ja auch geworden: Ihre Heimatstadt Ordu lag fern im Osten, an der Küste des Schwarzen Meeres auf dem Staatsgebiet der Türkei, für griechische Staatsbürger unerreichbar und für immer verloren. An die alte Zeit erinnern in Griechenland heute noch die gelb unterlegten Straßenschilder mit dem byzantinischen Doppeladler, auf denen »Konstantinoupolis« neben einer Kilometerangabe steht. Dort, im heutigen Istanbul, residiert noch immer der oberste Patriarch der griechischorthodoxen Kirche, seit nunmehr 1500 Jahren.

Die Beziehungen zwischen der Türkei und Griechenland sind immer noch unterkühlt. Die Grenze wurde und wird mit martialischen Zäunen, finster aussehenden Grenzsoldaten und schwerem Kriegsgerät abgesichert. Wie zwei bis aufs Blut zerstrittene Nachbarn liegen sich die beiden NATO-Mitglieder gegenüber. »Ein aggressives Volk mit barbarischen Sitten«, pflegte einer meiner Onkel über die Türken zu sagen. Ich erinnere mich an die überschnappende Stimme der Reporter im Fernsehen, wenn es wieder Provokationen an der Grenze zu vermelden gab. Dann war ein türkisches Kampfflugzeug in den griechischen Luftraum eingedrungen, eine türkische Flagge war auf einem unbewohnten Eiland gehisst worden, oder ein türkisches Ölbohrschiff hatte in einem umstrittenen Meeresgebiet operiert.

Die Griechen, so wurde mir eingeimpft, seien während der 400 Jahre, in denen ihr Land Teil des Osmanischen Reichs war, von den »Türken« unterdrückt worden. Noch heute umspanne Griechenland ein »muslimischer Gürtel«, der von Albanien über die Siedlungsgebiete der muslimischen Volksgruppen Jugoslawiens, Bulgariens und Thrakiens bis nach Kleinasien reiche, und halte es im Würgegriff. Hier stehe das letzte Bollwerk des Abendlandes gegen die drohende Islamisierung, deren Speerspitze die Türkei sei. Nicht umsonst galt ein dreijähriger Militärdienst für alle – außer für mich, der ich als Deutschgrieche davon freigestellt war. Mit erhobenem Zeigefinger wurde auf den Einmarsch der Türken in Zypern 1974 verwiesen – so werde es auch Griechenland ergehen, sollte es nicht stark und wachsam bleiben.

Auf der türkischen Seite ging es offenbar ähnlich zu. Türkische Freunde erzählten mir später, wie der »Grieche« in den Schulbüchern als größter Feind der Türken dargestellt wurde. Darin überfielen Griechen arglose Dorfbewohner, bis die ruhmreiche türkische Armee unter der Führung von Mustafa Kemal Atatürk zurückschlug und die Griechen ins Meer trieb.

In unserer westdeutschen Stadt lebten Griechen wie auch Türken. Sie waren Mitschüler, Nachbarn, Gastarbeiter und damit Kollegen meines Vaters in der Stahlfabrik oder Betreiber kleiner Restaurants. Ich hatte nichts gegen sie. Ihre Lebensweise war mir sogar vertraut: Die Düfte, die aus ihren Küchen aufstiegen, die orientalisch geprägten Melodien und die Rhythmen ihrer Musik, die durch die Straßen tönte, die Menschen und ihre Art zu reden und zu gestikulieren – all das kannte ich aus meinen Sommerferien. Selbst ihre Religion wirkte auf mich anheimelnder als die Art, wie Katholiken oder Protestanten ihren Gottesdienst abhielten. Der Gesang des Imams, der Koranverse rezitiert, erinnerte mich an den des Priesters im griechisch-orthodoxen Gottesdienst.

Die Feindschaft zwischen Griechen und Türken konnte ich nicht nachvollziehen. Sprache und Religion waren zwar unterschiedlich, aber die Kultur schien mir doch recht ähnlich zu sein. Woher kam diese Antipathie meiner griechischen Verwandten, die von biblischer Kraft zu sein schien und mich an die Geschichte von Kain und Abel erinnerte? Das Dunkel, in dem die Vergangenheit meiner Familie lag, bereitete mir Unbehagen. Hatte meine Existenz womöglich mehr mit dieser Feindschaft zu tun, als ich mir eingestehen wollte? Und warum konnte ich so wenig mit den Zuschreibungen anfangen, die mir in Griechenland serviert wurden? War ich zu sehr Deutscher, der Kritik an dem Fremden reflexhaft abwehrte, weil ihn das in zahllosen Schulstunden über den Holocaust eingeimpfte schlechte Gewissen plagte?

Meine griechische Familie ist zerrissen, Missgunst und Erbstreitigkeiten haben sie entzweit. Zwischen den Angehörigen der jüngeren Generationen ist der Zusammenhalt schwach. Wir sind in der Welt verstreut, viele leben in Großstädten, sind urbane Nomaden geworden. Die Frage nach meiner Identität, ob ich Deutscher bin, Grieche oder nur ein »halber Grieche«, wie man mir oft unterstellte, hat sich mir niemals wirklich gestellt. Ich war immer Deutscher, in meiner Sozialisation, meinem Aussehen, meiner Sprache, mit meinem Namen. Sogar mein serbischer Vorname verlor spätestens nach dem Mauerfall sein Alleinstellungsmerkmal, als ich feststellte, dass »Mirko« unter Sachsen, Thüringern und Mecklenburgern meiner Generation verbreitet war. Ich war also so deutsch wie Ronny, Kevin, Thomas oder Klaus. Aber ganz offensichtlich war da noch mehr – nur was?

Meine Suche nach Antworten führte zwangsläufig in die Vergangenheit. Der kritische Zeitraum umfasst die Jahre zwischen dem Sommer 1917 und dem Winter zwischen den Jahren 1922/23. Es war die Zeit, in der meine Großeltern den Orient hinter sich ließen und Europa erreichten, räumlich wie kulturell. Es war die Zeit, in der beide Staaten, Griechenland wie auch die Türkei, endgültig zu dem wurden, was sie heute sind: Nationalstaaten, die von ihrer ethnischen Vielfalt und ihrer gemeinsamen Geschichte nichts mehr wissen wollten.

Alexandra

Was aus Ordu erzählt wird

Der Sommer des Jahres 1917 war kein Sommer wie jeder andere im Küstenstädtchen Ordu am Schwarzen Meer. Die heißesten Tage waren vorüber, nun stand die Haselnussernte an. Jede Hand wurde gebraucht. Von den Kämpfen des Weltkriegs merkte man an diesem abgelegenen Küstenstreifen nicht viel. Nur die jungen Männer hatte es getroffen. Sie mussten Militärdienst leisten. Deshalb waren es vor allem Frauen und Kinder, die Sträucher schnitten und sie zum Trocknen auf den Boden legten, während die Großeltern den Haushalt besorgten.

Die Wanderarbeiter aus dem Osten Anatoliens, die jedes Jahr bei der Ernte halfen, waren in diesem Sommer nicht gekommen. So blieb muslimischen Türken und christlichen Griechen nichts anderes übrig, als die Arbeit gemeinsam zu erledigen. Von morgens bis abends schufteten sie auf dem heimischen Hof, und wenn die Arbeit getan war, gingen sie zu den Nachbarn und halfen dort mit. Klang der Stundenschlag von der Kirche im Westen der Stadt herüber, hielten die Christen kurz inne und bekreuzigten sich. Rief der Muezzin von der Moschee im Osten, hieß es: Gebetszeit für die Muslime.

In den letzten Jahren war das Misstrauen zwischen den Volksgruppen größer geworden. Natürlich wäre auch zuvor kein Muslim je auf die Idee gekommen, sein Kind mit einem Christen zu verheiraten – und ein Christ umgekehrt genauso wenig. Jeder Junge und jedes Mädchen wusste von klein auf, wo die unsichtbaren Grenzlinien zwischen den Vierteln verliefen. Auch, wo diejenigen wohnten, die Hass versprühten. Der Karajannis, der Schwarze Johannes, der die türkischen Kinder bespuckte – von ihm hielten sie sich besser fern. Die kleinen Griechen wiederum fürchteten sich vor Osman dem Lahmen, über den die grausamsten Geschichten kursierten. Dennoch rannten die türkischen und griechischen Kinder gemeinsam über die Friedhöfe, erzählten sich Geschichten von Engeln und dem Satan und schauderten.

Über das Schicksal der Armenier wurde nur im Flüsterton gesprochen. Zwei Jahre war es nun her, dass der Ausrufer mit seinem eindringlichen Singsang durch die Gassen gezogen war und den Ferman verkündete, den Erlass des Sultans: Alle Armenier sollten ihr Hab und Gut verkaufen und zusammenpacken, was sie tragen konnten. Binnen Tagen müssten sie den Ort verlassen, danach würden sie in ein neues Siedlungsgebiet gebracht. Es kam zu einem Exodus ungeahnten Ausmaßes: In Gruppen von mehreren Hundert Menschen zogen sie davon, mit kleinen Karren oder Rucksäcken, bewacht von Soldaten. Seit diesen Tagen im Juli 1915 standen die Häuser im armenischen Viertel von Ordu leer. Nicht einmal die Kinder wagten sich in die Nähe der leerstehenden Bauten und der großbürgerlichen Villen, deren Türen im Wind knarzten. Und niemand traute sich, nachzufragen, wohin die früheren Nachbarn gebracht worden waren.

Viele Griechen zogen sich in ihre Häuser zurück und beteten, dass man sie verschonen möge. Andere zuckten mit den Achseln. Das war eben der Krieg. Das Osmanische Reich hatte sich mit Deutschland verbündet und kämpfte im Osten gegen Russland, an der Westfront und auf See gegen Frankreich und England. Der schon greise Sultan Mehmet V. hoffte auf die militärische Stärke der Deutschen. Gemeinsam mit ihnen sollte das Reich wieder zu seiner einstigen Größe zurückfinden. Im kleinen Ordu, weit entfernt von der Hauptstadt Konstantinopel, wusste man nur wenig über die Verbündeten. Einer, der schon mal einem Deutschen begegnet sein konnte, war mein Urgroßvater Anastasios Tatsos. Er entstammte einer alteingesessenen Familie von Schwarzmeer-Griechen, die Seefahrer gewesen waren, so weit die Erinnerung zurückreicht. Tatsos kommandierte oder besaß sogar ein Kaiki, ein hölzernes Segelschiff, mit dem er Handelsgüter – meist Haselnüsse und anderes Trockenobst – die Küste entlang bis ins benachbarte Trabzon im Osten oder nach Konstantinopel im Westen transportierte und andere Güter zurückbrachte. Er mochte also schon in den Bosporus gesegelt sein, vorbei an den prächtigen Residenzen des deutschen Botschafters und der Familie Krupp, vielleicht hatte er deutsche Kriegsschiffe gesehen – und er könnte die Gerüchte gekannt haben, die in der Hauptstadt kursierten: dass die Deutschen längst die Macht übernommen hätten, und der Sultan die Marionette eines Kaisers im fernen Berlin sei, der die Herrschaft über alle Muslime anstrebe.

Ordu lag im Osten des Omanischen Reichs, hier blickte man eher nach Russland, dessen glitzernde Städte nur wenige Tagesreisen mit dem Dampfschiff entfernt waren. Die orthodoxen Griechen sahen die ebenfalls orthodoxen Russen als ihre Schutzmacht an, vor vielen Jahren hatten sich die Russen diesen Status sogar vertraglich gesichert. Außerdem lebten in den russischen Küstenstädten ebenfalls viele Griechen. Die Handelsbeziehungen waren eng. Viele hofften insgeheim, die Russen würden endlich einmarschieren, die Herrschaft über die Schwarzmeerküste übernehmen oder sie an diejenigen zurückgeben, die sich seit alters her für die wahren Herren dieser Gegend hielten: die Griechen.

Im Sommer 1917 wurde diese Hoffnung riesengroß. Die russische Armee war auf dem Vormarsch, sie hielt bereits Trabzon besetzt, wo sie einen militärischen Stützpunkt errichtet hatte. Es schien nur noch eine Frage der Zeit, bis auch Ordu unter russische Besatzung geriet. Die Griechen beteten darum, ihre muslimischen Nachbarn zitterten davor.

Am 9. August 1917 schien dieser Tag endlich gekommen. Es war schon dunkel, der Vollmond stand über der Stadt. Plötzlich donnerte es. In einigen Gebäuden unten am Markt brach Feuer aus. Dichter Rauch wirbelte durch die engen Gassen des griechischen Viertels, dessen Häuser dicht am Hang standen. Wer Aussicht auf das Meer hatte, sah im Mondlicht schemenhaft ein Dutzend Kriegsschiffe, die Flammen spuckten. Geschosse schlugen in der Unterstadt ein, eines auch in der griechischen Kirche. Auf den Straßen liefen Menschen zusammen, schrien und weinten. Die Schiffe hatten Boote ausgesetzt, die auf den Strand zuhielten.

Die Kriegsschiffe kamen aus Trabzon, und sie hatten die russische Fahne gehisst. Doch sie waren nicht gekommen, um zu bleiben. Es war ein Raid, ein militärischer Überfall. Die russischen Soldaten sprengten in Ordu ein Munitionsdepot und zerstörten ein Flugfeld. Als die Griechen begriffen, dass die Russen wieder verschwinden würden, brach Panik aus. Rufe erschallten: »Die Türken werden sich an uns rächen. Verlasst eure Häuser! Hinunter zum Hafen!«.

Unter den Hunderten, die auf die russischen Schiffe zuströmten, war ein Mädchen, 15 Jahre alt. In ihr Gedächtnis hatte sich ein Bild fest eingebrannt, das sie ihr Leben lang verfolgen sollte: wie sie ihre Pantoffeln, die sie im Haus trug, neben die Haustür stellte. »Wir sind bald wieder zurück«, hatte die Mutter getröstet. Die beiden rannten durch die Gassen des griechischen Viertels hinunter zum Pier, wo sich die Menge versammelt hatte und auf die Kais strömte. Sie sahen, dass fremde Boote dort anlegten. Mitten im Getümmel entglitt der Mutter die Hand des Kindes.

Von irgendwoher erschallten Rufe: »Frauen und Kinder zuerst!« Die Menschen schoben das Mädchen weiter, bis es plötzlich ganz vorne auf dem Landungssteg stand. Ein russischer Matrose hob es ins Boot herunter. Starr vor Schreck ließ sie es geschehen. Erst als das Boot ablegte und die Männer es mit kräftigem Ruderschlag auf die Schiffe zusteuerten, kam sie zur Besinnung. Über ihr schaukelten die Sterne im Rhythmus der Riemenschläge, um sich herum hörte sie das Gewimmer von anderen Kindern und ihren Müttern. Hinter dem Rauch lugte der Mond hervor. Er warf sein fahles Licht auf eine unheimliche Szenerie: Das Ufer war schwarz vor Menschen, hinter ihnen brannten Häuser. Das Mädchen konnte nicht ahnen, dass dies ihr letzter Blick auf ihre Heimatstadt sein würde. Sie würde das Haus, in dem sie geboren und aufgewachsen war, niemals wiedersehen.

So erzählte meine Mutter die Geschichte, die sie wiederum von ihrer Mutter gehört hatte. Das 15-jährige Mädchen, das auf dem Weg zum Schiff von seiner Mutter getrennt wurde: Das war Alexandra, meine Großmutter.

Diese Geschichte gehörte für mich lange in den Kreis der Sagen des griechischen Altertums, die ich als Kind verschlang. Eine der vielen Legenden aus dem Reich meiner Großmutter, ähnlich wie ihre Geschichten von weinenden oder wundertätigen Ikonen. Sie tauchte aus den Tiefen meines Gedächtnisses wieder auf, als ich aus beruflichen Gründen über die Flucht der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg recherchierte.

Damals fuhr ich auf einem Forschungsschiff gemeinsam mit dem US-amerikanischen Ozeanographen Robert Ballard auf der Ostsee zu der Stelle, an der ein deutsches Flüchtlingsschiff gesunken war: die »Wilhelm Gustloff«. Auf ihr versuchten im Januar 1945 viele Deutsche aus dem von der Roten Armee umzingelten Ostpreußen zu fliehen. Kurz nach dem Auslaufen wurde das völlig überfüllte Schiff vor der pommerschen Küste von einem sowjetischen U-Boot torpediert und sank. Von den zehntausend Menschen an Bord kamen etwa 9000 ums Leben, die meisten waren Zivilisten. Ballard erkundete das Wrack mit einem Tauchroboter, dessen Kameraaufnahmen wir auf einem Bildschirm verfolgen konnten. Im Lichtkegel der Scheinwerfer blickten wir mit Schaudern auf ein von zerfetzten Fischernetzen eingehülltes, rostiges Ungetüm. Ein Massengrab.

Meine Großmutter war ebenfalls auf ein Flüchtlingsschiff gestiegen. Wohin haben die russischen Kriegsschiffe die vielen Menschen gebracht? Und warum mussten die Griechen fliehen? Meine Onkel waren gestorben, meine einzige Tante litt bereits an Demenz. Ich drängte meine Mutter, alles zu notieren, woran sie sich erinnern konnte. Und dann packte ich meine Sachen und fuhr in das Land, das einst die Heimat meiner Großmutter war und sich heute Türkei nennt.

Zwiespältiges Trabzon

Was von der byzantinischen Metropole übrig blieb

Am Abend des 2. August 2016, fast auf den Tag genau 99 Jahre, nachdem Alexandra ihre Heimatstadt zum letzten Mal sah, lande ich auf dem Flughafen Sabiha Gökçen in Istanbul. Zwei Wochen nach dem Putschversuch gegen Präsident Erdoğan herrscht hier der Ausnahmezustand: Vor den Passkontrollen warten die Ankommenden in langen Schlangen, überall stehen schwer bewaffnete Sicherheitskräfte. Es geht nur im Schneckentempo vorwärts. Lange habe ich überlegt, ob ich die Reise überhaupt antreten soll. Ich habe mit Freunden telefoniert, die in Istanbul leben. Mit Korrespondenten, die aus der Türkei berichten. Mit türkischen Journalisten, die in Deutschland leben. Am Ende habe ich mich für die Reise entschieden. Ich werde es später nicht bereuen. Ich erlebe ein Land im Rausch, Menschen, die mit allabendlichen Festen auf den großen Plätzen ihren Präsidenten feiern. Aber ich sehe auch viele, die abseitsstehen, sich zurückhalten und die euphorisierten Massen meiden.

Dieser Kontrast ist bereits bei meiner Einreise zu spüren. Kurz vor den Schaltern teilt sich die Schlange in eine für türkische Staatsbürger und eine für Ausländer. Die junge Frau vor mir wird immer nervöser. Sie tritt von einem Fuß auf den anderen, schaut sich hektisch um. Ich frage sie, ob ich irgendwie helfen könne. Sie verneint. Im Flieger habe ich neben ihr gesessen, wir kamen ins Gespräch. Sie sei in Istanbul geboren und studiere derzeit in Berlin, erzählte sie, und wie schön sie die vielen Bäume und Parks in Berlin finde und wie erholsam und still die deutsche Hauptstadt im Vergleich zu Istanbul sei.

Darüber kamen wir auf den Istanbuler Gezi-Park zu sprechen und auf die Proteste dort zwei Jahre zuvor. Studenten aus Istanbul hatten damals gegen die Pläne der Regierung demonstriert, den kleinen Park im Zentrum der Stadt mit einer Shopping-Mall zu bebauen. Bald weitete sich die Protestbewegung auf andere Teile der Bevölkerung aus. Tausende Menschen, viele davon jung, reisten aus der ganzen Türkei nach Istanbul und campierten aus Protest im Park und auf dem benachbarten Taksim-Platz. Im Juni 2013, nach mehreren Wochen Besetzung, wurde der Platz gewaltsam geräumt. Danach demonstrierten Hunderttausende im ganzen Land gegen den autoritären Regierungsstil des damaligen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan.

Die Augen meiner Sitznachbarin leuchteten, als sie von der Aufbruchsstimmung erzählte, die damals unter den jungen Leuten geherrscht habe: »Wir waren kurz davor, das Land zu verändern.« Nach der Niederschlagung der Proteste sei eine Zeit der Depression angebrochen. Viele ihrer Freunde seien ins Ausland gegangen, weil sie in der Türkei keine Zukunft mehr für sich sahen. Andere fürchteten, von Polizei oder Geheimdiensten überwacht zu werden. Sie selbst habe immer ein mulmiges Gefühl, wenn sie nach Hause komme, sagte sie.

Dieses Bekenntnis kommt mir in den Sinn, als ich bemerke, dass sie die Schlange für Ausländer nicht verlassen will, obwohl die für türkische Staatsbürger viel kürzer ist. Nach zwei Stunden Wartezeit wird sie bei der Kontrolle problemlos durchgelassen. Wir winken uns noch kurz zu, dann verschwindet sie in der Menge. Mein Anschlussflug nach Trabzon ist weg, aber ich erhalte ein neues Ticket für einen späteren Flug.

Unter den Reisenden nach Trabzon herrscht ein anderes Erscheinungsbild vor als im Flieger Berlin-Istanbul. Zwei Drittel aller Frauen tragen Kopftuch, viele sind vollständig verhüllt. Trabzon gilt als eine der konservativsten Städte der Türkei, eine Hochburg der islamischen Partei AKP. Die Familie von Präsident Erdoğan stammt aus der Nachbarstadt Rize.

Ich erreiche Trabzon um Mitternacht. Es herrschen milde Temperaturen, der Vollmond steht hoch über den Pontischen Bergen, die wie monströse Schatten in die Höhe ragen. Von der Gangway aus sehe ich das Schwarze Meer im Mondschein liegen, still wie ein riesiger Bergsee. Von hier aus sind es nur zwei Stunden mit dem Bus Richtung Westen bis nach Ordu, die Heimatstadt meiner Großmutter. Ich nehme aber ein Taxi nach Trabzon, wo ich erst einmal bleiben möchte. In der alten griechischen Metropole, die über Jahrtausende die Hauptstadt der Region am östlichen Schwarzen Meer war, hoffe ich, auf Spuren der Menschen zu stoßen, die einst hier gelebt haben.

Mein Hotel liegt direkt neben dem Meydan, dem Hauptplatz im Zentrum der Stadt. Obwohl es inzwischen mitten in der Nacht ist, haben sich dort um die fünfhundert Menschen versammelt. Sie lauschen andächtig einer Gruppe von Geistlichen, die im Halbkreis auf einer Bühne sitzen und offenbar Suren aus dem Koran vortragen. Der Platz ist von Scheinwerfern erhellt. Einer von ihnen strahlt einen Baum an, an dem in etwa fünf Metern Höhe eine lebensgroße Stoffpuppe wie an einem Galgen hängt. Sie trägt einen Turban, auch hat man sie grob mit einigen Gesichtszügen versehen. Auffällig sind die hängenden Augenlider und der Schnauzbart. Es ist klar, wen die Puppe darstellen soll: den Prediger Fethullah Gülen, den Erdoğan für den Putsch verantwortlich macht.

Ich habe den Eindruck, einer Voodoo-Zeremonie beizuwohnen. Obwohl alles friedlich wirkt, schaue ich, dass ich schnell ins Hotel komme. Als ich im Bett liege, höre ich vereinzelt kehlige Rufe in den Straßen: »Allahu Akbar«. Mal kommen sie von weither, dann wieder scheint jemand direkt vor meinem Fenster zu schreien. Es wird eine unruhige Nacht. Ich bin froh, als die Lautsprecher der Moschee knacken und der Muezzin mit dem ersten Gebet des Tages beginnt.

Am Morgen führt mich mein Weg direkt an der gehenkten Puppe vorbei. Ich bin irritiert, wie viele Menschen unter ihr umherspazieren, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Ich muss immer wieder hinschauen. Einige Kinder sammeln Stöcke vom Boden auf und werfen sie in den Baum, als wollten sie Kastanien herunterholen. Die Szenerie erinnert an eine Steinigung. Im antiken Griechenland wurden Landesverräter gesteinigt, oft ohne Prozess, es reichte, wenn der mutmaßliche Verräter bei einer verdächtigen Handlung ertappt worden war. Auch gegen den im Exil lebenden Fethullah Gülen gab es keinen Prozess; ob er wirklich an dem Putsch beteiligt war, ist noch Jahre später unklar. Ich frage mich, wer die Puppe ausstaffiert und im Baum angebracht hat.

Trabzon ist in ein Meer von Nationalflaggen getaucht. Von beinahe jedem Fenster hängt eine rote Fahne mit der Mondsichel und dem Stern darauf. An einer Brücke sind große Plakate vertäut, die Erdoğan zeigen und daneben Atatürk, den von vielen Türken abgöttisch verehrten Republikgründer. Der nördliche Teil des Meydan ist von hölzernen Aufstellern eingerahmt: eine Fotoausstellung mit Bildern aus der Nacht, als der Militärputsch scheiterte. Am Ausgang der Gasse, die auf einer Seite von Stellwänden und auf der anderen von Materialzelten gebildet wird, hängt ein überdimensionales Transparent zwischen zwei Häusern. Es zeigt ihn: Recep Tayyip Erdoğan, den Präsidenten, vor 16 kleinen gelben Sternen, die um eine gelbe Sonne kreisen. Die Sterne, so erfahre ich später auf einer Website über die nationalen Symbole der Türkei, repräsentieren alle jemals bestehenden türkischen Reichsgebilde in der Geschichte. Die Sonne im Zentrum symbolisiert die Republik Türkei.

Mein Spaziergang führt mich hinauf auf den Boztepe, den Hausberg von Trabzon. Ein findiger Unternehmer hat Terrassen in den steilen Hang schlagen lassen und ein Gartencafé eröffnet. In den versteckt angelegten Pavillons sitzen junge Paare und halten sich verschämt an den Händen. Treppen verbinden die einzelnen Inseln mit Tischgruppen, von denen aus man in die Tiefe blickt. Viele der Gäste sprechen arabisch. Ihr Kleidungsstil lässt vermuten, dass sie Touristen aus Saudi-Arabien sind: Die Männer tragen kurzärmelige, helle Hemden und lange Hosen, die Frauen die Abaya, ein schwarzes, bodenlanges Gewand, und um den Kopf einen vollständig geschlossenen, schwarzen Schleier. Bei manchen sind selbst die Augen von einer feinen Gaze bedeckt. Ansonsten ist die Vollverschleierung hier unüblich. Viele türkische Frauen sind gar nicht verschleiert, andere tragen ein eng um den Kopf geschlungenes Tuch. Ich komme mit zwei jungen Syrern ins Gespräch, die englisch sprechen. Sie erzählen, dass sie aus Homs stammen und in Trabzon einen Job gefunden haben.

Der Ausblick ist grandios: Entlang der Küste schlängelt sich die Autobahn, gesäumt von frisch erbauten Hochhäusern. Fern im Westen glitzert das neue Stadion für den örtlichen Fußballclub Trabzonspor. Man sieht der Stadt den Wirtschaftsaufschwung der letzten Jahre an. Von hier oben kann man gut erkennen, woher sie ihren Namen hat: Der griechische Begriff »Trapezous«, zu Deutsch »Tisch«, bezieht sich wahrscheinlich auf den annähernd rechteckigen Hügel neben der Altstadt. Da hier die letzten Ausläufer des pontischen Gebirges abbrechen, hat Trabzon einen guten Blick auf das Meer und ist von Süden her durch das Gebirge geschützt. Zwischen den Ausläufern der Stadt und dem Meer liegt ein mit Gestrüpp bewachsener Küstenstreifen. Der Hafen mit seinen Containerterminals liegt am östlichen Stadtrand, dort, wo die Ebene endet und die Berge an die Küste stoßen.

Die ersten Siedler waren Griechen. Sie sollen aus Sinop herübergekommen sein, dem wohl ältesten griechischen Handelsstützpunkt am Schwarzen Meer. Sinop liegt ebenfalls an der Nordküste der Türkei, ziemlich genau in der Mitte zwischen dem Bosporus am Westrand und Georgien am Ostrand. Seefahrer aus der Ägäisstadt Milet haben den Ort im 7. Jahrhundert vor Christus gegründet. Auf der Rückseite des Boztepe, im Landesinneren, erstreckt sich ein militärisches Übungsgelände mit Stahltor und Stacheldraht. Danach wird es ländlich. Durch verdorrtes Gehölz und Buschwerk zieht sich ein ausgetrocknetes Flusstal, in dem gelbes Schilf steht. Auf dem trockenen Talboden ducken sich ein paar ärmliche Bauernhäuschen. Sie sehen aus, als halte sie nur noch der Mörtel zusammen, mit dem die vielen Schadstellen an der Fassade verputzt sind. Ein angebundener Esel schaut traurig auf den Boden, während sein Schweif in zuckenden Bewegungen Fliegen verscheucht. Auf der anderen Seite des Tals, hinter dem nächsten Hügel, wächst eine Armada aus nagelneuen Hochhäusern aus der Erde.

Wie der Besucher eines fremden Planeten wandere ich über das Geröll auf die gigantomanische Satellitenstadt zu. Hunderte Wohntürme stehen verstreut in der hügeligen, kargen Landschaft, ohne erkennbares städtebauliches Konzept. Ein Ortsschild verrät, wie diese anatolische Vorstadtvision heißt: »Boztepe I«. Es gibt keinen Supermarkt, kein Geschäft, nicht einmal einen Kiosk. Nur betonierte Spielplätze mit bunt bemalten Geräten. Es fahren auch keine Busse. Stattdessen kurven Dutzende von Sammeltaxis auf Serpentinen zwischen den Häusern herum und bringen die Arbeiter aus Trabzon zurück nach Hause. Zählt man die knapp 300 000 Einwohner des modernen Trabzons mit denen von Boztepe I und den anderen Neubaugebieten in der Umgebung zusammen, entsteht eine Flächenstadt, deren Einwohnerzahl die türkischen Behörden mit knapp 800 000 angeben. Schon bald wird daraus eine weitere türkische Millionenstadt werden.

Über verschlungene Serpentinenstraßen wandere ich zurück in das Zentrum von Trabzon. Auch die Innenstadt wirkt an vielen Stellen, als sei sie erst in den letzten Jahrzehnten entstanden. Tatsächlich sind viele alte Gebäude aus ideologischen Gründen entfernt worden, lese ich in einem Stadtporträt der Journalistin Amalia van Gent. Demnach wurde die Kirche St. Gregor, einst ein Wahrzeichen der Stadt, in den 1940er-Jahren abgerissen. Die Oper musste im folgenden Jahrzehnt weichen. Auch den osmanischen Han, die Karawanserei, in der einst die Kamelkarawanen von der Seidenstraße einkehrten, gibt es nicht mehr. Trabzon sollte modern und türkisch werden. Dem Bauboom der 1980er-Jahre schließlich fielen die legendären Terrassengärten mit den Feigen- und Granatapfelbäumen sowie den Rebstöcken zum Opfer.

Nur im Basar ist noch etwas vom alten Orient zu spüren. Bunte Kleider wehen hoch über den engen Gassen, die Waren stapeln sich vor den Geschäften. Händler rufen mit lauter Stimme ihr Angebot hinaus. So muss es hier schon früher zugegangen sein, als die Stadt ein Umschlagplatz zwischen Asien und Europa war. Auf alten Schwarz-Weiß-Bildern wirkt Trabzon mit seiner Oper und vielen gut gekleideten Passanten großbürgerlich und städtisch, eine Kulturmetropole.

Die beinahe 3000-jährige Geschichte Trabzons ist nirgendwo anschaulich dargestellt; es wirkt fast, als schäme man sich ihrer. Das städtische Museum, das im ehemaligen Haus eines griechischen Bankiers unterbracht ist, zeigt zwar auch archäologische Funde, aber überwiegend wird die Geschichte seit der Republikgründung 1923 dargestellt. Das alte Trabzon scheint verschwunden unter dem Stahl und dem Beton der Neubauten.

Als wichtigste touristische Sehenswürdigkeit wird immerhin eine griechische Kirche angepriesen: die Hagia Sophia, türkisch Ayasofia. Die Basilika gehörte einst zu einem orthodoxen Kloster aus dem 13. Jahrhundert. Damals wurde in Trabzon bereits seit zwei Jahrtausenden griechisch gesprochen. Dass sich diese Epoche ihrem Ende zuneigte, hätten die Erbauer womöglich ahnen können. Trapezunt, wie es seinerzeit hieß, war mitsamt seines umgebenden Territoriums ein Relikt des Weltreiches, das einst den gesamten Mittelmeerraum beherrscht hatte: Byzanz.

Die Hagia Sophia thront auf einem Felsen hoch über dem Meer. Der würzige Duft von Pinien liegt in der Luft, gedämpft dringt der Verkehrslärm von der mehrspurigen Küstenstraße herauf. Im Schatten der Bäume verkaufen Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien gekühltes Trinkwasser in Plastikflaschen. Auch die Bauherren der Hagia Sophia (»heilige Weisheit«), die Herrscherfamilie Komnenos, waren geflüchtet. Die Kirche sollte sie an ihre alte Heimat erinnern. Ihr Vorbild, die berühmte Hagia Sophia, stand in Konstantinopel. Sie war wesentlich größer und bis hinüber nach Asien sichtbar. Doch für die Komnenen war sie in unerreichbare Ferne gerückt. In den Überresten der einst blühenden Hauptstadt des byzantinischen Reichs hausten Kreuzritter. Sie waren im Jahr 1204 auf einem irrlichternden Raubzug in die Stadt eingefallen. Offiziell hatten die Kreuzfahrer Jerusalem einnehmen sollen, ein geheimes Abkommen der Anführer aus Frankreich und Flandern richtete sich stattdessen gegen Ägypten. Kurzfristig entschieden sie sich, gegen Konstantinopel zu ziehen. Sie nahmen die Stadt ein, plünderten sie und setzen sie in Brand.

Die Hagia Sophia von Trabzon, 2016

Der Hagia Sophia galt ihre ganze Wut. Die katholischen Kreuzritter zerschlugen den Altar, die gut vier Meter lange Platte aus Gold und Edelsteinen, zerfetzten den Baldachin und rissen die Kronleuchter herunter. Niketas Choniates, ein byzantinischer Hofbeamter, beschrieb entsetzt, wie die Soldaten Maulesel in die Kirche führten, um die Beute abzutransportieren. »Sogar ein sündenbeladenes Weib, eine Dienerin der Erynnien und Magd der Teufel, setzte sich auf den Sitz der Priester, sang ein üppiges Lied und schwenkte sich im Tanze drehend die Beine.« Eine Dirne auf dem heiligen Stuhl – welche Blasphemie! Im Mai 2001, also fast genau 800 Jahre später, entschuldigte sich Papst Johannes Paul II. bei der griechisch-orthodoxen Kirche für den Vierten Kreuzzug mit den Worten, er erfülle Katholiken »mit tiefer Reue«.

Indem sie das byzantinische Reich schwächten, machten die Kreuzritter erst den Weg zu dessen Eroberung durch die Osmanen frei. Bis dahin aber rief sich in der Ruinenstadt einer ihrer Anführer, Balduin aus Flandern, zum »lateinischen Kaiser von Konstantinopel« aus. Die Ära des griechisch-byzantinischen Großreichs war zu Ende.

Begonnen hatte der Aufstieg von Byzanz mit dem Entschluss des römischen Kaisers Konstantin, seine Residenz am Tiber aufzugeben und die Reichsregierung in den wirtschaftlich aufstrebenden Osten des Reiches zu verlegen. Am 11. Mai 330 rief er die Stadt Byzantion am Goldenen Horn feierlich zur neuen Hauptstadt des Römischen Reichs aus und nannte sie Nea Romi, Neu-Rom. Das Zentrum des Reiches verlagerte sich also in den seit jeher hellenistisch-griechisch geprägten Orient. Bald zerfiel das Reich in zwei Teile, West-Rom und Ost-Rom. Während in West-Rom nach wie vor Latein gesprochen wurde, dominierte in der neuen Hauptstadt der griechische Einfluss. Für die Stadt selbst setzte sich der Name »Konstantinopel« durch. Die sprachliche Kluft verschärfte die Teilung des Reiches und führte später zum Entstehen zweier weltlicher Machtsphären und im 11. Jahrhundert zum »Morgenländischen Schisma«, der Teilung in die römisch-katholische Kirche des Westens und die orthodoxe Kirche des Ostens.

Formal aber waren West- und Ostrom bis zum Schluss eine Einheit. Für den aus Konstantinopel regierten Teil des Reiches prägten westliche Historiker erst in der Neuzeit den Begriff »Byzantinisches Reich«, während die Byzantiner selbst sich als Bürger Roms betrachteten.

Nachdem die Kreuzritter die griechischen, »byzantinischen« Herrscher vertrieben hatten, zerfiel das oströmische Reich in drei kleinere Einflusszonen. Ein byzantinischer Nachfolgestaat etablierte sich im Westen des heutigen Griechenlands, in Epirus. Ein weiterer zwischen der Küste Kleinasiens und dem Schwarzen Meer. Hauptstadt des Rumpfstaates von Kaiser Theodor I. Laskaris wurde das 80 Kilometer südöstlich von Konstantinopel liegende Nikaia, das heutige Iznik. Im Norden grenzte das Lateinische Kaiserreich an, im Süden das Sultanat der Rum-Seldschuken. Die Laskariden konnten in den folgenden Jahrzehnten sogar Konstantinopel zurückgewinnen – eine Großmacht wurde ihr Reich aber nicht mehr. Das Jahr 1453 besiegelte das Ende der christlichen, griechischen Herrschaft am Bosporus: Konstantinopel wurde vom muslimischen, türkischen Stamm der Osmanen unter Sultan Mehmet II. erobert.

Der dritte Nachfolgestaat des Oströmischen Reichs existierte zu diesem Zeitpunkt noch. In Trapezunt hatte der 22-jährige Alexios Komnenos nach seiner Flucht aus Konstantinopel im Jahr 1204 ein unabhängiges Kaiserreich ausgerufen. Dessen Territorium war überschaubar. Es zog sich rund dreihundert Kilometer die Schwarzmeerküste entlang und reichte maximal hundert Kilometer ins Hinterland, bis an den pontischen Gebirgszug. Im Osten endete es an der heutigen Grenze zu Georgien, im Westen in der Bucht von Samsun.

In der Neuzeit war über dieses am längsten überlebende byzantinische Kaiserreich kaum etwas bekannt – bis der Südtiroler Gelehrte Jakob Philipp Fallmerayer im Jahr 1827 seine wissenschaftliche Abhandlung »Geschichte des Kaiserthums von Trapezunt« veröffentlichte. Der vielgereiste Orientalist schwärmt darin von der einstigen Schönheit Trapezunts, einer Stadt, die »im Glanze der Morgensonne als Königin des Meeres und aller umliegenden Länder« erscheine.

Heute ist die Hagia Sophia auf dem Felsen von Trabzon eines der wenigen Relikte dieser Epoche. Auf dem Mosaikfußboden im Hauptraum sitzt ein muslimischer Geistlicher mit einem