Die Liebe ist ein gelber Pfeil, der nach Westen zeigt - Franz Hirmer - E-Book

Die Liebe ist ein gelber Pfeil, der nach Westen zeigt E-Book

Franz Hirmer

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Beschreibung

Aus einer Kundenbewertung: Absolut lesenswert! Habe mit dem Autor gelacht und geweint. Jakobsweg pur. Der Autor findet Worte, die viele von uns denken, aber keiner von uns sagen kann Nun... Der Untertitel des Buches lautet: "Ein Jakobsweg Lesebuch". Und ein Lesebuch soll es auch sein. Ein Lesebuch für alle, die sich auf diesen Weg einlassen oder sich auf ihn einlassen wollen. Ein Lesebuch für Menschen, die fühlen und die wissen, was dieser Weg mit ihnen machen kann, wenn sie es nur zulassen. Sehr emotional erzählt der Autor seine Geschichte. Er erzählt uns von seinem Weg durch Spanien, der eigentlich nur ein langer Spaziergang werden sollte. Ein Spaziergang, der sich aber immer mehr zu einer Reise in das Innere seiner Seele verwandelt. Ein Spaziergang, auf dem er irgendwann beginnt, den Sinn seines Lebens zu suchen: Er erzählt von einem kleinen Bauernhof mitten in der Oberpfalz. Er erzählt von den siebziger Jahren. Von Arbeit ohne Ende. Die Mutter tot. Zwei Brüder, die nicht helfen. Laute Musik und heiße Sommer. John Lennon, James Dean und eine Schule, die niemals eine Schule war. Und mittendrin ein Leben, das aus all dem nur raus wollte. Einfach nur ausbrechen. Dazwischen Geschichten, die der Weg dir schreibt. Begegnungen, die unvergesslich sind. Für die nur Gott gerade stehen kann und für die es oft keine Erklärung gibt. Begegnungen, die glauben lassen. Am Ende erkennt er, dass jeder Schritt einen Sinn hat. Dass jeder einzelne Schritt auf diesem Weg ein Wunder ist. Und dass sechs Kilo Gepäck mehr sein können, als ein ganzer Palast voller Schätze. Darum lies dieses Buch und tauche ein in den Jakobsweg. Zieh meine Schuhe an und geh an meiner Seite. Ich zeige dir die Wunder des Camino!

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Inhalt:

Vorwort

Wie schreibt man ein Buch?

So wie ein Fluss ohne Ziel

Der Jakobsweg

TAG 1

Flughafen Düsseldorf

TAG 2

Laredo

Ein Boot, zwei Freunde und der Weg nach Noja

TAG 3

Der Abschied

Padre Ernesto und ein Gott, der nirgends wohnen will

TAG 4

Der Camino ist ein Kampf

Dein Name ist Francisco!

TAG 5

Adalbert Stifter und der schwarze Hund

Der Mann, der den Hut vor mir zog

Verschlossene Kirchen und ein Freund

TAG 6

Dieter und die Krokodile

Myrtenglück

TAG 7

Das Kälbchen und der Hautabzieher

Du wirst es immer wieder tun

Der Zombie und sein Quasimodo

TAG 8

Manuel

Inge und das letzte Lied der Beatles

Für meinen Sohn, der Blumen mag

Astorga!

TAG 9

Sommermorgen

Ein Abend mit Edith Piaf

Der Schlüssel des Camino

TAG 10

Die Sage der Blumen

Heute will ich eine Türe schließen

TAG 11

Ich bin ein Esel

Als Ponferrada meinen Hut fraß

Wie Knochen in der Sonne

Die Nacht von Villafranca

TAG 12

Am Anfang steht immer die Vergebung

Freiheit, Stolz und Trabadelo

TAG 13

Der dämliche Hund, der ein Esel war

Hartmut

Glory Days!

Hardcore!

TAG 14

Die Kirche des Elias Sampedro

Ulla kommt!

TAG 15

Die Mühlen des Camino

Das Kreuz und der Regen

TAG 16

Der Klobolobb Zwerg

Sach ma, kannste lesen?

Katja

Die Toten und die Lebenden

TAG 17

Portomarin

Der Mann, der falsch herum ging

Susanna!

TAG 18

Stiefel aus Blei!

Peter und die Schweine

Immer diese Sportskanonen

Tausend tote Kraken und ein Pilger ohne Ziel

TAG 19

Plaza de Convento, Melide

Zehn Geschichten, ein Fluch und tausend Tränen

TAG 20

Der Teufel und der Jakobsweg

So wie einer, der ertrinkt

TAG 21

Elf Kilometer Freundschaft

Der Berg der Freude

Vino Tinto

TAG 22

Lavacolla

Pamplona

Papavero

Nachtrag

Erklärungen

Kommt mit! Und geht an meiner Seite! So werdet ihr Flügel haben, wie die Adler! Und aufsteigen in den Himmel!

(Aus einem Herbergsbuch)

Vorwort:

Wenn in dir ein Feuer brennt und du ausgedehnte, spanische Landschaften vor dir siehst. Landschaften, die mit einem goldenen Pfad durchzogen sind. Einem Pfad, wie es ihn sonst nirgendwo auf dieser Erde gibt. Wenn du den Wind spürst, der, vermischt mit dem Geruch von Steinen, Gras und trockenen Kuhfladen, förmlich durch dein Gesicht „fließt“... Wenn über dir eine Sonne leuchtet, die so unbarmherzig und so heiß ist, wie sie nur in Spanien sein kann... und du bei jedem Schritt, den du tust, ein Knirschen unter dir hörst... Ein Knirschen von Steinen, das dir durch und durch geht. Das durch deine Beine strömt... durch deinen Körper... durch deinen Geist... wo es sich sammelt und dir einen Kloß im Hals bildet. Einen Kloß, den du nicht mehr runterschlucken kannst, weil du sonst vor lauter Freude nur noch schreien willst... Dann bist du da! Dann weißt du, was der gelbe Pfeil bedeutet! Dass er ein Symbol ist! Ein Symbol für diesen einen, für diesen wahren Weg. Ein Symbol für ein neues Leben.

Ich bin den Weg gegangen. Nach Santiago de Compostela. Über fünfhundert Kilometer weit. Zu Fuß. Am Anfang wollte ich nur spazieren gehen, so wie damals, als ich als junger Mann durch die Berge zog. Doch es kommt immer anders, als man denkt. Und schon am dritten Tag durfte ich eine Pforte durchschreiten, von der ich nicht einmal gedacht hätte, dass es sie gibt. Und von da an wurde mein „Spaziergang“ zu einer Reise in das Innere meines Lebens.

Liebste Papavero. Ein Buch will ich dir malen. Mit den schönsten Farben, die ich fand. Ein Buch, voll mit Bildern und Gefühlen. Voll mit Liebe und mit Leben. Ein Bilderbuch. Ein Zauberbuch. Ein Seelenbuch. Darin zu lesen. Darin zu sehen. Und es zu verstehen. Denn dieser Weg... er ist ein Wunder. Er ist wie „Leben“, das man trinken kann. Es schöpfen... aus einem Brunnen in Spanien.

Dieses Buch ist für dich, Dora. Denn ohne dich hätte ich den ersten Schritt wohl nie getan.

Die Liebe ist ein gelber Pfeil, der nach Westen zeigt

oder:

Nur wer den Blumen Farben gibt, der kann so sein wie du

An der östlichen Seite der Kathedrale von Santiago de Compostela steckt in einer Mauerspalte ein kleiner, vergilbter Zettel. Gefaltet und fast unsichtbar wartet er dort auf das Ende aller Dinge. Geschrieben mit einem dünnen, schwarzen Stift, stehen darauf folgende Worte:

Lieber Gott

Wenn mein Leben einmal vorbei ist und ich sterbe, dann bitte ich dich... Lass meine Seele nicht einfach so in den Himmel hinauf fahren. Nein. Bitte gib ihr einen Weg. Einen Weg, wie diesen. Ich ging von Laredo bis hierher.

Franzisco, im Jahre 2018

Wie schreibt man ein Buch?

Edith Piaf hat einmal gesagt: „Wenn ich auf die Bühne gehe, dann ziehe ich mich nackt aus. Ich reiße mir die Seele aus dem Leib und werfe sie in das Publikum. In der Hoffnung, dass sie sie mir wiedergeben.“

Nackt ausgezogen hat sie sich wohl nie. Da oben, auf ihrer Bühne. Das war nur so symbolhaft gemeint, glaube ich. Aber... das mit der Seele... ich glaube fast, das stimmt und ich frage mich, ob der Spruch wohl auch für diejenigen gilt, die ihre Geschichten aufschreiben? Ich weiß es nicht. Muss man sich nackt ausziehen, um zu schreiben? Muss man seine Seele und seine tiefsten Gedanken in das Publikum werfen, um sie zu offenbaren? Ohne ein Wenn und ohne ein Aber? Ja? Muss man?

Nun... wenn es aber möglich ist, so zu schreiben, dann doch wohl hier. Mitten in Spanien. Mitten in Galizien und mitten auf dem Weg. Und verzeih mir bitte... denn, ja... in manchen Passagen des Buches stehe ich nackt vor dir und erzähle dir meine Geschichte, ohne sie zu beschönigen...

Es soll auch keine Wegbeschreibung sein, die du hier zu lesen bekommst. Kein: „Ich ging dann nach links und dann nach rechts und dann wieder geradeaus...“ Nein... Eher ein Bericht. Ein Bericht über meinen Weg. Über den Weg nach Santiago. Ein Bericht über das, was mir dabei widerfuhr und über das, was ich erleben durfte... Ich werde dir von meiner Seele erzählen. Von meinen Gedanken. Von meiner Liebe und ich werde versuchen, dir zu sagen, warum ich so weit ging. Warum und wofür. Ja... auch das sollst du wissen und es verstehen... und ganz zum Schluss, da soll es eine Liebeserklärung sein. Diesmal aber nicht für dich, Papavero. Nein... diesmal soll sie für diesen Weg sein. Für diesen einen, für diesen wahren Weg. Denn dieser Weg... er ist ein Wunder. Ja, Papavero! Ich habe ein Wunder erlebt. Zweiundzwanzig Tage lang.

So habe ich dieses Buch geschrieben. Für dich... und nur für dich allein. Bevor ich anfange, möchte ich dir sagen: Lies es nur, wenn du es willst. Manchmal brauchst du etwas Mut, um auf die nächste Seite zu blättern... Hin und wieder wirst du mit mir lachen und bestimmt wirst du mit mir weinen... Denn ja... Es ist nicht nur ein Buch, Papavero. Nein... Es ist ein Leben. Ein ganzes Leben. So schließ die Zeilen und klapp die Seiten zu, wenn du dich fürchtest, oder lies es ganz. Es ist alleine deine Entscheidung. Höre mittendrin auf, oder verschlinge es... Wie du willst. Du kannst auch Teile davon überspringen. Gerade so, wie es dir in den Sinn kommt. Denn dieses Buch ist so, wie der Camino ist. So, wie dieser Weg. Es ist die Entscheidung eines jeden selbst.

Hier ist mein Weg. Hier ist mein Leben... und hier ist meine Seele. Gib sie mir wieder, wenn du sie nicht mehr brauchst.

So wie ein Fluss ohne Ziel

Wer Schmetterlinge lachen hört

der weiß, wie Wolken schmecken.

Der wird im Mondenschein, so ungestört

von Furcht, die Nacht entdecken.

Der wird zur Pflanze, wenn er will

zum Stier, zum Narr, zum Weisen.

Und kann in einer Stunde

durchs ganze Weltall reisen.

Der weiß, dass er nichts weiß

wie all die anderen auch nichts wissen.

Nur weiß er, was die andern

und auch er selbst noch lernen müssen.

Wer Schmetterlinge lachen hört

der weiß, wie Wolken schmecken.

Der wird im Mondenschein, so ungestört

von Furcht, die Nacht entdecken.

(Novalis - 1772 – 1801)

Drukpa Rinpoche hat einmal gesagt: „Das Leben ist ein Fluss“ und ich glaube, da ist was dran. Wenn das Leben aber ein Fluss ist, dann war mein Leben für lange Zeit ein wilder und reißender Strom, so wild und so ungestüm war ich. So voller Drang und voller Zorn. Wollte immer nur geradeaus und immer nur der Erste sein. Machte vieles von dem kaputt, was ich eigentlich gut machen wollte. Ich sah es... und ich wusste es... und ich konnte es doch nicht anders tun. Den rechten Mut dazu, mich zu finden, mich zu ergründen und mein Leben zu verändern, den fand ich damals nie. Ich weiß noch gut, dass ich zu jener Zeit dachte, es gäbe niemanden, der mich richtig verstehen will.

Dabei war ich es, der sich selbst nicht verstand. Wäre ich zu dieser Zeit ein Fluss gewesen, so war es mir, als ob ich einen Berg hinauf floss. Ja! Hinauf! Und nicht hinunter. Der Berg aber wurde immer höher und höher und hörte niemals auf, so dass auch ich niemals aufhörte, gegen diesen Strom zu fließen. Mir kam es bald so vor, als ob ich immer wieder über die Ufer trat und vieles von dem zerstörte, was in meinen Wegen lag. All das aber geschah... weil ich ein Fluss war. Ein Fluss ohne ein Zuhause. Ohne ein Bett und ohne ein Ziel. Bis diese eine Frau in mein Leben kam... und ihr Name ist Dora und genannt wird sie „Die Papavero, die Mohnblume“. Sie aber watete in meine Gewässer und zerschlug die Steine, die in mir waren. Zerschlug sie und ebnete mir ein Bett, so dass ich anfing, wie ein Fluss zu sein und wie ein Fluss zu fließen. Manchmal aber, da nahm sie einen der Steine und ließ ihn ganz... legte ihn nur anders hin, so dass mein Fluss ein klein wenig anders floss. Das nannte sie dann: „Mich in das Leben schubsen“... und ich ließ es geschehen. Denn sie kannte meinen Geist bald besser als ich... und so kam es, dass dieses „schubsen“ meist nur in diese eine Richtung ging, die ich selbst schon so lange gesucht habe.

Der Fluss aber fing an, zu leben und Papavero lernte mir das Gehen, das Schwimmen und das Atmen. Sie lernte mir, wie man träumt und wie man die Wirklichkeit erträgt. Wenig zu wollen und viel zu erreichen. Aber als ich all das konnte, da lernte sie mir... das Sehen, das Hören und das Leben... und ich... ich war ein gelehriger Schüler. Von nun an war alles wie ein Traum... und ihr Name ist Dora... und genannt wird sie „Die Papavero, die Mohnblume“.

Der Jakobsweg

Nun... mit dir fing alles an, aber eigentlich gab es da noch mehr... und darum lass es mich erzählen: Als ich zwölf war, sah ich in unserem Fernsehgerät einen Film, der zwar nicht sehr lange dauerte, der mich aber fesselte, wie kein anderer.

Es ging um einen Pilgerweg in Spanien, der in Vergessenheit geraten war. Nur ein paar Menschen kannten ihn noch und noch weniger versuchten, ihn zu gehen. Bald aber würde er für immer verschwunden sein, sagten sie damals. Nur ein kleiner Pfarrer aus Galizien, dessen Kirche sich auf einem Berg befindet, der würde sich noch gesellen: Er würde im ganzen Land gelbe Pfeile an die Wände schmieren. Wie ein Symbol. Wie ein Zeichen. Wie einen Wegweiser. Damit die Menschen, die diesen Weg noch suchen, ihn auch finden können. Den heiligen Weg nach Santiago de Compostela.

Was ich aber damals auf dem Bildschirm sah, das betörte meine Sinne. Denn ich sah einen König, der niederkniete, um als ein „Einfacher“ wieder aufzustehen. Einen König, der sein Schwert zur Seite legte, um einen Stecken zu nehmen. Damit er alleine und ohne Hilfe in die Heilige Stadt gehen kann. In die Stadt, die man noch heute „Das Feld der Sterne“ nennt. Nach „Santiago de Compo Stela“.

„Herr, als ein König knie ich nieder... und als ein Einfacher steh ich wieder auf. Gib mir deinen Segen und halte deine Hand über mich. Denn du bist mein Hirte und führest mich auf grüne Auen.“

Ja... der erste Pilger war ein König und sein Name war Alfonso... und ich wusste... irgendwann will auch ich diesen Weg finden und irgendwann will ich ihn gehen. Drei Wochen später starb meine Mutter. Als ich zum ersten Mal allein vor ihrem Grabe stand, da sah ich Santiago vor mir. Und so versprach ich ihr, dort hinzugehen und für sie zu beten.

Mein Leben aber verlief zunächst ganz anders und der Gedanke an den Jakobsweg rutschte bald in das Bodenlose. Ja... ich erinnere mich noch gut. Ich wurde ein Mann... und ich tat die Dinge, von denen die Männer glauben, dass sie diese Dinge tun müssen, wenn sie ein „Mann“ sein wollen. Ich baute ein Haus und ich pflanzte Bäume drum herum. Die Hälfte meiner Zeit bestand aus der Arbeit für mein Haus... und die andere Hälfte aus der Arbeit für einen fremden Herrn.

Mein Kopf war damals angefüllt mit unwichtigen Dingen, die mir unwichtige Clowns in meine unwichtigen Gedanken geflüstert haben. So war ich also viel zu schwach und viel zu unerfahren, um diese Dinge zu erkennen. Ich gab mich ihnen hin und ging den falschen Weg. Im Streben danach, so zu sein, wie die Clowns sind. Unwichtig und dumm. Und wieder war ich ein Fluss, der abermals in die falsche Richtung floss.

Dann kam ein Buch auf den Markt. Ein heute sehr bekanntes Buch. Von Hape Kerkeling. Welches eine große Reise beschreibt, die quer durch Spanien bis nach Santiago führt. Beschrieben in lustigen und tiefgründigen Lettern war es plötzlich da. Ein Buch über den Jakobsweg. Es wurde ein Bestseller und auf einmal hatte jeder diesen Gedanken in sich. Diese Idee. Diesen „Jakobsweg“ zu gehen. Tausende strömten damals aus, um das zu tun, was ich schon fast vergessen hatte. Nun... was soll ich dir sagen? Auch ich habe dieses Buch gelesen. Viel später. Als ich es gebraucht und zerlesen auf einem Flohmarkt fand. Damals war ich fast vierzig Jahre alt und es kam alles wieder. Der Weg. Spanien. Santiago... und vor allem... meine Mama. So wuchs in mir ein zweites Mal dieses Verlangen. Ein Verlangen nach dieser Sehnsucht... nach dem Gefühl, ein solches Abenteuer zu wagen und diesen Weg zu gehen. Dass er ein Wunder ist, wusste ich damals noch nicht. Es sollten noch weitere zehn Jahre vergehen, bis ich diesen Weg dann wirklich fand.

Nun... seit dem Tag am Grab meiner Mutter sind über vierzig Jahre vergangen und aus dem „irgendwann“ ist ein „jetzt“ geworden. Just in diesem Moment sitzt der kleine Junge, aus dem äußerlich ein nicht zu großer, etwas beleibter, älterer Herr mit einem „Drei-Tage-Bart“ geworden ist, in einem Flugzeug nach Bilbao, um den ersten Schritt zu tun. Um dort zu knien, wo einst der erste Pilger kniete. Weil er genauso wie dieser einen Weg gehen will. Geborgen in Gottes Hand... und im Andenken an seine Mutter.

Papavero. Jetzt sitze ich hier im Flugzeug neben dir und du schaust mir zu, wie ich diese Zeilen schreibe. Noch habe ich keinen Gedanken daran, dass es einmal ein Buch werden soll, aber an diesem Tag, da habe ich alles aufgeschrieben. All diese Gedanken und all diese Gefühle. Ich schließe meine Augen zu und denke an dich. Denke daran, wie du selbst diesen Jakobsweg gegangen bist... vor mehr als zehn Jahren... weißt du noch? Wie du mir davon erzählt hast? So oft..? Von diesem „Wunder“, das dort unten lebt?

Denn ja... vor etwa zehn Jahren, da saß eine mir noch gänzlich unbekannte Frau ängstlich und voller Zweifel in einem Flugzeug nach Madrid und wusste weder, ob es das Richtige war, was sie da tat... noch wusste sie ob dem, was sie auf dem Jakobsweg erwarten würde. Du warst es, Papavero. Denn zehn Jahre vor mir bist du selbst diesen Weg gegangen. Ganz allein und unerfahren. Voll der Angst, was nun kommen würde und voll der Angst, was danach sein wird.

Mit wenig Geld in deinen Taschen und einem alten Rucksack voller Zeug. Vollbeladen mit deinem Mut, der zu diesem Zeitpunkt wohl nicht sehr viel größer war, als die kleine Tasche, die du umhängen hattest. Ja, es stimmt... Mit geballten Fäusten und fast neuen Schuhen an ihren Füßen hat sie sich damals aufgemacht... ihren Fluss zu suchen... ihn zu finden... ihn zu richten... und die Steine, die in ihm sind, zu erkennen. Gebeutelt vom Leben und vom Schicksal wusste sie damals nicht mehr weiter... und das einzige, das sie wusste, war, dass etwas geschehen musste. Etwas, das ihr half, weiter zu machen. Etwas, das die Ketten in ihr sprengen soll... Und so fing sie an, zu gehen, um die Steine zu lesen und ein paar davon zu zerschlagen.

Und sie ging... um ihr Leben.

TAG 1

Mittwoch 15. August 2018:

Die ganze Nacht leichter Regen. Am Morgen klart es auf. Der Himmel über Deutschland ist kalt und grau. Dora und ich fahren mit dem Auto nach Nürnberg und fliegen von dort aus über Düsseldorf nach Bilbao.

Flughafen Düsseldorf

Jutta und ich sind seit zwei Uhr Nachts unterwegs. Wir sitzen in der Abfertigungshalle des Düsseldorfer Flughafens und warten auf den Anschlussflug nach Bilbao. Der Flug verläuft reibungslos und die spanische Halbinsel empfängt uns mit einem strahlend blauen Himmel. Immer mehr Zweifel kommen jetzt in mir auf. Die Euphorie der letzten Tage verwandelt sich in einen Brei aus Ernüchterung und Gleichgültigkeit, der sich langsam in meine Seele frisst. Wieder und wieder packen mich die Zweifel. Ich habe Angst vor dem, was nun kommen soll. Fürchte mich vor dem, was ich hier machen will. Ohne Dora bin ich sowieso verloren... Der Plan ist schnell erklärt: Dora hat sich in einer Herberge beworben, um dort zu arbeiten. Drei Wochen lang wird sie nun in der Stadt Pamplona leben. Direkt am Jakobsweg. Dort wird sie helfen, die Pilger zu versorgen... In dieser Zeit werde ich den Jakobsweg gehen. Den „Camino del Norte“. Wenn Dora mit dem Herbergsdienst fertig ist, wird sie in einen Bus steigen und zu mir kommen. Nach Santiago... das war der Plan.

Die ersten Schritte auf spanischem Boden verstärken in mir dieses Gefühl des Zweifels nur noch mehr. Erst als Dora und ich mitten in Bilbao aus dem Bus gespuckt werden, regte sich in mir so etwas wie eine „Neugier“ auf die kommenden Tage. Die Stadt ist laut und hektisch. Trotzdem einladend, freundlich und geordnet. Uralte Paläste schmiegen sich hier an moderne Bauten. Tausend Epochen wirbeln durcheinander. Trotzdem... alles passt irgendwie zusammen. Ist harmonisch und durchdacht.

Zum ersten Mal beobachte ich die Spanier. Sie paaren das hektische Leben mit dem Müßiggang. Sind Meister darin. Tauschen die Hektik gegen einen Plausch mit ihrem Nachbarn aus und verbringen etwas Zeit an der Bar. Nun... ich wusste gar nicht, dass so etwas geht.

Unsere erste Herberge finden wir etwa zweihundert Meter von der Busstation entfernt. In einem kleinen, abgedunkelten Raum stehen sechs Stockbetten. Eines davon gehört jetzt uns. Ich schlafe oben und Dora unten. Das Haus heißt „Pil Pil“ und wir richten uns ein, so gut es eben geht. Es ist vierzehn Uhr.

Eine Türe quietscht im Wind und irgendwo im Vorraum spielt ein Fernseher laute, spanische Musik... Der Spanier, der halbnackt auf dem Bett beim Fenster liegt, telefoniert laut und bestimmt mit einem anderen Spanier... er schimpft und hustet in sein Telefon hinein, bis er irgendwann zur Ruhe kommt. Vor der Tür regt sich ein Kommen und ein Gehen. Es herrscht Trubel, Hektik, Eile. Wir sind jetzt in Spanien und wir nehmen es an, so wie es eben kommt. Der telefonierende Spanier zieht sich an und verschwindet durch die Tür. Auch wir machen uns fein, gehen hinaus und ziehen auf der Suche nach einem Abendessen durch Bilbao... vorbei am Guggenheim Museum und hinein in das Zentrum der Stadt. Dora ist an meiner Seite und wir kaufen Tomaten und Wein. Schließlich landen wir noch in einer Dönerbude, die sich schräg gegenüber der Herberge in ein altes Stadthaus drückt.

Der Tag war zu Ende und zum allerersten Mal durfte ich in einem echten „Pilgerbett“ schlafen. Zwar stand dieses Bett noch nicht am Jakobsweg, aber irgendwie schon ganz nahe dran. Der Anfang ist gemacht, sagte ich mir... Und wenn die Dinge sich weiterhin so entwickeln, wie jetzt, dann wird es bestimmt eine interessante Reise werden, die da vor mir liegt... Dann verabschiedeten wir uns und schliefen ein. Durch die Anstrengung des Tages fielen wir beide in einen tiefen Schlaf und selbst das laute Fernsehgerät aus der Vorhalle schaffte es nicht, diesen Schlaf zu stören.

TAG 2

In Holland wohnt ein alter Mann

In Holland wohnt ein alter Mann, der in Wirklichkeit ein Kind ist. Sein Name ist Herman. Weil er aber ein Poet ist, schreibt er poetische Gedichte... und weil er auch ein Clown ist, so tut er lustige Dinge. Und immer dann, wenn ihm danach ist, singt er kleine Lieder. In einem dieser Lieder sagt er: „Es kommt immer anders, als man denkt“... und Recht hat er... Es kommt immer anders, als man denkt.

Donnerstag, 16. August 2018:

Den ganzen Morgen Sonne. Am Nachmittag kamen dichte Wolken über den Atlantik herein und hüllten die Küste in einen düsteren Schatten. Ungefähr um vierzehn Uhr fing es an, zu regnen. Dora begleitete mich den ganzen Tag. Wir gingen von Laredo nach Noja.

Die Welt ist voll der schönen Tage, wenn man sie zu machen weiß... und es liegt an einem jedem selbst, die Dinge so zu drehen und zu wenden, dass sie wirklich und wahrhaftig werden.

(Unbekannt)

Laredo

Nun... bei Laredo, einem kleinen Ort, der an der nördlichen Küste Spaniens liegt, haben zwei Flüsse eine Mündung in das Land gegraben, die etwa zwei Kilometer breit ist. Das Wasser der Flüsse und das Wasser des Meeres treffen hier aufeinander und fangen an, sich zu vermischen, sich zu berühren und miteinander zu fließen. Gerade so, wie zwei Menschen auf dem Weg. Auf der einen Seite der Mündung liegt also die Stadt Laredo und auf der anderen, da liegt die Stadt Santona. Der Camino del Norte führt durch beide Städte hindurch, so dass die Pilger über diese Flussmündung müssen, um dem Weg folgen zu können.

Eine kleine Barkasse macht es sich zur Aufgabe und bringt die Menschen über das Meer. Ein kleines Boot, kaum acht Meter lang und trotzdem wunderbar und wichtig. Hier sollte es sein und hier sollte eigentlich „mein“ Weg beginnen. Denn hier an dieser Barkasse wollten wir uns verabschieden. Ich würde auf das Boot gehen... um auf die andere Seite zu gelangen... und Dora würde hierbleiben, um irgendwann in einen Bus zu steigen, der sie nach Pamplona bringt. Das war der Plan. Doch es kommt immer anders, als man denkt. Aber beginnen wir von vorn:

Halb sieben Uhr morgens, Bilbao, Zentrum. Wir schlafen in den Stockbetten und Papavero schläft unter mir. Die Stadt, die da draußen auf uns wartet, heißt Bilbao und sie fängt an, zu erwachen. Lastwagen und Omnibusse fahren donnernd an den Häusern vorbei. Ein jedes Mal, wenn eines dieser Ungetüme über den Kanaldeckel fährt, der sich vor dem Haus auf der Straße befindet, hört man ein lautes „Plink-Plumm“, welches aufdringlich und zänkisch bis zu uns in das Zimmer schallt. Langsam erwacht die Schlafstube zum Leben... Der gestern noch so fleißig telefonierende Spanier packt im Dunkeln sein Zeug zusammen und ergreift als erster die Flucht. Bald darauf treiben sich zwei weitere Gestalten in der Finsternis herum. Auch sie packen ihre Sachen zusammen und machen sich auf den Weg.

Ich habe gut geschlafen, bin aber schon seit einiger Zeit wach und beobachte das ungewohnte Treiben mit offenen Augen. Starre in die Dunkelheit des Raumes hinein und versuche, das Spiel der Schatten zu begreifen. Manchmal flackert ein Handyscheinwerfer auf. Leuchtet gierig und hell in einen Rucksack hinein oder unter leichtes Bettzeug, um zu sehen, ob auch noch alles da ist, wo es sein soll? Zuweilen hört man Schuhe fallen, die den Leuten aus den Händen gleiten, wenn sie versuchen, sie anzuziehen. Ganz normale Herbergsgeräusche eben. Ich werde diese Situation in den nächsten Wochen noch sehr oft erleben oder sogar manchmal der sein, der sie ausübt.

Als unter mir plötzlich ein schwaches Licht angeht, weiß ich, dass Papavero wach ist. “Guten Morgen” flüstere ich leise nach unten und ein mir wohlvertrautes „Guten-Morgen-Bussi“ kommt zu mir zurück. Gefolgt von ein paar strampeligen Stößen, die von unten gegen mein Bettgestell abgefeuert werden. Sie ist eben noch ein Kind, diese Dora. Immer noch und immer wieder. Die erste Nacht ist geschafft und ich weiß: Dora lebt und sie ist guter Dinge. Jedenfalls hat mein Lattenrost die Morsezeichen, die Dora zu mir hochgestrampelt hat, als etwas Gutes identifiziert. Sie sagt: „Gut geschlafen...?“ und ich sage: „Klar... Warte mal... Ich komme zu dir runter...“ Langsam steige ich die Leiter hinunter und mittlerweile ist es auch vollkommen egal, ob ich dies laut oder leise tue. Denn über die Hälfte der Galeerensklaven ist bereits erwacht und packt irgendwelchen Plunder in irgendwelche Rucksäcke hinein. Soweit ich es überschauen kann, glaube ich sagen zu können, dass es ein uraltes Herbergsgesetz ist: „Wenn auch nur die Hälfte der Pilger erwacht ist, braucht man auf die andere Hälfte keine Rücksicht mehr zu nehmen.“ Später werde ich diese „eine Hälfte, die wach ist“ auf „ein Viertel“ revidieren. Man lernt halt nie aus.

Als ich unten bin, krabble ich zu Papavero in die Koje und leiste ihr flachsend Wiederstand, ob der Tatsache, dass ich jetzt diesen „Jakobsweg“ gehen soll... Ich sage: „Du, sag mal... können wir nicht abhauen? Nach La Palma fliegen und Urlaub machen, so, wie alle anderen auch...? Hm?“ ...

Nun... sie brauchte keine Sekunde, um mich vom Gegenteil zu überzeugen. Natürlich blieben wir hier. Hier in Spanien. Hier im Baskenland... und auch hier, auf dem Jakobsweg.

Nachdem wir uns vom „Pil Pil“ verabschiedet hatten, nahmen wir den ersten Bus und waren bald unterwegs zum Meer. Angekommen in der Stadt Laredo erblickten wir zum ersten Mal den Atlantik... Da unten muss er also irgendwo sein, dieser komische Weg, den so viele suchen... den so wenige finden... und von dem so viel gesprochen wird. Fast exakt sechshundert Kilometer sollen es von hier aus sein. Aber so ganz genau weiß das natürlich niemand. Sechshundert Kilometer... Von hier bis zum „Praza do Obradoiro“, dem Platz, an dem sich jeden Tag die Pilger treffen. Sechshundert Kilometer... von hier bis zur goldenen Blechfigur des Jakobus. Mein Gott... und das alles zu Fuß..! Sechshundert Kilometer! Ich frage mich: Wie soll das gehen? Das schaffe ich nie! Niemals! Es ist unmöglich! Absolut unmöglich! Wir zogen also durch die Häuserschluchten dieses Badeortes hindurch und gingen vorbei an den Bars und an den bunten Läden. Irgendwann stießen wir auf etwas, das hier gar nicht so richtig zum Bild passen wollte... das sich fast schämte, „da“ zu sein. Etwas, das irgendwie so ganz anders war. Hier, wo sich die Konsumhaie auf die Urlaubsgäste stürzen und wo man sich von den profanen Dingen des Lebens verführen lässt? Wo jeder seinen billigen Kram auf die Straße wirft, um den höchsten Profit zu machen? Da soll dieser „heilige Weg“ zu finden sein? Dieser Weg nach Santiago? Ich bin sehr gespannt darauf, ihn endlich mal zu sehen.

Auf der anderen Straßenseite sah ich plötzlich ein Schild. Dort oben. Zwischen einer bunten Werbung und dem Hinweis auf ein Restaurant. Ja... da war ein kleines, blaues Täfelchen, auf dem das Symbol einer Muschel abgedruckt war. Darunter war ein gelber Pfeil, der nach links zeigt. Nach links... Richtung Westen. Ohne Zweifel... wir waren da! Nach all dieser Zeit und nach all diesen Jahren... stand ich nun wirklich vor dem „Jakobsweg“.

Dora hatte die Tafel natürlich auch gesehen und so gingen wir langsam darauf zu. Gingen hin, zu dem, was die Leute hier im Allgemeinen als den „Camino del Norte“ bezeichnen, also den „nördlichen Weg“. Wir blieben davor stehen und sahen uns eine Weile an... keiner sprach ein Wort. Ich traute mich nicht... fürchtete mich noch vor dem, was da kommen soll... war irgendwie noch nicht bereit dazu... war noch kein Pilger... und zögerte, den ersten Schritt zu tun... diesen ersten Schritt, den ich meiner Mama vor so vielen Jahren versprochen habe... Dann nimmt Dora meine Hand... sieht mich an... und sagt nur dieses eine Wort:

„Geh.“

Ich weiß, dass der Weg mich jetzt ruft... und ich weiß, dass die letzten Zeichen, die ich meiner Mama schulde, in meinem Rucksack liegen. So weiß ich auch, dass ich jetzt gehen muss. Gehen, um ein Gelübde zu erfüllen. Ein Gelübde, das ich als Kind am Grab meiner Mutter gab. Wieder schaue ich Dora an... und wieder sagt sie nur dieses eine Wort:

„Geh... Geh deinen Weg.”

Der Sand des Weges knirscht unter meinen Schuhen, als ich meinen Fuß zum ersten Mal auf den Camino setze. Durch zwei verschwommene Augen blicke ich zum Horizont, den ich nicht mehr vom Meer unterscheiden kann, weil die Linie, die die beiden trennt, sich im Flirren des Tages verläuft. Dort hinten muss es also sein. Dort hinten im Westen! Dort hinten ist... Santiago! Das Wasser aber rollt die Küste entlang. Unaufhörlich und immer wieder. Ringt um jedes Körnchen Sand. Fügt und lenkt die Körner und zwingt sie in ein neues Leben, bis zwei davon sich finden, für immer und für ewig Zeit... Papavero und ich ziehen langsam den Weg entlang und sprechen kaum ein Wort. Weiter und weiter. Aus der Uferpromenade wird ein Pfad und aus dem Pfad wird ein Strand. Aus dem Strand aber... da erwächst mir eine neue Welt. Ein neues Leben.

Kaum zu glauben. Nach all diesen Jahren und nach all dieser Zeit, da bringt mich diese kleine Frau auf meinen Weg. Unterm Gehen lachen wir uns an und rufen uns zu: „Wir leben!“... und ich sage... „Ja! Wir leben!“

Dora lief mit bloßen Füßen durch das Meer am Strand entlang. Wie ein Kind. Ich aber ließ meine Schuhe an, weil ich so stolz darauf war, mit diesen schweren Stiefeln und dem Gepäck so anders zu sein, als diese Menschen hier, die so fettig und so braun auf ihren Bäuchen liegen. Wer hat die Sache mit dem „sich bräunen zu müssen“ eigentlich erfunden? Gibt es etwas Sinnloseres auf dieser Welt, als diesen Wahnsinn? Ich weiß es nicht... wie ich so vieles nicht weiß und so vieles nicht verstehe. Aber egal... Ich dürste, anders als die Sonnenhungrigen, schon bald nach ein bisschen Schatten. Diesen Durst werde ich in den nächsten Tagen noch oft verspüren. Manchmal wird er so stark sein, dass ich schreien und weinen werde... Aber auch davon wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts.

Ein Boot, zwei Freunde und der Weg nach Noja

Nun... wie dem auch sei... Ständig beäugt von den neugierigen Badegästen kamen wir irgendwann an die Fähre. An den Punkt, an dem wir uns eigentlich verabschieden wollten. Doch ehe ich mich versah, stolzierte „Lady Papavero“ über den kleinen Steg hinauf und hüpfte in das Boot hinein. In das Boot, das eigentlich nur für mich gedacht war. Sie lachte... unverblümt und süß.

„Peregrino de Santiago?“ ,rief irgendwer mit lauter, grauer Stimme... und noch bevor ich reagieren konnte, rief Dora zurück: „Si, Si... Dos!.. Dos Peregrinos de Santiago!“ Wie stark sie ist. Diese kleine Peregrina. Stark und durchsetzungsfähig. Immer dann, wenn es darauf ankommt.

Seite an Seite saßen wir jetzt in diesem Boot und ohne, dass wir etwas sagen mussten, wussten wir, dass unser Plan heute nicht aufgehen wird. Kaum aber legte das Boot ab, da fing es auch schon an, zu schaukeln und zu wogen. Dora suchte meine Hand. Ein viel zu kleiner Motor heulte jämmerlich auf und versuchte, das Boot gegen die Wellen zu stemmen. Die Wellen aber, sie lachten und sie feixten und sie schlugen gegen die Planken. Spielten uns das alte Lied der Pilger: „Ultreia! Ultreia! Ultreia et Suseia!“ Wir setzten uns zur Seite hin, wo ein paar abgewetzte Bretter für die mitfahrenden „Piraten“ als Sitzgelegenheit dienten. Dort neckten wir uns und lachten und genossen die Überfahrt. Ich sagte wieder: „Wir leben!“ Und sie sagte: „Ja!“

Die Fahrt war kurz und bald darauf legten wir in Santona an, wo wir über den Steg in den Hafen gelotst wurden. In der ersten Bar, die wir erreicht haben, machten wir halt und zum ersten Mal in meinem Leben versuchte ich, einem spanischen Ober zwei Milchkaffees abzuschwatzen. Es gelang! Zwar holprig und stotternd... aber es gelang! Dann gingen wir weiter. Weg von diesem Meer und weg von dieser salzigen Luft. Vorbei an einer bemerkenswerten Kirche ging es jetzt hinaus, in das freie Land. Das Ziel war Noja, eine Stadt, die wir am späten Nachmittag erreicht haben.

Die spanischen Behörden machen sich bestimmt einen großen Spaß daraus, die Peregrinos zu foppen, denn nach ihren Berechnungen waren wir heute angeblich nicht mehr als zwanzig Kilometer gelaufen. Das sagten jedenfalls die Wegweiser. Unsere Knochen und unsere Füße waren da anderer Meinung und sie schmerzten uns, als ob wir schon drei Wochen unterwegs wären.

Die letzten Kilometer bis zur Stadt verfolgte uns dann auch noch ein Regenschauer. Im Regen trafen wir in Noja ein und suchten dort die Kirche auf. Leise setzten wir uns in die vorletzte Bank und waren einfach nur still. Wir hielten wir uns die Hand.

Schon im Laufe des Nachmittages hatte ich über das Telefon ein Zimmer gebucht und nach der Kirche gingen wir dort hin. In der Pension versuchte ich, unsere nassen Kleider zu trocknen, indem ich sie im ganzen Zimmer verteilt habe. Es gab auch eine Badewanne hier und ja... komisch... Die nächste Badewanne, die wir sehen werden, würde sich auf der anderen Seite von Spanien befinden... mehr als siebenhundert Kilometer von dieser hier entfernt...

Nun... irgendwann am Abend suchten wir ein Lokal auf. Wollten etwas essen und ein Glas Wein trinken. Morgen würde ich ganz alleine aufbrechen, um Richtung Westen zu gehen und Dora würde hier bleiben, um irgendwann in den Bus zu steigen, der sie nach Pamplona bringt. Es war unser letzter Abend für so lange Zeit, dessen waren wir uns bewusst. Wir tranken Vino Blanco, der uns irgendwie nicht so richtig schmecken wollte und bestellten ein paar süße Churros. Nach dem Essen zogen wir uns zurück, legten uns ganz eng zusammen und schliefen ein, ohne viel zu sagen. Der erste Tag war getan. Etwa zwanzig Kilometer waren wir heute gegangen. Zwanzig Kilometer näher an Santiago. Der nächste Morgen würde uns einen neuen Tag bringen. Aber nicht nur einen neuen Tag, nein... er würde auch eine neue Welt auftun...

An diesem Abend zweifelten wir daran, ob es richtig war, was wir gemacht haben? Getrennt für so lange Zeit? Aber es war, wie es war... und wir nahmen es an, wie es eben kommt. Dora versank in meinem Arm und als der Schlaf über sie kam, da merkte ich, wie sie langsam hinüber glitt. Hinüber, in diese Stille des leichten Atems, an dem man so gut erkennen kann, dass sie sich selbst im Schlaf noch bei mir wohlfühlt. Welch ein schönes Gefühl.

Ich konnte nicht einschlafen und so ging ich noch einmal zurück in die Zeit, in der wir uns kennenlernten. Las noch einmal das Buch unserer Freundschaft, welches damals entstand, als wir uns über Monate nur Mails geschrieben haben. Als noch keiner von uns das Gesicht des anderen je gesehen hatte. Die erste Nachricht, die ich von ihr bekam, werde ich nie vergessen:

Mail an „Esel Nr.65“ :

Hallo Esel Nr.65

Ein Esel, der „Zwei Esel auf dem Jakobsweg“ gelesen hat? Was man hier alles so findet, beim Stöbern... LG

Dann schlief ich ein... mit Papavero in meinem Arm.

TAG 3

Ich bin ein Pilger, der sein Ziel nicht kennt

Der Feuer sieht und nicht weiß, wo es brennt

Vor dem die Welt in fremde Sonnen rennt

Ich bin ein Träumer, den ein Lichtschein narrt

Der in dem Sonnenstrahl nach Golde scharrt

Der das Erwachen flieht, auf das er harrt

Ich bin ein Stern, der seinen Gott erhellt

Der seinen Glanz in dunkle Seelen stellt

Der einst in fahle Ewigkeiten fällt

(Erich Mühsam – 1878 – 1934)

So ging ich meinen Jakobsweg im Geiste des Glaubens, auch wenn ich nicht sehr religiös bin. Nein. Geglaubt habe ich es noch nie. Jedenfalls nicht so richtig. Aber ich machte es mir zum Gelöbnis, in jeder Kirche, die ich auf meinem Wege fand, zu knien. Ja... das habe ich getan... Warum ich auf diese Idee kam? Nun... ehrlich gesagt... ich weiß es nicht. Plötzlich war sie da und ich fand sie gut. Vielleicht tat ich es für meine Mama, vielleicht aus tausend anderen Gründen. Jedenfalls tat ich es... und wurde so manches Mal dafür belächelt. Allein aus diesem Grund. Aber ich denke, dass wir es dem Weg schuldig sind, ihn als einen Teil des Glaubens zu sehen, und ich glaube auch, dass wir ihn so „leben“ oder so „er-leben“ sollten. Denn der Glaube ist sein Ursprung und seine wahre Seele und ohne ihn gäbe es auch keinen Weg. Deshalb kniete ich. Ja... auch deshalb.

Viele von den Kirchen waren mir versperrt. So kniete ich nicht nur vor Altären oder Tabernakeln, nein, ich kniete auch vor so manchen Kirchentüren. Manchmal sogar noch weiter draußen... vor Gittern oder auf blankem, geschlagenem Stein. Manchmal im Gras... und manchmal... einfach nur im Dreck. Ein jedes Mal war es anders und ein jedes Mal war es beschwerlich. Doch irgendwie... war es immer gut. Ein Spiel und ein Gelöbnis, das mich vor Gotteshäuser brachte, die oft mehr als tausend Jahre alt waren. Bisweilen genoss ich es einfach nur, den Schatten und die Kühle zu spüren, die sich in einem solchen Bauwerk befanden. Ein andermal staunte ich über das Gebäude selbst. Doch immer wieder verspürte ich das Gefühl, einfach nur hier zu sein. Etwas zu denken oder etwas zu sagen. Über Freunde. Über Söhne. Über mich. Über die, die mir fehlen... Und über die, die ich liebe.

So mancher spanischen Dame, die am Eingang der Kirche über das Pilgerbuch wachte, trieb ich wohl eine Träne in die Augen. Denn wenn sie mir anboten, den „Sello“, also den „Stempel der Kirche“ in meinen Pilgerausweis zu schlagen, so wie das die Touristen immer wollen, dann lehnte ich dankend ab: „Gracias. Solo orar.“ sagte ich dann... „Danke. Ich will nur beten.“

Ein schönes Gefühl war das... und heute, da ich diese Zeilen schreibe, vermisse ich es sehr. Vor jeder Kirche bin ich gekniet. All die ganzen Tage und all die ganzen Kilometer. Den ganzen, langen Weg... und darauf bin ich stolz.

Als ich vor ein paar Jahren mit meinem Vorarbeiter zusammen saß, da erdreistete sich eine Fliege und setzte sich zu nahe an ein Stück Kuchen, das zwischen uns darauf wartete, verspeist zu werden. Ich nahm eine Zeitung und schlug sie tot. Mein Freund sah mich an. Dann sah er auf die Fliege, die ich mittlerweile auf den Boden geschnipst hatte und sagte: „Hör mir zu... ich will dir eine Geschichte erzählen: Denn als Gott die Welt erschuf und die Menschen und die Tiere und alles, was da kreucht und fleucht, da war er sehr stolz auf sein Werk. Doch es war ihm nicht genug! Nein! Er sagte, er wolle noch einmal alle seine Kraft aufwenden, um ein letztes Ding zu erschaffen. Ein Meisterwerk... etwas, das das Universum noch nie gesehen hat!

Und so erschuf er die Fliege...

Sie aber ist Gottes Meisterwerk und ich glaube, dass es nie einen Menschen geben wird, der so ein Ding wie eine Fliege erschaffen kann. So klein und so filigran und doch so flink und so quicklebendig. Wenn sich aber jemals einer erdreistet, so wie „Gott“ sein zu wollen, dann sage ich zu ihm: „Bau mir eine Fliege...“ Du aber schlägst sie tot. Warum? Das Leben hast du ihr genommen. Ohne zu denken. Einfach nur so... Darum frage ich dich: Ist ihr Leben um so viel weniger wert, als das deine, nur, weil sie klein und winzig ist? Weil sie keinen Staat hat, zu dem sie gehört? Oder weil du um so viel stärker bist, als sie?“

Nun... Mein Freund hatte mich nachdenklich gemacht, so dass ich von da an nie wieder eine Fliege schlug, nur weil ich es konnte... Und selbst hier, auf dem Jakobsweg, da sprang ich über Ameisenstraßen und umging so manchen Käfer, nur um die Tiere nicht zu verletzen. Denn auch sie haben ein Recht darauf, zu Leben... genauso, wie wir alle.

Freitag, 17. August 2018:

Gegen die Nacht können wir nicht kämpfen. Aber wir können ein Licht anzünden.

(Franz von Assisi – 1182 – 1226)

Am Morgen ist es kühl und windig, nachmittags klärt es auf. Mittags fressen sich blaue Löcher durch die Wolken. Abends wird es sonnig und warm. Ich ging von Noja nach Guemes.

Die Wahrheit ist immer ein bisschen mehr, als ein paar lose Gedanken es jemals sein können... und es wendet sich so mancher Plan ins Gegenteil, noch ehe man sich versieht. Nun... ich würde den Jakobsweg gehen und du würdest zurückbleiben, um in Pamplona zu arbeiten. Am Ende wollten wir uns in Santiago treffen. Das war der Plan. Doch ging mir dieser Plan jetzt nicht mehr in den Kopf hinein. Alle meine Sinne verweigerten sich mir, diesen Gedanken zu fassen und ihn anzunehmen. Diese seltsame Idee, die mir sagt, ich soll da ganz alleine nach Santiago gehen. In diese Stadt hinein... ohne dich, Papavero. Als ich in der vierten Kirche kniete, da fragte ich mein Gewissen... meine Seele... und auch den lieben Gott... und sie alle haben mir gesagt: „Du gehörst zu ihr... so wie sie zu dir gehört. Mehr gibt es nicht zu wissen... und mehr gibt es nicht zu sagen.“ Damals habe ich entschieden, dass ich ohne dich nicht in diese Stadt gehen werde. Ein paar Kilometer vor dem Sternenfeld werde ich anhalten und auf dich warten. Denn du bist der Schlüssel zu allem Reichtum, so wie du der Schlüssel bist zu dieser Stadt. Mit dir will ich nach Santiago gehen, Dora. Die letzten Meter. Und wenn es geht, Hand in Hand. Das habe ich auf den Stufen der vierten Kirche versprochen.

Der Abschied

Halb acht Uhr morgens, Noja. Der Himmel ist bedeckt und es regnet. Die Welt ist nass und grau. Dora und ich sitzen in einem Café und trinken Cafe con Leche, dazu ein Croissant. Das typische, spanische Fernsehgerät, das in keiner Bar fehlen darf, spielt uns zum Abschied ein paar Lieder. So viele Sachen sind jetzt wichtig. So viele Sachen sind jetzt in unserem Kopf. Wir reden und reden und reden und reden... so wie immer. Halten die Hände, teilen liebevolle Blicke... teilen unsere Gedanken. Aber jeder von uns weiß, dass bald die Stunde kommt, in der wir auseinander müssen. Ohne Wenn und ohne Aber.

Es regnet immer noch und ich ziehe meinen roten Umhang über, in dem ich aussehe, wie ein Käfer. Es fehlen nur noch die schwarzen Punkte auf dem Rücken und ich würde ein gutes, deutsches Marienkäferchen abgeben... Gezielt und gewollt suchen wir wieder den Schutz der Kirche auf. Kein anderer Ort kann jetzt besser sein als dieser hier, wenn zwei Pilger sich ein Lebewohl sagen. So stehen wir also in der Kirche San Petro zu Noja in Kantabrien vor dem Altar und halten uns lange fest. Ich dachte, wir würden weinen, doch nichts geschah. Ich ließ von ihr ab... ging zwei Schritte zurück. Ihre Hand glitt aus der meinen, so dass sich am Ende nur noch unsere Finger berührten. Unsere Augen suchten sich und ließen nicht mehr los. Dann waren wir getrennt... jeder für sich. Ein letztes „Pass auf dich auf...“ kam aus ihrem Mund... dann drehte ich mich um... und ging... Nach ein paar Metern spürte ich, dass sie da war, so intensiv und so stark. Ich schaute zurück. Sah sie noch einmal an. Wir winkten uns zu... und dann ging ich hinein... in diese eine, in diese „andere“ Welt... Ich war auf dem Camino. Regen begleitete meine Schritte. Es war mir vollkommen egal.

Ich verließ die Stadt zwischen Mülltonnen und Häuserschluchten, ging hinaus aus dieser Enge... und ging hinein in dieses weite, spanische Land...

In Bareyo finde ich die erste Kirche. Ein Steinbau aus dem dreizehnten Jahrhundert. Die Grundmauern gehen auf das Jahr achthundert nach Christus zurück... sie ist ein Wunder. Hier ist Jesus noch als König dargestellt. Als einfache Steinfigur sitzt er in einer Seitennische und blickt mich an. Auf seinem Haupt sitzt nicht die blutverschmierte Dornenkrone... nein... er trägt einen Reif aus Gold, in dem ein paar Steine angedeutet sind. Die Krone eines Königs. Er hat etwas Freundliches an sich und schaut „lausbubenhaft“ zu mir herunter. Wie ein Fragender schaut er mich an... in etwa so, als wolle er sagen: „Hey, Peregrino? Ist das dein erster Tag? Na... du wirst dich noch wundern...“

Zum ersten Mal auf dem Camino geh ich auf die Knie vor ihm. Folge der uralten Tradition, in den Kirchen am Weg inne zu halten und zu beten. Ein Mann beobachtet mich dabei, wendet sich aber bald wieder ab, und geht weg. Ich bete nicht, sondern ich knie nur so da. Später werde ich bemerken, dass dieses Knien in der Stille ein Kraftquell ohnegleichen ist. Und noch viel später werde ich es bleiben lassen, nur so da zu knien. Werde anfangen, mit dem da oben zu reden. Ja... es ist ein bisschen verrückt... aber ich denke, es passiert unweigerlich, wenn man den Camino geht. Wenn man ihn als einen „Weg“ betrachtet... und nicht als etwas, das man tun „will“... oder tun „kann“... sondern als etwas, das man tun „darf“. Aber wie dem auch sei... wahrscheinlich bin ich nur empfänglich für so etwas... für solche Dinge eben... für so alten Humbug und so Zeugs... wie Jesus und die Wunder oder die Kraft, die aus der Liebe kommt... ich weiß es nicht... wie ich so vieles nicht weiß.

Es regnete in Strömen und ich stolperte über den Jakobsweg. Dass der nördliche Weg ein bisschen einsamer ist als der südliche, das war mir klar, aber dass er so einsam ist, das wusste ich nicht.

Es fehlen oft die Wegmarkierungen und genauso oft fehlen die gelben Pfeile. Manchmal wusste ich nicht, wo ich war und manchmal wusste ich nicht, ob ich überhaupt noch auf dem Jakobsweg bin.

Der Weg aber wirft dich in seine Welt hinein, ohne dass du weißt, was in der nächsten Stunde passieren wird... und hier im Norden ist sowieso alles anders. Aber auch das musste ich erst noch lernen. Genauso, wie das Tragen eines Rucksacks oder das Finden einer Herberge für die Nacht.

Es regnete immer noch und ich war schon eine halbe Stunde ohne Wegzeichen unterwegs. Irgendwie machte ich mir Sorgen und dann war mir plötzlich ganz mulmig zumute. Ich dachte: „Wenn du jetzt den Weg verfehlst, dann bekommst du auch keine Herberge mehr... Dann landest du wohlmöglich irgendwo in der Pampa, wo es nur noch zwei alte Traktoren und einen vergifteten Brunnen gibt. Vielleicht fällst du unter die Räuber, die dir den Kopf abreißen und die dich dann fressen. Auf jedem Fall landest du im Nichts! Und im „Nichts“, da gibt es weder etwas zu essen, noch ein Bett für die Nacht... Doch alle meine Sorgen waren unbegründet, denn das eine ist wahr: Der Weg gibt dir immer das, was du am meisten brauchst. So sah ich plötzlich vor mir zwei gelbe Punkte aus dem Regen aufsteigen. Ganz weit vor mir erspähte ich zwei gelbe Rucksackhüllen... Da waren zwei Peregrinos unterwegs... Genauso, wie ich. Wenn die beiden nun wussten, was sie taten und den rechten Weg gingen, dann war ich gerettet... Und wenn nicht, so hoffte ich, dann würden sie wohl die Ersten sein, die von den Räubern erwischt werden... und nicht ich. Und vielleicht... Ja... Vielleicht könnte ich dann am Leben bleiben? Wer weiß?

Der Regen ließ langsam nach und aus den gelben Punkten vor mir wurden wieder ganz normale Menschen. Als der Himmel sein Blau zeigte, ließ auch ich meine Regenhülle fallen und zog den Hut vor meinen Rettern. Die beiden haben das natürlich nicht mehr gesehen, weil sie schon viel zu weit weg waren...

Padre Ernesto und ein Gott, der nirgends wohnen will

Am Eingang des letzten Dorfes vor der Herberge standen sieben unfertige Neubauten. Die Häuser waren aufgereiht wie an einer Schnur und vom Aussehen her waren sie alle gleich. Mit Türen, die so groß waren, dass ein Schiff hindurchfahren könnte, wollten sie mich rufen... blieben aber dennoch stumm. Angewurzelt und fest gemauert mussten sie hier bleiben... während ich weiterziehen konnte. Welch eine Gnade für mich und welch ein Unbill für diese Riesen. Wahrscheinlich haben sie mich darum beneidet, dass ich so bin, wie ich bin und das ich gehen kann, wohin ich will. Und so spürte ich diese Freiheit in mir wachsen. Die Freiheit des Camino... und ich spürte sie schon am ersten Tag...

Das Dorf war bald durchquert und nach einer weiteren halben Stunde war eine Herberge in Sicht. Es war Padre Ernestos „Albergue El Cagigal“, eine „Kult-Herberge“ ohnegleichen. Angeblich soll sie ganz was Besonderes sein, so steht es jedenfalls in all den Büchern. Weil ich aber beim Bücherlesen meistens sehr nachlässig bin, wusste ich natürlich wieder nichts davon. So war dieses Haus nur ein zufälliges Ziel für mich. Ein Ziel, das ich am späten Nachmittag erreicht habe. Heute war ich vierundzwanzig Kilometer gelaufen und ich war froh, endlich hier zu sein.

Unter freiem Himmel saß ich mit den anderen Pilgern zusammen an einem langen Tisch. Der „Padre“ und seine Leute gaben uns zu essen und zu trinken, und bald darauf wurden wir in das große Buch der Herberge eingeschrieben. Ich erinnere mich gut, dass ich hier meinen ersten „Pilger–Stempel“ bekam, auf den ich sehr stolz war. Jetzt war ich ein wahrer Pilger! Aber trotzdem... irgendwie fühlte ich mich nicht wohl hier, in dieser Herberge, die so anders war als das, was ich mir vorgestellt hatte. Ja... irgendwie gefiel sie mir nicht, diese „Kultherberge“ des Padre Ernesto.

Nun... alles in allem war dieses Leben noch sehr fremd für mich und so versuchte ich, die Pilger zu beobachten und ein bisschen was von ihnen zu lernen. Im Nachhinein muss ich sagen, dass es nicht nur das „Neue“ war, das mich hier erschreckt hat. Nein. Ich glaube, es war die Herberge selbst. Für den einen ist sie wohl ein „Wunder“. Für mich wollte sie irgendwie nicht passen. Ich liebe eher die einfachen Orte, an denen man seine Ruhe findet. Und hier beim „Padre“... da fand man nichts. Nicht mal Ruhe. Es war irgendwie so, als wäre man in ein „Walt Disney Märchen“ geraten, in dem der „Padre“ den lieben Gott spielt. Aber egal...

Später unterhielt ich mich dann mit einer Norwegerin. Draußen, in der Abendsonne. Sie hatte rotes, langes Haar und ein paar Sommersprossen im Gesicht. Sie sah genau so aus, wie man sich eine gute „Norwegerin“ vorstellt... Wir saßen draußen auf der Treppe und sie erzählte mir, dass sie heute Vormittag im Himmel war... Ja... ganz da oben, im Himmel, wo sie Gott gesehen hätte! Ja! Gott! Sie wäre zwei Wochen unterwegs und würde mindestens einmal am Tag meditieren. Sie würde alles und wirklich alles dafür tun, damit die „Engel des Jakobsweges“ zu ihr kämen und sie endlich mit nach „oben“ nähmen. Mit nach oben, zu Gott!

Und heute... so sagte sie... so um neun... da war es dann soweit... da war der große Moment! Da war sie kein Mensch mehr, sondern ein „meditatives Wesen“, eine Spirale, die sich nach links herum dreht und die sich in die höchsten Höhen des Himmels hinaufschrauben kann. Bis zum Universum rauf. Sie hätte es schon gespürt, sagte sie, als sie heute zum „Padre“ ging. Wobei sie das Wort „Padre“ mit einer ehrfürchtigen und fast schon fieberhaften Stimme sprach, die dem lieben Alfred Vohrer, dem Regisseur der Edgar Wallace Filme, nicht besser hätte gefallen können. Nun... ich musterte ihre Unterarme auf kleine Einstiche, aber gefunden habe ich nichts. Herr, sag es mir... warum gabst du mir das Talent, aus all den Menschen immer nur die Verrücktesten herauszufischen? Was soll ich damit? Hm..?

Nun.. Als sie mit ihrer Geschichte fertig war, da fragte ich sie, ob sie denn wirklich glaubt, dass der liebe Gott da oben im Himmel wohnt? Ich sagte: „Wahrscheinlich hat er es gar nicht nötig, irgendwo zu „wohnen“ oder zu „leben“... und wenn... dann bestimmt nicht da oben, im Himmel... Wahrscheinlich ist er nicht einmal „materiell“, dieser Gott... Vielleicht ist er nur eine Kraft oder eine Energie, die irgendwo da draußen rumschwirrt? Vielleicht lebt er sogar „in“ uns... in unseren Bäuchen? Wo doch ein guter Platz für ihn wäre und wo es das gibt, was er zum Leben braucht... nämlich... unsere Seelen!“

Sie schaute mich ungläubig an und erklärte mir, dass sie etwa dreißig „Engelsbücher“ gelesen hätte. Aber auch in keinem einzigen dieser Bücher stünde irgendetwas von einem „Bauch“, in dem der liebe Gott zu finden wäre..? Wobei sie kritisch und differenziert auf meinen etwas fülligen Bauch hin starrte. Sie sagte, in jedem der Bücher aber steht, dass es einen „siebten Himmel“ gibt! Da oben! Wo die Engel wohnen! Dann deutete sie mit ihrem Zeigefinger nach oben und sah mich mit großen Augen an. Ungefähr so, als wolle sie mir sagen: „Verstehst du das denn nicht, du Depp?“ Ich nickte einfach nur, weil es viel zu spät war, die Schalter und die Ventile in ihrem Gehirn umzustellen. Auch die Relais und die Sicherungen könnten den Schaltvorgang wohl nicht mehr aushalten. Ihre Welt würde auf den Kopf gestellt und man müsste Angst haben, dass diese „norwegische Spirale“ einfach nur durchbrennt... Nun... Ich gab ihr also Recht, lächelte sie ein bisschen an... und sagte ihr „Lebewohl“.

Mann, oh Mann... da kommt was auf mich zu. Trotzdem ist nicht alles immer nur schlecht und alles hat seine zwei Seiten. So grübelte ich eine Weile über diesen Gedanken nach, dass wir uns nach dem Tod in uns selber zurückziehen könnten, und ich fand ihn nicht einmal so dumm. Aber was versteh ich schon davon? Nichts. Der Himmel war blau! Und für die Norwegerin war er bestimmt noch ein bisschen blauer, als für mich... aber egal.

Als ein dicker Deutscher mit seinem ausgebleichtem Hemd, das er sein „Camino - Hemd“ nannte, mir dann auch noch erklären wollte, dass dies hier „DIE“ Kultherberge schlechthin sei... da wusste ich, dass ich es wieder nicht verstanden habe. So, wie ich die Dinge meistens nicht verstehe. Eben diese Dinge, von denen alle so angetan sind. Nun... ich kann das nicht... kann nicht verstehen, warum alle anderen immer alles „verstehen“? Denn gerade da, wo sie alle loben, da fahr ich doch meine Antennen aus und sehe ganz genau hin... oder?

Das Essen gab es in einem stickigen Speisesaal unter düsteren Neonlampen. Man teilte uns in Gruppen ein und setzte uns eng zusammen. Wir bekamen Suppe und Brot. Nach dem Essen gab es eine Ansprache, in welcher wir gebeten wurden, eine Spende in die Box zu schmeißen, die man da hinten aufgestellt hatte! Und bitte nicht zu klein, wurde uns gesagt... Denn der Padre braucht ja wirklich jeden Cent... Als ich den Geldschein in den „Opferstock“ geschoben habe, wurde mir klar, dass sich nicht jeder diese „Kult - Herberge“ hier leisten kann. Nun... Der „Padre“ ist bestimmt ein „nächstenliebender Menschenfischer“... Aber irgendwie, so glaube ich, ist auch ein guter Geschäftsmann an ihm verloren gegangen... aber egal.

Nach dem „Suppe löffeln“ und der Geldspende führte man uns in ein weiteres Kabinett des „Padre“ hinein. Wir gingen in seine „Kirche“. Die Einladung kam noch während des Essens, aber nur die Hälfte der Pilger ging dann auch wirklich noch hin. Ich sah mir die Sache an und weil es ein paar Steckdosen in der Kirche gab, setzte ich mich hinein und zapfte den Strom für mein Handy. Der Padre gab sich wieder sehr dramatisch und es dauerte fast eine Stunde, bis er all die Wörter, die er uns sagen wollte, hinter seinem weißen Bart hervorgeholt hatte. Als mein Akku voll und der Padre leer waren, wurde ich sehr müde. Langsam senkte sich der Tag vor uns nieder und machte Platz für die Nacht. Ich lag oben in der Koje eines Stockbettes und sah durch ein kleines Fenster in den Himmel hinauf. Die halbe Nacht machte ich kein Auge zu.

Meine Hose, mein T-Shirt, die Bauchtasche und die Socken hatte ich mit ins Bett genommen. Falls ich mitten in der Nacht abhauen will, könnte ich mich da oben anziehen und verschwinden... Ja, sogar mein Rucksack war gepackt und so gestellt, dass ich kein Problem damit hätte, ihn zu finden und zu greifen. In der Nacht kam mir das Gedicht des Lothar Zenetti in den Sinn:

Was keiner wagt, das sollt ihr wagen

Was keiner sagt, das sagt heraus

Was keiner denkt, das wagt zu denken

Was keiner anfängt, das führt aus

Wenn keiner ja sagt, sollt ihr's sagen

Wenn keiner nein sagt, sagt doch nein

Wenn alle zweifeln, wagt zu glauben

Wenn alle mittun, steht allein

Wo alle loben, habt Bedenken

Wo alle spotten, spottet nicht

Wo alle geizen, wagt zu schenken

Wo alles dunkel ist, macht Licht

(Aus: Lothar Zenetti, Auf Seiner Spur. Texte gläubiger Zuversicht © Matthias Grünewald Verlag. Verlagsgruppe Patmos in der Schwabenverlag AG, Ostfildern 2011. www.verlagsgruppe-patmos.de)

Ja... wo alles dunkel ist, da macht ein Licht... Um halb fünf Uhr morgens fing ich leise damit an, meine Kniebandage überzustreifen. Ich lag noch im Bett. Daraufhin folgte meine Hose. Dann klickte ich mir die Tasche mit den Papieren um meinen Bauch, nahm mein T-Shirt zwischen die Zähne... und verschwand. Doch das ist schon wieder eine andere Geschichte...

TAG 4

Der Mohn

In einer blauen Hügelwelt.

Bei einer Amsel Sehnsuchtton

Ein großes, grünes Roggenfeld

Und drinnen... feuerroter Mohn

Wie ein Laternlein jede Blüt,

Und brennen röter als der Tag

Ein Augenblick hat da geglüht,

Der lang noch nicht erlöschen mag

(Max Dauthendey - 1867-1918)

Der Camino ist ein Kampf

Der Camino ist ein Kampf. Ein dauernder Kampf. Du kämpfst um ein Brot, um ein Stück Käse, um einen Kaffee oder um den besten Weg. Du kämpfst um ein bisschen Shampoo, um einen Geldautomaten oder darum, dass die Richtung stimmt. Du kämpfst um ein Bett, um eine Dusche oder gegen diese gottverdammte, glühende Hitze. Du kämpfst um das Wasser für deine Flasche, um ein bisschen Schatten oder um drei spanische Wörter, die irgendjemanden irgendwas erklären sollen. Du kämpfst mit deinen Schuhen, mit deinem Rucksack und mit dem Gewicht, das du auf dem Rücken trägst. Du kämpfst mit dem Wind und mit dem Wetter... Und am Ende des Tages kämpfst du dafür, dass du ein bisschen Strom für dein Telefon bekommst. Du kämpfst um alles... wie ein Tier. Der Camino ist ein Kampf und wenn es irgendwie geht, dann kämpfst du im Gehen. Denn der Stillstand deiner Beine muss wohl überlegt sein und kann dir den Plan des ganzen Tages durcheinander bringen. Der Camino ist ein Kampf. Ein Kampf zu jeder Stunde, zu jeder Minute... und zu jeder Sekunde. Und dennoch... ist er noch sehr viel mehr:

Der Camino ist eine Schule. Vergleichbar mit nichts auf dieser Welt. Eine Schule, in der Gott der Allmächtige selbst dein Lehrer ist und je nachdem, wie weit du dich mit ihm einlässt, lehrt er dich, die Dinge zu sehen, wie sie sind... wie sie wahr sind... und einzig. Er zeigt dir einen Weg, den nur du alleine gehen kannst. Niemand kann dir folgen und keiner kann dir ein Stück davon abnehmen... Wenn du willst, dann zeigt er dir ein Tal, in dem du leben kannst. Ohne Angst und ohne Not. Ohne Pein und ohne Gier. Ohne Hass und ohne Neid. So dass du anfängst, zu sehen, zu hören... und zu leben.

Dan Mullins hat es mal so gesagt: „Am Anfang war ich noch alleine. Bis ich dann gemerkt habe, dass da einer ist... Einer, der neben mir geht. Den ganzen, langen Weg...“