Die Liebe trägt Weiß - Lauren Weisberger - E-Book

Die Liebe trägt Weiß E-Book

Lauren Weisberger

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Beschreibung

Charlotte "Charlie" Silver ist der Liebling der Fans. Hübsch, freundlich, immer fair – eine Vorzeigespielerin im verrückten Tenniszirkus. Nur an die Spitze hat sie es bisher nicht geschafft. Als eine Verletzung Charlie zu der Entscheidung zwingt, ihre Karriere entweder aufzugeben oder sie ganz neu zu starten, schließt sie einen Pakt mit dem Teufel. Genauer gesagt: mit dem berüchtigten Tenniscoach Todd Feltner. Unter dessen Anleitung ist Schluss mit Nettigkeiten – ab jetzt ist Charlie die "Warrior Princess". Prompt stürzt sich die Klatschpresse auf die neuerdings stets in Schwarz spielende Amazone. Doch Siege und Schlagzeilen haben ihren Preis. Während der Stern der "Warrior Princess" aufgeht, weiß Charlie nicht mehr, wer sie wirklich ist. Von Wimbledon in die Karibik, von den US Open auf eine Jacht im Mittelmeer – das Leben droht ihr zu entgleiten. Ist Charlie tatsächlich bereit, ihrer Karriere alles zu opfern? Familie, Freunde und womöglich sogar ihre große Liebe?

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Buch

Charlotte »Charlie« Silver ist der Liebling der Fans. Hübsch, freundlich, immer fair – eine Vorzeigespielerin im verrückten Tenniszirkus. Nur an die Spitze hat sie es bisher nicht geschafft. Als eine Verletzung Charlie zu der Entscheidung zwingt, ihre Karriere entweder aufzugeben oder sie ganz neu zu starten, schließt sie einen Pakt mit dem Teufel. Genauer gesagt: mit dem berüchtigten Tenniscoach Todd Feltner. Unter dessen Anleitung ist Schluss mit Nettigkeiten – ab jetzt ist Charlie die »Warrior Princess«. Prompt stürzt sich die Klatschpresse auf die neuerdings stets in Schwarz spielende Amazone. Doch Siege und Schlagzeilen haben ihren Preis. Während der Stern der »Warrior Princess« aufgeht, weiß Charlie nicht mehr, wer sie wirklich ist. Von Wimbledon in die Karibik, von den US Open auf eine Jacht im Mittelmeer – das Leben droht ihr zu entgleiten. Ist Charlie tatsächlich bereit, ihrer Karriere alles zu opfern? Familie, Freunde und womöglich sogar ihre große Liebe?

Weitere Informationen zu Lauren Weisberger sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Lauren Weisberger

Die Liebe trägtWeiß

Roman

Aus dem Englischenvon Heike Reissig

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel»The Singles Game«

bei Simon & Schuster, New YorkDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2017

Copyright © der Originalausgabe

2016 by Lauren Weisberger

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagfoto: FinePic®, München

Redaktion: Friederike Arnold

AB · Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-20516-4V001

www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für Sydney, Emma, Sadie und Jack.Ich liebe euch von ganzem Herzen.

1

Nicht nur Erdbeeren mit Sahne

WIMBLEDONJUNI 2015

Es passierte Charlie wahrhaftig nicht jeden Tag, dass eine Mittvierzigerin mit Dutt und lila Polyesterkostüm ihr unter den Rock schauen wollte. Die Frau klang reserviert, typisch britisch. Rein geschäftsmäßig.

Charlie warf Marcy, ihrer Trainerin, einen Blick zu. Dann hob sie den Saum ihres weißen Faltenrocks.

»Höher, bitte.«

»Ich garantiere Ihnen, da unten ist alles in Ordnung«, sagte Charlie, so höflich es ging.

Die Wimbledon-Offizielle musterte sie kühl und schwieg.

»Noch höher, Charlie«, sagte Marcy streng, konnte sich jedoch nur mühsam ein Grinsen verkneifen.

Charlie hob den Rock so weit, dass er den Blick auf die weißen Lycra-Shorts freigab, die sie darunter trug. »Kein Slip, aber doppelt verstärkt. Da kriegt wirklich niemand was zu sehen, egal, wie sehr ich schwitze.«

»Gut, danke.« Die Offizielle kritzelte etwas auf ihren Notizblock. »Jetzt Ihr Oberteil, bitte.«

Das Ganze schrie geradezu nach einem Witz (Wo dürfen Spielerinnen erst nach einer gynäkologischen Untersuchung auf den Platz? / Beim ersten Date geht man sich eigentlich noch nicht an die Wäsche!), doch Charlie beherrschte sich. Schließlich hatten die Wimbledon-Offiziellen sich ihr und ihrem Team gegenüber bislang sehr höflich und zuvorkommend verhalten. Schade, dass sie gar keinen Sinn für Humor besaßen.

Charlie zog ihr Oberteil so weit hoch, dass es ihr fast die Sicht versperrte. »Mein Sport-BH ist aus dem gleichen Material. Total blickdicht.«

»Ja, das sehe ich«, murmelte die Offizielle. »Es geht um diesen Farbstreifen da unten.«

»Das Gummiband?«, sagte Marcy. »Das ist hellgrau. Was man wohl kaum als Farbe bezeichnen kann.« Ihre Stimme klang ruhig, doch es schwang eine klitzekleine Spur von Irritation darin mit.

»Mag sein, aber ich muss es trotzdem abmessen.« Die Offizielle holte ein gelbes Maßband aus der kleinen Gürteltasche, die sie über ihrer Uniform trug, und legte es sorgfältig um Charlies Brustkorb.

»Wie lange dauert das denn noch?«, fragte Marcy nun deutlich verärgert.

»Wir sind fast fertig«, sagte die Offizielle. »So weit entspricht alles der Kleiderordnung. Es gibt nur ein Problem, Miss.« Sie presste die Lippen zusammen. »Ihre Schuhe.«

»Was ist damit?«, fragte Charlie. Nike hatte doch wirklich alles getan, um sicherzustellen, dass ihre Sneakers die strengen Wimbledon-Anforderungen erfüllten. Statt ihres ansonsten knallbunten Outfits war sie komplett weiß angezogen: nicht cremefarben, nicht elfenbeinfarben, nicht eierschalenfarben, sondern weiß, im wahrsten Sinne des Wortes. Das Leder der Zehenkappe strahlte in reinstem Weiß, die Schnürsenkel ebenso – weißer ging es wirklich nicht!

»Ihre Schuhe. Die Sohle ist fast vollständig pink. Das verstößt gegen die Regeln.«

»Wie bitte?«, fragte Marcy ungläubig. »Die Schuhe sind oben, seitlich und hinten weiß, die Schnürsenkel auch, so, wie es die Regeln vorsehen! Das Nike-Logo ist sogar noch kleiner als vorgeschrieben. Sie können doch nicht ernsthaft ein Problem mit den Sohlen haben!«

»So breite Farbstreifen sind leider nicht erlaubt, und das gilt auch für die Sohlen. Farbstreifen dürfen höchstens einen Zentimeter breit sein.«

Charlie drehte sich panisch zu Marcy, die sofort beschwichtigend die Hand hob. »Und was schlagen Sie jetzt vor? Diese junge Dame wird in knapp zehn Minuten auf dem Centre Court erwartet! Wollen Sie etwa verlangen, dass sie ohne Schuhe spielen soll?«

»Natürlich nicht, aber diese Schuhe darf sie gemäß Vorschrift leider auf keinen Fall tragen.«

»Danke für diese Klarstellung«, fauchte Marcy. »Wir kümmern uns drum!« Sie griff Charlie am Handgelenk und zog sie zu einem der privaten Trainingsräume hinter der Umkleide.

Marcy hatte derart ihre Fassung verloren, dass Charlie das Gefühl hatte, sie wäre in heftige Flugturbulenzen geraten. Beim Anblick panischer Stewardessen wurde ihr auch immer schlecht. Seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr war Marcy ihre Trainerin. Ihr Vater, der sie bis dahin trainiert hatte, konnte sie nicht mehr ihrem Talent entsprechend fördern. Er hatte Marcy damals natürlich vor allem wegen ihrer Kompetenzen als Coach engagiert, aber auch, weil sie eine Frau war. Charlies Mutter war einige Jahre zuvor an Brustkrebs gestorben.

»Warte hier. Zerbrich dir nicht den Kopf darüber, okay? Mach ein paar Dehnübungen, iss deine Banane und konzentrier dich darauf, Athertons Spiel Punkt für Punkt auseinanderzunehmen. Ich bin gleich wieder da.«

Charlie war ohnehin viel zu nervös, um sich hinzusetzen, also ging sie im Trainingsraum auf und ab und dehnte ihre Waden. Waren ihre Muskeln etwa schon verspannt? Nein, das konnte nicht sein. Auf einmal steckte Karina Geiger, die Viertgesetzte mit der Kleiderschrankstatur, die ihr den unglückseligen, aber nett gemeinten Spitznamen Deutsche Eiche eingebracht hatte, den Kopf durch die Tür.

»Du spielst gleich auf dem Centre Court, oder?«

Charlie nickte.

»Da draußen ist die Hölle los«, rief Karina. »Prinz William und Prinz Harry sitzen mit Camilla in der Royal Box! Das ist total ungewöhnlich, angeblich mögen die sich doch gar nicht. Aber keine Spur von Prinz Charles und Prinzessin Kate.«

»Echt?«, sagte Charlie, obwohl sie es längst wusste. Es war schon stressig genug, zum ersten Mal in ihrer Profikarriere ein Einzel auf dem Centre Court in Wimbledon zu bestreiten, aber sie musste auch noch ausgerechnet gegen Alice Atherton antreten. Alice stand zwar nur auf Rang 53, doch sie war jung und galt als die nächste große britische Hoffnung, weshalb die gesamte Nation sie gleich anfeuern würde, Charlie vom Platz zu fegen.

»Ja! David Beckham ist auch da, aber der kommt ja überallhin. Ist also nichts Besonderes. Und einer von den Beatles ist da, wer von denen lebt eigentlich noch? Fällt mir gerade nicht ein. Oh, und Natalya hat erzählt, dass sie …«

»Karina? Entschuldige, aber ich bin gerade dabei, mich aufzuwärmen. Viel Glück heute, okay?« Charlie wollte wirklich nicht unhöflich sein, schon gar nicht zu einer der wenigen netten Spielerinnen auf der Tour, aber sie war jetzt einfach nicht in der Stimmung für ein Gespräch.

»Sicher, kein Problem. Dir auch viel Glück!«

Kaum war Karina verschwunden, tauchte Marcy wieder auf. Sie hatte eine Tasche mit weißen Sneakers dabei. »Schnell«, sagte sie und zog ein Paar heraus. »Die sind Größe zehn und schmal. Glück muss man haben. Probier sie mal an.«

Als Charlie sich auf den Boden fallen ließ, schlug ihr schwarzer Zopf so fest gegen die Wange, dass es wehtat. Sie zog den linken Schuh an. »Die sind von Adidas, Marce«, sagte sie.

»Das ist mir so was von schnuppe, wenn Nike ein Problem damit hat, dass du jetzt Adidas trägst. Wenn sie die richtigen Sneakers geliefert hätten, müssten wir uns jetzt nicht so herumärgern. Nimm einfach die Schuhe, mit denen du dich am wohlsten fühlst.«

Charlie stand auf und machte einen Schritt.

»Zieh den anderen auch an«, sagte Marcy.

»Nein, die sind zu groß. Meine Ferse rutscht raus.«

»Nächster Versuch!«, rief Marcy und warf ihr ein weiteres Adidas-Paar zu.

Diesmal probierte Charlie den rechten Schuh und schüttelte den Kopf. »Der quetscht mir die Zehen ein, vor allem den kleinen. Wenn wir ihn tapen, könnte ich es versuchen …«

»Kommt gar nicht in die Tüte«, sagte Marcy. »Hier.« Sie stellte Charlie ein Paar K-Swiss hin. »Vielleicht klappt es damit.«

Der linke Schuh schien ganz gut zu sitzen. Hoffnungsvoll zog Charlie auch den rechten an und band sich die Schnürsenkel zu. Die Sneakers waren klobig und hässlich, aber wenigstens passten sie.

Allerdings waren sie wie Blei an den Füßen. Charlie sprang ein paarmal hin und her, joggte kurz und machte einen schnellen Ausfallschritt nach links. »Sie passen zwar, aber sie fühlen sich wie Ziegelsteine an. Sie sind echt schwer.«

Marcy griff abermals in die Tasche, um das letzte Paar herauszuziehen, als plötzlich eine Lautsprecherdurchsage ertönte. »Achtung bitte. Die Spielerinnen Alice Atherton und Charlotte Silver werden gebeten, sich am Stand der Turnierleitung zu melden, um zu ihrem Platz geführt zu werden. Ihr Match beginnt in drei Minuten.«

Marcy kniete sich hin und drückte auf Charlies Zehen. »Zu eng sind sie jedenfalls nicht. Aber zu weit hoffentlich auch nicht. Meinst du, sie sind okay?«

Charlie hüpfte nochmals hin und her. Die Schuhe waren wirklich schwer, aber von den drei Paaren schienen sie die beste Alternative zu sein. Sie überlegte kurz, das vierte Paar auch noch anzuprobieren, aber dann sah sie, wie Alice in ihrem blendend weißen Outfit am Trainingsraum vorbeiging. Es wurde Zeit.

»Mit diesen klappt es bestimmt«, sagte Charlie überzeugter, als sie tatsächlich war. In Wahrheit dachte sie: Mit diesen muss es klappen.

»Super.« Marcy war sichtbar erleichtert. »Dann lass uns gehen.«

Sie schlang sich Charlies riesige Schlägertasche über die Schulter und ging durch die Tür. »Denk dran, so viel Spin wie möglich. Bei hochspringenden Bällen muss sie sich abmühen. Nutz aus, dass du größer bist als sie, und zwing sie dazu, hohe Bälle zu schlagen, vor allem mit der Rückhand. Dieses Match gewinnst du durch Langsamkeit, Beharrlichkeit und Ausdauer. Teil dir deine Kraft ein und spiel nicht auf Tempo. Spar dir das für die späteren Runden, okay?«

Charlie nickte. Sie war noch nicht mal auf dem Platz, aber ihre Waden fühlten sich schon jetzt total verspannt an. Und bildete sie sich das nur ein, oder rieb der rechte Schuh an der Ferse? Ja. Keine Einbildung. Na toll. Sie würde garantiert Blasen bekommen.

»Ich sollte besser doch noch das vierte Paar …«

»Charlotte?« Eine weitere Wimbledon-Offizielle im lilafarbenen Polyesterkostüm nahm Charlie am Ellbogen und führte sie die Stufen zum Stand der Turnierleitung herunter. »Bitte hier unterschreiben … Danke. Mr Poole, die beiden Damen sind nun bereit, zum Centre Court geführt zu werden.«

Charlie und ihre Gegnerin musterten einander kurz und nickten knapp. Sie waren erst einmal gegeneinander angetreten, zwei Jahre zuvor in Indian Wells, erste Runde, und Charlie hatte Alice 6:2, 6:2 geschlagen.

Charlie, Marcy, Alice und Alices Trainerin folgten Mr Poole durch die Hallway of Champions, den Tunnel, der zum berühmtesten Tennisplatz der Welt führte. Links und rechts hingen riesige Schwarz-Weiß-Fotos der Tennislegenden, die das Turnier von Wimbledon gewonnen hatten, darunter Serena Williams, Pete Sampras, Roger Federer, Maria Sharapova und Andy Murray. Sie hielten die Trophäe umklammert, küssten sie, warfen ihre Schläger hoch in die Luft, schwangen die Fäuste. Lauter jubelnde Siegerinnen und Sieger. Auch Alice blickte auf die Fotos, während sie sich der Tür näherten, die zum Centre Court führte, direkt in die Manege.

Charlie zuckte zusammen, als Marcy sie am Oberarm packte und ihr die Schlägertasche reichte. Hastig schlang sie sich die Tasche über die Schulter, als wäre sie federleicht. Dabei enthielt sie sechs Schläger, eine Rolle Griffband, zwei Flaschen Evian, eine Dose Gatorade, zwei Wechsel-Outfits, die genauso aussahen wie das, was sie gerade anhatte, Reservesocken, Schweißbänder, Schulter-Tape, Knie-Tape, Pflaster, einen iPod, Over-Ear-Kopfhörer, zwei Ersatzstirnbänder, Augentropfen, eine Banane, ein Päckchen Vitaminpräparat und das laminierte Foto ihrer Mutter, das in der kleinen Seitentasche steckte; Charlie hatte es bei jedem Training und Turnier dabei.

Marcy und Alices Trainerin gingen zu ihren Plätzen in der Spielerbox. Dann betrat Charlie zusammen mit ihrer Gegnerin den Platz – und wie zu erwarten war, jubelte das Publikum natürlich Alice zu, der britischen Durchstarterin. Doch eigentlich spielte es keine Rolle, wem die Begeisterung galt: Charlies Puls beschleunigte sich vor jedem Match, egal, wie wichtig es war. Doch diesmal hatte sie regelrecht Herzflattern; sie war so nervös und aufgeregt, dass ihr richtig schlecht wurde. Centre Court in Wimbledon. Sie ließ den Blick über die Tribünen wandern. Das Publikum war aufgestanden und applaudierte höflich – überall elegante Menschen in Pastelltönen, dazu natürlich Pimm’s und Erdbeeren mit Sahne. Charlie hatte früher schon in Wimbledon gespielt und fünf glorreiche Siege eingefahren, aber das hier war der Centre Court.

Sie versuchte, sich auf ihr bevorstehendes Match zu konzentrieren, aber es wollte ihr einfach nicht gelingen. Normalerweise hielt sie sich, sobald sie den ihr zugewiesenen Stuhl am Spielfeldrand erreichte, an eine bestimmte Routine, um sich zu fokussieren: Sie stellte die Schlägertasche und die Getränkeflaschen ordentlich hin, streifte sich das Schweißband über und rückte ihr Stirnband zurecht. Auch jetzt machte sie alles so wie immer, in der gleichen Reihenfolge, aber sie schaffte es nicht, ihre Aufmerksamkeit zu bündeln. Stattdessen nahm sie lauter Dinge wahr, die sie sonst mühelos ausblenden konnte: die Reporterin auf dem Platz, die den Namen ihrer Gegnerin wiederholte, und den Spielansager, der die Stuhlschiedsrichterin vorstellte. Aber vor allem spürte sie, wie die Socken in ihren Schuhen rutschten, was ihr mit ihren eigenen Sneakers nie passierte. Das war kein gutes Omen – wenn es ihr nicht gelang, ihre Gedanken vor dem Match unter Kontrolle zu bringen, ging das normalerweise nach hinten los. Aber sie war einfach nicht imstande, die Flut an Reizen zu ignorieren.

Das Einschlagen geschah wie in Trance. Wahllos hämmerte Charlie den Ball auf Alices Vor- und Rückhand, ließ Volleys und Überkopfbälle folgen; danach probierte jede für sich ein paar Aufschläge. Alice wirkte locker und entspannt, schnell und geschmeidig jagte sie über den Platz und drehte mühelos ihren hageren, jungenhaften Oberkörper, um den Ball zu erwischen. Beim Anblick ihrer Gegnerin kam Charlie sich ganz steif vor. Die neuen Schuhe passten, aber am Fußrücken taten sie weh, und an der rechten Ferse scheuerte es schon. Charlie musste sich immer wieder zwingen, aufmerksam zu bleiben und präzise den Ball zu schlagen. Und dann hatte das Match auch schon begonnen. Sie hatte beim Münzwurf verloren, und Alice drosch ihr den Ball entgegen. Die Münze war doch geworfen worden, oder? Warum konnte sie sich nicht daran erinnern? Wusch! Der Ball zischte wie eine Revolverkugel an ihrer linken Schulter vorbei, und sie berührte ihn nicht einmal. Ass. Erster Punkt an Alice. Die Menge jubelte so laut, wie die britische Etikette es zuließ.

Alice brauchte vier Minuten und dreißig Sekunden, um das erste Spiel zu gewinnen. Charlie ergatterte nur einen einzigen Punkt, und auch nur deshalb, weil Alice einen Doppelfehler machte. Konzentrier dich!, brüllte sie innerlich. Wenn du dich nicht endlich zusammenreißt, ist das Match in null Komma nichts vorbei! Willst du vom Centre Court fliegen, ohne es überhaupt zu versuchen? Nur Loserinnen geben auf! Loserin! Loserin!

Das mentale Schreien und Fluchen funktionierte: Charlie gelang es, ihren Aufschlag zu halten und den von Alice zu breaken. Schließlich führte sie 2:1 und kam endlich ins Spiel. Das flaue, flattrige Gefühl, das ihr vor dem Match so zugesetzt hatte, verschwand, und sie geriet in diesen herrlichen Flow, wo sie keine rutschenden Socken mehr spürte, keine Promis in der Royal Box mehr wahrnahm und auch das reservierte Klatschen und Anfeuern des britischen Publikums nicht mehr hörte. Es gab nur noch ihren Schläger und den Ball, und das Einzige, was zählte, war, wie beide aufeinandertrafen, Punkt um Punkt, Spiel um Spiel, schnell, kraftvoll und zielsicher.

Charlie gewann den ersten Satz 6:3. Am liebsten hätte sie sich schon gratuliert, aber das Match war natürlich noch längst nicht vorbei. Während des neunzig Sekunden dauernden Seitenwechsels zwang sie sich, in aller Ruhe das Wasser in kleinen, maßvollen Schlucken zu trinken. Selbst das erforderte mentale Disziplin, ihr ganzer Körper schrie nach großen, gierigen Schlucken, aber sie beherrschte sich. Als sie genug getrunken und drei Bissen von der Banane genommen hatte, durchwühlte sie ihre Schlägertasche und fischte ihre Reservesocken heraus. Es waren die gleichen, die sie jetzt trug, und eigentlich gab es keinen Grund zu glauben, dass sie damit anders spielen würde, aber Charlie wollte es trotzdem versuchen. Als sie die alten Socken auszog, erschrak sie. Ihre Füße waren rot und geschwollen, die kleinen Zehen blutverschmiert, und an den Fersen hatte sie riesige Blasen. An den Knöcheln hatte sie Blutergüsse von dem steifen Leder. Auf einmal schmerzten ihre Füße, als wäre ein Bus darübergefahren.

Die neuen Socken fühlten sich wie Schmirgelpapier an, und Charlie musste ihre ganze Willenskraft aufbringen, die Schuhe wieder anzuziehen. Als sie sich unter enormen Schmerzen die Schnürsenkel festzog und zuband, erklärte die Stuhlschiedsrichterin die Wechselpause für beendet. Anstatt locker über den Platz zu joggen, um geschmeidig zu bleiben, humpelte sie zur Grundlinie. Ich hätte Schmerztabletten nehmen sollen, dachte sie, als sie zwei Bälle vom Balljungen entgegennahm. Aber vor allem hätte ich von vornherein die richtigen Schuhe anziehen sollen, verdammt!

Und zack!Schon öffneten sich die Schleusentore der Wut und lenkten sie ab. Warum zum Teufel hatte niemand vorausgesehen, dass man ihre Schuhe nicht absegnen würde? Und wo waren eigentlich die Nike-Leute? Es war ja schließlich nicht das erste Mal, dass sie eine Spielerin für Wimbledon ausstatteten! Charlie warf den ersten, dann den zweiten Ball in die Luft, um aufzuschlagen. Doppelfehler. Wer war überhaupt für dieses verdammte Desaster verantwortlich? Sie wechselte wieder die Seite, lieferte einen viel zu schwachen Aufschlag und stand wie eine Salzsäule da, als Alice einen Vorhand-Winner direkt an ihr vorbeihämmerte. Tennisspieler sind abergläubisch. Wir tragen bei jedem Match die gleiche Unterwäsche. Wir essen jeden Tag das Gleiche. Wir tragen Glücksbringer, beten, singen Mantras und tun auch sonst alles Mögliche, um jedem, der gerade zuhört, zu erzählen, wie wahnsinnig toll es wäre, bitte wenigstens diesen Punkt, dieses Spiel, diesen Satz, dieses Turnier zu gewinnen. Charlies erster Aufschlag war kraftvoll und gut platziert, aber wieder war sie viel zu unbeweglich und nicht auf den Return von Alice vorbereitet. Sie erwischte den Ball zwar, schaffte es jedoch nicht, ihn so kraftvoll zurückzuschlagen, dass er übers Netz ging. 0:40. Das durfte ja wohl nicht wahr sein, dass sie bei ihrem ersten Match auf dem Centre Court, der größten, eindrucksvollsten Bühne, auf der sie je gespielt hatte, nicht ihre eigenen Schuhe tragen konnte! Also ehrlich! Wenn sie überhaupt mal neue Schuhe brauchte, verbrachten sie und ihr Team normalerweise Stunden damit, neue Sneakers auszusuchen und anzuprobieren – aber hey, jetzt trag halt einfach die hier, wird schon okay sein. Hallo? Das hier ist Wimbledon und kein Match in irgendeinem Kaff! Wumm! Wut schoss durch ihren Körper direkt in den Ball, den sie mindestens einen halben Meter hinter die Grundlinie schmetterte – und ehe sie sich versah, hatte sie das erste Spiel des zweiten Satzes verloren.

Charlie schaute zu ihrer Box hinüber, wo Marcy, ihr Vater und ihr Bruder Jake saßen. Ihr Vater erwiderte ihren Blick und lächelte automatisch, aber Charlie konnte selbst aus der Entfernung erkennen, wie beunruhigt er war.

Ihre Gegnerin schnappte sich einen Punkt nach dem anderen, und plötzlich lag Alice 5:2 in Führung. Charlie hatte nur noch einen Gedanken: oh mein Gott. Das war’s. Sie verlor gerade ihren zweiten Satz auf dem Centre Court, obwohl ihre Gegenspielerin auf der Rangliste dreißig Plätze unter ihr stand. Ein dritter Satz wäre die Hölle und einfach unmöglich. Das britische Publikum flippte regelrecht aus für seine Verhältnisse, es gab höflichen Applaus und sogar einige Zwischenrufe. Charlie versuchte, sich zu motivieren. Vergiss die Blasen, vergiss die Betonschuhe, vergiss deine Wut auf die Leute, die dafür verantwortlich sind, dass es überhaupt so weit gekommen ist. Das alles ist jetzt egal. Schlag zu, schlag taktisch, schlag immer weiter. Sie umklammerte den Schläger, dann lockerte sie ihren Griff wieder, so wie sie es immer tat, um sich zu entspannen. Festhalten, locker lassen. Festhalten, locker lassen. Vergiss den ganzen Mist und hol dir den nächsten Punkt!

Charlie gewann das nächste Spiel und auch das folgende. Sie beruhigte sich wieder und dachte an nichts anderes, als den Ball zu schlagen und den nächsten Punkt zu holen. Als es im zweiten Satz 5:5 stand, wusste sie, dass sie das Match gewinnen konnte. Sie atmete tief durch und sammelte ihre verbleibende mentale Kraft, um die Schmerzen auszublenden, die jetzt von ihren Füßen in die Beine ausstrahlten. Krämpfe. Damit konnte sie fertigwerden, das war ihr schon unzählige Male gelungen. Konzentrieren. Schlagen. Parieren. Schlagen. Parieren. Schon führte sie 6:5 im zweiten Satz. Jetzt brauchte sie nur noch ein einziges Spiel, um den Satz zu gewinnen. Der Sieg war zum Greifen nah.

Alices erster Aufschlag hatte viel Spin, aber nur geringes Tempo, sodass Charlie ihn mühelos parieren konnte. Der nächste Aufschlag ihrer Gegnerin war wesentlich härter und flacher, aber Charlie schmetterte den Ball durch die Mitte. Sie feuerten den Ball ein paarmal hin und her, bis Alice zu einem Stoppball ansetzte. Charlie erkannte ihren nächsten Zug rechtzeitig und rannte, so schnell sie konnte, zum Netz. Den Schläger schon ausgestreckt, reckte sie sich nach vorn. Sie konnte es schaffen, sie wusste, dass sie es konnte. Sie war fast da, nur noch wenige Zentimeter trennten den oberen Teil ihres Schlägers vom Ball, sie musste den Ball nur ganz leicht berühren, um ihn zurück übers Netz zu befördern, als ihr rechter Fuß – der sich anfühlte, als hinge ein fünf Pfund schwerer Mehlsack daran – plötzlich wie ein Ski unter ihr wegglitt. Wenn sie ihre leichten und perfekt sitzenden Sneakers getragen hätte, hätte sie vielleicht den Ausrutscher kontrollieren können, aber mit dem schweren, klobigen Schuh schlitterte sie über den Rasenplatz wie über eine Eisplatte. Charlie ruderte mit den Armen, warf den Schläger weg, um ihren Sturz mit beiden Händen abzufangen, und dann – ratsch! Sie hörte es, bevor sie es spürte. Hatten die anderen das Geräusch auch mitbekommen? Ein lauter, fieser Knall wie von einer Peitsche, den sicher alle Leute im Stadion gehört hatten, aber falls doch nicht, Charlies darauffolgender Schrei entging garantiert niemandem.

Hart landete sie auf dem Boden, wie ein Kind, das vom Etagenbett fällt. Schmerzen durchschossen ihren Körper. Hinter dem Netz stand Alice mit teilnahmsvoller Miene. Verdammte Heuchlerin. Charlie stützte sich mit den Händen auf dem perfekt gemähten Rasen ab und versuchte, sich aufzusetzen, aber ihre Knöchel knickten um wie Papier. Die Stuhlschiedsrichterin hielt die Hand über das Mikrofon, lehnte sich vor und fragte Charlie, ob sie eine medizinische Pause brauche.

»Nein, schon gut«, brachte Charlie hervor. »Ich brauche nur einen Moment, dann kann es weitergehen.« Sie wusste, dass sie jetzt aufstehen und zurück in Position gehen musste. Sie konnte natürlich eine medizinische Pause nehmen, aber das galt praktisch als Mogelei; wenn man nicht gerade auf dem Platz verblutete, wurde von einem erwartet, dass man gefälligst die Zähne zusammenbiss. Als sie sich aufrichten wollte, schoss ihr der Schmerz von der linken Hand direkt in die Schulter. Nur noch zwei Punkte fehlten ihr zum Sieg. Beiß die Zähne zusammen! Steh auf!

Die Zuschauer applaudierten ihr, erst zurückhaltend, dann lauter. Sie war nicht die Favoritin, aber mit Sportsgeist kannten die Briten sich aus. Zum Dank hob Charlie die rechte Hand und beugte sich vor, um nach dem Schläger zu greifen. Dabei wurde ihr schwindelig, und der Schmerz fuhr ihr durchs Bein. Sie bekam allmählich Panik. War sie etwa ernsthaft verletzt? Würde sie ausscheiden? Oh Gott, was war das für ein schreckliches Geräusch, und wie lange wird es dauern, bis ich wieder fit bin? In acht Wochen finden schon die US Open statt …

Dann hörte sie die Stimme der Schiedsrichterin: »Ich gewähre Miss Silver eine dreiminütige medizinische Pause. Die Uhr läuft bitte ab … jetzt.«

»Ich habe keine medizinische Pause verlangt!«, rief Charlie wütend. »Mir geht es gut!«

Der Turnier-Cheftrainer eilte auf sie zu. Um ihn zu verscheuchen, sammelte Charlie ihre gesamte Kraft, um aufzustehen. Sie schaffte es tatsächlich, sich hinzustellen und umzuschauen. Sie sah, wie Alice kaum merklich lächelte und wie die Schiedsrichterin konzentriert auf die Turnieruhr an der Anzeigetafel schaute. Sie sah, wie David Beckham in der vordersten Reihe der Royal Box sein Handy checkte, ihre Verletzung interessierte ihn offenbar nicht die Bohne, und rechts, in ihrer eigenen Box, sah sie den panisch-besorgten Gesichtsausdruck ihrer Trainerin. Marcy beugte sich so weit vor, dass sie Gefahr lief herunterzufallen, und ihr Vater und Jake blickten drein, als wäre gerade jemand gestorben. Überall auf den Tribünen plauderten die Leute gut gelaunt, schlürften ihre Pimm’s und warteten darauf, dass das Match endlich weiterging. Der Trainer war nun bei Charlie. Seine kühle, starke Hand ergriff ihr pochendes Handgelenk – und dann, ohne Vorwarnung, wurde es schwarz um sie herum.

2

Heiße Dates

TOPANGA CANYONJULI 2015

Das Erste, was Charlie durch den Kopf schoss, als sie aus der Narkose erwachte, war: Ich bin erledigt. Am Ende. Das war’s. Von einem Achillessehnenriss werde ich mich nie wieder erholen. Es fühlte sich an, als wäre jemand über ihren rechten Fuß gebrettert, hätte mit einem Messer darin herumgestochert und ihn dann mit rostigem Draht und Klebstoff wieder zusammengeflickt. Sie hatte schreckliche Schmerzen, und ihr war furchtbar übel. Im Aufwachraum musste sie sich zweimal übergeben, und dann nochmals, als sie in ihrem Zimmer lag.

»Das liegt bloß an der Narkose«, sagte eine stämmige Krankenschwester mit gütiger Stimme, als sie Charlies Apparate überprüfte. »Bald geht es Ihnen schon viel besser.«

»Können Sie ihr nicht Morphin geben, um sie ruhigzustellen?«, fragte Jake, der am Fenster saß.

Die Schwester ignorierte ihn, sagte Charlie, dass sie ihr bald das Abendessen bringen werde, und verschwand wieder.

»Sie ist total scharf auf mich«, sagte Jake.

»Klar.« Charlie musste abermals würgen und griff nach der Brechschale.

»Soll ich dir vielleicht die Haare hochhalten?«

Charlie hustete. »Alles gut. Schon vorbei.«

Sie musste eingeschlafen sein, denn als sie aufwachte, war es draußen dunkel, und Jake vertilgte einen In-N-Out-Burger.

»Oh, hi. Ich hab was Anständiges zu essen besorgt. Hier ist noch ein Burger, falls du ihn runterkriegst.« Jake tunkte zwei Fritten in die Sauce und schob sie sich in den Mund.

Charlie nickte. Zu ihrer Überraschung hatte sie tatsächlich Hunger. Jake packte einen Cheeseburger, Fritten und eine Cola auf den Beistelltisch neben ihrem Bett, steckte einen Strohhalm in den Becher, riss ein paar Ketchup-Tütchen auf und drehte die Tischplatte zu ihr herüber.

»Das hier ist wirklich das einzig Gute daran, wenn man sich kurz vor dem Sieg auf dem Centre Court vor den Augen der ganzen Welt die Achillessehne reißt und in der ersten Runde von Wimbledon ausscheidet«, sagte Charlie und stopfte sich mit der rechten Hand den Burger in den Mund. Ihre linke Hand steckte in einem Gips, der bis zum Ellbogen reichte. Der erste Bissen war wirklich köstlich. Essen war im Moment ihr einziger Trost. Auf dem Heimflug von London nach Kalifornien hatte sie eine Bloody Mary hinuntergekippt, um sich für den Eingriff im UCLA Medical Center zu wappnen.

»Vielleicht war es das ja wert«, bemerkte Jake mit vollem Mund.

»Letztens hab ich mir einen TED-Talk über die Gründer von In-N-Out angehört. Wusstest du, dass das ein Familienunternehmen ist, das auf keinen Fall verkauft oder als Franchise angeboten werden soll?«

»Faszinierend.«

»Ja, allerdings. Ist dir eigentlich schon mal aufgefallen, dass die ganz dezent Bibelzitate auf ihre Becher und Burger-Verpackungen drucken?«

»Nee.«

»Hab ich mir gedacht. Tja, ich find’s jedenfalls interessant.« Charlie betrachtete die Inschrift auf der Unterseite ihres Cola-Bechers: JOHANNES 3,16. Sie hatte keine Ahnung, was in dem Bibelvers stand.

»Ich soll dir übrigens von Dad ausrichten, dass er so schnell wie möglich zurückkommt«, sagte Jake und verdrehte die Augen. »Heute Abend findet im Club ein Fundraising-Event statt, bei dem er Tennisstunden geben muss. Ich musste ihm tausendmal versprechen, dass ich keine Sekunde von deiner Seite weiche.«

Charlie stöhnte. »Na super. Habe ich jetzt etwa rund um die Uhr einen Babysitter?«

»Genau! Dad war natürlich klar, dass du beim Aufwachen denkst, deine Karriere ist vorbei, und dich dann sofort von der nächsten Brücke stürzen willst. Oder besser gesagt: vor den Zug werfen willst. In dieser Gegend gibt’s leider keine Brücken …«

»Was mischt Dad sich überhaupt ein? Er wäre doch total froh, wenn ich endlich aufhören würde zu spielen. Andauernd kommt er mir mit dem Spruch, dass das Leben nicht nur aus Tennis besteht.«

»Stimmt. Aber er weiß genau, wie wichtig es dir ist, Charlie. Selbst wenn er das, was wir wollen, nicht gut findet, unterstützt er uns als Vater. Er jubelt zwar nicht gerade darüber, dass du Tennisprofi geworden bist und ich schwul bin, aber er steht trotzdem hinter uns.«

Während sie in einträchtigem Schweigen ihre Burger verdrückten, dachte Charlie an ihren Vater. Seit über zwanzig Jahren arbeitete Mr Silver als Tennislehrer im Birchwood Golf & Tennis Club. Als Dreijährige war Charlie mit ihrer Familie von Nordkalifornien nach Topanga Canyon gezogen, weil der Club ihrem Vater mehr Verantwortung und ein höheres Gehalt versprochen hatte als bei seinem damaligen Job als Tenniscoach an einem Elite-Internat für Jungen. Einige Jahre später war er zum Tennischef befördert worden, und inzwischen leitete er nicht nur das Tennis-, sondern auch das Golfprogramm, obwohl er von Golf eigentlich keine Ahnung hatte. Den Großteil der Zeit verbrachte er damit, das Inventar zu verwalten, Trainer einzustellen und sich um Beschwerden von Mitgliedern zu kümmern. Doch er vermisste die Arbeit als Trainer. Gelegentlich unterrichtete er noch Senioren und Kinder, aber mit einundsechzig war er nicht mehr fit genug, Jugendliche und junge Profis mit harten Schlägen über den Platz zu jagen. Anfragen für Tennisstunden wurden fast nur noch an die jüngeren Lehrer gerichtet, und so war ihr Vater meistens im Trainer- oder Clubhauptbüro oder an der Besaitungsmaschine zugange. Da heute Abend eines der üblichen Charity-Events stattfand, betreute er vermutlich gerade Kinder oder, anders ausgedrückt, versorgte sie auf dem Übungsplatz mit Bällen, während ihre Eltern in Abendgarderobe häppchenknabbernd im Speisesaal die Aussicht auf das neunte Loch genossen. Er beklagte sich nie, aber es bedrückte Charlie, dass er mit ein paar Achtjährigen Angriff und Verteidigung übte, während seine Kollegen sich drinnen mit Drinks beim Small Talk amüsierten.

»Meine Güte, wieso macht Dad das überhaupt noch?« Charlie schob die Tischplatte beiseite. »Er ist jetzt schon so lange dort – fünfundzwanzig Jahre, oder?«

Jake hob eine Augenbraue. »Weil er nie auf dem College war. Weil er stolz ist und niemals Geld von uns nehmen würde. Weil er in seinen Profijahren ein notorischer Weiberheld war, bis er schließlich Mom begegnete, und als ich dann auf die Welt kam, war er zu alt, um noch zu studieren. Aber das weißt du doch alles.«

»Ja, sicher. Aber warum ist er nie weggezogen? Seit Mom gestorben ist, verbindet uns doch eigentlich mit diesem Ort nichts mehr. Warum hat er es nie woanders versucht? In Arizona oder Florida? Oder Mexiko? So toll ist sein Leben in L. A. ja wohl auch wieder nicht, dass es ihm wahnsinnig fehlen würde.«

Jake schaute auf sein Handy und räusperte sich. »Tja, es gibt eben nicht viele Angebote für einen Tennisprofi im Rentenalter, der vor Urzeiten mal ein paar Jahre auf der Herrentour gespielt hat und bekanntlich noch immer jede Frau abschleppt, die ihn um Hilfe bei der Rückhand bittet. Alles in allem hat er es doch ziemlich gut in Birchwood.«

»Ich kotze gleich.«

Jake verdrehte wieder die Augen. »Ach komm schon, Charlie.«

»Glaubst du, er ist glücklich?«, fragte Charlie. »Ich weiß, er hatte zig Gelegenheiten, noch mal zu heiraten, wollte es aber nicht. Aber glaubst du, ihm gefällt sein Leben?«

Ihr Vater hatte immer geschuftet, um ihnen die gleichen Möglichkeiten bieten zu können, die ihren weitaus privilegierteren Klassenkameraden offenstanden: Sommercamp, Musikunterricht, jährliche Campingurlaube in Nationalparks – und natürlich Tennisstunden. Als sie vier Jahre alt wurden, fing er an, ihnen Tennis beizubringen. Jake verlor allerdings schnell die Lust daran. Charlie dagegen war ein Naturtalent. Sie liebte ihren kleinen pinkfarbenen Schläger, das Lauf- und Gleichgewichtstraining und die Röhre, mit der sie die Bälle einsammeln konnte. Sie liebte es, die kleinen Pappbecher mit eiskaltem Wasser aus dem Spender zu füllen, ihre Sneakers in das Schuhputzgerät zu halten, um den Sand zu entfernen, und beim Öffnen einer neuen Tennisballpackung den Geruch der Bälle einzuatmen. Aber vor allem liebte sie die ungeteilte Aufmerksamkeit ihres Vaters, wie er sich ganz auf sie konzentrierte und wie er jedes Mal strahlte, wenn sie mit wippendem Pferdeschwanz und lila gestreifter Jogginghose auf dem Platz herumsprang. Dieser Blick war sonst immer seinen aktuellen »Freundinnen« vorbehalten, einer endlosen Anzahl von geschiedenen Mittvierzigerinnen, die viel zu enge und kurze Röcke trugen, sich bei ihm einhakten und Charlie unehrliche Komplimente über ihr Zimmer, ihre Zöpfe oder ihr Nachthemd machten, bevor sie mit ihm in die Nacht entschwanden, eingehüllt in eine Wolke aus schwerem Parfüm.

Okay, nicht alle waren so. Manchmal waren die Frauen auch jünger, redeten Charlie und Jake mit hohen Stimmen an, als wären sie Zootiere, und brachten ihnen nett gemeinte, aber altersmäßig völlig unpassende Geschenke mit, zum Beispiel einen Plüschkoala für die fünfzehnjährige Charlie oder einen Heineken-Bierkühler für den siebzehnjährigen Jake. Manche dieser Frauen lernte ihr Vater im Club kennen, manche im Fish Shack am Malibu Beach, wo er seit zwanzig Jahren Stammgast war. Viele waren gerade auf der Durchreise von New York nach Hawaii oder von San Francisco nach San Diego. Aber irgendwie landeten sie immer alle bei ihnen zu Hause. Dad erwartete von Charlie und Jake höchstens ein freundliches Guten Morgen, aber er kam nie auf die Idee, dass es nicht gerade förderlich war, seinen Kindern eine endlose Parade von One-Night-Stands am Frühstückstisch zu präsentieren. Gelegentlich war eine Frau darunter, die mehrere Wochen blieb. Charlie erinnerte sich zum Beispiel noch gut an eine sehr nette Bohnenstange namens Ingrid, die sogar ehrliches Interesse an ihr und Jake zeigte. Aber die meisten waren schnell wieder verschwunden.

Wenn Mr Silver einmal nicht arbeitete, angelte oder sich seiner nächsten »Eroberung« (so nannte er das immer) widmete, konzentrierte er sich voll und ganz auf das Tennisspiel seiner Tochter. Sobald er mit Charlie den beleuchteten Platz von Birchwood betrat – in der Regel abends, wenn die zahlenden Mitglieder schon zu Hause bei ihren Familien waren –, bündelte er seine Aufmerksamkeit zu einem Laserstrahl, der Charlie sofort wohltuende Wärme spendete. Das war das Einzige, was sich nach dem Tod ihrer Mutter nicht geändert hatte: sein immenses Vergnügen daran, Charlie seinen Lieblingssport beizubringen, seit sie ihm wie ein Küken auf den Platz gefolgt war. Unermüdlich erklärte er ihr Grundlinie, Korridore, Aufschlaglinie und Niemandsland, und als sie ihm mit dreizehn zum ersten Mal einen Punkt abrang, jubelte er so laut, dass ein besorgter Platzwart angerannt kam, um sich zu vergewissern, dass bei ihnen alles in Ordnung war. Nichts konnte ihre gemeinsamen Trainingsstunden vereiteln, weder der Tod von Charlies Mutter noch die Frauen, die ihm in den darauffolgenden Jahren Gesellschaft leisteten. Mr Silver brachte Charlie alles bei – Schläge, Beinarbeit, Taktik und natürlich Sportsgeist –, bis sie schließlich mit fünfzehn den Orange Bowl, den Grand Slam der Junior-Tennisturniere, gewann. Weiter konnte er sie als Trainer nicht bringen, hatte er damals erklärt.

Jake reckte die Arme und stieß einen Seufzer aus. »Ob ihm sein Leben gefällt?« Er rieb sich das Kinn. »Ich glaube schon. Auf der Arbeit geht er es inzwischen langsamer an, aber er hat immer noch heiße Dates.«

»Heiße Dates?« Charlie griff sich hinter den Kopf, um das Kissen zurechtzurücken. »Das ist ja abartig.«

»Ach komm schon, Charlie. Mit vierundzwanzig bist du ja wohl alt genug, dich der Tatsache zu stellen, dass dein Vater immer noch nichts anbrennen lässt. Es gibt Schlimmeres.«

»Was denn zum Beispiel?«

»Zum Beispiel, dass ich früher auch so war.«

Charlie musste unwillkürlich grinsen. »Touché!«

Da machte ihr Handy auf dem Beistelltisch ping. Sie drehte sich so schnell danach um, dass ihr Fuß leicht einknickte und ihr der Schmerz ins Bein schoss. Eine SMS von Marco. Spielst du New Haven?

Sie lächelte trotz ihrer Schmerzen. Dieses Jahr würde sie weder bei den Connecticut Open noch bei den US Open noch den Turnieren in Asien antreten. Sie konnte von Glück reden, wenn sie nächstes Jahr für Australien wieder fit genug war.

Hi! Bin gerade operiert worden. Jetzt kommt erst mal Reha. Drück mir die Daumen für Australien im Januar …

Du Ärmste! Tut mir so leid, meine Schöne. Bist du ok?

»Läuft da was, wovon ich noch nichts weiß?«, fragte Jake interessiert.

Danke!, tippte sie. Viel Glück in Cincy. Vermisse dich! Doch kaum hatte sie auf »Senden« gedrückt, bereute sie es. Vermisse dich? Erst als Jake etwas zu ihr sagte, wurde ihr bewusst, dass sie den Atem angehalten hatte vor lauter Spannung, ob Marco auf ihre SMS reagierte.

»Hallo? Charlie? Immer schön relaxed bleiben, sonst zerquetschst du noch dein Handy!«

Charlie lockerte ihren Griff. Keine SMS.

»Sollen wir fernsehen? Ich könnte mein iPad an den Zimmerfernseher anschließen. Wenn du Lust hast, können wir Die Höhle der Löwen gucken.«

Ping! Eine SMS mit genau den zwei Buchstaben, auf die sie gehofft hatte: xo.

Charlie musste grinsen. Sie legte das Handy weg und sagte: »Klingt super. Mach das Ding an.«

»Komm schon, Charlie!«, schrie Ramona. »Versuch es nochmal! Oder bist du ein Weichei? Das ist doch ein Kinderspiel für dich!« Im Krankengymnastikraum zuckte keiner auch nur mit der Wimper.

Charlie lag auf einer Beinpresse, aber sie brachte es einfach nicht über sich, mit ihrem verletzten rechten Fuß gegen das Gewicht zu drücken. Stattdessen benutzte sie ihren gesunden Fuß. Doch Ramona zog Charlies linken Fuß wieder weg. »Trau dich!«, rief sie. »Die Achillessehne hält das aus. Aber du kannst sie nur kräftigen, wenn du dich auch traust, sie zu belasten.«

»Ich versuch es ja«, sagte Charlie mit zusammengebissenen Zähnen, den Gipsarm hatte sie auf die Brust gelegt.

Ramona lachte und schlug sich mit ihrer Pranke auf den stämmigen Oberschenkel. »Dann gib dir gefälligst noch mehr Mühe!«

Charlie grinste, obwohl sie Schmerzen hatte. Ramona und ihr Drill waren das einzig Lustige an dieser verdammten Physiotherapie, die kein Ende nehmen wollte. Sie presste den Fuß noch drei Mal gegen das Gewicht, um zu beweisen, dass sie kein Weichei war. Dann sank sie stöhnend auf die blaue Matte.

»Na gut. Hast dich heute zur Abwechslung sogar mal ein bisschen ins Zeug gelegt.« Ramona versetzte Charlie einen spielerischen Tritt. »Bis morgen, gleiche Zeit, gleicher Ort!« Sie wandte sich ihrem nächsten Patienten zu, einem Lakers-Spieler, der sich von einer Schulterverletzung erholte. Dann drehte sie sich noch einmal zu Charlie um und rief: »Morgen gibst du dein Bestes, klar?«

»Kann es kaum erwarten«, murmelte Charlie und stand auf.

»Klasse gemacht heute«, sagte Marcy, als sie Charlie zur Umkleide folgte. »Du hast dich in nur fünf Wochen wirklich super verbessert.«

»Findest du? Mir kommt es wie eine Ewigkeit vor.« Charlie zog sich die durchgeschwitzten Sachen aus und klemmte sich ein Handtuch unter die Achsel.

Marcy begleitete sie zum Whirlpool und setzte sich daneben auf die Bank, während Charlie sich vorsichtig in das dampfende Wasser sinken ließ.

»Du machst alles genau richtig und nach Plan. Es dauert eben seine Zeit, sich von einem Achillessehnenriss und einem gebrochenen Handgelenk zu erholen. Sechs Monate beziehungsweise fünf, wenn du das Training für die Australian Open im Januar mitzählst. Das würden die meisten Leute nicht hinkriegen, selbst Profisportler nicht, die auf höchstem Niveau bestehen müssen. Hab Geduld.«

Charlie lehnte den Kopf zurück, schloss die Augen und streckte den Fuß im Wasser, um die Achillessehne zu dehnen. Das tat zwar weh, aber es war kein Vergleich zu den stechenden Schmerzen in den ersten Tagen nach der Operation. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, jemals wieder richtig gehen zu können. Wie soll ich bloß wieder rennen und springen?«

Marcys dicker blonder Zopf saß so perfekt, dass er sich kaum bewegte, als sie sich nach vorn beugte und Charlie musterte. »Hast du eigentlich schon mal die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass es länger dauern könnte? Und dass Australien vielleicht nicht ganz realistisch ist?«

Charlie öffnete die Augen und starrte Marcy an. »Wie bitte? Nein, habe ich nicht. Dr. Cohen meinte, eine vollständige Erholung in sechs Monaten wäre möglich, und genau das ist mein Plan.«

»Das weiß ich, und ich respektiere das natürlich, Charlie. Aber wir sollten vielleicht trotzdem mal über einen Plan B sprechen, falls es aus irgendeinem Grund nicht so läuft, wie du es dir vorstellst.«

»Über einen Plan B? Ich schufte gerade wie blöd, um im Januar für Australien wieder fit zu sein. Falls das nicht klappt und sich das Ganze sogar noch verschlimmert, wenn ich wieder anfange zu spielen, muss ich natürlich noch etwas länger warten. Aber was kann denn schlimmstenfalls passieren? Dass ich im Februar mit Doha anfange? Klar, ideal wäre das nicht, aber dann ist es halt so.«

Marcy schwieg und faltete die Hände.

Charlie ließ die rechte Hand im Wasser kreisen und achtete gleichzeitig darauf, dass der Gips an ihrem linken Arm trocken blieb. Jeden Tag dankte sie ihrem Schutzengel dafür, dass ihr Spielarm verschont geblieben war. Die Ärzte hatten ihr zudem versichert, dass sie sich keine Sorgen um ihre Rückhand zu machen brauche. »Was bereitet dir denn solches Kopfzerbrechen?«

»Nichts, es ist bloß …« Marcys Blick wanderte zum nassen Fliesenboden.

»Jetzt rück schon raus mit der Sprache. Wir kennen uns lange genug, du brauchst kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Was ist los?«

»Ich frage mich nur … Es ist nun mal meine Aufgabe, alle Eventualitäten in Betracht zu ziehen und mögliche Szenarien zu durchdenken … du weißt schon.«

Charlie spürte, wie sie ärgerlich wurde, aber sie atmete tief ein und zwang sich, ruhig zu bleiben. »Und?«

»Und … auch wenn es natürlich vollkommen hypothetisch und unwahrscheinlich ist, sollten wir uns wenigstens mal darüber unterhalten, was wir tun, falls sich herausstellt, dass diese Verletzung … vielleicht doch komplizierter ist.«

»Du meinst, falls ich mich davon nicht mehr erhole?«

»Charlie, du erholst dich ganz bestimmt wieder. Dr. Cohen ist der Beste, und er hat sehr viel Erfahrung. Doch der Genesungsprozess verläuft bei jedem Menschen anders, und das gilt natürlich auch für Elite-Leistungssportlerinnen wie dich. Das ist eine komplizierte Sache.«

»Was willst du denn damit sagen? Ich glaube, ich kann es mir denken, aber ich fasse es nicht, dass du so etwas überhaupt in Erwägung ziehst!«

Meinungsverschiedenheiten zwischen Charlie und Marcy waren nichts Ungewöhnliches, immerhin verbrachten sie mehr als dreihundert Tage im Jahr zusammen, aber im Normalfall ging es dabei um so banale Dinge wie Sitzplatzreservierungen für Flüge, Verabredungen zum Frühstück oder ob sie Unser Traum vom Haus oder Das Hausbau-Kommando im Fernsehen anschauten. Das momentane Gespräch nahm allerdings eine Wendung, die Charlie ganz und gar nicht behagte.

Marcy hob die Hände. »Ich will einfach alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Wie gesagt, es ist äußerst unwahrscheinlich, dass du zu dem sehr kleinen Prozentsatz von Profisportlern gehörst, die sich von so einer Verletzung nicht vollständig erholen, aber wir sollten trotzdem über dieses Szenario reden.«

»Aha.«

»Charlie, jetzt sei nicht so. Ich glaube fest an dich. Aber manche Dinge liegen nun einmal nicht in unserer Macht.«

»Aber meine Verletzung bekomme ich in den Griff«, sagte Charlie ruhig.

»Ich weiß, dass du davon überzeugt bist, und glaub mir, niemand hofft mehr als ich, dass du recht behältst, aber eine solche Verletzung kann nun mal … dauerhafte Folgen haben.«

»Und eine Karriere beenden. Sag es doch gleich, denn das meinst du doch, oder?«

»Gut. Dann sage ich es. Sie kann eine Karriere beenden. Wie gesagt, wir hoffen beide, dass dieser Fall bei dir nicht eintritt, und wahrscheinlich wird er das auch nicht, aber wir sollten trotzdem darüber sprechen.«

Charlie hievte sich aus dem Wasser, und Marcy reichte ihr das Handtuch. Charlie schämte sich ihrer Nacktheit nicht im Geringsten, ihre Trainerin war wie eine Mutter für sie. Sie wickelte sich das Handtuch um und setzte sich neben Marcy auf die Bank.

»Ich sehe das ganz anders. Ich will nicht darüber sprechen.«

»Okay, aber ich glaube …«

»Und da wir gerade so ehrlich zueinander sind: Es ärgert mich, dass du überhaupt darüber nachdenkst.«

Marcy räusperte sich. »Das hat nichts mit meiner Meinung über dich und deine Leistungen als Spielerin zu tun oder deine Fähigkeit, dich wieder zu erholen. Wir reden hier über Statistik, Charlie. Nicht weniger und nicht mehr. Manche Leute sind danach wieder topfit, andere nicht.«

»Was wäre denn die Alternative?«, fragte Charlie und wischte sich einen Schweißtropfen von der Stirn. »Aufzugeben? Willst du darauf hinaus?«

»Natürlich nicht. Wir ziehen das durch. Es wird schon alles wieder in Ordnung kommen.«

»Das soll unser großes Ziel sein? Das alles wieder in Ordnung kommt?« Charlie merkte, wie gereizt sie klang, aber sie konnte einfach nicht anders. Langsam, aber sicher wurde sie wütend.

»Charlie.« Marcy klang genauso ruhig und beherrscht wie Charlie bis zu diesem verdammten Moment vor fünf Wochen, als der Sturz in Wimbledon nicht nur ihre Achillessehne, sondern ihr komplettes Leben zerstörte. Seit sie als Vierjährige mit dem Tennisspielen begonnen hatte, war sie noch nie so lange am Stück gezwungen gewesen, eine Pause einzulegen. Sie hatte sich schon oft gefragt, wie es wohl wäre, mit dem Tennis aufzuhören und ein normales Leben zu führen. Jetzt wusste sie es, und es war furchtbar. Natürlich konnte man Krankengymnastik und Relaxen auf der Couch ihres Vaters nicht gerade mit einer Happy Hour an einem Karibikstrand vergleichen, aber die Erkenntnis, wie sehr ihr das Tennisspielen fehlte, hatte sie trotzdem kalt erwischt. Sie konnte es kaum erwarten, wieder anzufangen, sie hungerte geradezu verzweifelt danach – und das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war, dass ihre enge Freundin und Trainerin ihr nahelegte, sich eventuell eine Zukunft ohne Tennis vorstellen zu müssen.

»Marcy, eins will ich hier mal klarstellen: Ich werde mich auf jeden Fall von dieser Verletzung erholen. Und ich werde auf jeden Fall einen Grand Slam gewinnen. Und für mich ist ganz entscheidend, dass du genauso fest daran glaubst. Ich bin vierundzwanzig, Marce. Nicht gerade alt, aber ich werde auch nicht jünger. Wenn ich jemals ganz groß rauskommen kann, dann jetzt. Nicht in zwei oder drei Jahren. Ich habe viel zu viel geschuftet, um jetzt aufzugeben, und ich kann nur hoffen, dass du mich auch nicht aufgibst.«

»Natürlich gebe ich dich nicht auf! Niemand glaubt mehr an dein Potenzial als ich! Aber professionell zu sein bedeutet eben auch, ehrliche und rationale Gespräche über bestimmte Situationen führen zu können. Und genau das mache ich hier gerade.«

»Du glaubst doch nur deshalb, dass ich aufgeben muss, weil du dich von deiner eigenen Verletzung nicht erholt hast«, platzte Charlie heraus und bereute es sofort.

Marcy zuckte zusammen, als wäre sie geschlagen worden, doch sie behielt die Fassung. »Du weißt genau, dass das eine völlig andere Situation war.«

Charlie schwieg. War die Situation wirklich so anders gewesen? Marcy hatte zweimal einen Sehnenriss in der Schulter gehabt. Beim ersten Mal verzichtete sie auf eine Operation und machte nur Physiotherapie, wodurch die Verletzung nicht vollständig ausheilte. Als es zum zweiten Mal passierte, sagten ihr die Ärzte, dass eine Operation wahrscheinlich nicht viel bewirken werde, ermutigten sie jedoch, es wenigstens zu versuchen. Doch Marcy entschied sich dagegen und beendete mit siebenundzwanzig ihre Karriere als Profispielerin.

»Wenn du es sagst«, murmelte Charlie schließlich.

»Wenn ich es sage? Charlie, meine Chancen, mich so weit zu erholen, dass ich wieder hätte spielen können, lagen damals bei zehn Prozent! Die Operation hätte wahrscheinlich mehr geschadet als genutzt, und die Reha-Phase hätte über ein Jahr gedauert! Wo hätte ich denn mit so einer Prognose gestanden? Wohl kaum an der Spitze der Weltrangliste!«

Sie gingen in den klimatisierten Umkleideraum zurück. Charlie begann zu frieren. Sie nahm noch ein Handtuch und legte es sich um die Schultern. Dann drehte sie sich zu Marcy um und sah ihr direkt in die Augen. Es fühlte sich richtig befreiend an, so offen und direkt zu reden – das tat sie sonst fast nie. »Was ich von dir jetzt brauche, ist, dass du mich anspornst und mir sagst, dass ich mich von dieser Verletzung erhole und stärker als je zuvor sein werde«, sagte sie leise. »Und dass du nicht daran zweifelst, dass ich bald wieder spielen werde.«

»Aber das tue ich doch gar nicht.«

»So fühlt es sich aber an.«

»Es gibt wirklich vieles, worüber wir reden sollten. Wir klären das ein anderes Mal, okay, Süße? Tut mir echt leid, aber ich muss jetzt los. Ich bin mit Will verabredet, im Dan Tana’s. Heute ist unser Hochzeitstag.«

Charlie runzelte die Stirn. »Ach, echt? Ich hatte keine Ahnung, dass er auch hier ist.«

»Klar, das ist eine Supergelegenheit für einen gemeinsamen Wochenendtrip. Wir fliegen morgen zusammen nach Florida zurück.«

»Na, dann wünsche ich euch beiden einen schönen Hochzeitstag.«

»Alles kommt wieder in Ordnung, Charlie. Nein – alles wird super. Du machst so tolle Fortschritte hier in der Reha, wirklich. In drei Wochen komm ich dich wieder besuchen, und in der Zwischenzeit bereite ich hinter den Kulissen alles vor, damit du im Januar in Australien dein Comeback feiern kannst. Wie findest du das?«

»Klingt gut«, sagte Charlie, obwohl ihr nach dem Gespräch kalt und unwohl war.

Charlie gab Marcy einen Kuss auf die Wange. »Viel Spaß heute Abend.«

»Danke. Ich melde mich morgen wieder.«

Charlie sah Marcy nach, als sie zur Tür hinausging. Dann duschte sie schnell und zog sich weiße Jeans und ein Tanktop an. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass sie allein in der Umkleide war, rief sie Jake an.

Als er ranging, hörte sie Stimmengewirr im Hintergrund. »Wo bist du?«, fragte sie.

»Einmal darfst du raten.«

»Bist du etwa noch immer hinter diesem Fitnesstrainer her? Wie hieß der doch gleich? Der hatte doch so einen seltsamen Namen. Herman?«

»Nelson. Wenn du mal eine Stunde mit ihm trainieren würdest, könntest du garantiert auch nicht genug bekommen.«

»Ich steh nicht auf Spinning, schon vergessen? Bei der Stunde SoulCycle, zu der du mich mal mitgeschleift hast, wäre ich fast gestorben.«

»Du bist Leistungssportlerin, Charlie. Im Vergleich zu den fetten Wall-Street-Heinis und den Bohnenstangen-Mamis hast du dich echt prima geschlagen.«

»Darauf wollte ich jetzt nicht hinaus, das weißt du genau. Aber egal, hast du kurz Zeit?«

Jake rief jemandem Tschüss zu. Bestimmt hatte er sich ein Handtuch um den Hals gelegt und sich vor den Eingang des Fitnessclubs gestellt, mitten in den New Yorker Großstadttrubel.

»Ja. Was gibt’s denn?« Er war außer Atem. Hatte er etwa zwei Spinning-Einheiten hintereinander absolviert? Charlie schauderte bei der Vorstellung.

»Weißt du noch, als du mir erzählt hast, dass Todd Feltner aufhört? Wann war das? Vor zwei Monaten?«

»Ja, in etwa. Kurz vor Wimbledon gab er bekannt, dass er alles erreicht hätte, was er erreichen wollte, und eine Weile pausieren würde, bevor er sich über seine nächste Herausforderung Gedanken macht. Wieso fragst du?«

»Weil ich seine nächste Herausforderung sein will.« Charlie war verblüfft über ihre eigene Entschlossenheit.

»Was hast du gerade gesagt?«

»Ich will Todd Feltner engagieren, und ich will, dass du mir dabei hilfst.«

Jake war einige Sekunden sprachlos.

»Charlie?«, sagte er schließlich. »Was ist eigentlich los?« Er klang ziemlich besorgt, fast schon panisch. Er war nämlich nicht nur ihr Bruder, sondern auch ihr Manager, und die wichtigste Entscheidung für eine professionelle Tennisspielerin war natürlich, von wem sie sich trainieren ließ.

»Hör zu, Jake, ich bin gleich mit Dad verabredet und hab jetzt keine Zeit, dir alles zu erklären. Aber zumindest kann ich dir sagen, dass ich schon seit einiger Zeit nicht mehr so zufrieden mit Marcy bin, und dieses Gefühl hat sich heute bestätigt. Weißt du, was sie zu mir gesagt hat?«

»Nein, was denn?«

»Sie hat mich gefragt, welchen Plan B ich habe, falls meine Achillessehne nicht heilt und ich nicht mehr spielen kann.«

»Wieso das denn? Dr. Cohen ist doch der Meinung, dass du dich vollständig von der Verletzung erholen wirst. Oder weiß sie etwas, was ich nicht weiß?«

»Nein, gar nicht. Sie hat nur alles infrage gestellt, sie konnte gar nicht mehr aufhören. Ich brauche dir ja wohl nicht zu sagen, wie sich das auf mein mentales Spiel auswirkt, oder?«

Jakes schwieg. Er wusste, was sie meinte.

»Es ist wirklich kein Problem für mich, dass sie wegen ihrer In-vitro-Behandlung nicht mehr so viel reisen will. Es ist zwar nicht leicht für mich und auch nicht gut für meine Karriere, wenn sie bei den kleineren Turnieren nicht dabei ist, aber ich kann natürlich verstehen, warum sie jetzt mehr Zeit braucht. Und ich habe auch versucht, sie nicht für meinen Sturz in Wimbledon verantwortlich zu machen, obwohl du genauso gut weißt wie ich, dass sie sich rechtzeitig um die Freigabe meiner Schuhe hätte kümmern müssen. Wenn sie dafür gesorgt hätte, dass ich meine gewohnten Schuhe hätte tragen können, wäre das alles nicht passiert!«

»Mm … hmm«, sagte Jake. Er hörte ihr genau zu.

»Aber was ich auf gar keinen Fall akzeptieren kann, sind Zweifel. Es ist schon schwer genug für mich, dass ich mir das Handgelenk gebrochen und die Achillessehne gerissen habe und deshalb sechs Monate lang kein Turnier bestreiten kann. Aber wenn dann noch meine eigene Trainerin daran zweifelt, dass ich wieder fit werde, und unbedingt besprechen will, was passiert, wenn ich nicht mehr spielen kann? Also, das geht wirklich gar nicht!«

»Ich verstehe«, sagte Jack.

»Diese Zweifel sind wie Gift. Ab jetzt werde ich jedes Mal, wenn ich sie ansehe, daran denken müssen, dass sie glaubt, ich schaffe es nicht! Vielleicht besteht ja eine geringe Wahrscheinlichkeit, dass ich mich nicht vollständig erhole und nicht mehr auf Toplevel spielen kann. Aber ich kann es mir einfach nicht leisten, so zu denken! Jedenfalls nicht jetzt. Und meine Trainerin erst recht nicht! Ich habe Marcy sehr gern, das weißt du. In all den Jahren war sie wie eine Mutter für mich. Aber ich bin jetzt fast fünfundzwanzig, Jake. So richtig alt bin ich noch nicht, aber wenn ich noch etwas erreichen will, rennt mir die Zeit davon. Und ich will noch etwas erreichen! Ich weiß, dass ich nicht ewig spielen kann, und das will ich auch gar nicht unbedingt. Aber ich will, dass sich die jahrelange Schufterei endlich auszahlt. Ich will einen Grand Slam gewinnen! Und mir ist klar geworden, dass ich dieses Ziel mit Marcy als Trainerin nicht erreichen werde.«

»Ich teile deine Meinung«, sagte Jake ruhig. »Aber ausgerechnet Todd Feltner? Bist du dir sicher, dass er der Richtige ist?«

»Ich weiß, er soll ein Riesenarschloch sein. Ich kenne die ganzen Geschichten. Aber er ist nun mal der Beste. Und ich will den Besten.«

»Er hat bisher noch nie eine Frau trainiert.«

»Vielleicht ist ihm die richtige Frau einfach noch nicht begegnet! Du hast mir doch erzählt, dass er sich total langweilt, seit er aufgehört hat. Er ist noch viel zu jung, um als Rentner abzuhängen! Was macht er denn schon, außer den ganzen Tag in Palm Beach in der Sonne zu braten? Kannst du ihn dazu bringen, dass er mit mir telefoniert? Ich brauche nur fünf Minuten, um ihn zu überzeugen, dass er unbedingt für mich arbeiten muss!«

»Klar kann ich ihn dazu bringen, aber er wird dein Angebot wohl kaum annehmen. Und Todd Feltner als Trainer ist garantiert kein Zuckerschlecken, Charlie. Ich stehe hundert Prozent hinter dir, und wenn du darauf bestehst, werde ich alles tun, damit er zusagt. Aber bilde dir bloß nicht ein, dass er dich auf dem Weg an die Spitze in Watte packt. Er ist dafür berüchtigt, knallhart zu sein.«

Charlie grinste. »Ich weiß. Stell den Kontakt her, okay? Ich mag Marcy wirklich sehr, aber ich muss das tun, was für meine Karriere am besten ist. Ich will ihn. Knallhart ist genau das, was ich brauche.«

3

Das Beste wird nicht verraten

BIRCHWOOD GOLF & TENNIS CLUBAUGUST 2015

Charlie band ihr nasses Haar zu einem Knoten und humpelte so schnell sie konnte zu ihrem Jeep. Eigentlich hätte sie jetzt ihren Vater in Birchwood treffen sollen, aber sie war zu spät dran und würde mindestens fünfzehn Minuten bis dorthin brauchen. Sie schickte ihm schnell eine Sprachnachricht, um sich zu entschuldigen und zu sagen, dass sie schon unterwegs war, dann fuhr sie los. Als sie gerade vom Parkplatz abbog, klingelte ihr Handy. Das war bestimmt Jake. Ohne die Nummer zu checken, drückte sie auf die Freisprechtaste am Lenkrad und zuckte zusammen, als eine fremde Männerstimme aus den Jeep-Lautsprechern dröhnte.

»Charlotte? Charlotte Silver?«

»Am Apparat. Wer ist da, bitte?« Oh Gott, das klingt ja total vorsintflutlich. So hatte ihre Mutter sich immer gemeldet, wenn sie zu Hause ans Telefon ging.

»Charlotte, hier spricht Todd Feltner.« Was??? Charlie verschlug es die Sprache. Sie hatte Jake doch gerade erst gebeten, Kontakt zu Todd Feltner aufzunehmen, und war natürlich davon ausgegangen, dass es Tage oder sogar Wochen dauern würde, bis er anrief.

»Hallo, Mr Feltner«, brachte sie schließlich heraus. »Wie nett, dass Sie sich melden. Jake meinte, dass Sie …«

»Stimmt es, dass Sie gerade erst operiert wurden?«

Charlie war so erfreut über seinen Anruf, dass sie bereitwillig seinen ruppigen Tonfall überging.

»Ja, das stimmt. Ich brauche noch ein paar Monate, bis ich wieder spielen kann, aber ich arbeite dran. Ich hatte gerade wieder Physiotherapie.«

»Warum?«

Charlie warf einen Blick auf ihr Handy, das neben ihr auf dem Beifahrersitz lag. Feltner stellte ganz schön seltsame Fragen. »Wie bitte?«

»Warum verschwenden Sie Ihre Zeit mit Physiotherapie? Wenn ich Ihren Bruder richtig verstanden habe, hatten Sie doch einen Achillessehnenriss, oder? 2006 hatte ich einen Spieler mit der gleichen Verletzung, und er hat sich nie wieder davon erholt. Übrigens hatte er sich nicht obendrein auch noch das Handgelenk gebrochen, so wie Sie.«

So eine Frechheit! Bei jedem anderen Anrufer hätte Charlie das Gespräch beendet. Aber sie sprach gerade mit Todd Feltner, einer lebenden Legende: Kein Trainer hatte mehr Grand-Slam-Siege gehabt, mehr Spieler auf Platz eins der Weltrangliste gebracht und mehr Spielern nach Verletzungen, Drogenproblemen, Nervenzusammenbrüchen und sogar Chemotherapie zu fulminanten Comebacks verholfen. Im Herrentennis gab es nur einen einzigen berühmten Weltklassetrainer, der wie ein Guru verehrt wurde: Todd Feltner.

Charlie räusperte sich: »Ja, aber der Bruch war unkompliziert, und es war zum Glück das linke Handgelenk. Die Ärzte sagen, dass er vollständig ausheilen und meine Rückhand überhaupt nicht beeinträchtigen wird. Der Gips wird schon sehr bald abgenommen.«

»Ihre einhändige Rückhand ist ziemlich beeindruckend«, sagte Feltner. »Sauber und kraftvoll, genauso stark wie Ihre Vorhand. Bei Frauen kommt das selten vor. Bei Männern eigentlich auch.«

»Danke«, sagte Charlie. Sie fühlte sich geschmeichelt. »Ihre Meinung bedeutet mir sehr viel.«

»Deshalb ist es ja auch so jammerschade, dass Sie das Tennisspielen vermutlich an den Nagel hängen müssen. Auf Topniveau werden Sie garantiert nicht mehr spielen können. Selbst wenn die besten orthopädischen Chirurgen Ihre Knochen und Sehnen wieder zusammengeflickt haben: Mental wird Sie das total fertigmachen. Ich habe das schon so oft erlebt.«

»Ich verstehe nicht, warum Sie das sagen.« Charlie wählte ihre Worte sorgfältig. »Immerhin haben Sie Nadal nach seiner schlimmen Knieverletzung trainiert, und nur ein Jahr später hat er die US Open gewonnen.«

»Wollen Sie sich etwa mit Rafael Nadal vergleichen?«

Charlie wurde knallrot. »Nein, natürlich nicht. Aber Sie wissen doch am besten, dass Spieler sich von ihren Verletzungen auch wieder erholen können und dann sogar besser sind als je zuvor. Natürlich ist es eine Herausforderung, aber unmöglich ist es nicht. Und ich bin bereit, alles dafür zu tun.«

Charlie checkte Seiten- und Rückspiegel, bevor sie auf den Highway fuhr. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Für wen hielt Feltner sich eigentlich, sie einfach anzurufen, nur um ihr zu sagen, dass sie es sowieso nicht schaffen würde? Aber was, wenn er recht hatte? Wenn er ebenso wie Marcy davon überzeugt war, dass sie sich von dieser Verletzung nicht wieder erholen würde, wäre es wirklich vermessen von ihr, das Gegenteil zu glauben.