Die Liebe der Halligärztin - Lena Johannson - E-Book
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Die Liebe der Halligärztin E-Book

Lena Johannson

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Beschreibung

Sommer, Sonne, Nordseewind Auf der wunderschönen Nordseeinsel Pellworm fühlen sich Ärztin Wiebke und Tochter Maxi schon fast wie zu Hause. Mutter und Tochter haben ihr Herz an Schwimmmeister Tamme verloren, einen waschechten Friesen mit griechischen Wurzeln. Doch statt den Sommer im Strandkorb zu verbringen und sich die salzige Seeluft um die Nase wehen zu lassen, hat Wiebke alle Hände voll zu tun: Eine mysteriöse Krankheit verbreitet sich wie eine Epidemie auf den Halligen. Zu allem Überfluss wird Tamme auch noch beschuldigt, den Unfall eines kleinen Jungen nicht verhindert zu haben. Wiebke ist fest entschlossen, ihr Glück zu retten, und setzt alles daran, Tamme zu entlasten und die Halligbewohner zu kurieren.

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Die Liebe der Halligärztin

Die Autorin

Lena Johannson war ein Jahr lang Halligschreiberin auf Hooge im Wattenmeer vor der Westküste Schleswig-Holsteins. Sie lebt mit ihrem Mann an der Ostsee in der Nähe von Lübeck. Ihr Mann versorgt sie mit Kraft und Energie, die Ostsee und ein stattlicher Garten geben ihr Ruhe und Inspiration.

Das Buch

Die alleinerziehende Ärztin Wiebke hat mit ihrer Tochter Maxi auf der kleinen Nordseeinsel Pellworm ein neues Zuhause und in Schwimmmeister Tamme die große Liebe gefunden. Auch außerhalb der Praxis hilft Wiebke, wem sie kann: Oma Mommsen zum Beispiel, die ein Modelabel für Senioren gegründet hat und ihre erste Modenschau plant. Oder Renate Fuchs, die um den Erhalt ihrer kleinen Buchhandlung kämpft. Andere Probleme bereiten Wiebke jedoch viel größere Sorgen: Auf den Halligen greift eine mysteriöse Epidemie um sich. Zu allem Überfluss kommt es im Schwimmbad auch noch zu einem Unfall, für den Tamme verantwortlich gemacht wird. Doch Wiebke setzt alles daran, Tamme zu entlasten und die Halligbewohner zu kurieren.

Lena Johannson

Die Liebe der Halligärztin

Roman

Ullstein

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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage März 2019© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, München (Himmel, Möwen, Frau); © Sabine Lubenow / LOOK-foto / getty images (Dorf mit Schafen); © ljubaphoto / getty images (Gummistiefel); © Klaus Rein / mauritius images (Brücke über Priel)Autorenfoto: © André LeisnerE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten. ISBN 978-3-8437-1823-3

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Danksagung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Kapitel 1

Widmung

Den besten Nachbarn der Welt gewidmet.

Und der Bücherliebe, einer zauberhaften Buchhandlung vor denToren Lübecks, die für den Bücherfuchs Pate stand.

Kapitel 1

»Ich bin der König der Welt!«

»Du bist eher das Klo der Vogelwelt. Siehst ganz schön beschissen aus.« Der blonde Junge mit dem Kapuzen-Sweatshirt und den gegelten Haaren grinste breit. »Voll der fette Möwenschiss!« Jetzt lachte er und zeigte mit dem Finger auf die neue Jeansjacke seines dunkelhaarigen Schulkumpels, der mit ausgebreiteten Armen am Bug der Hilligenlei stand. Der ließ die Arme hängen wie eine flügellahme Ringelgans und drückte das Kinn auf die Brust, um sich die Bescherung ansehen zu können. Sein blonder Kumpel hatte erreicht, was er wollte, stupste ihm von unten an die Nase und brach in schallendes Gelächter aus. »Reingefallen!«

Auch die anderen Kinder der Klasse 8b aus Hamburg-Harburg amüsierten sich.

»Jetzt siehst du nicht nur beschissen aus, sondern guckst auch noch wie ein Vollpfosten.«

»Ey, wie kann man nur so doof sein, du Opfer? Voll der alte Trick!«

Eine ziemlich hohe Welle hatte die kleine Autofähre angehoben und ließ sie jetzt leicht wie ein Spielzeugboot wieder in die Tiefe fallen.

»Lieber beschissen als besoffen«, rief der Dunkelhaarige und hielt sich am weißen Metallgeländer fest. »Ihr seht voll betrunken aus, so wie ihr torkelt.«

»Witzig!«, blaffte der Blonde. »Du bist doch schon hackevoll, wenn du bloß an ’ner Bierflasche riechst. Ich wette, du warst noch nie so richtig besoffen.«

»Ja und? Außerdem was jetzt?« Der Dunkelhaarige reckte das Kinn. »Bin ich schon vom Riechen betrunken, oder war ich noch nie voll? Beides geht ja wohl schlecht.« Sein Triumph hielt nicht lange an.

»Bei dir schon.« Der Blonde schlug sich übertrieben auf die Schenkel, damit auch jeder wusste, dass an dieser Stelle wieder mitgelacht werden musste. »Der is so doof«, sagte er japsend, blickte in die Runde und klopfte zur Krönung auf die Kühlerhaube des Porsche, der dicht an der Reling stand, um als erstes Fahrzeug auf die Hallig rollen zu können. Ein schrilles Piepen ertönte, dazu leuchteten alle Blinker gleichzeitig auf, gingen kurz aus, leuchteten dann erneut.

Die Jungs und Mädchen sprangen zurück, bloß weg von dem Fahrzeug, so weit es eben ging. Nur war zwischen dem Porsche, dem Trecker daneben, der die Gepäckanhänger zog, einem Ford und dem Geländer kaum noch Platz.

»Mann, Scheiße!«, rief einer und lachte.

»Ihr seid so hohl wie Eimer«, kommentierte ein Mädchen mit Rastazöpfen.

»Gott, das sind echt Kinder«, stimmte ihre blonde Freundin ihr zu, deren Wimperntusche sich gerade gleichmäßig über ihre Wangen verteilte und deren bauchfreies Top jede Menge Gänsehaut frei ließ.

»Herrschaftszeiten, wos is denn hier los? Seid’s ihr noch zu retten?« Der Fahrkartenkontrolleur, die Geldtasche umgehängt, die dunkelblaue Windjacke bis oben zugezurrt, hatte sich unbemerkt irgendwie zwischen Autos, Fahrrädern und Passagieren durchgeschlängelt.

»Ich war das nicht«, beteuerte der Blonde sofort, »hab nix gemacht!«

»Ja, logisch! Erst vor den Damen einen auf dicke Hose machen, und dann so klein mit Hut.«

Die Mädchen kicherten.

»Echt, ich weiß nicht, wieso die Karre so ’n Lärm macht.«

»Ja, is fei recht, James Blond. Ich schmeiß dich schon nicht gleich von Bord. Bloß wenn der Meister kimmt, dem die Karre g’hört, dann musst ihm das hübsch selbst erklären.« Er griente in die Runde. »Hast mi? Grüß Gott, die Herrschaften!«

»Wieso sprechen Sie denn so komisch?«, wollte das Mädchen mit den Rastazöpfen wissen. »Ich dachte, auf den Inseln sprechen alle Platt.«

»Halligen.«

»He?«, machten einige.

»Hooge is eine Hallig, keine Insel.«

»Und wo ist da der Unterschied«, fragte das blonde Mädchen und versuchte, das Schlagen ihrer Zähne zu unterdrücken.

»Na, das findet mal schön selber raus. Ihr seid’s doch auf Klassenfahrt, oder?« Mehrköpfiges Nicken. »Dann habt’s ja Zeit. Ist ja sonst nicht viel zu tun auf der Hallig.« Er wandte sich an das Rastamädchen: »Hast scho recht, Platt ist hier Nationalsprache. Sprechen auch alle. Nur nicht die Zugezogenen. So wie ich und die andern sechzig oder siebzig Prozent der hundertsieben Bewohner. Also, rechnet mal schön. Pfiat eich!«, damit schlängelte er sich wieder davon.

Hubert griente noch immer, als er vom Autodeck die Stufen zum Salon hinunterging. Er musste sich festhalten, das schaukelte heute wirklich ordentlich. Seit vier Monaten war er nun hier, hatte dem seiner Meinung nach viel zu warmen Bayern den Rücken gekehrt. Gute Entscheidung. Er betrat den Salon, holte sich beim Wirt einen Kirschlolli und beobachtete, wie das Wasser an die hohen Bullaugen klatschte und wirbelte wie an der Luke einer Waschmaschine. Dann sah er, wie die Gesichter der Fahrgäste immer blasser wurden. Einige hatten schon einen leichten Grünstich. Kein besonders guter Tag für den Wirt aus Österreich. Wer wollte schon Sachertorte mit großem Braunen oder Käsekrainer mit Senf, wenn der Magen sich gerade einmal um sich selbst drehte? Die Tische waren leer, die gepolsterten Bänke gut besetzt, ungewöhnlich für einen Juni, da saßen die meisten am liebsten oben an Deck an der frischen Luft. Aber dort fühlten sich das Hin und Her und Auf und Ab gerade noch heftiger an als hier unten. Außerdem war es empfindlich kühl.

»Na, ist’s Ihnen nicht gut?« Ein Mann, dessen schwarzes Haar und dunkle Haut seine Herkunft fern von Nordfriesland verrieten und der in seinem adretten Anzug irgendwie fehl am Platz wirkte, hatte Schweiß auf der Stirn. An seinem Hals entdeckte Hubert rote Flecken, die eigentlich nichts mit dem Seegang zu tun haben konnten. Gerade dachte er noch darüber nach, was dem Fahrgast mit der kräftigen Statur fehlen könnte, da erhob dieser sich schwerfällig, wankte auf Hubert zu, rempelte ihn an.

»Sorry«, murmelte er und zog sich dann am Geländer die Treppe hoch.

»Nicht seetüchtig, der Herr«, erklärte der Wirt mit seinem Wiener Akzent.

»Ist aber auch graislig heut. I schau mal, ob er was braucht.« Hubert hatte es nicht eilig, seinen Kontrollgang fortzusetzen. Er wusste, dass ihm kein Schwarzfahrer entkam, falls es überhaupt einen geben sollte. Ohne Ticket rauf auf die Hallig war kein Kunststück, aber es musste jeder auch irgendwann wieder runter …

Der vermutlich Seekranke wankte gerade auf den Porsche zu, vor dessen blank polierter Schnauze sich noch immer die Halbwüchsigen tummelten. Als der Mann, offenbar der Besitzer des Schlittens, sich dem Wagen näherte, jaulte die Alarmanlage wieder los, und die Lichter begannen wieder zu blinken.

»Weg von dem Auto, Boys!«, schimpfte er und klang dabei so kraftlos, dass die Jungs nicht gerade beeindruckt waren.

»Wir haben nix gemacht«, sagte der Blonde gelangweilt. »Können wir doch nix dazu, wenn Ihre Angeberkarre spinnt.«

»Dafür«, korrigierte Hubert, der zu dem angeschlagenen Fahrgast aufgeschlossen hatte, »ihr könnt nichts dafür. Wenn’s denn stimmt.«

Der Porschefahrer keuchte, schien das Gleichgewicht zu verlieren. Hubert wollte ihm helfen, doch der Mann half sich selbst, indem er den Arm des Jungen ergriff, der gerade auf den als Angeberkarre bezeichneten Wagen zeigte.

»Ey, fass mich nicht an!«

Im nächsten Augenblick schrien die Kinder auf, der Blonde sagte gar nichts mehr, denn der Mann in dem feinen Zwirn kippte ihm in die Arme. Nur weil es zwischen den Fahrzeugen und der Reling so eng war, gingen die beiden nicht gemeinsam zu Boden.

Hubert schob sich seitlich zwischen Trecker und Fahrrädern hindurch und holte gleichzeitig sein Funkgerät hervor.

»Fried, sagst gschwind dem Sani Bescheid. I hab hier ’n Kranken an Bord. Sieht graislig aus.«

Kapitel 3

Wiebke und Tamme gingen auf die Terrasse. Man brauchte zwar eine Jacke, aber die Luft war herrlich, voller Meergeruch und von einer Klarheit, die Körper und Seele erfrischte. Tamme ließ sich ächzend auf einen Gartenstuhl sinken und fuhr sich stöhnend durch das gewellte schwarze Haar, das er von seiner Mutter geerbt hatte. Sie stammte aus der Stadt mit dem schönen Namen Drama im Norden Griechenlands, ungefähr in der Mitte zwischen Bulgarien und der Ägäis gelegen. Auch die Hautfarbe, die Wiebke an köstlichen Milchkaffee erinnerte, hatte er von ihr.

»Na, alter Mann, wird’s gehen, oder brauchst du Hilfe?« Wiebke legte ihm die Hände auf die Schultern und biss ihm sanft ins Ohrläppchen.

»Ich werde dir gleich, von wegen alter Mann …«

»Wieso, steht da doch«, flötete sie und deutete auf sein Shirt. Ich bin so alt, ich habe als Kind noch draußen gespielt, prangte in gelben Lettern auf schwarzem Stoff. Wiebke konnte Sprüche-Shirts nicht ausstehen, Tamme liebte sie. In diesem Fall kam ihr der Aufdruck sehr gelegen, um ihn aufzuziehen. Er lachte nicht und zog sie auch nicht auf seinen Schoß. Er schien wirklich richtig schlechte Laune zu haben.

»Haben die Kinder dir den letzten Nerv geraubt?«, fragte sie ihn.

»Ach was, die können zwar anstrengend sein, versauen einem aber nicht gleich den ganzen Tag«, entgegnete er düster.

»Oha, hat das jemand getan? Na komm, erzähl, was ist dir über die Leber gelaufen?«

»Wie kommst du denn darauf? Mir geht’s bestens!« Die Ironie tropfte geradezu von seinen Lippen. »Ich bin doch ein echter Glückskeks. Hansen aus der Verwaltung setzt mir einen Werksleiter vor die Nase, einen vom Festland auch noch. Dann kann ich das Denken ab sofort einstellen. Der muss ab jetzt sagen, wie der Hase hoppelt.«

»Einen was? Ich dachte, du bist Schwimmmeister und Badleiter und basta.«

»Dachte ich auch. Bisher. Bloß dass Hansen anscheinend Verwaltungsleiter werden will. Deshalb dreht er mal eben das gesamte Rathaus mit allem, was dazugehört, auf links. Dieser Werkstyp hat studiert, ist irgend so ein Bachelor oder Master oder wie das heute heißt. Mit anderen Worten: keine Ahnung von nix.«

»Wie gut, dass du keine Vorurteile hast«, neckte sie ihn. Aber es war einfach nichts zu machen, ihm war nicht nach Scherzen zumute. Und das sollte etwas heißen.

»Von Schwimmbadtechnik hat der doch nicht den kleinsten Schimmer. Der hat Ahnung von BWL und vielleicht auch von Technik allgemein, aber Filteranlagen und Wasseraufbereitung sind für den mit Sicherheit Fremdwörter.«

»Wieso hat Hansen ihn dann ausgesucht?«

»Weil er die Verwaltungsleitung haben will, sag ich doch«, brummte Tamme ungeduldig. »Der will schon mal sein Revier markieren, allem seinen Stempel aufdrücken. Ob’s dadurch besser wird oder nicht, spielt dabei keine Rolle.«

Wiebke versuchte ihn zu beruhigen. Sie massierte seine Schultern. »Ich kann ja verstehen, dass du skeptisch bist«, fing sie an, kam aber nicht weiter.

»Skeptisch ist gut.« Er stöhnte. »Apropos gut, hm, das ist echt gut. Nicht aufhören!«

Sie spürte, wie er sich unter ihren Händen ein wenig entspannte. »Hatte ich nicht vor.«

»Wenn jemand schon Penkwitz heißt, den kannst du doch nicht ernst nehmen. Und dann kommt er auch noch vom Kontinent, aus Duisburg, glaube ich. Der hat vom Leben auf einer Nordsee-Insel doch nicht mal ansatzweise eine realistische Vorstellung.«

»Was soll der denn genau machen?«, wollte Wiebke wissen, während sie Tammes verhärtete Muskeln knetete. »Ich meine, steht der auch am Becken und kümmert sich um die Wasserqualität, oder wie?«

Er lachte auf. »Nein, wo denkst du hin? Der Herr ist ein Schreibtischhengst. In feuchter Luft und bei Chlorgeruch kannst du ihn nicht artgerecht halten.« Sie musste grinsen. »Außerdem ist der ja nicht nur für uns zuständig, sondern für den gesamten Bäderbetrieb Nordfriesische Inseln, also von Sylt bis Nordstrand.«

»Dann hat Hansen ihn wohl kaum alleine ausgesucht und dir vor die Nase gesetzt«, gab sie zu bedenken.

»Nee, nicht alleine, aber maßgeblich.« Er wollte sich zu ihr umdrehen, hielt in der Bewegung inne und sog hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein. »Mann, ich hab mich aber auch verrissen!«

»Wohl eher verhoben, nehme ich an. Wahrscheinlich hast du wieder eine Schrankwand alleine durch die Gegend getragen oder die Kinder aus dem Schwimmkurs alle schön durch die Luft geschleudert.«

»Wir haben nur Pilot gespielt. Ganz kurz«, gab er kleinlaut zu.

»Ganz kurz.« Sie schnaufte. »Du meinst, jedes der vierzehn Kinder durfte ganz kurz Pilot sein, und du hast sie alle an Hand und Fuß durch die Luft gleiten lassen, während du dich um dich selbst gedreht hast.«

»Sehr gut erklärt, Frau Doktor. Das finden sie super«, sagte er, und sie hörte ihn lächeln.

»Deine Schultern nicht.«

»Ich wette, dieser Witz ist eingestellt worden, um Sparpotenziale aufzudecken. Und woran kann man am besten sparen? Am Personal.«

»Aber nicht bei euch. Du schlägst dich mit einer Teilzeitkollegin und einer Handvoll Rettungsschwimmern herum. Wenn ihr im Januar und Februar nicht wegen Wartungsarbeiten geschlossen hättet, könntest du nie Urlaub machen. Sehr attraktive Jahreszeit übrigens«, sagte sie.

»Für Leute, die Wintersport mögen, schon«, knurrte er. »Ich bin bloß froh, dass Nele bald kommt. Das ist ein echter Lichtblick.«

»Danke schön, sehr charmant«, sagte Wiebke betont beleidigt, gab ihm einen Klaps in den Nacken und beendete ihre Massage.

»Ein weiterer Lichtblick neben dir natürlich. Und neben dem Törtchen. Wenn ich meine drei Frauen nicht hätte, würde ich diesem Lachwitz was erzählen.«

»Ich befürchte, das wirst du trotz aller diplomatischen Bemühungen deiner zweieinhalb Frauen trotzdem tun.«

»Wer ist denn die Halbe? Nele bestimmt nicht.«

»Na, wer wohl, Krümel oder ich?« Sie warf ihm einen drohenden Blick zu.

»Krümel? Ich kenne niemanden, der so genannt wird. Oder meinst du etwa Törtchen?«

Eigentlich hätte Wiebke gleich bei ihrer ersten Begegnung merken müssen, dass Tamme Tedsen praktische Erfahrungen mit Kindern hatte, die weit über Schwimmkurse hinausgingen. Aber irgendwie hatte sie einfach nicht damit gerechnet. Bis zu dem Moment, als sie von Nele erfuhr, Tammes Tochter. Das Mädchen war der Grund dafür, dass Wiebke ein zweites Mal kurz davorgestanden hatte, einen Umzugswagen zu bestellen und die Insel für immer zu verlassen. Nicht Nele an sich oder die Tatsache, dass er aus einer früheren Beziehung ein Kind hatte, war ihr auf den Magen geschlagen. Wiebkes Tochter Maxi war schließlich auch nicht vom Himmel gefallen, da hätte sie das sehr muntere Ergebnis seines Liebeslebens kaum kritisieren können. Der Knackpunkt war die unbedeutende Kleinigkeit, dass er ihr nichts davon erzählt hatte. Wiebke hatte von einer Patientin erfahren müssen, dass Tamme Vater war. Ein Vertrauensbruch, mit dem sie sehr schlecht hatte leben können. Um ein Haar wäre es zwischen ihr und Tamme zu Ende gewesen, ehe es überhaupt so richtig beginnen konnte, doch dann musste Wiebke sich eingestehen, dass sie nicht ganz unschuldig an seinem Schweigen gewesen war. Mehr als einmal hatte sie ihm klargemacht, dass sie genug eigene Probleme hatte und nicht noch die eines Mannes zusätzlich haben wollte. Sie hatte von ihrer verkrachten Beziehung zu Maxis Vater Nick noch gründlich die Nase voll gehabt. Kein Wunder, dass Tamme, nachdem es sich anfangs nicht ergeben hatte, später nicht mehr den Mut gehabt hatte, ihr die Wahrheit zu sagen. Wie gut, dass er nicht der Typ war, der sich schmollend zurückzog und sie einfach gehen ließ. Er hatte ihr ganz schön den Kopf gewaschen, sich außerdem entschuldigt, dass er nicht offen zu ihr gewesen war, sondern die Existenz seiner Tochter verschwiegen hatte. Mit dieser Kombination hatte er sie schließlich gekriegt. Inzwischen dachten sie darüber nach zusammenzuziehen. Tamme bewohnte ein hübsches Haus ganz in der Nähe des Feldwegs. Bis zur Praxis wären es nur wenige Minuten Fußweg, und der Abstand zur Arbeit war womöglich sogar sinnvoll. Andererseits war es nicht dumm, sein eigenes Reich zu behalten. Wiebke war alles andere als scharf auf eine neue Beziehung gewesen, als sie auf die Insel gekommen war. Und nun schon gemeinsamer Tisch, gemeinsames Bett, gemeinsames Leben? Besser nicht.

»Moin, Renate!«, riefen Maxi und Wiebke wie aus einem Mund, als sie am nächsten Tag den kleinen Laden mit dem schönen Namen Bücherfuchs betraten.

Renate Fuchs, besser bekannt als Füchslein, strahlte die beiden an. »Moin, ihr zwei! Na, geht’s euch gut?«

»Klar, gupersut!«, krähte Maxi und lachte sich kaputt.

»Ich hoffe, diese Buchstabendreherei geht bald wieder vorbei«, meinte Wiebke und lächelte gequält.

Füchslein hatte dunkle Schatten unter den Augen. Der Stress der Existenzgründung hatte den Erholungseffekt ihrer Reha offenbar schon wieder aufgefressen. Das gefiel Wiebke ganz und gar nicht. Füchslein gehörte zu ihren ersten Patienten. Als sie sich kennenlernten, hatte sie, wie so viele auf der Insel, mehrere Jobs gleichzeitig. Als wäre das nicht schon zu viel, musste sie sich auch noch um ihren Vater kümmern, der ein Pflegefall war. Dabei hatte sie noch längst nicht den Verlust ihres Mannes verarbeitet, der bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Manche Menschen bekommen es aber auch knüppeldick, dachte Wiebke. Füchslein war so ein Mensch. Es war, als machte sich das Schicksal einen üblen Scherz daraus, ihr immer wieder noch ein Päckchen aufzuladen und zu warten, wann sie unter der Last zusammenbrechen würde. Mit dem Bücherfuchs hatte Renate sich einen Traum erfüllt und wirkte endlich glücklich. Der Laden war klein, aber zauberhaft eingerichtet. Neben Büchern, Postkarten und anderen schönen Dingen aus Papier gab es bei Renate eine Handarbeitsecke mit Wolle, kleinen Perlen und Schnüren und Strick- und Häkelnadeln. Sie hatte die passenden Bücher – von Anleitungen für Anfänger oder Fortgeschrittene bis zu Romanen, die etwas mit Handarbeit oder Wolle und Stoffen zu tun hatten – geschmackvoll zwischen die Knäuel und Nadeln dekoriert. Nicht zuletzt hatte sie ein Plätzchen geschaffen, an dem ihre Kunden immer ein Tässchen Tee oder eine Kaffeespezialität bekamen und in Ruhe lesen konnten.

»Was kann ich denn für euch tun?« Renate holte tief Luft und baute sich erwartungsvoll vor Wiebke auf. Sie hatte abgenommen. Das war im Grunde nicht schlecht, denn sie hatte in der Reha zugelegt und schon vorher das eine oder andere Kilo zu viel mit sich herumgetragen. Leider untermauerte der Gewichtsverlust Wiebkes Verdacht, dass Füchslein schon wieder auf den nächsten Zusammenbruch zusteuerte.

»Die junge Dame hier sucht ein Geburtstagsgeschenk«, erklärte Wiebke.

»Genau, Hilke hat nämlich Geburtstag, und ich bin eingeladen.«

»Das ist aber nett. Da finden wir bestimmt etwas.«

Gemeinsam schoben sie sich zwischen anderen Kunden hindurch zu der Ecke mit den Kinder- und Jugendbüchern.

»Das ist toll, das kenne ich«, rief Maxi und zog ein Buch aus dem Regal. Eine Dame ging an die Kasse. Touristin, das sah man von Weitem.

»Wir gucken einfach mal«, sagte Wiebke zu Füchslein. »Geh du ruhig erst mal kassieren.«

»Ja danke. Wenn ihr mich braucht …«

Während Maxi ein Buch nach dem anderen zur Hand nahm und jedes für das richtige Geschenk hielt, schaute Wiebke sich um. Es herrschte wirklich Hochbetrieb. Zwei Frauen fachsimpelten über die Qualität von Garnen, ein Mann hatte sich in eine Biografie vertieft und zapfte sich gerade eine Tasse Cappuccino aus der Hightech-Kaffeemaschine, die so aussah, als könnte man damit auch Kopien anfertigen oder sich an einen anderen Ort beamen. Überall standen Leute und schmökerten. Nur an der Kasse war nichts los, nachdem die Dame ihre beiden Postkarten bezahlt hatte.

»Der Laden brummt«, stellte Wiebke fest, als Renate wieder zu ihnen kam. »Für dich darf das Wetter so bleiben, oder?«

»Ja, das kann man wohl sagen.« Ihr Lachen überstrahlte die dunklen Schatten in ihrem Gesicht. »Ich bin so froh, dass ich den Schritt gemacht habe. Mein Bücherfuchs ist für die Pellwormer jetzt schon so was wie ein Anlaufpunkt, eine Institution. Hätte ich nie gedacht.«

In dem Moment betrat eine Mutter mit ihrem Sohn den Laden.

»Moin«, rief der Knirps laut und sehr fröhlich. Zielstrebig marschierte er in die Kinderbuchecke und baute sich neben Maxi auf. »Moin«, sagte er noch einmal und schenkte ihr ein Lächeln, das ihr in bummelig zehn Jahren das Herz rauben würde.

»Ich bin Emil.« Dann wandte er sich dem Regal zu, studierte höchst konzentriert das Angebot und betrachtete schon bald einen Titel eingehend. »Das gefällt mir irgendwie ganz doll«, ließ er seine Mutter ernsthaft wissen. Sie nickte nur und stöberte weiter in den Gartenratgebern. Nach einer Weile blickte der Knirps zu seiner Mutter auf und fragte: »Darf ich das haben?«

Diese Augen! Ich hätte schon verloren, dachte Wiebke schmunzelnd. Sie sah zu Renate hinüber, die auch gerade dahinschmolz.

»Natürlich«, gab seine Mutter ruhig zurück, »wenn du das von deinem Taschengeld bezahlst.«

Emil setzte eine zerknirschte Miene auf. »Doof, das habe ich grade nicht dabei.«

»Dann strecke ich dir das vor, und du gibst es mir zu Hause zurück.« Pädagogisch gesehen absolute Oberklasse. Sie schaffte das bestimmt nur, weil sie ihren Sprössling nicht eines Blickes würdigte, sondern sich literarisch gerade auf Biogemüse konzentrierte.

»Nein, das möchte ich eigentlich nicht«, sagte der Knirps jetzt nachdenklich und blickte von dem Kästner-Buch zu seiner Mutter und wieder zurück.

»Deine Entscheidung, Emil.« Jetzt lächelte seine Mutter ihn an. »Dann bleibt das Buch hier.«

»Aber ich hätte das so gerne. Und es passt so gut zu mir.«

»Ich hätte auch viele Dinge gerne und muss mir genau überlegen, wofür ich mein Geld ausgebe. Es geht immer nur eins, entweder kaufen oder sparen.«

Da stand dieser Junge, ein Buch in der Hand, das er auf keinen Fall aufgeben wollte, und sah so enttäuscht aus, dass man die Mutter auf der Stelle wegen seelischer Grausamkeit vor den Richter schleppen wollte.

Renate beugte sich zu ihm herunter und flüsterte: »Du hast aber auch ein Glück. Heute ist nämlich Erich-Kästner-Tag. Alle Jungs, die Emil heißen, dürfen sich heute ein Buch aussuchen.« Er sah sie skeptisch an. »Wegen Emil und die Detektive.« Sie deutete auf den Buchdeckel. Jetzt leuchteten seine Augen auf wie zwei Sternschnuppen, ehe sie verglühten. »Ich schenke es dir. Und nächstes Mal erzählst du mir, wie es dir gefallen hat.«

»Danke schön!« Wiebke hätte wetten können, dass Emil Füchslein um den Hals fiel. Tat er aber nicht.

»Danke, das ist aber nett«, sagte seine Mutter und sah ziemlich angesäuert aus. Wahrscheinlich fürchtete sie um den pädagogischen Effekt ihrer Standhaftigkeit. »Können wir denn auch eine Tüte haben?« Sie sah durch das Schaufenster nach draußen. »Es wird bestimmt gleich wieder regnen.«

»Natürlich.« Füchslein holte eine stabile Papiertüte, was ihr einen weiteren missbilligenden Blick der Mutter einbrachte. Die hatte offenbar die gewünschten Informationen über den Anbau von Zucchini und Tomaten gefunden und gelesen und verabschiedete sich, ohne etwas zu kaufen.

»Wenn man jemandem den kleinen Finger gibt«, sagte Wiebke leise, nachdem die beiden gegangen waren. »So, Maxi, wie sieht’s aus? Meine Mittagspause ist gleich zu Ende.«

»Ich nehme das hier!«

Wiebke ließ das Buch einpacken und bezahlte. Sie begann zu ahnen, wo Füchsleins Problem liegen könnte.

Zurück in der Praxis, vertiefte Wiebke sich in Füchsleins Krankenakte. Sie musste einen Aufhänger finden, mit dem sie Renate überzeugen konnte, sich noch einmal durchchecken zu lassen. Die Frau litt unter Fibromyalgie, einer Erkrankung, die ihr nicht nur fast permanent Schmerzen einbrachte, sondern sie unter Schlafstörungen und Erschöpfung leiden ließ. Sie musste noch besser auf sich aufpassen als gesunde Menschen. Wenn die Belastung, die ein eigenes Geschäft bedeutete, zu groß für sie war, brauchte sie Unterstützung. Nur warf der Laden am Anfang mit Sicherheit noch nicht genug ab, um jemanden einstellen zu können. Schon gar nicht, wenn Füchslein Bücher verschenkte und ihr Laden als kostenfreie Leihbücherei missbraucht wurde. Wiebke seufzte. Sie musste mit ihr sprechen. Wenn Füchslein mal wieder meinte, alles alleine bewältigen zu müssen, konnte sie ihren Laden früher oder später nicht mehr halten. Das wäre eine Katastrophe. In dem Moment klopfte es, und Corinna steckte den Kopf zur Tür herein.

»Kann ich den nächsten Patienten reinschicken?«

»Ja klar.« Wiebke legte die Akte beiseite. »Ist Sandra nicht da?« Normalerweise war Sandra diejenige, die Wiebke zuarbeitete, Corinna kümmerte sich ziemlich selbstständig um ihre Aufgabengebiete.

»Doch.« Sie zwinkerte Wiebke zu. »Aber ich wollte dir doch schnell Bescheid sagen, dass heute Abend GaBi bei Saskia und Jost ist. Achtzehn Uhr. Bist du dabei?«

»Ach, nicht bei Lulu und Jochen?«

Corinna schüttelte den Kopf, ihre kinnlangen gesträhnten Haare wippten. »Okay.«

Corinna klatschte in die Hände. »Ich freu mich!«

Hinter GaBi verbarg sich Garagen-Bier, ein lockeres Zusammentreffen, ein Klönschnack mit Bier, Sekt und ohne Essen. Die Nachbarn trafen sich in einer Garage – klar –, im Sommer auch mal auf einer Einfahrt davor. Meist fand das Ganze bei Lulu und Jochen statt, die keine Gelegenheit für eine Einladung ausließen. Während man es sich beim Grillen oder größeren Feiern gern in den Gärten, auf einer Terrasse oder im Winter natürlich drinnen gemütlich machte, war es ein ungeschriebenes Gesetz, dass ein GaBi eine Stehparty war, die mehr oder weniger zwischen Tür und Angel abgehalten wurde. Als hätte man sich zufällig getroffen und wollte auch nicht lange bleiben. Das hieß allerdings nicht, dass solche Treffen nicht Stunden dauern und feuchtfröhlich enden konnten.

Kaum hatte die Patientin das Behandlungszimmer verlassen, klingelte Wiebkes Telefon. Interner Anruf. Sandra.

»Ich habe hier Lutz von Hooge in der Leitung. Darf ich durchstellen?«

»Natürlich. Danke.«

»Moin, Wilma, na, alles fit?«

»Moin, Lars«, begrüßte sie ihn.

Er stutzte, dann lachte er. »Ach so, nee, du heißt ja gar nich Wilma. Oh, ich bin aber auch einer.«

Lutz arbeitete auf der Hallig im Gemeindebüro. Er war ein helles Köpfchen mit einem großen Herzen und einer ganzen Reihe von Talenten. Sich Namen zu merken gehörte eindeutig nicht dazu.

»Ich gebe dir noch neun Jahre, dann solltest du wissen, dass die Halligärztin Wiebke heißt.« Sie schmunzelte.

»Geil, das schaff ich.«

»Kann ich etwas für dich tun?«

»Jo! Du bist nächste Woche dran mit deiner Visite, ne?«

»Stimmt.«

»Könntest du die vielleicht vorziehen? Dem Hubert geht’s gar nich gut.«

Der Name sagte ihr nichts. »Bist du sicher, dass dein Hubert wirklich Hubert heißt? Oder meinst du vielleicht Hinrich oder Hein?«

Er lachte. »Nee, dieses Mal vertüdel ich nix. Hubert, der Fahrkartenkontrolleur von der Hilligenlei, weißt Bescheid?«

Jetzt dämmerte es ihr, der Bayer war noch nicht lange im Norden. Er kassierte die Gäste an Bord ab, die sich vor der Fahrt nach Hooge kein Ticket gekauft hatten.

»Der Sani meint, das is vielleicht ’ne Sommergrippe«, erklärte Lutz ernst. Wiebke konnte förmlich hören, wie er zögerte und nachdachte. »Heißt die eigentlich nur so, weil man die im Sommer hat, oder gibt’s da noch einen Unterschied zu der im Winter?«, wollte er dann wissen.

»Erst mal ist beides ein grippaler Infekt, insofern sind die Symptome und Behandlungen gleich. Verschwitzte Körper, die Zugluft ausgesetzt werden, dann trinken viele zu wenig …«

»Da sorgst schon für, dass das im Feldweg nich passiert, ne? Dass bei dir in der Nachbarschaft jemand zu wenig trinkt, meine ich.« Er lachte. Der Ruf bezüglich einer ziemlich ausgeprägten Feierlust in der kleinen Neubausiedlung war in weiten Teilen der Nordsee-Inselwelt und auf dem Festland legendär.

»Ausgetrocknete Schleimhäute durch Klimaanlagen«, fuhr sie fort.

»Ja, is gut, so genau will ich das gar nich wissen.«

Sie sah ihn vor sich, wie er vermutlich angewidert das Gesicht verzog. Schon das Wort Schleimhaut war zu viel für ihn. Sie würde nie verstehen, wie jemand, der so überempfindlich war, wenn es um Körperflüssigkeiten, winzige Wunden oder eben Schleimhäute ging, eine kleine Schafherde besitzen und versorgen konnte.

»Das zwingt das Immunsystem in die Knie und macht dich anfälliger für Infekte«, brachte sie ihre Erklärung zu Ende. Dann fiel ihr wieder ein, warum Lutz überhaupt angerufen hatte. »Schafft der Sani das nicht? Ich meine, ein Grippepatient …«

»Einer? Du bist gut. Mit Hubert sind’s jetzt schon drei, die mit Fieber im Bett liegen.«

»Fieber, Kopfschmerzen, schmerzende Knochen?«, wollte sie wissen.

»Jo, gerne auch in Kombination mit Kotzerei. ’tschuldigung, mit Erbrechen, meine ich natürlich. Und dazu schicke Hautausschläge. Eklig, sag ich dir.«

Wiebke stutzte. »Hautausschläge?«

»Weißt Bescheid?«

»Alle drei?«

»Na, ich hab mir nich alle ganz genau angeguckt. Das eine ist die alte Hansen, die willst lieber nich aus der Nähe sehen.«

»Pass auf, Lutz, ich schaue gleich mal in meinen Kalender. Wenn ich’s irgendwie einrichten kann, komme ich früher.«

»Jo, passt. Danke dir, Wiebke. Erst mol.«

Kurz darauf ging Wiebke aus der Praxistür heraus und zehn Schritte weiter durch die Tür zur anderen Haushälfte wieder hinein. »Na, Hausaufgaben fertig?«, fragte sie ihre Tochter.

»Ja, alles erledigt!«

»Prima. Hast du großen Hunger?«

»Nö, ich habe schon einen Apfel gegessen.«

»Dann schlage ich vor, wir gehen schnell rüber zu Saskia und Jost und essen hinterher, einverstanden?«

»Ist GaBi angesagt?« Wiebke nickte. »Toll, dann kann ich mit Tom, Katja und Kai spielen«, jubelte Maxi.

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Kapitel 2

Inselärztin Wiebke Klaus saß noch in ihrer Praxis und würde gleich Feierabend machen. Da es ungewöhnlich kühl für die Jahreszeit war, saßen die meisten Urlauber mit einem Buch in ihrer Ferienwohnung oder mit reichlich gutem Essen, Kaffee und Friesenwaffeln im Schipperhus, im Strandcafé oder einem anderen Lokal. Also waren Fahrradunfälle ebenso wenig zu erwarten wie Schnittverletzungen bei Wattwanderern. Einige Unverwüstliche waren sicher unterwegs, aber die Zahl blieb vermutlich überschaubar. Ruhige Tage wie diesen sollte man nutzen, schließlich fing die Saison gerade erst so richtig an.

Wiebke musste schmunzeln. War wirklich erst gut ein Jahr vergangen, seit sie und Tochter Maxi den Lärm und die schlechte Luft Berlins hinter sich gelassen und auf Pellworm neu angefangen hatten? Maxi war hier eingeschult worden, hatte mehr Freunde gefunden, als sie in der Großstadt je gehabt hatte. Sogar einen Ersatz für ihre ehemalige beste Freundin Claudia, die in der Nachbarschaft von Wiebkes Eltern im Teutoburger Wald lebte, gab es bereits. Hilke wohnte ganz in der Nähe von Wiebke und Maxi, nur einmal über die große Straße, die in Berlin glatt als Schleichweg durchgehen würde. Und Hilke war gesund. Maxi konnte mit ihr per Fahrrad die gesamte Insel erkunden, konnte mit ihr schwimmen gehen und herumtoben, alles tun, was Kinder im Erstklässleralter eben taten. Claudia dagegen hatte sie bei ihrer letzten Begegnung im Rollstuhl schieben müssen. Jedes Mal, wenn Wiebke daran dachte, krampfte sich ihr Herz zusammen, und sie bekam Schuldgefühle. Also lieber nicht darüber nachdenken.

Es war die richtige Entscheidung gewesen hierherzukommen, nicht nur wegen Claudia. Maxis Asthma war so gut wie weg, die Nordseeluft wirkte besser als jedes Medikament. Wiebke hatte im Feldweg, einem kleinen Neubaugebiet, in dem Praxis und Wohnung sehr praktisch in einem Doppelhaus untergebracht waren, viel mehr als nur neue Nachbarn gefunden. Es waren Freunde. In Berlin hatte man sich, wenn’s hoch kam, gegrüßt. Manchmal hatte sie erst nach Wochen bemerkt, wenn in einer Wohnung die Mieter gewechselt hatten. Hier aber war man füreinander da, achtete auf den anderen. Wie zum Beispiel Corinna. Sie war gelernte Arzthelferin und hatte in Wiebkes Praxis als zweite Kraft angefangen. Nicht nur, dass sie sich selbstständig um Blutabnahmen, das Wechseln von Verbänden oder das Versorgen kleiner Wunden kümmerte, als echtes Inselkind, wie sie sich selbst gerne nannte, hatte sie sich auch ausgiebig mit der gesundheitsfördernden Wirkung von Nordseeluft und Schlick beschäftigt. Und so bot die Praxis Klaus seit Neuestem Atemschulung und Schlickpackungen an, für die Corinna zuständig war. Die Vermietung ihrer zwei Ferienwohnungen hatte Ehemann Christian übernehmen müssen. Nach anfänglichem Protest, immerhin war er als Tischler gut ausgelastet, hatte er den Plänen seiner Frau zugestimmt. Der Bau eines großen Hauses inklusive Appartements war ein ziemlicher Kraftakt gewesen. Jeder zusätzliche Euro war also äußerst willkommen. Und mit einem Lehrling und einer Halbtagskraft funktionierte die Tischlerei ohne Probleme. Anfänglich hatte er sich allerdings mit dem Vorbereiten des Frühstücks und dem Putzen der Ferienunterkünfte schwergetan, doch nun ließ er jeden wissen, dass es keinen besseren Start in den Tag gebe als mit Frühstücksflocken nach Hildegard von Bingen. Auch über die besten Geräte für richtiges Feudeln, Saugen und streifenfreies Fensterputzen gab er liebend gern Auskunft. Christian besaß einfach alles, was einen Stecker hatte und satte Geräusche verursachte. Corinna und er hatten keine eigenen Kinder, obwohl sie perfekte Eltern wären. Wiebke war nicht sicher, ob es eine bewusste Entscheidung war.

Jedenfalls meinte Corinna immer: »Maxi ist unser Leihkind. Wir haben zusammen Spaß, verwöhnen sie, und wenn sie anstrengend wird, geben wir sie wieder ab. Das kannst du mit eigenen nicht machen.« Und dann lachte sie ihr helles Glöckchenlachen.

Zu der kleinen eingeschworenen Nachbargemeinschaft gehörte außerdem die quirlige Luise, genannt Lulu oder auch Lulu, der Luchs, weil sie ihre Augen und Ohren überall hatte. Zwar gab es auf Pellworm mehr Arbeit als genug, doch an Ganzjahresstellen, die man noch dazu als Mutter eines Kleinkindes ausfüllen konnte, herrschte nicht gerade eine große Auswahl. Aber es gab mehrere Teilzeitjobs, die erledigt werden mussten. Viele Insulaner, darunter auch Lulus Mann Jochen, hatten gleich mehrere davon. Dennoch war für Lulu nichts dabei gewesen. Also hatte sie sich Ende letzten Jahres selbstständig gemacht. SDL – Senioren-Dienst Lulu –, diese Aufschrift prangte seit ein paar Monaten in knallig violetten Großbuchstaben auf ihrem geräumigen Auto mit extra niedrigem Einstieg. Sie fuhr die alten Herrschaften zum Seniorennachmittag, erledigte Einkäufe für sie, brachte sie zum Hafen und holte sie dort wieder ab, las ihnen auf Wunsch auch einfach mal vor oder spielte mit ihnen Karten. Söhnchen Tom konnte sie meistens mitnehmen, die alten Leute waren hingerissen von ihm. Ehemann Jochen hatte seinen Job als Assistent des Hafenmeisters aufgeben müssen, denn Lulu spannte ihn ganz selbstverständlich mit ein, wenn es darum ging, im Haus oder Garten ihrer betagten Kunden etwas zu reparieren.

»Du bist jetzt mein Assi«, hatte sie ihn wissen lassen, »der Hafenmeister muss sich einen anderen suchen.« Widerspruch war zwecklos gewesen.

Wiebke war mehr als glücklich über diesen Service für Senioren. Obwohl sie erst gut ein Jahr hier oben lebte zwischen Norder- und Süderoogstrand, den anderen Halligen und dem Kontinent, wie Einheimische das Festland nannten, lagen ihr die Insel-Lüüd schon sehr am Herzen. Sie mochte ihre ebenso kantige wie herzliche Art und konnte sich schon jetzt vorstellen, wie schwer es für einen Menschen sein musste, aufs Festland zu ziehen, der Jahrzehnte auf Pellworm gelebt hatte. Alles war drüben anders, lauter, voller, schneller. Lulu sorgte mit sehr viel Seele und Engagement dafür, dass ihren Inselsenis, wie sie die alten Herrschaften nannte, das erspart blieb und sie in ihrer vertrauten Umgebung bleiben konnten.

Wiebke legte die Krankenakte von Bauer Jensen beiseite. Auch so ein Fall für Lulu, dachte sie, denn der alte Landwirt könnte gut und gerne mal Hilfe brauchen, gestand sich das aber nicht ein und schon gar nicht seinen Mitmenschen. Wenigstens heilten seine Prellungen gut, die er sich beim Sturz von der Leiter zugezogen hatte.

Ihr Telefon klingelte, auf dem Display erschien Lulus Name.

»Wenn man an den Teufel denkt«, sagte Wiebke.

»Ist ja ’ne nette Begrüßung.« Lulu klang ungewohnt angespannt.

»Alles in Ordnung?«

»Nee! Du musst sofort kommen. Ich bin bei Oma Mommsen. Sie ist gestürzt.«

»Oh nein, bin sofort da.« Wiebke legte auf und war im nächsten Moment aus der Tür.

Oma Mommsen war eine zauberhafte alte Dame mit mehr Falten im Gesicht, als es Straßen auf der Insel gab, und von geradezu winziger Statur. Sie lebte in einem kleinen Haus mit umso größerem Bauerngarten nahe der Bushaltestelle Tüterland und war Wiebke besonders ans Herz gewachsen. Nicht nur, weil sie trotz ihrer zweiundachtzig Jahre noch immer unglaublich lebendig und an allem interessiert war – sei es nun Politik oder Mode. Nein, Oma Mommsen hatte nicht unerheblich dazu beigetragen, dass Wiebke überhaupt noch auf Pellworm war und nicht schon nach den ersten Monaten das Handtuch geworfen hatte. Ihr Einstieg als Nachfolgerin des ebenso beliebten wie gefürchteten Inselarztes war nämlich alles andere als unproblematisch über die Bühne gegangen. Ausgerechnet Sprechstundenhilfe Sandra, eine im Grunde freundliche Person, die einen lebenslangen Kampf gegen ihr leichtes Übergewicht führte, hatte, unter dem Einfluss ihrer Mutter, Stimmung gegen die Neue gemacht und dafür gesorgt, dass Patienten sich nicht von ihr behandeln lassen wollten. Noch schlimmer war, dass Maxi zunächst keinen Anschluss gefunden hatte und von Vereinen, wie etwa einem Pony-Reitclub, abgelehnt worden war, nur weil sie Wiebkes Tochter war. Wiebke hatte nämlich den tödlichen Fehler begangen, eine andere Meinung zu haben als Sandras Mutter, die einmal Hebamme gewesen war. Und sie hatte diese Meinung auch noch laut ausgesprochen. Damit hatte sie im Grunde, ohne es zu wissen, ihre Verbannung unterschrieben. Neben Tamme, dem Schwimmmeister, der Wiebke gleich bei ihrer ersten Begegnung das Herz geraubt hatte, war die alte Frau Mommsen zur Stelle gewesen und hatte Wiebke beigestanden. Sie hatte Maxi sogar eine alte Pellwormer Tracht vermacht, die auf ihrem Dachboden sonst ohnehin nur zum Mottenschmaus geworden wäre, wie sie damals meinte. Für Maxi war diese Tracht ein Prinzessinnenkleid und ihr ganzer Stolz. Für Wiebke war es so viel mehr. Diese Tracht wurde traditionell nicht verkauft, sondern lediglich vererbt oder an sehr gute Freunde weitergegeben. Wer eins dieser schmucken Kleider besaß, zeigte, dass er akzeptiert war und dazugehörte.

Wiebke klopfte und betrat sofort das Haus. Auf der Insel wurde nicht abgeschlossen, es war üblich, dass Postbote oder Arzt einfach hereinmarschieren konnten. So auch bei Oma Mommsen.

»Moin, Oma Mommsen«, rief sie laut, denn natürlich wollte die kleine Frau mal wieder die Batterie ihrer Hörgeräte schonen und ließ die praktischen Helfer deshalb auf dem Nachttisch liegen, wo sie bereits mit einer beträchtlichen Staubschicht bedeckt waren. »Was machst du denn für Sachen?«

»Daran is man nur meine Tochter schuld«, schimpfte Oma Mommsen los. Ihre sonst so fröhlichen Augen verrieten, dass sie ordentliche Schmerzen und wahrscheinlich noch mehr Angst hatte.

Lulu schnitt eine Grimasse. »Moin«, sagte sie leise. »Ich weiß nicht, ob ihr Kopf auch was abbekommen hat, aber sie redet schon die ganze Zeit so ’n wirres Zeug.«

»Nee, nee, mein Kopp is ganz in Ordnung«, protestierte Oma Mommsen. Wiebke hatte nicht zum ersten Mal den Verdacht, dass sie nur an selektiver Schwerhörigkeit litt.

»Und wieso soll deine Tochter wohl daran schuld sein, dass du gestürzt bist? Sie ist doch gar nicht da. Was ist überhaupt genau passiert?« Wiebke hatte ihre Tasche neben dem braunen Sofa abgestellt, dessen Polster schon ganz blank gesessen war, und sah sich die Beine der alten Dame gründlich an.

»Na, sie hat doch gesagt, ich soll unbedingt zur Friseursche hin.«

»Aha«, machte Wiebke verständnislos, Lulu zuckte mit den Schultern. »Das kann jetzt ziemlich wehtun«, kündigte Wiebke an und versuchte das rechte Bein, mit dem Oma Mommsen nicht mehr auftreten konnte, leicht nach außen zu drehen. Weit kam sie nicht.

»Au!«, schrie die kleine Frau jämmerlich. »Willst mich um die Ecke bringen?«

»Entschuldigung. Nein, ganz im Gegenteil, ich würde alles tun, damit du mindestens hundertelf wirst. Trotzdem muss ich dich noch mal piesacken, fürchte ich.«

»Och nö, bitte nich!« Oma Mommsens Augen glänzten verräterisch.

Es tat Wiebke schrecklich leid, doch sie musste eine Fehldiagnose ausschließen. Sie klopfte leicht gegen die Ferse des betroffenen Beins. »Aua!«, kam es erneut von Oma Mommsen.

»Das hatte ich befürchtet.« Wiebke sah ihre Patientin ernst an.

»Was denn? Dat Bein muss nich gleich ab, oder?«

»Das nicht, dein Bein bleibt dran, aber ein Ersatzteil wird sich unter Umständen nicht vermeiden lassen.« Oma Mommsen riss die Augen auf. »Ich fürchte, du hast ganze Arbeit geleistet und das Hüftgelenk möglicherweise angeknackst. Ich möchte dich natürlich noch röntgen, aber ich bin mir ziemlich sicher.«

»Denn muss ich nach’m Kontinent hin?«

Wiebke nickte. »Ja, in der Klinik bekommst du ein schickes Hüftgelenk aus Metall.« Um die alte Dame, die jetzt wirklich verzweifelt aus der Wäsche guckte, abzulenken, wollte Wiebke wissen, was der Friseur denn nun mit dem Sturz zu tun gehabt hatte.

»Nix. Ich war ja nich da, ich wollte man erst. Darum hab ich Lulu angerufen. Und denn hatte ich den Termin und musste mich im Garten abhetzen.«

Damit war für Wiebke alles klar. Typische Oma-Mommsen-Logik: Sie war nicht etwa gestürzt, weil sie vor ihrem Termin mit Lulu, die sie zum Friseur bringen wollte, noch unbedingt in ihrem Garten wühlen und sich danach abhetzen musste, sondern weil sie überhaupt den Termin hatte machen müssen.

»Das kommt davon, wenn man mit über achtzig noch im Garten buddeln muss wie ein Maulwurf«, meinte Lulu. »Ich hab dir schon hundertmal gesagt, das kann Jochen dir abnehmen. Wenigstens das Grobe.«

»Nix! Dat is mein Garten, denn is dat auch meine Arbeit. Dat Grobe …« Sie schnaubte. »Dat Unkruut kannst nich grob wegreißen.«

»Das hast du nun davon«, fügte Lulu ungerührt hinzu. »In Zukunft wird immer jemand anders deine Gartenarbeit erledigen und das Unkraut ausreißen müssen. Damit ist jetzt ja wohl endgültig Schluss.«

Wiebke warf ihr einen warnenden Blick zu. Zu spät.

»Meenst dat?« Oma Mommsens Lippen begannen zu zittern, eine Träne kullerte ihr über die Wange und verlor sich irgendwo im Gewirr der tiefen Falten. »Denn könnt ihr mich gleich unter die Erde bringen«, sagte sie leise.

Es brach Wiebke das Herz, so traurig hatte sie die kleine Frau noch nie gesehen.

»Na, na, Oma Mommsen, daran wollen wir noch gar nicht denken.«

»Ich schon. Wenn ich nich mehr meine Kartoffeln pflanzen und betüdeln darf, keinen Kohl mehr ernten und am Ende womöglich nich mal mehr Pflaumenmus für ’ne ordentliche Friesentorte kochen darf, denn will ich nich mehr sein.«

Lulu und Wiebke sahen sich an. Was konnte man dazu nur sagen? Sie hatten keine Gelegenheit, lange darüber nachzudenken.

»Ich bin doch man nur so ’n dünner Hering«, fuhr Oma Mommsen leise fort. »Meine Gräten haben doch gar nichts auszuhalten.«

»Leider haben Menschen, die nicht sehr viel auf den Rippen mit sich herumtragen, ein höheres Risiko, weil sie nämlich meistens nicht genug Kalzium in den Knochen haben«, erklärte Wiebke, froh, sich an ihrem fachlichen Wissen festhalten zu können.

»Auch das noch. Och, das is aber gemein. Hätte ich mehr Waffeln und Eis genascht, hätte das nu gehalten, oder was?« Sie machte ein Gesicht, als trauere sie gerade sämtlichen Kuchen und anderen Köstlichkeiten hinterher, die sie sich ein Leben lang versagt hatte.

»Aber nein, so ist das nun auch wieder nicht. Ich wollte damit nur sagen, dass wenig Körpergewicht keine Garantie für stabile Knochen ist.« Wiebke lächelte sie an, in der Hoffnung, ihr wieder ein wenig Mut zu machen. »Grundsätzlich ist Zucker sehr ungesund. Wärst du nicht so oft schlau genug gewesen, darauf zu verzichten, hättest du vielleicht schon seit Jahren Diabetes oder irgendeinen anderen Mist.«

»Oder du wärst schwer wie eine Tonne und könntest dich nicht mehr bücken, um deine Karotten zu ziehen«, sagte Lulu, blähte die Wangen und hielt die ausgestreckten Arme vor sich, als müssten die einen gigantischen Bauch umspannen.

Wiebke musste schmunzeln. Lulus Versuch, die bedröppelte Patientin aufzuheitern, war zwar durchschaubar, aber auch sehr lustig. Selbst Oma Mommsen verzog die Lippen. Es sah jedoch nur kurz nach einem Lächeln aus.

»Darf ich nu ja auch nich mehr«, piepste sie, schluchzte und begann dann bitterlich zu weinen.

»Ach, Oma Mommsen!« Die beiden Frauen drückten sie abwechselnd an sich, wobei sie gründlich darauf achteten, das verletzte Bein nicht zu berühren oder zu bewegen.

Wiebke schielte zu Lulu hinüber, die sich eine Träne wegwischen musste. So hart, wie sie nach außen manchmal wirkte oder wirken wollte, so weich war sie innerlich. Wiebke schluckte, ihr ging es nicht besser.

»Nun mal eins nach dem anderen«, schlug sie sanft vor. »Mit einem neuen Hüftgelenk kannst du ziemlich schnell wieder gehen. Am Anfang natürlich mit Krücken, aber das wird schon. Du könntest dir von Jochen wenigstens das Mähen abnehmen lassen. Vielleicht könnte er dir sogar ein Hochbeet bauen.«

»Genau«, stimmte Lulu betont fröhlich zu. »Oder du suchst dir einfach eine andere Beschäftigung, eine altersgerechte, die du im Sitzen machen kannst.«

Oma Mommsen hatte ein Stofftaschentuch aus der Brusttasche ihrer Bluse genestelt und schniefte.

»Meint ihr denn, dass ich in meinem Haus bleiben kann? In so ’n Altersheim will ich nich, schon gar nich auf’m Kontinent. Denn guck ich mir lieber die Radieschen von unten an.«

»Eine Weile wirst du schon im Krankenhaus und in der Reha zubringen. Wenn es keine Komplikationen gibt, spricht aber nichts dagegen, dass du anschließend zurück nach Hause kommst«, versuchte Wiebke sie zu beruhigen. »Wie gesagt, eins nach dem anderen. Jetzt schaffe ich dich erst mal rüber in die Praxis zum Röntgen.«

Da Sandra und Corinna bereits Feierabend hatten, fand Lulu es völlig unsinnig, eine von ihnen aufzuscheuchen, nur um das Fliegengewicht Oma Mommsen in die Praxis zu transportieren.

»Ich helfe dir. So schwer kann das ja wohl nicht sein.« Wiebke holte die Krankentrage aus ihrem Fahrzeug, mit dem sie wohlweislich die paar Meter gefahren war. Wenn alte Menschen stürzten, kam man selten ohne Krankentransportwagen, von Wiebke liebevoll Kati genannt, zurecht. Diese Erfahrung hatte sie schon in Berlin machen müssen.

»Den Friseurtermin kann ich dann wohl absagen, was, Oma Mommsen?«, meinte Lulu, während sie die Patientin vorsichtig auf die Trage legten und in den KTW verfrachteten. »Echt jetzt, das hättest du auch einfacher haben können. Nächstes Mal sagst du einfach, dass du keinen Bock auf Friseur hast, anstatt dir das Bein oder die Ohren oder sonst was zu brechen. Abgemacht?«

Oma Mommsen nickte schwach und schaffte es sogar, ein ganz kleines bisschen zu lächeln.

Das Röntgenbild zeigte, was Wiebke vermutet hatte. Die Hüftgelenkpfanne war gebrochen. Glücklicherweise schien es nur ein einfacher Bruch zu sein und keine mehrfache Fraktur. Auch waren keinerlei Lähmungen oder Empfindungsstörungen zu beobachten. Nerven schienen also nicht verletzt worden zu sein. Immerhin.

Wiebke organisierte ihr telefonisch ein Bett in einer Husumer Klinik.

Als die alte Dame endlich versorgt und abtransportiert worden war, standen die beiden Nachbarinnen im Feldweg noch eine Weile beisammen.

»Ach Mensch, die Oma Mommsen!« Wiebke seufzte. »Ausgerechnet.«

»Wieso, wen hätte es denn lieber treffen sollen?« Lulu zog die Augenbrauen hoch.

»Du weißt schon, wie ich das meine. Sie ist so agil und immer voller Tatendrang. Sie wird besonders unter der Einschränkung leiden. Jemand, der den lieben langen Tag nur auf seinen vier Buchstaben sitzt, käme leichter damit klar.«

»Und würde wahrscheinlich trotzdem mehr jammern«, sagte Lulu. »Von meinen Inselsenis hockt übrigens keiner einfach nur rum. Ich habe denen eingetrichtert, dass sie eine Beschäftigung brauchen. Irgendetwas, das ihnen Spaß macht. Ich sag dir, ich nerve die so lange, bis die irgendein Hobby oder was Ehrenamtliches ausprobieren. Märchenonkel oder -tante kannst du auch sein, wenn du nicht mehr laufen kannst. Und wenn’s eher die Augen sind, dann machst du eben Malen nach Zahlen XXL.«

»Aha, und was ist, wenn beides nicht mehr so gut funktioniert?«

Lulu kicherte. »Dann suchst du dir so ’n Hobby wie Konrad.«

»Der Maulwurf, der bei Hinnerk Boll im Haus wohnt?«

»Genau der. Bisher war sein einziges Hobby seine Frau. Nachdem ich ständig rumgequakt habe, er müsse sich eine Beschäftigung suchen, hat er sich was ziemlich Spezielles ausgedacht.« Sie warf Wiebke einen vielsagenden Blick zu.

»Du machst es ja spannend.«

Obwohl es bereits spät war, leuchteten die hübschen Vorgärten noch in der Sonne, denn der längste Tag des Jahres ließ nicht mehr lange auf sich warten.

»Der hat sich vorgenommen, sämtliche Geschäftemacher mal ein bisschen gegen den Strich zu bürsten, die an den Silver Surfern und Best Agern verdienen wollen.«

»Was?« Wiebke verstand kein Wort. Das war doch keine Freizeitbeschäftigung. Für Konrad anscheinend schon.

»Er sagt, die machen Versprechungen, dass einem die letzten paar Haare zu Berge stehen. Deswegen will er die jetzt mal alle ordentlich auf die Probe stellen. Find ich gut.«

»Finde ich schräg«, konterte Wiebke.

»Dachte ich auch erst, bis er mir ein paar Beispiele aufgezählt hat, wie die Anzeige eines Gartenhaus-Anbieters, die er in einer Fernsehzeitschrift entdeckt hat. Die versprechen, ihre Schuppen in ganz Deutschland kostenfrei anzuliefern und zu montieren. Das probiert er jetzt aus.«

»Hm, das hat erstens nichts mit alten Leuten zu tun, sondern betrifft jeden, und ist zweitens ein ziemlich kostspieliges Hobby, wenn er alles bestellt, nur um zu testen, ob die ihre Versprechen einhalten.«

»Konrad meint, er guckt erst mal nach Waren, die er sowieso gerne hätte, und in Hinnerks Garten fehlt definitiv eine Hütte. Ansonsten will er auf ein vierzehntägiges Rückgaberecht achten, der Fuchs. Ich nenne das aktiven Verbraucherschutz.« Lulu griente breit.

Wiebke schloss kurz die Augen. Sie nannte das verrückt. Der vermeintliche Fuchs wohnte mit seiner Frau Roswitha seit letztem Jahr bei Tammes Onkel Hinnerk Boll, der aufgrund fortschreitender Demenz nicht mehr allein leben konnte. So wenig wie Konrad sehen konnte, war seine Frau in der Lage, sich zu bewegen. Glücklicherweise hatten sie ja noch die an Parkinson erkrankte Elvira im Haus, die die chaotische Versehrten-WG um Hinnerk vervollständigte. Eigentlich brauchten alle vier Hilfe, aber dank Lulus Einsatz kamen sie irgendwie zurecht. Noch. Wiebke wollte nicht weiter darüber nachdenken. Sie hatte gelernt, dass es klüger war, ein Problem erst dann anzugehen, wenn es unmittelbar vor der Tür stand. Sich schon vorzeitig Sorgen zu machen bedeutete, Zinsen für einen Kredit zu zahlen, den man eventuell nie aufnahm. Sie sah auf ihre Uhr. Gleich acht. Es wurde höchste Zeit, Maxi abzuholen. Sie war beim Schwimmtraining und bei Tamme auch anschließend bestens aufgehoben. Nur musste der sich um alle Badegäste kümmern und den Laden irgendwann dichtmachen. Wiebke wollte seine Geduld nicht überstrapazieren.

»Hoffentlich übertreibt er es nicht. Ich muss dann mal los, Maxi ist noch bei Tamme.«

Lulu machte keine Anstalten, sich in Bewegung zu setzen, sie war in Plauderstimmung. »Wie geht’s denn unserem griechischen Sahneschnittchen? Wir könnten alle mal wieder grillen oder so. Haben wir ewig nicht gemacht.«

»Das Sahneschnittchen ist nur halb griechisch. Lass ihn bloß nichts anderes hören. Er ist sowohl auf seine griechischen als auch auf seine friesischen Wurzeln stolz. Grillen ist eine gute Idee. Haben wir wirklich noch kaum gemacht.«

»Dass du dir unseren Sweety Tammolos gleich unter den Nagel gerissen hast …« Lulu zog eine Schnute. »Man könnte glatt neidisch sein.«

»Und das lässt du Jochen lieber nicht hören. Ehrlich, Lulu, du hast einen tollen Ehemann. Dir steht es überhaupt nicht zu, neidisch zu sein.«

»Wieso? Das eine schließt das andere doch wohl nicht aus.« Sie kam einen Schritt näher, sodass Wiebke zwangsläufig einen unverstellten Blick in ihr Dekolleté hatte. »Jost hat mit Saskia ja wohl auch eine tolle Frau«, flüsterte sie und ließ den Satz wirken.

»Was willst du mir sagen, Lulu?« Wiebke verlor die Geduld, sie konnte Klatsch und Tratsch nicht gut leiden. Gerüchte wurden ausgeschmückt und verwandelten sich viel zu leicht in handfeste Behauptungen, die wie Schneckenschleim an einem haften blieben. Auf einer kleinen Insel wie Pellworm, wo sich alles in Windeseile herumsprach, noch mehr als in einer Großstadt. »Meinst du etwa, Jost schielt nach anderen Mädels?«

»Ich hab da was mitgekriegt. Mit den beiden stimmt was nicht in letzter Zeit. Irgendwas ist da faul im Staate Dänemark.«

»Wie gut, dass wir ein paar Kilometer südlich leben.«

»Witzig, echt!«

»Gute Nacht, Lulu!« Wiebke ließ sie stehen und wollte gerade in ihren Kati steigen, um Maxi abzuholen, als ein Mini um die Ecke bog. Tamme!

Wiebke atmete auf, als sie ihre Tochter aus dem Wagen hüpfen sah. Nun brauchte sie sich nicht extra auf den Weg zu machen,

»Hallo, Mami, ich hatte Trimmschwaiming.« Sie flog in Wiebkes Arme.

»Hallo, Krümel!« Wiebke erntete ein Augenrollen. »Entschuldigung. Hallo, Maxi! Was hattest du?«

»Trimmschwaiming!« Sie kicherte.

Auch Tamme war ausgestiegen, kam zu ihr herüber und gab ihr einen Kuss. »Buchstabendreher. Ist die neueste Masche«, erklärte er schmunzelnd.

»Genau, Schwimmtraining – Trimmschwaiming. Ist doch klar«, rief Maxi und lief zur Tür. »Hunger!«

»Hunger, Durst, Pipi«, kommentierte Tamme und folgte Wiebke ins Haus.

Wiebke verzog das Gesicht. »Ich dachte, aus dem Alter ist sie raus.«

Während sie das Abendbrot auf den Tisch stellte, erklärte Tamme ihr, wie die Buchstabendreherei angefangen hatte. »Eins der Kinder hat Wellporm statt Pellworm gesagt, damit ging’s los.«

»Wie gut, dass es nicht Pellworn heißt«, sagte Wiebke grinsend.

»Woran du wieder denkst …«

»Wieso, was ist denn an Wellporn lustiger als an Wellporm?«, wollte Maxi wissen, die gerade vom Händewaschen zurückkam.

»Ist beides lustig«, antworteten Wiebke und Tamme wie aus einem Mund.

Wie immer nach dem Schwimmen schaffte Maxi es gerade noch, eine Scheibe Brot, eine Tomate und ein bisschen Gurke zu essen, ehe ihr schon am Tisch beinahe die Augen zufielen. Niemand brauchte sie ins Bett zu schicken, sie ging gerne freiwillig.

»Nute Gacht«, murmelte sie, kicherte noch einmal und verschwand.