Die List - Mick Saunter - E-Book

Die List E-Book

Mick Saunter

0,0
3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Manner ermittelt in die der Idylle am Chiemsee. Band 2 der Konstantin Manner Reihe. Zwei Morde, dunkle Geheimnisse und ein drohender Anschlag reißen Manner aus der Stille. Zwischen Pferdefest und Dorftratsch stößt er auf Abgründe, die selbst die Provinz nicht verzeihen kann.
Eigentlich wollte Konstantin Manner vom LKA Salzburg nach seiner Knieoperation nur seine Ruhe: Er verbringt seinen Resturlaub gemütlich in einem Wohnwagen am Chiemsee, in der Nähe seiner Freundin Tina. Nach langer Pause will er endlich wieder viel Zeit mit Motorradfahren verbringen. Außerdem ist er fest entschlossen, über sich und seine Zukunft nachdenken.
Aber dann gerät die Schwester einer Arbeitskollegin von Tina unter Mordverdacht, wird verhaftet, und Tina bittet Manner sich einzuschalten. Und zunächst scheint es, als hätte die Traunsteiner Polizei mit ihrer Vermutung recht – alles sieht nach einer blutigen Provinzposse aus, die aus dem Ruder gelaufen ist. Aber dann geht es Schlag auf Schlag: Im Dorf geschieht ein zweiter Mord, der dem ersten ähnelt. In einem Luxushotel am See kommt auf dem jährlichen Pferdefestival eine Besucherin ums Leben, die offenbar mit den Besitzern des Hotels zu tun hatte. Manner stößt auf eine Schutzgelderpressung, und irgendwie scheinen ein paar zwielichtige Gestalten aus der Salzburger Zuhälterszene dahinterzustecken. Fast ist alles geklärt – da trifft er bei seinen Ermittlungen auf Vorbereitungen zu einem Terroranschlag, der alles jemals in Deutschland Geschehene in den Schatten stellen würde – und Manner steht am Abgrund zu einer Schuld, die er nie wird begleichen können. Wie soll er jemals damit leben können?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Prolog
Nothing else matters
1
Rückblende: Der Tag nach dem Mord in Trossling
Rückblende: Zwei Wochen nach dem Mord in Trossling
2
Rückblende: Eine Woche nach dem Mord in Trossling
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
Operation Tyr
Rückblende: Ein Jahr vor dem Anschlag
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
Die Tochter
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
Im Dunklen
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
Das Fanal
1
2
3
4
5
6
7
8
Die Zeit des Wassermanns
1
2
3
4
5
6
Ins Licht
1
2
3
Epilog
Anmerkung des Autors
Danke
Anhang
Einige Personen der Handlung
Zu guter Letzt etwas Aufbauendes: Manners Krautsalat
Weitere Veröffentlichungen

Mick Saunter

 

Die List

Über das Buch:

 

Du willst das Richtige – und triffst die falsche Entscheidung. Wie konsequent wirst Du sein, wenn Du erkennst: dass die Schuld wieder einmal auf dein Konto geht?

 

Eigentlich wollte Konstantin Manner vom LKA Salzburg nach seiner Knieoperation nur seine Ruhe: Er verbringt seinen Resturlaub gemütlich in einem Wohnwagen am Chiemsee, in der Nähe seiner Freundin Tina. Nach langer Pause will er endlich wieder viel Zeit mit Motorradfahren verbringen. Außerdem ist er fest entschlossen, über sich und seine Zukunft nachdenken.

Aber dann gerät die Schwester einer Arbeitskollegin von Tina unter Mordverdacht, wird verhaftet, und Tina bittet Manner sich einzuschalten. Und zunächst scheint es, als hätte die Traunsteiner Polizei mit ihrer Vermutung recht – alles sieht nach einer blutigen Provinzposse aus, die aus dem Ruder gelaufen ist. Aber dann geht es Schlag auf Schlag: Im Dorf geschieht ein zweiter Mord, der dem ersten ähnelt. In einem Luxushotel am See kommt auf dem jährlichen Pferdefestival eine Besucherin ums Leben, die offenbar mit den Besitzern des Hotels zu tun hatte. Manner stößt auf eine Schutzgelderpressung, und irgendwie scheinen ein paar zwielichtige Gestalten aus der Salzburger Zuhälterszene dahinterzustecken. Fast ist alles geklärt – da trifft er bei seinen Ermittlungen auf Vorbereitungen zu einem Terroranschlag, der alles jemals in Deutschland Geschehene in den Schatten stellen würde – und Manner steht am Abgrund zu einer Schuld, die er nie wird begleichen können. Wie soll er jemals damit leben können?

 

 

Über den Autor:

 

 

Mick Saunter, 1957 in Wuppertal geboren, flog mit sechzehn vom Gymnasium, wurde Eisenwarenkaufmann, war Funker beim Bund, fuhr Lkw, verkaufte Versicherungen und arbeitete in einer Autowerkstatt. Lernte das Tischler-Handwerk und holte den Schulabschluss nach, gründete eine Familie, studierte Holztechnik, und plante über viele Jahre Läden in ganz Deutschland. In der Lebensmitte lernte er eine Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung kennen. Das veränderte in seinem Leben alles: Er lernte neu, arbeitete viele Jahre für Menschen mit unterschiedlichsten Behinderungen. Dabei wurde ihm klar, wie unendlich wichtig es ist, das Leben mit dem zu verbringen, was man wirklich will – und fing mit fast sechzig an zu schreiben.

Er lebt und schreibt im Bergischen Land.

 

Mehr über den Autor unter www.saunter.de

Mick Saunter

 

Die List

 

Konstantin Manner ermittelt 2

 

 

Thriller

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die

Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

Juli © 2024 Empire-Verlag

Empire-Verlag OG, Lofer 416, 5090 Lofer

 

Lektorat: Katrin Gönnewig

Korrektorat: Heidemarie Rabe

 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur

mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

 

Cover: Chris Gilcher

https://buchcoverdesign.de/

Illustrationen: Adobe Stock ID 668325988

 

Du möchtest keine Veröffentlichung aus dem Hause Empire-Verlag verpassen? Dann melde dich gleich zum Newsletter an: https://www.empire-verlag.at/newsletter/

Eine Auflistung der Figuren findet sich im Anhang.

 

 

 

 

 

 

 

»Das eben ist der Fluch der bösen Tat,

dass sie, fortzeugend, immer Böses muss gebären.«

 

Friedrich Schiller

 

 

Prolog

 

*

 

Drei Wochen nach dem Anschlag

und der Katastrophe von Stuttgart.

 

*

 

Mit raschen Schritten ging die Frau durch den Park Richtung Klinik. Der Hund an ihrer Seite, ein alter Labradorrüde mit stumpf-braunem Fell und weißgrauer Schnauze, hatte Mühe mit ihr Schritt zu halten. Er versuchte ihre Aufmerksamkeit zu bekommen, stupste mit der Schnauze gegen ihre Hand. Aber sie reagierte nicht.

Kurz zuvor war sie abrupt stehen geblieben und hatte mit einem irritierten Lächeln den Kopf geschüttelt, so als könnte sie einfach nicht glauben, was ihr offenbar vor wenigen Minuten bewusst geworden war. Sie hatte an ihr Haar gegriffen und den dünnen hölzernen Stab aus dem strengen Knoten gezogen, mit dem es bisher immer zusammengesteckt gewesen war. In kastanienbraunen weichen Wellen wallte es ihr bis zur Taille. Dann eilte sie weiter.

Als wäre eine Last von ihr abgefallen, dachte Manner. Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

 

Harry sah ihnen mit hängenden Ohren enttäuscht nach und drehte sich hechelnd zu den beiden Männern um, die nebeneinander auf der Bank saßen.

Ich bin ein solches Arschloch, dachte Manner verzweifelt. Verdammt! Ich hätte mehr auf sie aufpassen müssen. Wieder barg er sein Gesicht in den Händen. Er spürte die Nässe seiner Tränen auf den Lippen, schmeckte das Salz.

Natürlich, sagte die Stimme, und sie klang traurig. Aber du hast es nicht, und dann war es vorbei. Zu spät für dich, zu spät für sie. Du hast sie im Stich gelassen, als sie dich brauchte. Weil deine Gedanken nicht bei ihr waren. Weil du dir etwas anderes wünschtest. Ganz einfach. Erinnerst du dich? An deine verborgenen Wünsche? Die, die du tief in dir versteckt hattest?

Natürlich erinnerte er sich. Nie würde er es vergessen.

 

Sein Blick wurde wie magisch von ihr angezogen, sie schien völlig verwandelt. Sie beschleunigte ihre Schritte, sodass sie fast lief – ungeduldig und wie befreit. Als sie am Seiteneingang ankam, hielt ihr ein Pfleger, der gerade eine Zigarettenpause machte, die Tür auf. Er sah sie fragend an, versuchte ein Lächeln. Sie blieb stehen, erwiderte das Lächeln und sagte etwas. Er schüttelte den Kopf, doch sie drückte dem vergeblich protestierenden Mann die Hundeleine in die Hand und ging hinein.

»Ich hätte es besser wissen müssen«, sagte Manner laut.

Kreutzpaintner zuckte zusammen, aus seinen Gedanken gerissen. Er war noch einmal die Erkenntnisse der letzten Tage durchgegangen, von denen Manner nichts wissen konnte und von denen er ihm berichten wollte.

Du hast es besser gewusst, sagte die Stimme, es ist deine Schuld, dass sie gehen musste – du allein bist dafür verantwortlich, was mit ihr geschehen ist. Du und deine Wünsche. Immer sind es deine Wünsche, die die Menschen, die dich lieben, ins Unglück stürzen.

Manner nickte. Ja, dachte er, genauso ist es gewesen.

»Es ist allein meine Schuld«, sagte er.

Kreutzpaintner sah seinen österreichischen Kollegen ratlos an. Wie sollte, wie konnte man in so einer Situation reagieren? Wie einem Menschen helfen, der von einem Schuldgefühl geradezu erdrückt wird – egal wie falsch es war? Hilflos legte er ihm die Hand auf die Schulter.

»Sag das nicht, Konstantin. Nicht du warst es, der sie getötet hat, hörst du! Niemand hätte es wissen können, auch du nicht, dass er es …«

Manner schob die Hand weg. »Natürlich wusste ich es, ich verdammter Idiot! Ich habe ihn doch gesehen, damals, gleich zu Anfang! Auf der Straße, vor dem Laden!«

»Nein, das hast du nicht! Erinnere dich, was du uns erzählt hast!«

Unwillig schüttelte Manner den Kopf. »Ich hab ihn nicht erkannt, ja, schon – weil er so anders aussah als damals, als auf den Fotos. Aber ich hab doch gefühlt, dass er es war! Ihn hab ich gespürt, seine … seine Aura des Bösen! Ich war nur nicht … Es war …« Er schluckte. »Nein, ich will mich nicht herausreden! Das Handy klingelte, und ich wusste, dass sie es war, ich war sofort abgelenkt, und …« Er stockte. »Wenn ich nur … Wenn ich nur rechtzeitig dort gewesen wäre.«

Ja, wenn, sagte die Stimme, dann wäre es anders gekommen. Aber du warst es nicht. Du dachtest nur daran, was ihr Anruf für dich bedeutet. Du warst ganz und gar nicht bei der, bei der du hättest sein sollen. Vergiss das nur nicht, während du in den Abgrund starrst und dich in deinem Selbstmitleid suhlst!

 

Endlich begriff Harry, dass der andere Hund nicht zurückkommen würde. Mit weitausholenden Sprüngen kam sie zu ihnen zurück und blieb erwartungsvoll vor ihnen stehen. Als nichts geschah, setzte sie sich hin und sah Manner mit schief gelegtem Kopf aufmerksam an. Dann sprang sie auf, hüpfte an ihm hoch, legte ihm die Vorderpfoten auf die Knie und leckte seine Hände.

Geistesabwesend kraulte er ihren Kopf.

Er dachte an das, was –

– plötzlich ein dumpfer Knall, ein heftiger Aufprall von etwas Schwerem. Unmittelbar neben der Bank, auf der sie ihnen noch vor wenigen Minuten gegenübergesessen hatte, liegt die Frau mit den braunen Haaren mit absurd verdrehten Gliedern auf dem mit feinem, weißem Kies bedeckten Weg.

 

Menschen schrien entsetzt auf, Harry bellte aufgeschreckt. Der Pfleger, der immer noch an der Tür stand und rauchte, band hastig die Leine des wie wild tobenden Labradors an den Türgriff und kam angerannt. Kreutzpaintner sprang auf, rief nach Hilfe. In der Klinik ertönte ein Signal, Pfleger und Ärzte stürzten aus dem Gebäude.

Manner wusste sofort, dass es zu spät war. Wie gelähmt blieb er sitzen, und starrte auf das Blut, das dunkelrot unter ihrem zerschmetterten Körper hervorlief und bereits im Kies versickerte.

Der jahrzehntelang trainierte Polizist in ihm reagierte trotzdem. Sein Blick ging reflexhaft nach oben, suchte das Dach der Psychiatrie ab, von dem sie in die Tiefe gestürzt war, nach einer Person, einer Bewegung, einem Geräusch – irgendwas, das auf etwas anderes hindeutete als das, was er sofort vermutete. Aber da war nichts. Niemand war zu sehen.

Sie ist gesprungen, erkannte er in völliger Klarheit, und eine alles einschließende Traurigkeit erfasste ihn wie eine Woge aus Dunkelheit. Jetzt wusste er, was ihr Blick bedeutet hatte, ihre Erleichterung, als sie aufgestanden war.

Ihr war der Weg klar geworden, auf dem sie Erlösung erlangte. Erlösung von dem, was auch immer sie so sehr gequält hatte. Das, weswegen sie hier in der Psychiatrie behandelt werden musste.

Er sah in ihr Gesicht, in ihre gebrochenen Augen. Der Tod hatte ihr das Lächeln gelassen, das ihr zum Schluss wiedergegeben wurde. Und es war Manner, als hätte der Schnitter ihm damit ein Zeichen geben wollen.

 

I.

 

Nothing else matters

 

*

 

Vier Wochen und drei Tage zuvor.

Tag zehn bis zum Anschlag.

 

1

 

18. Juli – Im Biergarten der Pizzeria Bella Ciao in Trossling an der Alz

 

»Ich glaube, dass ich so allmählich einen Riecher dafür bekomme, nicht wahr«, sagte der Oberst. Er nahm das Schnapsglas mit Grappa und schüttete ihn mit selbstsicherem Schwung in seinen Espresso – worauf die winzige Tasse prompt überlief. Unzufrieden gab er einen grunzenden Laut von sich, zuckte vor und hob sie an, um das Übergelaufene aus der Untertasse zu schlürfen. »Verdammt!«, brummelte er undeutlich, wischte sich über die Unterlippe und stellte die Tasse wieder hin, »ich hätte schwören können ...«

Manner blickte neugierig von seiner Zeitung auf. Harry hob müde den Kopf, schaute hechelnd unter dem Tisch hoch, stand auf und ging zum Wassernapf, den der Oberst geordert hatte.

»Also für mich sieht es jetzt nicht direkt so aus, als ob Sie wirklich einen Blick dafür hätten«, sagte Manner mit einem leicht ironischen Unterton, nachdem er die Situation erfasst hatte, und lächelte freundlich über den Rand des Trostberger Morgenblatts hinweg. »Ein Schnapsglas voll Schnaps in ein Kaffeetässchen voll Kaffee schütten zu wollen, das selbst gerade mal das Fassungsvermögen eines Schnapsglases besitzt, erscheint mir jetzt nicht wirklich als besonders routiniert. Vielleicht hätten Sie ja direkt einen Caffé correto bestellen sollen?«

Erbost schaute der Oberst zurück. »Sehr witzig. Wirklich. Vielen Dank. Natürlich meine ich den jungen Kerl dort drüben, der mir ganz nach einem dieser Spürhunde von Journalisten aussieht, die nach der Sache mit dem Mord an Vogl immer wieder hier im Dorf auftauchen, nicht wahr. Seit drei Wochen streifen sie durch die Gegend! Irgendwie haben die alle die gleiche Art, um sich zu schauen: gierig nach Mord und Blut und Fleisch wie ... wie ...« Er suchte nach einem passenden Vergleich. »… wie eine Fuchs–Fähe, die nach einem jungen Hasen schielt und Fressen für ihre Jungen erhofft, wie? Und darüber hinaus hatte ich gedacht, dass man in einer italienischen Trattoria von alleine darauf kommt, was ich meine, wenn ich einen Espresso mit Grappa bestelle. Kann ich denn ahnen, dass die Bedienung hinter der Theke aus Kroatien stammt?« Er wischte sich die Finger am rot-weiß karierten Tischtuch ab. »Eine Zumutung, nicht wahr!«

»Ist ja kein Wunder, bei der Brutalität, mit der der Mann ins Jenseits befördert worden ist.« Manner blätterte in der Zeitung herum. »Ich hab doch gerade … Moment … Ah, da. Hier steht, dass der Mangel an Service–Fachpersonal in der Chiemsee–Region geradezu dramatische Formen angenommen habe. Also was erwarten Sie, Oberst? Und außerdem: Woher wollen Sie das denn so genau wissen?«

»Was?«

»Na, das mit dem Journalisten eben!« Aufmerksam geworden schaute Manner über die Reste seines verspäteten Frühstücks zum Objekt ihrer Diskussion. Der Mann saß ein paar Tische weiter und redete gerade mit der eben erwähnten kroatischen Italienerin. In diesem Moment schaute sie auf, sah sich um, erblickte den Oberst. Sie deutete auf ihn und sagte etwas zu dem mutmaßlichen Journalisten, einem jungen Mann, dessen bronzefarbener Teint und dunkle Augen auf eine südländische Herkunft schließen ließ. Der Oberst grunzte empört.

»Das wird ja immer schöner! Redet die über mich? Was fällt der denn ein?« Er regte sich so lautstark auf, dass es jeder hören konnte. Die blondierte, stark geschminkte Frau mittleren Alters kniff verärgert die Augen zusammen.

Harry hatte genug geschlabbert, setzte sich aufs Hinterteil, schnupperte kurz zwischen den Beinen und kratzte sich dann genüsslich und ausgiebig hinter dem rechten Ohr. Gerade trat die Fuchs–Fähe an ihren Tisch.

»Entschuldigen Sie«, sagte der Mann mit einem ausgeprägt spanischen Akzent, »die Dame hat mir gesagt, dass Sie mir vielleicht weiterhelfen können. Ich bin Journa...«

»HA!«, brüllte der Oberst. Der junge Mann zuckte erschrocken zusammen. Harry sprang mit einem warnenden »Gruff!« auf, worauf der Oberst »Platz!« bellte. Harry legte sich hin und drehte ihnen beleidigt das Hinterteil zu.

Manner erhob sich. »Entschuldigen Sie den Oberst, er hat gerade erst seinen Grappa verschüttet. Bitte setzen Sie sich doch zu uns, wenn Sie mögen, es ist zu heiß, um in der Sonne zu stehen. Ich bin Konstantin Manner.« Er streckte die Hand aus. Der Angesprochene schüttelte sie erfreut.

»Vielen Dank. Mein Name ist Forró, Henry David Forró, und ich schreibe für die Cultura del caballo, einem spanischen Reiter–Magazin.«

Der trotz seines Erfolges bis hierher ziemlich verärgerte Gesichtsausdruck des Obersts änderte sich schlagartig in ein leuchtendes Strahlen, und er stand ebenfalls auf. Harry wollte auch – da traf ihn ein warnender Blick des Herrchens.

»Na, das ist ja mal eine angenehme Überraschung – dann sind Sie ja wegen des Pferdefestivals auf Gut Eisenberg hier, nicht wahr? Herzlich willkommen! Mein Name ist Horst Horsdt, Oberst der Luftwaffe a. D. Im Ruhestand, nicht wahr. Kommen Sie, mein Lieber, nehmen Sie Platz, nehmen Sie Platz!« Er zog einen freien Stuhl vom Nebentisch heran und Forró legte seine Umhängetasche auf den Tisch und setzte sich.

 

Das Vier–Sterne–Hotel Gut Eisenberg am Chiemsee auf einer kleinen Anhöhe nahe Chieming gelegen und mit einem überregional bekannten Reitstall war der Arbeitsplatz von Manners Freundin Tina Andersson, die dort als Masseurin im Wellness–Bereich arbeitete. Jeden Sommer wurde ein Pferdefestival veranstaltet, das sich über die Jahre einen internationalen Ruf erworben hatte. Die Teilnehmer kamen von überall her, und für zwei Wochen herrschte am Ostufer des Chiemsees die große weite Welt der oft millionenschweren Pferdebesitzer, die sich und ihre vierbeinigen Schätze präsentierten, an Wettkämpfen teilnahmen und ihr privilegiertes Leben in vollen Zügen genossen.

Dieses Jahr hatte sich allerdings ein anderes Ereignis ein paar Wochen zuvor in Trossling zugetragen, das nach wie vor die Gemüter beschäftigte: Ein Bauer namens Matthias Vogl war auf brutalste Weise umgebracht worden – und das Wie und Warum beschäftigte seit Wochen die Gemüter der sonst so friedlichen ländlichen Provinz im Chiemgau aufs Äußerste.

»Wollen Sie etwas trinken? Einen Espresso? Hallo, Sie!« Ohne eine Antwort abzuwarten, winkte Horsdt der Bedienung, die ihm einen beleidigten Blick zuwarf. »Bringen Sie mal drei Caffè espresso, aber pronto, per favore!«

Forró war etwas überrascht, Manner hingegen überhaupt nicht. Der Oberst war so, ihn wunderte gar nichts.

»Sagen Sie, Ihr Name. Habe ich ihn gerade richtig verstanden?«, fragte der Spanier vorsichtig in der Hoffnung, nicht versehentlich in ein Fettnäpfchen getreten zu sein. »Bitte entschuldigen Sie, ich war mir nicht sicher.«

Der Oberst nickte. »Aber gewiss haben Sie. Meine lieben Eltern hatten eine ganz besondere Vorliebe für Wortspiele und Alliterationen, und konnten den Standesbeamten zu meinem lebenslangen Leidwesen davon überzeugen, dass es eine gute Idee sei, diesen Vornamen mit dem Familiennamen zu verbinden. Würden sie noch leben, würden sie sich noch heute darüber kaputtlachen. Ich könnte Ihnen Geschichten erzählen ...«

Manner grinste. Horsdt hatte sie ihm schon erzählt.

»Wissen Sie eigentlich, wie der unterste Dienstgrad bei den Fliegern heißt?«, hatte der Oberst ihn gefragt, aber ohne eine Antwort abzuwarten, die Frage sofort selbst beantwortet. »Flieger. Bevor man Gefreiter wird, ist man Flieger. Man setzt also ein ›Flieger‹ vor seinen Namen, wenn man sich meldet. Auch am Telefon. Und einen Stützpunkt der Luftwaffe nennt man Fliegerhorst. Ich war am Fliegerhorst Fürstenfeldbruck, der immer nur Fursty genannt wurde. Können Sie sich vorstellen, wie oft ich vom Gegenüber an der anderen Seite der Leitung gefragt worden bin, ob ich sie verarschen wolle, wenn ich mich mit ›Fliegerhorst Fursty, Flieger Horst Horsdt‹ meldete?«

Forró sah sehr verständnisvoll aus. Er seufzte leidgeplagt. »Ja, so was kenne ich leider auch, die Last mit dem Namen. Wissen Sie, mein Vater ist ein großer Verehrer von Henry David Thoreau.« Er unterbrach sich und sah sie erwartungsvoll an. Manner überlegte kurz, ob er den Namen kennen müsste, kam aber zu keinem befriedigenden Ergebnis, und auch der Oberst zeigte keine Reaktion.

Forró nickte resigniert. »Ein wohl ziemlich berühmter amerikanischer Philosoph aus dem 19. Jahrhundert. So eine Art früher Aussteiger. Lebte in einer Hütte im Wald und wurde in den Sechzigern von den Hippies wiederentdeckt. No? Na, egal. Und bei unserem Familiennamen, der ihn schon sein ganzes Leben lang belastete, dachte er, dass er seinem Sohn wenigstens etwas Positives für das Leben mitgeben könne, wenn er ihn nach so einem berühmten Mann tauft, dessen Name fast so klingt wie unserer. Ich selbst bevorzuge allerdings mittlerweile die spanische Form von Henry, Enrique.«

»Was bedeutet Forró denn?«, fragte Manner neugierig.

Forró verzog die Mundwinkel. »Hülle.«

Der Oberst nickte verständnisvoll. »Ja, ja, Nomen est Omen, nicht wahr. Aber unter einer Hülle kann ja auch immer etwas Überraschendes stecken, nicht wahr!«

Manner war überrascht, so einen geradezu philosophischen Ansatz von ihm zu hören. Sieh mal einer an, dachte er, der olle Kommiskopp – was wohl im Laufe der Zeit noch alles unter seiner Hülle zum Vorschein kommen würde!

»Ihr Deutsch ist aber bemerkenswert, mein Lieber.« Der Oberst nickte anerkennend. »Wo haben Sie sich das denn erworben?«

Die Bedienung balancierte ein Tablett über den Kiesweg, der bei jedem Schritt knirschte, und unterbrach das Gespräch. Freundlich lächelnd servierte sie Manner und Forró zwei Tassen mit jeweils einem Amarettini–Keks und einer eingepackten Schoko–Kaffeebohne auf der Untertasse, die des Obersts zierte lediglich etwas übergeschwappter Espresso. Sie zeigte ihm mit einem unfreundlichen Grinsen ein perfektes strahlend weißes Gebiss, knallte die Tasse vor ihm auf den Tisch, drehte sich elegant um, und ging Hüfte schwingend und mit erhobenem Kopf davon. Forró schüttete zwei Tütchen Zucker in seinen Kaffee und rührte eifrig darin herum.

»Journalismus und Germanistik an der LMU in München. Außerdem bin ich zweisprachig aufgewachsen: Mein Vater ist aus Alicante, meine Mutter stammt aus Deutschland. Aus Wuppertal, wenn Ihnen das was sagt?« Wieder schaute er sie hoffnungsvoll an. Manner und der Oberst nickten unisono.

»… und im Herbst eröffne ich mit meiner Tochter eine Herrenboutique in Wuppertal!«, zitierte der Oberst Loriots Lottogewinner. »Grandios, nicht wahr! Dieser Loriot! So was Blödes, nicht wahr!«

Manner und Forró fragten sich in Gedanken, was er wohl damit gemeint haben könnte, vermieden aber nachzufragen, um nicht in weitere Erläuterungen verwickelt zu werden; doch es war schon zu spät.

»Wissen Sie eigentlich, dass Loriot gebürtig von Bülow hieß? Dass der Pirol auch Vogel Bülow genannt wird, und auf Französisch Le Loriot heißt? Und der Wappenvogel der von Bülows ist? Nein? Sehen Sie! Wirklich blöd, dass er schon verstorben ist, nicht wahr.« Befriedigt, sein Wissen mit ihnen geteilt zu haben, lehnte sich der Oberst zurück, schaute sich Beifall heischend um und schnupperte genüsslich an seiner Tasse.

Eilig wechselte Manner das Thema. »Und Sie sind weshalb hier? Wir konnten vorhin sehen, dass Sie die Kellnerin etwas fragten und sie auf uns deutete.«

»Ja, es geht um Folgendes: Ich hab auf dem Gut gehört, dass es hier wohl vor ein paar Wochen einen ziemlich spektakulären Mord gegeben hat, und ...«

Der Oberst schnaubte enttäuscht, zog einen Flunsch und kippte seinen Espresso in einem Zug hinunter.

Forró sah ihn irritiert an. »Und da dachte ich, dass ich neben dem Bericht über das Pferdefestival noch einen Artikel für das Sommerloch unserer lokalen Zeitung schreiben könnte. Als ich die Dame danach fragte, sagte sie, dass Sie beide wohl etwas darüber wissen könnten?«

Manner schickte einen Stoßseufzer gen Himmel. Erwarte ich denn wirklich zu viel? Wenn ich einfach nur in Ruhe meinen Urlaub machen will? Genervt sah er in seine Tasse – so, als ob er hoffte, darin eine Antwort zu finden.

 

*

 

Rückblende: Der Tag nach dem Mord in Trossling

 

Die Rechtsmedizin an der LMU München

 

»Hoffentlich wird das jetzt nicht zur Gewohnheit, dass wir uns immer zu derart ausgefallenen Morden treffen, Herr Kreutzpaintner!«[Fußnote 1] Die leitende Pathologin Professor Dr. Becker grinste fröhlich. Ihr Assistent sah den Kommissar zweifelnd an.

»Sie haben es aber auch mit wirklich merkwürdigen Exemplaren der Gattung Mensch zu tun! Interessante Art und Weise, jemanden um die Ecke zu bringen, finden Sie nicht auch?«

Hauptkommissar Franz Kreutzpaintner hielt sich ein Tuch vor die Nase, um den Geruch, der hier allgegenwärtig war, etwas zu mildern. Er war blass und wollte so schnell wie möglich wieder an die frische Luft. »Ja, das kann man so sagen.«

»Wirklich unglaublich, was da in dem Bericht steht. Also ich überlege es mir dann erst mal, ob ich wirklich noch mal freiwillig in den Kreis Traunstein fahre, wenn da solch Irre herumlaufen!«

Im Bericht stand, dass Matthias ›Hiasl‹ Vogl, Schreiner und Nebenerwerbslandwirt im sogenannten Altdorf von Trossling an der Alz, von seiner Frau Agnes tot in seinem Kuhstall aufgefunden worden war. Jemand hatte seinen Kopf in eine der Grabnerketten gesteckt, in denen sonst seine Kühe ihr Dasein fristeten. Seine Arme steckten an den Körper gepresst in einer sogenannten verstellbaren Hüftfessel, einer Art großen Zange, die dazu dient, die Rinder bei Untersuchungen am Ausschlagen zu hindern.

»Wer macht denn so etwas! Hier: ›In seinem Mund bis tief hinunter in seinen Hals steckte hineingestopfter Kuhmist, wie er überall im Stall auf dem Boden herumlag. Wahrscheinlich mit der Intention seine Schreie im Todeskampf zu ersticken‹«, las sie laut.

Kreutzpaintner wollte abwinken, schließlich kannte er die Details.

Aber sie machte unbeirrt weiter. »›Das Opfer lag mit heruntergezogener Hose auf dem Stallboden, aus seinem Rektum ragte etwa dreißig Zentimeter das hakenförmige Ende eines etwa 20 Millimeter dicken, gelb ummantelten Stahlrohrstocks, ein sogenannter Kälberstock, ein Hilfsmittel zum Treiben von Kälbern. Dieser wurde mittels eines neben ihm im blutverschmierten Stroh liegenden großen Vorschlaghammers in ihn hineingetrieben. Es wurden klar abgrenzbare Fingerabdrücke auf dem Hammerstiel gefunden.‹ Haben Sie von so was schon mal gehört? Oder gelesen? Also ich habe nichts gefunden! Im Mittelalter, da war so was allerdings auch bei uns als Strafe üblich, für besonders verwerfliche Taten: Man wurde gepfählt. Hier, und dann: ›Danach wurden die Kühe losgebunden, die, vermutlich in Panik über die ungewohnte Situation, sich im Stall frei bewegen zu können, offenbar mehrmals über seinen Unterkörper und den Griff des Kälberstocks trampelten; vielleicht wurden sie auch von dem oder den Tätern angetrieben.‹ Also wenn er bis dahin noch nicht erstickt war, dann muss er ein wirkliches Martyrium unvorstellbarer Schmerzen erlitten haben! Wir haben praktisch keinen heilen Knochen mehr unterhalb der Lendenwirbel gefunden, Hüfte und Beine waren mehrfach gebrochen. Der Kälberstock – wir haben natürlich nachgemessen, er ist inklusive Griff gut neunzig Zentimeter lang – war übrigens etwa sechzig Zentimeter weit hineingeschlagen worden.« Sie hielt inne, hob den Stahlrohrstock auf und drehte ihn interessiert hin und her. »Also, die Darmwand wurde dabei perforiert und weitere Organe schwerst verletzt, was heftige innere Blutungen verursachte, die schließlich zum Tode durch Organversagen führten. Ohne das hakenförmige Ende des Stocks hätte man ihn vielleicht sogar so weit hineintreiben können, dass er am oberen Ende des Körpers wieder ausgetreten wäre – so wie es früher auch vollzogen wurde. Ziemlich unzivilisiert das Ganze. Damals allerdings wurden die Opfer, wenn sie noch lebten – was wohl gar nicht so selten gewesen sein soll, habe ich gelesen – wie ein Grillhendl am Spieß über ein Feuer gehängt, wo sie dann so lange hingen und geröstet wurden, bis der Tod sie von ihren Qualen erlöste.«

Kreutzpaintners Magen war bereits schwer in Aufruhr, während sie sich ohne irgendein erkennbares Zeichen des Grauens nachdenklich den Aufdruck des Herstellers auf dem Rohr ansah. Er wollte etwas sagen, stieß heftig auf und winkte mit dem Tuch vor dem Mund ab.

Dr. Becker sah ihn fragend an. Dann lächelte sie erfreut, wobei sie sich auf den Kälberstock wie auf einen Spazierstock stützte. »Aber«, fuhr sie ungerührt fort, »so wie es aussieht, ist Herr Vogl sehr wahrscheinlich ohnehin nicht an den Verletzungen oder am Schock gestorben, sondern schon vorher an seinem eigenen Blut erstickt. Der Stallmist, der zu einem großen Teil aus grobem, hartem Getreidestroh bestand, wurde mit der gleichen rücksichtslosen Gewalt in den Hals gestopft oder geschlagen wie die Stange in seine Körperöffnung am anderen Ende. Einige der langen festen Strohhalme haben dabei die Speise- und Luftröhre durchlöchert und …«

Kreutzpaintner stieß würgend auf. Er schluckte mehrmals, dann griff er hastig nach der großen Nierenschale, die ihm der Assistent mitfühlend grinsend entgegenstreckte.

 

*

 

Rückblende: Zwei Wochen nach dem Mord in Trossling

 

Das Büro von Benedikt Lackinger auf Gut Eisenberg

 

Alexandra schüttelte verzweifelt den Kopf. »Aber du warst dir doch so sicher, dass es jetzt aufhört!«

Benedikt Lackinger hob hilflos die Schultern. Mist, dass sie mit dem Arschloch gesprochen hat, dachte er. Hätte er den Anruf entgegengenommen, hätte er ihn ihr gegenüber ganz sicher verschwiegen. Aber er hatte gerade mit der verantwortlichen Mitarbeiterin die Organisation der Rahmenveranstaltungen des Festivals besprochen – und so hatte seine Frau erleben müssen, wie ihre Hoffnung, die Vergangenheit endlich begraben zu können, wie eine Seifenblase zerplatzte. »Ich dachte, Vogls Tod würde ihn davon abhalten weiterzumachen. Aber, da habe ich mich wohl geirrt. Ich habe ihn unterschätzt.«

Sie sah ihn fragend an, die Hand vor dem Mund. So, als könnte sie damit vermeiden, etwas zu sagen, was ihr nicht anders gelang.

Lackinger lächelte. Er versuchte zuversichtlich zu wirken, aber seine Augen verrieten etwas anderes. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, ich bekomme das schon in den Griff. Verlass dich auf mich.«

Bisher hatte sie ihm geglaubt, als er ihr versichert hatte, dass Vogls Ermordung durch eine psychisch kranke Frau eine glückliche Fügung des Schicksals gewesen sei, die ihr Problem gelöst hätte. Aber jetzt?

Ich muss ihn einfach fragen, es geht nicht anders, dachte sie verzweifelt. »Hast du ihn getötet?«

Er zuckte zusammen.

Ihr Blick wurde drängend, bittend. »Bitte, sei aufrichtig: Warst du es?«

Er stieß ein ungläubiges Lachen aus.

»Du traust mir so etwas zu? Mir?« Kopfschüttelnd stand er vom Schreibtisch auf, ging zum Schrank. Er öffnete das Glasfach, nahm die Flasche mit dem Pfefferminzschnaps und füllte ein Glas zwei Fingerbreit hoch. »Willst du auch einen?«

»Nein. Warum antwortest du mir nicht einfach auf meine Frage? Sag doch ja oder nein!«

Er verschloss die Flasche, stellte sie zurück. Dann drehte er sich um, sah sie ernst an, hob das Glas an den Mund und trank es in einem Zug leer. Dann ging er zu ihr, legte sanft seine Hände auf ihre Arme.

»Ich war es nicht. Bitte vertrau mir. Ja? Schaffst du das? So wie bisher?«

Suchend pendelte ihr Blick zwischen seinen Augen hin und her, versuchte darin die Wahrheit zu finden. »Ja, ich vertraue dir. Aber wie soll es denn jetzt weitergehen?«

Lackingers Blick wurde hart. »Ich werde noch mal mit ihm reden.«

»Aber sei vorsichtig. Ja? Versprich es!«

»Keine Sorge. Er muss einfach einsehen, dass das aufhören muss. Dass es auch für ihn so nicht weitergehen kann.« Er nickte zuversichtlich. »Er wird es einsehen. Ganz bestimmt.«

2

 

»Also hatte ich recht mit meinem Riecher, nicht wahr!«, sagte der Oberst mit Nachdruck. Manner kniff die Lippen aufeinander und hob die Augenbrauen, sagte aber nichts.

»Grundsätzlich können wir Ihnen was dazu sagen, ja – ich wohne hier, also drüben im Neudorf, auf der anderen Seite der Alz, nicht wahr. Ich kenne die Leute und die Verhältnisse im Dorf ganz gut und hab den ganzen Schlamassel von Anfang an mitbekommen, nicht wahr. Herr Manner ist sozusagen vom Fach, menschliche Verfehlungen jeder Art sind sein Metier. Er ist Major bei der Salzburger Kripo und macht hier Urlaub im Wohnwagen. Stellen Sie sich vor: auf einem Campingplatz.« Das letzte Wort sprach der Oberst so aus, als handelte es sich dabei um eine ansteckende Krankheit.

»Wobei die Betonung ganz und gar auf Urlaub machen liegt«, sagte Manner. »Ich möchte mich entspannen und erholen und meine Reha erfolgreich abschließen, alles andere interessiert mich wirklich nicht.«

Trotzdem war Forró begeistert. »Fantástico! So ein Stück Glück, ausgerechnet Sie hier zu treffen! Können Sie mir etwas darüber erzählen?«

»Über meine Reha?«, fragte Manner eifrig, erfreut danach gefragt zu werden und endlich mal über seine Operation berichten zu können. Niemand außer Tina hatte ihn bisher danach gefragt, und er fühlte sich ein wenig um seinen sekundären Krankheitsgewinn in Form von Anteilnahme und Abscheu betrogen. Dabei hatte er sich schon lange darauf gefreut, die blutigen Details in ganz epischer Breite erzählen zu können und dabei demonstrativ mit seiner metallverstärkten Kniescheibe herumklappern zu können. »Ja, natürlich, ich habe nämlich ein neues rechtes Knie bekommen, weil das alte so was von hinüber war, dass der Chirurg meinte, er habe noch nie bei einem Mann meines Alters ein so kaputtes …«

»Perdón. Über den Mord. Lo siento.«

Manner atmete tief ein, klappte den Mund zu, schluckte und sackte enttäuscht auf dem Stuhl in sich zusammen. »Ja, natürlich.«

Der Oberst schüttelte den Kopf. »Na klar. Was wohl sonst. Jedoch ist darüber in den vergangenen Wochen so ziemlich alles in allen möglichen und unmöglichen Zeitschriften und Zeitungen berichtet worden, und die Polizei hat ja auch schon die Täterin, nicht wahr! Was also wollen Sie noch Neues darüber schreiben, wenn schon alles geschrieben ist?«

Forró sank enttäuscht in sich zusammen. »Ich weiß es nicht. Mir war nur der Gedanke gekommen, als ich davon hörte, dass es eine Chance sein könne, tal vez.« Er verstummte. Manner und der Oberst warteten geduldig, dass sie eine Erklärung dafür bekämen, welche Chance und wofür, aber Forró sah nur traurig in die leere Espresso-Tasse, packte die schokolierte Kaffeebohne aus und zerbiss sie krachend.

»Also, mein Lieber«, der Oberst war es leid zu warten, »was denn nun? Eine Chance wofür? Einen Pulitzerpreis würden Sie für eine Geschichte über so was sowieso nicht erhalten, nicht wahr?«

»Exscusa – es ist nur so, dass das Schreiben über Pferde und so weiter nicht gerade mein Ding ist, wie man so sagt. Ich würde gern in eine andere Richtung wechseln, vielleicht sogar als freier Journalist arbeiten. Investigativ oder so, verstehen Sie? Und da dachte ich, wenn es mir gelänge, einen Artikel in einer überregionalen Zeitung zu veröffentlichen, vielleicht sogar im Zusammenhang mit dem Mord ...« Er seufzte tief und sackte wieder in sich zusammen.

Manner wollte gerade etwas Tröstendes von sich geben, da vibrierte sein Smartphone. Tina rief an.

»Entschuldigen Sie.« Er stand auf und ging ein paar Schritte zu der großen Linde, die den Biergarten beschattete. Ihnen den Rücken zudrehend und mit dem Blick auf den alten Friedhof neben der Dorfkirche lehnte er sich entspannt dagegen und telefonierte weiter. Als er hörte, was Tina ihm sagte, richtete er sich allerdings kerzengerade auf.

Zehn Minuten später, während denen der Oberst versucht hatte, den mutlosen Enrique mit Anekdoten über die Geschichte der Ritter von Trossling, das Gespenst in den Resten der alten Wasserburg an der Alz und die Herkunft der Pietá in der Dorfkircheaufzumuntern, kam er zurück. Er wirkte plötzlich sehr verändert und nachdenklich, setzte sich langsam auf seinen Stuhl.

»Was ist los, mein Lieber? Hat Ihnen Ihre Liebste mitgeteilt, dass Sie heute Abend alleine in die Knutschkugel-Koje krabbeln müssen, oder wie?« Der Oberst gluckste, aber als Manner nicht so darauf reagierte wie erhofft, wurde er ernst. »Was Schlimmes?«

»Nun ja, was soll ich sagen.«

Manner sah Forró an.

»Möglicherweise bekommen Sie doch noch eine Story.«

 

*

 

Rückblende: Eine Woche nach dem Mord in Trossling

 

Im Biergarten des Gasthofes Grünspan am Chiemsee

 

Einige Tage zuvor hatte Manner den Oberst im Biergarten des Gasthofs Grünspan kennengelernt, einem beliebten Motorradtreffpunkt am Ufer des Chiemsees. Für Manners Zwecke hatte das Lokal die ideale Lage: direkt neben dem Campingplatz, auf dem der Wohnwagen seines Kumpels Hänschen stand. Dort hatte er sich für ein paar Tage einquartiert, um nach seiner Reha Resturlaub auszugleichen und Zeit mit Tina in der ›Knutschkugel‹ zu verbringen, wie sie den Wagen nannte. Im Grünspan konnte er frühstücken, zu Mittag essen oder einfach nur bei einem Kaffee seinen Gedanken nachhängen. Dass er quasi als kostenlose Zugabe nebenbei immer wieder Motorräder zu sehen, zu hören und – wenn ein alter Zweitakter dabei war – zu riechen bekam, war sozusagen das Schlagobers auf der Torte.

Jetzt bekam er unfreiwillig ein zunehmend lauter werdendes Gespräch am Nebentisch zwischen zwei älteren Männern mit: ein groß gewachsener, drahtiger und vom Typ und Dialekt her eher Münchener als Ansässiger von etwa Mitte sechzig mit stoppelkurzen grauen Haaren und einem exakt gestutzten, schmalen, eisgrauen Menjoubärtchen. Einen ebenso drahtigen, diszipliniert wirkenden Terrier neben sich. Und einem ein paar Jahre jünger wirkendem, der in seiner Lederhose, dem rotkarierten Hemd und den Haferlschuhen mehr das Ebenbild eines übergewichtigen und vollbärtigen Ur-Bayers darstellte. Die Bulldogge neben ihm schnaufte schnarchend mit geschlossenen Augen vor sich hin. Er spielte unruhig mit seinem Trachtenhut, an dem ein überdimensionierter Gamsbart wippte.

 

»Zefix noch amoi, ich sag dir’s, des Haus mit der verdammten Psychoeinrichtung hätten mia schon vor ein paar Johrn abfackeln solln, als es noch leer g’standen is - dann wär des mit dem Vogl ned so ausganga«, polterte der offenbar Einheimische lautstark, »des muss weg, und zwar sofort auf der Stell! Der wäre doch sonst nie auf den Gedanken gekommen, sich aane solch Varruggte auf den Hof zu holen! Da kannst noch so viel dreimal gescheit daherreden, dass des für die Kranken wichtig is, dass sie aan Heim und aane Aufgabe ham! Sollens sich doch z’sammenreißen und was Ordentliches arbeiten – dann vergehen ihnen schon die Spinnereien! Haben mia schließlich auch tun müssen, oder! Früher – oiso ganz früher, weist scho«, er zwinkerte dem anderen vielsagend zu, »da wär mit denen ganz anders umganga worn – do hätten’s goar koa Chance ned kriegt, irgendwem umzubringen, des Gesindel, des elendige, des verschissene! Der Hiasl tät noch leben! Die wären weggsperrt worden, damals, oder glei noch besser ...«

»Haaalt halt halt halt«, unterbrach der andere ruhig, aber sehr bestimmt, »jetzt hältst dich aber was zurück! So was kannst von mir aus an deinem Stammtisch unter deinen Saufkumpanen loslassen, aber nicht bei mir, nicht wahr!« Der Mann lehnte sich streitlustig vor. »Du hast überhaupt keine Ahnung, Huber, was Menschen mit psychischen Erkrankungen brauchen, überhaupt keine, nicht wahr! Meinst etwa, dass alle, die irgendwann mal in ihrem Leben eine seelische Erkrankung oder Behinderung haben, alles Spinner und Drückeberger sind? Meinst, dass meine Frau ihr Leben selbst beendete, hat sie wohl auch nur gemacht, weil ihr langweilig war, in euerm verschissenem Kuhdorf? Geh mir bloß weg mit deinen Scheißhaus–Parolen! Es ist immer und überall das Gleiche mit Typen wie euch. Egal, ob man eine Ahnung hat von etwas – Hauptsache mitreden, nicht wahr!«

Der Kopf seines Gesprächspartners hatte eine fast purpurrote Färbung bekommen, und seine zum Bersten prall hervorspringenden Halsschlagadern sahen so aus, als ob er kurz vor einem beidseitigen Schlaganfall stünde.

»Übrigens, mein lieber Korbinian, zu deiner Information: Viele psychische Probleme werden gern unter den Teppich gekehrt und überhaupt nicht erkannt, verursachen aber lebenslange Probleme. Besonders gerne von einer bestimmten Art von Männern – die nie im Leben von allein auf den Gedanken kämen, dass mit ihnen etwas nicht stimmen könnte, obwohl sie ihre Sorgen beispielsweise regelmäßig in Alkohol versenken. Wie sieht’s denn bei dir eigentlich aus? Trinkst immer noch regelmäßig schon zu Mittag deinen Roten? Abends dann noch zwei, drei Viertel zum Abschluss? Und zwischendurch ein Weißbier? Gegen den Durscht? Du weißt aber schon, dass Alkohol die meist verbreitetste Droge ist, um seinen Kummer zu betäuben und um sich sein Leben schön zu trinken, ha? Wie geht’s eigentlich deiner Gattin – immer noch öfter im Landfrauenkreis und im Kirchenchor als zu Hause? Der Herr Pfarrer Wesendonk ist schon a fescher, nicht wahr?« Mit einem süffisanten Lächeln griff er zu seinem Glas Wasser und lehnte sich zurück. So, schien er zu denken, jetzt geht’s mir besser.

Der in der Lederhose schien jeden Moment zu platzen – seine aufgerissenen Augen drohten jeden Augenblick aus den Höhlen zu springen. Sprachlos suchte er eine Antwort auf die Worte, die ihn zutiefst getroffen hatten, und die brutale Wirklichkeit seiner Existenz beschrieben – was er sich oder anderen gegenüber allerdings niemals eingestehen würde. Er atmete heftigst ein und aus.

Der Menjoubärtige schaute besorgt.

Schließlich hatte sich der Dicke wieder einigermaßen im Griff. Er stand auf, worauf die Bulldogge mit einem grunzenden Bellen freudig und behände aufsprang, was man bei ihrer Fettleibigkeit gar nicht erwartet hätte. Er griff nach seinem Hut und zog ihn auf den runden Schädel. Der Terrier öffnete leicht das Maul und spitzte die Ohren.

»Weißt was – du kannst mi kreuzweis am Oarsch lecken mit deiner Gescheitmeierei! Pass bloß auf, bis zur nächsten Gemeinderatswahl dauert’s eh nimmer lang, dann wirst scho noch sehn, was mit deinen depperten Psychos passiert! Wirst scho sehn, was sich ändern wird im Dorf!«

Nach zwei Schritten drehte er sich so abrupt um, dass sein Hund an der kurz gehaltenen Leine herumgeschleudert wurde und kläglich quiekend protestierte. Er grinste gehässig. »Und mei Frau is noch da, und ned ins Wasser ganga, gell!«

 

Manner war zwischenzeitlich seine bestellte Currywurst gebracht worden, aber seine Hand mit der Gabel voller Pommes frites verharrte seit etwa zwei Minuten regungslos in der Luft. Er hatte das Gespräch aufmerksam verfolgt und dabei völlig vergessen zu essen.

Der Grauhaarige war bei den letzten Worten aschfahl geworden. Nach etwa einer Minute schüttelte er unwillig den Kopf. Als er in Manners Richtung sah und erkannte, dass der alles mitbekommen hatte, stand er auf und trat an seinen Tisch. Der Terrier sprang auf, wedelte erwartungsvoll mit der Rute. »Entschuldigen Sie unseren Streit. Tut mir sehr leid, nicht wahr, wenn wir so laut waren, dass wir Sie gestört haben.«

»Bitte, bitte, machen’s nur kein Problem daraus! Ich glaub, Ihr Freund musste mal ein wenig zurechtgestutzt werden, was? Ich kenn das auch, immer wieder diese uralten Vorurteile gegen psychische Erkrankungen. Vielleicht wird’s ja mal besser, irgendwann. Leider bin ich fest vom Gegenteil überzeugt. Eher glaube ich, dass Ignoranz und Dummheit niemals aussterben werden.«

Der Mann sah ihn überrascht an. Dann lächelte er erfreut. »Mein Freund ist er nun wirklich nicht. Sagen’s, hätten’s was dagegen, wenn ich mich ein wenig zu Ihnen setze?«

»Nur zu – wenn es Sie nicht stört, dass ich weiteresse. Die Pommes sind gerad noch genießbar, wenn sie noch kälter werden, sans lätschert. Wär schad drum.«

Mit dem Glas in der Hand und dem Hund an der Leine kam sein neuer Bekannter zu ihm, zog einen Stuhl zurecht und stellte sich vor. Manner beugte sich zu dem Hund, der vorsichtig, aber durchaus freundlich interessiert an seiner Hand schnupperte.

»Das ist Harry. Mein Name ist Horsdt mit dt, Oberst a. D. Reimt sich sogar, nicht wahr«, sagte er erfreut, und setzte sich. Harry schnupperte kurz herum, drehte sich auf der Stelle zweimal um sich selbst und legte sich dann neben ihn.

Manner sah den Oberst irritiert an. »Oh! Ja, äh, gut, warum nicht – also dann. Sehr erfreut, Konstantin. Ungewöhnlicher Vorname übrigens, bisher kannte ich Horst nur ohne d.«

Der Oberst grinste schief. »Pardon, dass mir das immer noch passiert. Nein, das ist mein Nachname, nicht wahr. Horsdt mit dt.«

»Ah! Ja so. Verstehe! Also bitte um Entschuldigung. Manner, Konstantin Manner. Major bei der Salzburger Kriminalpolizei und zurzeit ebenfalls außer Dienst: Rekonvaleszent und Urlauber!«

3

 

Die Person, über die der Oberst mit Korbinian Huber im Biergarten und im Gemeinderat von Trossling gestritten hatte, war eine Bewohnerin eines vom Dorf abgelegenen Wohnheimes für Menschen mit psychischen Behinderungen – und nach allgemein bekannter Sachlage die mutmaßliche Mörderin von Matthias Vogl. Hauptkommissar König, der Leiter des Traunsteiner Kommissariats und der zuständige Staatsanwalt hatten in einer Pressekonferenz nur einen Tag nach ihrer Festnahme den Fall praktisch als aufgeklärt eingestuft. Und genau über diese Frau hatte Tina gerade mit ihm telefoniert.

»Stör ich auch nicht?« Ihre helle, klare Stimme klang aufgeregt.

»Nein, niemals, Liebling. Was gibt’s denn?«

»Ja weißt, ich hab doch meine Kollegin Siggi. Du weißt schon, die aus der Kosmetik-Abteilung.«

»Ja, du hast mir schon mal von ihr erzählt. Ist das nicht auch die, die das Brasilian Waxi…«

»Genau!« Sie lachte. »Hey, an was denkst du denn schon wieder? Also, wir haben gerade Mittag gemacht, und da hat sie mir von ihrer Schwester erzählt, der Biggi. Stell dir vor, die sitzt in Traunstein in Untersuchungshaft, weil sie den Vogl umgebracht haben soll!«

»Die ist das? Na, so was. Gerade haben wir darüber gesprochen.«

»Wir?«

»Der Oberst und ein Journalist. Du weißt doch, der pensionierte Flieger, dessen Frau sich umgebracht hat. Lass mich raten: Deine Siggi ist von ihrer Unschuld überzeugt.«

»Genau, und nicht nur das: Siggis Meinung nach ist sie mehr oder weniger schon vorverurteilt.«

»Wie kommt sie denn darauf?«

»Also, Biggi ist erst vor einem dreiviertel Jahr aus einer geschlossenen forensischen Einrichtung in Straubing entlassen worden, in der sie sechs Jahre verbracht hatte wegen Totschlags im Affekt eines Werkstattmitarbeiters der Behinderten–Einrichtung, in der sie damals lebte.«

Manner sog die Luft zwischen den Zähnen ein. »Das ist allerdings nicht ohne. Und was hat diese Siggi dann hier gemacht?«

»Biggi!«

»Entschuldige, Biggi. Was hat sie hier gemacht?«

»Ihr gesetzlicher Betreuer hat ihr bei der Wiedereingliederung geholfen und einen Heimplatz sowie einen gut geförderten Wiedereingliederungsplatz auf dem Hof der Vogls besorgt, wo sie im Haushalt und im Stall geholfen hat. Siggi ist ziemlich verzweifelt. Alles spreche gegen Biggi, und niemand denkt auch nur im Entferntesten daran in eine weitere Richtung zu ermitteln. Für alle sei sonnenklar, dass ihre kleine Schwester wieder in einer Psychose oder sonst einem Wahn getötet hat!«

Manner erinnerte sich, was in der Presse gestanden hatte: So etwas Grausames konnte kein normaler Mensch getan haben, urteilte die Boulevardpresse sehr schnell. Kein Wunder, dachte er, sowie der umgebracht worden ist, kann man schon durchaus auf den Gedanken kommen, dass die Schmierenpresse ausnahmsweise einmal recht hat.

»Es sei ja wohl offensichtlich, hätten die Kriminalbeamten und der Staatsanwalt gesagt, dass nur ein Wahnsinniger so etwas zustande brächte, – oder eben eine Wahnsinnige, was sie ja wohl offensichtlich wäre, ist die einhellige Meinung.«

»Aha. Und was sagt sie dazu? Ihre Schwester wird ja wohl mit ihr reden dürfen.«

»Nichts. Seit ihrer Festnahme spricht sie nicht mehr, auch nicht mit ihr. Der Psychiater spricht von totalem Mutismus, ausgelöst durch einen Schock. Die Frau Vogl hat ausgesagt, dass es zuvor schon ein paar sonderbare Vorfälle mit ihr gegeben hatte, die sie und ihre sechs Kinder ziemlich verängstigten. Und auf dem Hammer und dem Kälberstock waren neben Vogls Fingerabdrücken nur noch die von Biggi. Als es passiert sein muss, war sie üblicherweise auch im Stall. Und kräftig genug wäre sie eh – also sei alles klar, die Indizien seien eindeutig. In Kürze soll sie wieder nach Straubing gebracht werden und dort auf ihren Prozess wegen Mordes warten. Sobald ein Zimmer frei ist, werde sie dorthin verlegt. Stell dir vor: Wieder dorthin, wo sie schon einmal eingesperrt war!«

Manner kannte das nur zu gut. Wenn man einmal wegen einer psychischen Auffälligkeit mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, dann trug man einen großen, so gut wie nicht mehr abwaschbaren Stempel, der einen sofort verdächtiger machte als den Durchschnitt. Da gab es nichts, das war eben so. Auch er nahm sich nicht davon aus, bei solchen Gelegenheiten nicht frei von Vorurteilen zu sein.

»Kannst du nicht mal schauen, ob was zu machen ist? Vielleicht findest du ja was anderes heraus! Und du kennst doch auch den Kommissar Kreutzpaintner, oder? Und du hättest doch auch Zeit und da du schon mal da bist, dachte ich …«

Manner seufzte. »Und da dachtest du, weil es um so eine gute Kollegin geht, ich so ein Guter bin, und dir zuliebe …«

»Ja genau! Siehst du, wie gut du mich kennst! Machst du’s?«

Er lächelte. Sich in so einer Situation zu weigern, hätte wenig Zweck, das war mal klar. »Ich kann ja mal sehen, ob ich was erfahre. Aber ich kann nichts versprechen!«

Tina fiel ihm telefonisch um den Hals. Er sei der Beste. Und sie könnten doch heut Abend, wenn schon alle auf dem Platz schliefen, noch mal zum See. Sie sei schon eine Ewigkeit nicht mehr nackt geschwommen.

Schon während er das Smartphone einsteckte, arbeitete es in ihm. Vielleicht wäre das mal eine Abwechslung zu meinem Job? Sozusagen als freier Ermittler? Als Privatdetektiv sozusagen? Ich könnte mich als Sam Spade Manner vorstellen! Er lachte. Der Gedanke gefiel ihm immer besser und als er zu den anderen zurückkam, war er schon voller Tatendrang.

 

4

 

Forró und der Oberst sahen erstaunt auf.

»Wie mei…« Forró verstummte augenblicklich wieder, als eine Gruppe Motorradfahrer auf Maschinen, deren Schalldämpfer ganz offensichtlich nicht den Vorschriften der Zulassungsbehörden entsprachen, um die Kurve donnerte, in der sich der Biergarten der Pizzeria befand. Der Lärm war ohrenbetäubend, der Schall einzelner provokant kurzer Gasstöße knallte von den Häuserwänden wider, und sogar Manner, der nun wirklich eine besondere Affinität zu satt klingenden Motorrad-Motoren hatte, fand, dass sie es übertrieben.

Nachdem der Letzte, der Neunzehnte oder Zwanzigste, mit aufsteigendem Vorderrad vorbeigerast war, fragte Forró in die wieder einsetzende dörfliche Ruhe: »Mierda – was um alles in der Welt war denn das? Die apokalyptischen Reiter?«

Wutentbrannt war der Oberst aufgesprungen und hatte vergeblich versucht, eines der Kennzeichen zu entziffern. »Das waren die ›Sumo–Reiter‹ – und wenn ich jemals einen von denen erwische, werde ich mich mit Wonne der groben Sachbeschädigung schuldig machen. Nicht wahr!«, sagte er mit Nachdruck. »Die machen mit Vorliebe am Wochenende solch einen Krawall, dass es zum Haareraufen ist! Ich hab schon beim Bürgermeister nachgefragt, ob er nicht mal was dagegen unternehmen will – aber der tut nichts! Ich vermute, ein paar sind darunter, deren Eltern einflussreiche Gemeindemitglieder sind, und mit denen will er es sich nicht verscherzen. Typisch, nicht wahr.«

Forró wirkte sichtlich verwirrt. »Sumo? Soweit ich es erkennen konnte, waren sie alle schlank und sportlich und sahen überhaupt nicht wie Sumo-Ringer aus!«

Manner schüttelte den Kopf. Mit Motorrädern kannte er sich schließlich aus. »Sumo ist in diesem Zusammenhang die Abkürzung für Supermoto – für die Straße umgebaute Geländemotorräder. Stammt aber ursprünglich vom französischen Supermotard.Motard ist das französische Wort für Motorradfahrer, ein Biker neudeutsch. Weiß aber heutzutage kaum einer. Schon gar nicht von den Jungen.«

Horsdt und Forró hatten sich bemüht aufmerksam zuzuhören, waren aber etwas verwirrt von den verschiedenen Begriffen, mit denen sie nichts anzufangen wussten.

»Sie erwarten aber auch Sachen – wir sind hier ja schließlich in der Provinz! Und schließlich: Beati pauperes spiritu, quoniam ipsorum est regnum caelorum, nicht wahr!« Der Oberst war wieder in seinem Element.

Forró strahlte. »Ah, si: Evangelio de Mateo. Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Reich der Himmel. Und was treiben die hier so?«

»In erster Linie für Krawall sorgen«, brauste Horsdt grob auf, »und seit Kurzem besonders auf dem Gelände von Gut Eisenberg!«

Forró zückte sein Notizbuch. Magnifico, dachte er begeistert – also ist hier in la Provincia doch noch was anderes los!

»Die haben schon zweimal den Golfplatz von Benedikt Lackinger durchpflügt, sind mitten durch einen Sandbunker und dann durch Alexandras Garten. Immer und überall diese verdammten halbstarken Eckensteher und Stufensitzer, die sich profilieren wollen und nicht wissen, wohin mit ihrer angeblichen Männlichkeit!«

Forró schrieb eifrig mit. »Alexandra?«

»Seine Frau. Alexandra von Ockenfels–Lackinger. Verarmter Adel, nicht wahr.«

»Hat denn der Besitzer nichts unternommen?«, fragte Manner undeutlich, während er an seinem Amarettini–Keks knabberte.

»Nein, seltsamerweise nicht. Ich verstehe auch nicht, was da mit den Lackingers los ist; vielleicht ist Benedikt zu sehr mit dem Festival beschäftigt, nicht wahr.«

Manner nickte, nippte an seiner Tasse, machte sich aber so seine Gedanken: Wenn sich jemand seinen Golfplatz und den Garten seiner Frau ruinieren ließ, ohne dagegen etwas zu unternehmen, war das nicht normal, das stand mal fest. Das wurde ja immer interessanter in diesem Dorf!

»Aber Sie wollten uns gerade sagen, worum es bei Ihrem Telefonat ging!«, sagte der Oberst neugierig.

Manner stellte die leere Tasse ab und wischte sich einen Kekskrümel aus dem Mundwinkel. »Ja, also – ich habe gerade erfahren, dass die Polizei sich ganz offensichtlich auf eine Person festgelegt hat, die als Täter für den Mord an Herrn Vogl infrage kommt, und keinerlei Anstrengung unternimmt, in weitere Richtungen zu ermitteln. Angeblich sind die Indizien zu eindeutig.« Er verstummte abrupt und dachte nach.

»Und?«

»Entschuldigung. Und die Schwester der Verdächtigen ist eine gute Kollegin von Tina.«

»Aaah!« Der Oberst strahlte und lehnte sich zurück. »Daher weht der Wind! Sie sollen ermitteln! Als Schnüffler! Und? Tun Sie’s? Sie hat Ihnen dafür etwas versprochen, nicht wahr? Nicht wahr?«

Forró verstand überhaupt nichts, ließ allerdings nicht locker. »Sie haben sicher schon eine Idee, wie wir vorgehen wollen, o que?«

Manner überlegte, wie weit er den Oberst und den Journalisten mit einbeziehen sollte – oder eben nicht. Auf Horsdts Informationen und Beziehungen konnte er einfach nicht verzichten, wenn er etwas für Tinas Kollegin herausfinden wollte, das war schon mal klar. Aber wenn der Spanier bei aller spontanen Sympathie für ihn etwas darüber an die Öffentlichkeit brächte und dabei herauskäme, dass ein österreichischer Kriminaler seinen Urlaub dazu nutzte, der deutschen Polizei in den Rücken zu fallen, könnte er einpacken. Mal ganz davon abgesehen, dass er nicht die geringste Lust hatte, sich von Magister Brammen, seinem Chef im LKA Salzburg, wieder einen einschenken zu lassen. Der machte kurzen Prozess mit ihm!

Vielleicht später, dachte er, wenn ich wirklich etwas herausfinden sollte, kann ich ihm immer noch zu seiner Story verhelfen. Aber jetzt muss ich ihn erst mal abschütteln.

»Nein, nicht wirklich. Ich muss jetzt auch erst mal zurück zu meinem Wohnwagen, schauen, ob dort alles in Ordnung ist. Der Platzverwalter hat heute Morgen angedeutet, dass nachmittags die Parzellen neben mir neu belegt würden, irgendwelche Norddeutschen; da will ich lieber dabei sein, bevor die an Hänschens Wagen etwas demolieren, wer weiß, was für Piefkes da herumrangieren! Aber vielleicht können wir uns am Sonntag auf dem Festival sehen? Dem dreiundzwanzigsten? Der Oberst wollte mir dort sowieso etwas Sensationelles zeigen.«

Der Journalist Forró reagierte mit unverhohlener Neugier. »Und was soll es da, por favor, anderes ›Tolles‹ geben als ein paar nervöse Pferde und eingebildete Neureiche? Soweit ich weiß, ist dort nur die ...«, er zog sein Smartphone aus der Tasche und sah in den Organizer, »die … die … die Springprüfung um den Preis der Meindl Bekleidung GmbH & Co. KG, und nachmittags gegen eins die Verleihung des Preises ›eines Freundes des Pferdesports‹ – was soll denn das sein? Meinen Sie etwa das?«

Der Oberst grinste breit, so dass sein Oberlippenbart sein Gesicht in eine obere und eine untere Hälfte teilte und er wie eine gereifte Ausgabe von Clark Gable aussah. »Treffen wir uns da, dann schaun mer mal, nicht wahr – mit so was haben weder Sie noch alle anderen, die dort morgen auftauchen, gerechnet!«

 

5

 

Den Sound vom luftgekühlten VW-Vierzylinder-Boxer erkenn ich wahrscheinlich noch mit neunzig, falls ich dann noch etwas höre, dachte Manner, als er wenig später wieder vor der Knutschkugel saß. Damals hatten Autos wenigstens noch so was wie Charakter. So wie mein Eisenschwein eben! Er wusste sofort, dass so etwas wie ein Bully im Anmarsch sein musste, als er das charakteristische Knattern hörte. Tatsächlich hielt kurz darauf ein alter T3-Camper, orange mit weißem Hochdach, vor dem riesigen Hamburger Wohnmobil gegenüber, wo der Fahrer gerade eine riesige Markise ausfuhr.

»Entschuldigung«, hörte man die rauchige Stimme einer Frau aus dem Bully, »ist hier nicht der Platz Nummer 27? Oder bin ich falsch?«

»Nö, hier ist Nummer 28, 27 ist nebenan.«

»Aber hier vorn steht doch 27 – 28 ist nebenan! Kann es sein, dass ihr auf dem falschen Platz steht?«

Der Mann, blond, breit, massig, im orangefarbenen ärmellosen T-Shirt, neongrünen Shorts und Plastikschlappen, schaute verdutzt. Dann kam er zum Weg und starrte die Nummerntafel an, die gut sichtbar am Wegrand stand: Siebenundzwanzig stand da drauf. Achtundzwanzig war direkt daneben.

»Öh – da hab ich wohl … Entschuldigung, ist wohl ein Irrtum von … I-RE-NE!«, brüllte er laut und drehte sich um, »du hast nicht aufgepasst!« Er deutete hektisch auf das Schild und drehte sich wieder zum VW. Irene, seine Frau, hatte Ohrhörer in den Ohren und schaute nicht einmal auf.

»Ach, egal. Dann stell ich mich eben darauf, okay. Aber wir müssen vorn Bescheid sagen, dass wir getauscht haben – machst du das freundlicherweise?«

»Klar, mach ich. Ich bin übrigens Gernot.«

»Schön, ich heiß Martha. Also, dann park ich mal!«

 

Martha mit dem Bully war eine große, ziemlich füllige, üppig gerundete Frau. Ende fünfzig, schätzte Manner. Mit ihren kurzen weißblond gefärbten und gegelten Haaren erinnerte sie ihn ein wenig an diese deutsche Schauspielerin und Kabarettistin, die immer im Overall auftrat. Routiniert rangierte sie den Wagen auf den Platz, stieg aus, winkte fröhlich zu Manner hinüber und richtete sich ebenfalls häuslich ein. Nachdem sie Tisch und Liegestuhl unter der weiß-orange gestreiften Markise aufgebaut hatte, spannte sie ein Band mit tibetischen Gebetsfahnen darunter, holte ein großes Schaffell heraus und drapierte es sorgfältig auf dem Stuhl.

---ENDE DER LESEPROBE---