Der Plan - Mick Saunter - E-Book

Der Plan E-Book

Mick Saunter

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Beschreibung

Sie irrten sich gründlich, als sie Dich in die Psychiatrie einsperrten.
Aber jetzt werden sie ihren Fehler begreifen.

Andrés Entschluss steht fest: Diejenigen, die dafür verantwortlich sind, dass er einen Großteil seines Lebens in der Psychiatrie verbringen musste, werden dafür bezahlen. Als er während der Therapie Hava kennenlernt, die unter einem furchtbaren Familien-Trauma aus der Zeit des Dritten Reiches leidet, erkennt er seine Chance: Sie beide haben einen Grund die Öffentlichkeit aufzurütteln und auf etwas hinzuweisen, das in der Vergangenheit totgeschwiegen wurde. Gemeinsam schmieden sie einen teuflischen Plan, für den sie bereit sind, alles in Kauf zu nehmen.

Wenig später wird Hauptkommissar Lucien Bartholomé aus seinem Urlaub in seiner Heimat Belgien zurück in das Kommissariat in der Bonner Polizeidirektion beordert. Auf der Burgruine am Drachenfels hat es eine Selbstverbrennung gegeben. Eine junge Frau stirbt unter den Augen der Öffentlichkeit einen grauenvollen Tod. Es gibt zunächst keine Hinweise auf ihre Identität. Kurz darauf wird eine männliche Leiche gefunden, die nicht identifiziert werden kann. Das Gesicht ist bis zur Unkenntlichkeit zerschlagen worden, der Unterleib verstümmelt – und wieder stehen die Ermittler vor einem Rätsel. Was war der Auslöser für einen derartigen Gewaltausbruch? Gibt es einen Zusammenhang zum Suizid? Erst, als die Tochter des Bonner Polizeipräsidenten, Praktikantin im K11, erkennt, um was es sich handeln könnte, kommt mehr und mehr aus der Vergangenheit ans Licht – und lässt erkennen: Dieses Mal geht es um viel mehr als um eine Selbsttötung und einen Mord. Da erhalten Polizei und Medien ein Video von der Selbstverbrennung, mit einer kryptischen Botschaft, die eine Bedrohung ankündigt: ein Leiden, das keine Unterschiede zwischen Jung und Alt macht, und jeden treffen kann. Wenig später meldet sich die Chefärztin des Bonner St. Johannes Hospitals, dass es einen unerklärlichen Seuchenausbruch gibt.

Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, den nur einer zu gewinnen scheint: Der mutmaßliche Mörder – ein Mann, der aussieht wie Bartholomés unehelicher Sohn aus seiner Zeit im Chez Marianne.

"Der Plan" ist eine Neuauflage von "Im Angesicht der Angst".

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Der Verrat
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Das Opfer
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Der Verräter
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Der Drache
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Hückeswagen
Anmerkung des Autors
Weitere Veröffentlichungen

Mick Saunter

 

Der Plan

Über das Buch:

 

Auf der Aussichtsplattform des Drachenfels bei Bonn verbrennt sich eine junge Frau – vor den Augen einer entsetzten Familie, die zufällig anwesend ist. Es gibt keinerlei Hinweise auf ihre Identität oder ein Motiv für den Suizid: Nichts, was ihre grauenhafte Tat erklärt. Kurz darauf wird bei Bauarbeiten im Keller des Wirtschaftshofes von Schloss Drachenburg eine verstümmelte männliche Leiche gefunden. Auch sie kann nicht identifiziert werden. Keine der Vermisstenmeldungen passen zu den Toten, Kommissar Bartholomé und sein Kollege Simon Glauber tappen völlig im Dunkeln. Erst als Wiebke Heuer, die Tochter des Bonner Polizeipräsidenten, Fünfkampf-Sportlerin, hochbegabt und ein wahres Recherche-Talent, als Aushilfe eingestellt wird, findet sich ein erster Hinweis, der die Vorgänge erklären könnte.

Da erhalten Polizei und Medien ein Video von der Selbstverbrennung, mit einer kryptischen Botschaft, die eine tödliche Bedrohung für die Bevölkerung ankündigt. Wenig später meldet sich die Chefärztin des Bonner St. Johannes Hospitals – und ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.

 

 

Über den Autor:

 

 

Mick Saunter, 1957 in Wuppertal geboren, flog mit sechzehn vom Gymnasium, wurde Eisenwarenkaufmann, war Funker beim Bund, fuhr Lkw, verkaufte Versicherungen und arbeitete in einer Autowerkstatt. Lernte das Tischler-Handwerk und holte den Schulabschluss nach, gründete eine Familie, studierte Holztechnik, und plante über viele Jahre Läden in ganz Deutschland. In der Lebensmitte lernte er eine Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung kennen. Das veränderte in seinem Leben alles: Er lernte neu, arbeitete viele Jahre für Menschen mit unterschiedlichsten Behinderungen. Dabei wurde ihm klar, wie unendlich wichtig es ist, das Leben mit dem zu verbringen, was man wirklich will – und fing mit fast sechzig an zu schreiben.

Er lebt und schreibt im Bergischen Land.

 

Mehr über den Autor unter www.saunter.de

Mick Saunter

 

Der Plan

 

Kommissar Bartholomé 2

 

 

 

 

 

 

 

Thriller

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die

Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

Mai © 2024 Empire-Verlag

Empire-Verlag OG, Lofer 416, 5090 Lofer

 

Lektorat: Katrin Gönnewig

Korrektorat: Heidemarie Rabe

 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur

mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

 

Cover: Chris Gilcher

https://buchcoverdesign.de/

Illustrationen: Adobe Stock ID 59261452, Adobe Stock ID 124573637 und freepik.com.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

»Die einzige Möglichkeit, unsere Angst zu lindern und wirklich glücklich zu sein,

besteht darin, unsere Angst anzuerkennen und tief in ihre Quelle zu blicken.

Anstatt zu versuchen, vor unserer Angst zu fliehen,

können wir sie in unser Bewusstsein einladen

und sie klar und tief betrachten.«

 

Thích Nhat Hanh

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Verrat

 

 

 

 

 

 

1

 

Ihre Uhr zeigt, dass es soweit ist.

Sie schließt die Augen. Flüsternd spricht sie das Widduj, das Sündenbekenntnis, und bittet um Vergebung.

Wie wird es sein, das Sterben?

 

Als sie die Hand nach dem Kanister ausstreckt, hört sie Stimmen.

Erschrocken sieht sie sich um. Das ältere Paar, mit dem sie in der Zahnradbahn hierher gefahren ist, kommt die Stufen herauf. Zwischen sich, an ihren Händen ein kleines Mädchen, es ist nicht älter als vier, fünf Jahre. Dahinter Arm in Arm die Eltern.

Großeltern mit Kindern und Enkel, denkt sie. Dann bin ich doch nicht allein, wenn ich brenne.

Sie werden sich alle hier oben getroffen haben – das war also der Grund für die Fröhlichkeit der beiden Alten während der Fahrt herauf. Und jetzt sehe ich sie noch einmal.

Eine seltsame Mischung aus Glück und Neid steigt in ihr auf.

Wie oft habe ich mir das gewünscht. Eine Familie, die unbeschwert gemeinsam schöne Zeit verbringt.

Aber sofort verdrängt Scham den Neid.

Scham darüber, was sie diesen Menschen antun wird. Was mit ihnen geschieht, wenn sie ihren Plan ausführt.

Sie werden sich für den Rest ihrer Leben Vorwürfe machen, weil sie nichts unternommen haben. Das, was sie mit ansehen müssen, ihre Erinnerung an den Blick in die Hölle, wird sie nie mehr loslassen. Obwohl sie nichts tun können. Aber das zählt nicht, wenn die finsteren Stimmen aus dem Inneren erst einmal etwas anderes behauptet haben. Oh, wie gut ich sie kenne, diese Stimmen.

Der Fahrer der Bahn fällt ihr ein.

Auch er wird sich unweigerlich an mich erinnern, auch er wird ein Leben lang mit einem unausgesprochenen Selbstvorwurf leben müssen.

Warum bin ich nicht meinem Impuls gefolgt, sie oben am Berg anzusprechen, wird er wieder und wieder denken. Sie hat es ihm angesehen, wie er überlegt, als sie aussteigt und mit einem fragenden Blick ihren Koffer mustert.

Er wird denken, dass er mich vielleicht hätte retten können.

Die fünf gehen hinüber zur anderen Seite der Ruine. Von dort sieht man die prächtige beleuchtete Fassade von Schloss Drachenburg, ein paar Hundert Meter unterhalb vom Gipfel des Drachenfels. Das kleine Mädchen geht an den Händen der Großeltern, zieht und zerrt sie übermütig vor und zurück.

Die junge Mutter sieht neugierig zu ihr hin. Sie bleibt stehen, sagt etwas zu ihrem Mann. Er dreht sich um. Sie deutet auf das Transparent, das an dem Absperrgitter befestigt ist, das die Frau auf dem Plateau um sich herum aufgebaut hat. Sie würden eine Kunstperformance sehen, steht darauf. Man solle Abstand halten. Es werde Feuerwerk abgebrannt. Er macht eine Geste des Verstehens, zuckt desinteressiert mit den Schultern, dann folgen sie den anderen.

 

Wie wird es sich anfühlen das Sterben, hatte sie gefragt.

Vielleicht ist es wie das Erlöschen einer Kerze, wenn das Wachs verbraucht ist, war seine Antwort. Ein weiches langsam blasser Werden der Flamme, ein Flackern, ein Zittern – bevor sie sich in Nichts auflöst und einfach verlöscht. So als wäre sie nie existent gewesen.

Seit Wochen stiegen die Gedanken an den Tod aus den Tiefen ihres Bewusstseins. Es fühlte sich an wie Gasblasen in einem Sumpf, hatte sie es beschrieben. Sie zerplatzten an der Oberfläche ihres Denkens und ließen den fauligen Gestank der Angst zurück.

Der Gestank aus einem Sumpf, in dem ich ein Leben lang gesteckt habe. In den sie mich gesteckt hat.

Ob es so sein wird? Werde ich es spüren, wie es ist, einfach aufhören zu sein? Aber wie sollte das gehen, wenn ich doch einfach verlösche? Spürt denn eine Flamme, wenn sie verschwindet?

Eine andere Gasblase steigt empor und zerplatzt.

Vielleicht wäre es schön geworden, das Unvermeidliche zu akzeptieren. Es einfach geschehen zu lassen. Vielleicht hätte ich es nicht gefühlt, wenn alles verschwindet. So wie die Kerze es nicht merkt, wenn sie erlischt. Oder – merkt sie es doch? Die Kerze? Gibt es tatsächlich einen Übergang? In ein anderes Sein?

 

Die Ärzte haben gesagt, dass es aller Voraussicht nach langsam geschehen würde.

Hätte ich einfach gewartet, es geschehen lassen, wäre die Angst irgendwann von allein vergangen.

Sie wäre für immer in dem Sumpf des Vergessens versunken – gemeinsam mit meinem Selbst.

Diese verdammte Angst.

Wie wird es sein, das Sterben?

 

Niemand hat ihr eine Antwort geben können auf ihre Frage, wie es werden würde, wenn sie einfach abwartet. Nein, das stimmt so nicht. Nicht geben wollen, das hat sie gespürt.

Irgendwann fragte sie Aviel Bär. Was er wusste. Über das Sterben. Das Vergessen.

Aber auch er hatte ihr nichts sagen können, was ihr geholfen hätte. Er wollte ihr helfen, bat sie, das Unvermeidliche zu akzeptieren. Überzeugte sie, ihren Gedanken der Rache nicht nachzugeben und keine Vergeltung zu üben.

Unwillig schüttelt sie den Kopf. Das ist jetzt alles Vergangenheit.

Jetzt, bald werde ich es selbst herausfinden.

Heute. Heute wird sie es erfahren.

Erfahren, was es heißt zu sterben.

 

Mit Tränen in den Augen hebt sie den Kanister. Sie schraubt ihn auf und gießt das Benzin über sich. Der Geruch raubt ihr den Atem, die Flüssigkeit verdunstet auf ihrer Haut und entzieht ihr so schnell Wärme, wie sie es sich nicht hätte vorstellen können. Als der Kanister leer ist, wirft sie ihn über den Zaun, sie hört ihn polternd irgendwo herunterfallen.

Das Beben, das sie wie ein gewaltiger Schüttelfrost erfasst, hat nichts mit der Kälte zu tun. Sie kann es nicht unterdrücken.

Es ist keine Angst vor dem, was nun folgen wird.

Es ist die innerhalb weniger Sekunden ablaufende, vollkommen klare und umfassende Erkenntnis, wie anders alles hätte kommen können, wenn ihr ein anderes Schicksal bestimmt gewesen wäre.

Ein Schicksal ohne Angst.

 

2

 

»Opa, glaubst du wirklich, dass hier mal ein Drache gewohnt hat?«

Das kleine Mädchen mit den rotblonden Haaren hüpft an den Händen der Großeltern vor und zurück, auf und ab.

Der Großvater macht ein wichtiges Gesicht. »Ja natürlich! Was glaubst denn du, warum das hier der Drachenfels genannt wird? Hier hat schließlich Siegfried mit dem Drachen gekämpft, dem abscheulichen, feuerspeienden Lindwurm. Das hast du doch unten im Museum gesehen, Lotta. Meinst du, das wäre alles gelogen?«

Lottas Augen leuchten. »Jaha, das glaub ich! Es hat nämlich überhaupt keine Drachen gegeben, hat Papa mir erzählt! Nur Dinosaurier! Und die sind schon vor Melonen von Jahren ausgestorben! Weil da in Mexiko ein riesiger Metero… Metiro… Meteorologe abgestürzt ist, sagt Papa, der alles kaputt gemacht hat! Und die Menschen sind nämlich erst viel später aus den Eiern geschlüpft! Los, Opa, jetzt komm!«

Lotta lässt die Hand der Großmutter los und zieht den Großvater zu dem vergitterten Fenster im Mauerfragment. Die Erwachsenen lachen.

Opa schafft es, ernst zu bleiben. »Aha, also schon seit Melonen von Jahren. Und die Menschen sind aus Eiern geschlüpft. Das wirft ja ein ganz neues Licht auf die Darwin’sche Evolutionstheorie! Und ich lüge dann also auch, was?«

»Ja klar! Hat Papa gesagt! Und Papa sagt immer die Wahrheit! Das hat er mir selbst gesagt!«

Der Großvater sieht seinen Schwiegersohn mit hochgezogener Augenbraue an. »Aha. Na, das ist ja dann gut zu wissen.«

Der Vater grinst verlegen. »Nein, so hab ich das nicht gesagt, Lotta. Natürlich sagt Opa …«

»Was macht die Frau denn da?« Die Stimme von Lottas Mutter ist plötzlich ganz schrill. Aufgeregt deutet sie zu der Stelle auf der Aussichtsplattform. »Das sieht doch nicht nach einer Kunstperformance aus! Jetzt guckt doch auch mal hin!« Ihre Stimme wird laut. »Was macht die denn?«

Lottas Vater und die Großmutter drehen sich zu der fremden Frau.

Der Großvater hebt Lotta hoch, damit sie durch das sogenannte Kölner Fenster sehen kann, er will sie ablenken. »Schau, da unten war es«, sagt er und deutet in den ehemaligen Steinbruch, »da hat Siegfried den Drachen erschlagen und in seinem Blut gebadet. Ja, und bevor du fragst: damit er unverwundbar wurde.«

Aber Lotta lässt sich nicht ablenken. Sie folgt den Blicken der Erwachsenen. »So wie die Frau da? Wird die auch unverwundbar, weil sie in Drachenblut badet?«

»Nein, natürlich, das ist nur … Welches …? Was?« Erschrocken sieht er auf.

»Sie schüttet was über sich!«, schreit seine Tochter außer sich vor Panik, »sie wird doch nicht etwa … Kai! Vater! Sie will sich … Jetzt tut doch was!«

3

 

Ich muss jetzt schnell sein, bevor es zu spät ist.

Mit einem Ruck reißt sie den zweiten Kanister hoch, schließt Augen und Mund, gießt sich das Kerosin über den Kopf.

»He!«, brüllt jemand.

Sie lässt den leeren Kanister fallen.

Wieder ein Ruf. Sie spürt die Angst darin, versteht die Worte. »Warten Sie! Hören Sie, warten Sie! Lassen Sie das um Himmels willen!«.

Als sie den Kopf dreht, sieht sie durch den Schleier des Kerosins, das ihr über das Gesicht tropft, die beiden Männer auf sich zu rennen. Sie lächelt traurig.

Ich schaffe es, sie kommen zu spät. Sie können mich nicht retten. Niemand kann mich retten.

Links von sich in den Bäumen und Sträuchern hinter dem Zaun glaubt sie, eine Bewegung zu sehen. Vielleicht einen Schatten, der sich in der Dunkelheit vorbeugt. Sie wischt sich über die Augen, aber sie kann nichts erkennen. Ist er es?

Es würde leicht sein, hatte er ihr versprochen. Er würde ihr helfen, hinüber zu gehen.

Sein Bild blitzt vor ihrem inneren Auge auf – wie er seine Locken aus den Augen streicht, um durch das Zielfernrohr sehen zu können. Um sie zu erlösen.

Ja, er muss es sein. Nur er weiß, dass ich hier bin. Also hat er Wort gehalten!

Eine tiefe Ruhe ergreift sie. Sie zieht das Sturmfeuerzeug aus ihrer Tasche, zündet es.

»Nicht!«, brüllen die Männer wie aus einem Mund. Der Jüngere will weiterlaufen, der Ältere hält ihn zurück.

»Vergib mir«, sagt sie und hält die zischende Flamme an ihr Kleid.

Sofort entzünden sich die Benzindämpfe.

Fauchend lodert das Feuer auf, die Hitze erreicht in Sekundenbruchteilen den Flammpunkt des Kerosins, es entzündet sich. Rasend schnell breiten sich die Flammen über ihren ganzen Körper aus.

 

Zuerst spürt sie nichts außer der Wärme. Fast so, als ob sie zu nahe an einem Lagerfeuer stünde. Sie ist erstaunt, verwirrt – über die warme, fast freundliche Hitze, die sie umgibt und die Kälte in ihr vertreibt, die sie erfüllt. Für die Dauer eines Wimpernschlages ist es gut.

Sie öffnet die Augen, sieht durch die Flammen, die an ihr hochschlagen, hinüber zur in der Dämmerung liegenden Stadt, zur im Westen gerade untergegangenen Sonne, die den Horizont in einem wunderbaren Licht erflammen lässt.

Ihre Wimpern und Brauen verkohlen, das Feuer erfasst ihr Haar, es lodert auf wie eine Flamme.

Jetzt, denkt sie, tu es, und leb wohl.

Aber nichts geschieht.

Es ist das Letzte, was sie noch von ihrem Leben wahrnimmt. Ihr bleibt keine Zeit zum Nachdenken, keine Zeit nach ihm zu rufen.

Keine Zeit, seinen Verrat zu erkennen.

Der Schmerz kommt übergangslos. Er verwandelt sie in etwas anderes. Etwas, das kein Mensch mehr sein kann.

Nie hätte sie geglaubt, dass es einen solchen Schmerz geben könnte.

Sie schreit.

 

 

 

 

 

Das Opfer

 

 

 

 

 

 

 

 

1

 

»Lucien!« Madame Bartholomé stand im Flur ihrer Altbauwohnung in Lierneux und hielt den Hörer ihres altmodischen Tastentelefons zu. Sie rief erneut nach ihrem Sohn, dieses Mal lauter. »Lucien! Téléphone! C’est Bonn! Votre patron! Maintenant, allez!«

Bartholomé sah genervt vom Lokalteil der La Nouvelle Gazette auf. Er war erst vor einer Viertelstunde von einer Radtour zurückgekommen. Fünfundvierzig Kilometer, die ihn über die Côte de Stockeu führte – die legendäre Etappe des Radklassikers Liège-Bastogne-Liège mit ihren Rampen von bis zu zwanzig Prozent Steigung. Nach einem kurzen Halt am Eddy-Merckx-Denkmal hatte er sich auf dem Rückweg in Stavelot an einem Imbisswagen eine Tüte Pommes frites mit Sauerbratensoße geholt und sich beim Essen mit ein paar anderen Radsportlern unterhalten. Jetzt saß er gemütlich im alten Sessel seines Vaters im oberen Wohnzimmer, immer noch in Trikot und Radhose, die verschwitzten Socken neben sich über die Armlehne zum Trocknen ausgebreitet. Er hatte nicht verstanden, was seine Mutter wollte.

»Quoi?«

»Votre patron! Marie! Deine Chefin will was von dir und du hast dein Handy aus. Jetzt komm schon runter! Vite!«

Verdammt, dachte er, ce idiots! Missmutig schmiss er die Zeitung auf den Tisch. Können die mich nicht mal im Urlaub in Ruhe lassen?

Er sprang auf.

»Kommst du?«

»Ja doch, merde alors!«, rief er und polterte die Treppe hinunter. Sie sah ihn vorwurfsvoll an, als sie ihm den Hörer reichte.

Na toll, da kann ich mir wieder was anhören.

Er würde sich wohl ein Leben lang wie der kleine Junge von damals fühlen, wenn sie ihm solche Blicke zuwarf und ihn tadelte. Maman hasste es, wenn er fluchte.

Er versuchte ein Lächeln, spitzte die Lippen zu einem angedeuteten Kuss. Sie verdrehte die Augen und ging in die Küche.

Widerwillig hielt er den Hörer ans Ohr. »Ja?«

»Hallo, Lutz, es tut mir leid, dich zu stören.« Marie Heydens Stimme, Leiterin der Kriminaldirektion Bonn und seine direkte Vorgesetzte, klang kein bisschen danach, als ob es ihr wirklich unangenehm wäre, ihn im Urlaub anzurufen. »Du wirst hier gebraucht. Du musst deinen Urlaub unterbrechen.«

Bartholomé grunzte unzufrieden. Aber er wusste, dass sie nie grundlos anrufen würde. »Was ist denn los?«

»Wir haben eine Tote. Sieht nach Suizid aus. Es gibt Aussagen, die nichts anderes zulassen.«

»Ja und? Was brauchst du mich dazu? Kann Glauber doch auch machen.«

»Natürlich kann er das. Aber es ist nicht so einfach.«

»Wieso?«

»Sie kann nicht identifiziert werden. Keine Papiere, kein Schmuck, kein Garnichts. Nichts, was auf ihre Herkunft hinweist, und sie wird auch nicht vermisst. Jedenfalls nicht, wie wir bisher wissen.«

»Dann gebt doch ein Foto von ihr raus, wird sich schon jemand melden, der sie vermisst. Aber deshalb rufst du mich doch nicht an! Was ist los? So viel besser als ihr bin ich nun auch wieder nicht!«

»Sei nicht so eingebildet. Es geht um was anderes.«

Sie schwieg einen Moment.

»Um was?«

»Wir können kein Foto von ihr veröffentlichen. Sie hat sich verbrannt. Mit Benzin und Kerosin.«

 

Für einen Moment versagte ihm der Atem. Es fühlte sich an, als ob er einen Schlag auf den Solarplexus bekommen hätte. In Bartholomés Kopf rasten blitzschnell Bilder durcheinander, vermischten sich zu einem chaotischen Gemenge der Angst, der Bedrohung – Nachrichten aus China, aus Indien und aus Tibet, Menschen verbrannten sich aus Protest gegen Unterdrückung. Die Szene aus einer Mankell-Verfilmung, als vor Wallanders Augen ein junges Mädchen in einem Kornfeld in Flammen aufging, weil es Angst vor ihm hatte.

 

Er öffnete den Mund, sog die Luft wie ein Ertrinkender ein und stieß sie mit einem stöhnenden Laut wieder aus. »Wo?«

»Auf dem Drachenfels. Gestern. Eine Familie war dabei, hat alles gesehen.« Marie Heyden wurde ungeduldig, ihre Stimme klang gestresst. »Ein kleines Mädchen hat alles mit ansehen müssen, Lutz. Sie ist erst vier Jahre alt. Sie geht mit Mara in denselben Kindergarten, Glaubers sind mit den Eltern befreundet. Verstehst du jetzt? Also muss ich jetzt noch mehr Zeit verschwenden, bevor du dich auf die Socken machst? Ich hab zu tun, das kannst du dir sicher denken!«

Ohne Gruß legte sie auf.

Nachdenklich legte Bartholomé das Telefon auf die kleine Kommode.

Nein, damit konnte er Simon Glauber nicht allein lassen. Die Geschichte mit Robert Fen und den Sonntagsmorden[Fußnote 1] hatte seinen jungen Kollegen wirklich mitgenommen, auch wenn er sich dafür, dass er gerade erst im KK angefangen hatte, verdammt gut gehalten hatte. Aber seine Familie, seine Frau und seine behinderte Tochter Mara waren bedroht und Simon selbst entführt worden und er hatte geglaubt, er würde genauso schrecklich sterben wie Fens andere Opfer.

Er war nach wie vor in Therapie. Auch wenn er sich alle Mühe gab, professionell mit dem Erlebten umzugehen, diese Geschichte würde wieder alles nach oben holen. Marie hatte vollkommen recht, er konnte Simon die Arbeit auf keinen Fall allein machen lassen.

»Maman? Machst du mir bitte einen Kaffee zum Mitnehmen? Und ein paar deiner Brote? Ich muss zurück.«

Sie kam aus der Küche, sah ihn fragend an. Sein Gesicht war angespannt, hart, abweisend. Die Bilder brannten in seinem Kopf.

»Tout va bien pour toi, ma chère?«

Er entspannte sich, lächelte mühsam. »Oui, Maman. Tout est normal. Die Arbeit eben. Haben wir noch Baguette? Mit Käse, bitte. Und Gurke! Nimmst du den guten Cassette de Beaumont, oui? Und ist noch was von der Carbonade da?«

Er sah auf seine nackten Füße, bewegte die Zehen, rieb sie aneinander.

Dann werde ich mich jetzt wohl auf die Socken machen.

2

 

Faust starrte auf das Bild des angehaltenen Videos.

In Großaufnahme sah er die Frau, während am unteren Bildrand die ersten Flammenspitzen nach ihr griffen. Halb geblendet von seinen Tränen, bis ins Tiefste aufgewühlt über die furchtbaren Szenen, die er gerade gesehen hatte, wurde ihm klar, wer sie war.

Noch nie in seinem langen Leben hatte er etwas Schrecklicheres sehen müssen.

Es war nur ein kleiner Moment gewesen, in dem ihr Gesicht zu sehen gewesen war, nachdem er die Kamera zur Drachenfels-Plattform ausgerichtet und das Teleobjektiv scharf gestellt hatte. Gerade nur ein paar wenige Sekunden, bevor sich die junge Frau selbst entzündete.

 

Er überlegte, was er tun sollte.

Ich kann diesen Auftrag unmöglich wie einen gewöhnlichen behandeln – das hier ist ein realer Horrorfilm!

Möglicherweise handelte es sich sogar um ein Snuff-Video, das er ohne sein Wissen aufgenommen hatte – und er war Mitwisser an einem Mordauftrag. Er musste was unternehmen!

In was für eine Scheiße bin ich da nur geraten …

Gemäß dem Online-Auftrag hatte er das Video live als P2P-Stream gesendet. Das war mittlerweile nichts Ungewöhnliches mehr, immer öfter wollten Kunden Videos von einem privaten Ereignis direkt und live von ihren Freunden oder Verwandten ansehen lassen, die nicht vor Ort sein konnten. Mit der richtigen Software funktionierte das ohne irgendwelche Zwischenspeicherung auf Servern, eben Peer to Peer, von Rechner zu Rechner. Vertraglich verpflichtete er sich bei solchen Aufträgen, keine Kopien davon zu ziehen, aber die technische Möglichkeit bestand natürlich.

Sie musste es gewesen sein, auch wenn ihr Gesicht mehr zu erahnen, als klar zu erkennen war – dafür war die Entfernung dann doch zu groß gewesen. Als er erkannte, was da geschah, hatte er sofort die Speicherfunktion eingeschaltet. Das hier war kein normaler Auftrag mehr – das war etwas, hinter dem mehr stecken musste, das war ihm sofort klar.

Erst vor wenigen Wochen bei einer abendlichen Lesung in der Bezirksbibliothek Bonn-Beuel war ihm die Frau in dem schwarzen altmodischen Kleid, mit den braunen Haaren und der strengen Hochsteckfrisur hinter der improvisierten Theke aufgefallen, wo sie Getränke ausgab. Sie war ungewöhnlich blass, ungeschminkt, wirkte sehr ernst und zurückhaltend. Geradezu scheu, hatte er den Eindruck, und wie aus einer anderen Zeit. Er war als Fotograf für die Bonner Ausgabe der Rheinischen Anzeigenblätter engagiert, die über die Lesung berichtete, und hatte zwischendurch immer wieder Gelegenheit, einen Blick auf die Menschen zu werfen, die sich hier versammelt hatten.

Und jetzt sah er sie auf diesem Video, wie sie sich selbst verbrannte.

Wie sie sich scheinbar selbst verbrannte, verbesserte er sich.

Natürlich konnte es sich auch um eine Inszenierung handeln oder um eine Aktion von irgendwelchen Selbstdarsteller-Verrückten für ein Video auf Insta oder TikTok. Vielleicht war es sogar Teil einer Filmproduktion.

Er ließ das Video wieder laufen. Nein, dachte er, das ist echt.Ich muss die Polizei darüber informieren, es ist wichtig, dass sie erfahren, dass ich es aufgenommen habe.

Faust griff zum Telefonhörer des altmodischen Tastentelefons und tippte die Nummer der Bonner Polizei ein, als sein Blick auf das Schreiben der Bank fiel, das an der Pinnwand über seinem Schreibtisch hing, und den Kontoauszug, der mit einer Klammer daran befestigt war: In vorwurfsvollem Rot wies er eine Summe im Soll aus, die ihn ziemlich beunruhigte.

Die Geschäfte ließen nach, daran gab es nichts zu rütteln, und die Gründe dafür wusste er nur zu genau. Es gab genügend andere, durchweg jüngere Fotografen, die sich mit den neuen Begebenheiten auf dem Markt besser arrangierten, als er es schaffte. Er war allmählich zu alt, sich auf ständig neue technische Veränderungen und Anforderungen einzustellen, und heutzutage drehte sich das Laufrad schneller und schneller. Wer da nicht mitkam, der kam eben tatsächlich nicht mehr mit und blieb am Wegesrand der Geschichte liegen.

Und manchmal schaffte er es auch, sich ehrlich einzugestehen, dass er von dem ganzen Wahnsinn schlicht und ergreifend die Schnauze gestrichen voll hatte.

Seine Hand verharrte über der Tastatur, dann legte er den Hörer wieder auf. Er nahm den Kontoauszug von der Wand und starrte ihn lange nachdenklich an. Dann legte er ihn neben den Laptop.

Er griff nach seinen Zigaretten und dem Feuerzeug, ging nach draußen auf den Hof und rauchte. Vielleicht … Vielleicht kann ich ja doch herausbekommen, wer den Auftrag geschickt hat, dachte er. Der muss ja was damit zu tun haben. Und ich hab tatsächlich Glück, und die Bullerei tappt noch im Dunkeln. Dann kann ich was damit anfangen.

Entschlossen schmiss er die halb gerauchte Zigarette auf den Boden und trat sie aus.

Ja, zum Henker, ich muss es versuchen!

Wieder am Schreibtisch schob er den Zettel entschlossen beiseite. Mit einem Mausklick öffnete er das Videoschnitt-Programm, lud eine Kopie des Videos in den Arbeitsspeicher. Auf dem linken Monitor erschienen die Bearbeitungsspuren für die Video- und die Tonspur, die Fenster für die Bearbeitungstools. Faust schob den Cursor mit dem Bearbeitungspfeil der Sequenz für beide Spuren weiter nach rechts – bis zu der Stelle, als die voll auflodernden Flammen das Gesicht verdeckten. Er zoomte in das Bild hinein, zögerte kurz. Dann löschte er den Teil der Sequenz, der links vom Pfeil war. Jetzt begann das bearbeitete Video erst, als die Frau schon lichterloh brannte. Ihr Gesicht wurde von den Flammen völlig verdeckt.

Fausts Atem ging schwer, sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. Vielleicht verschafft mir das etwas Zeit, den Namen des Burschen herauszubekommen. Haben die Bullen erst ihren Namen, dann werden sie bestimmt schnell auch seinen herausfinden. Und dass dieser Mann der Auftraggeber war, stand außer Frage.

Wenn er seinen Entschluss in die Tat umsetzen wollte, dann musste er sich den Film jetzt noch einmal ansehen. Und diesmal äußerst genau, er durfte nichts übersehen.

Reiß dich zusammen, du Jammerlappen,das ist eine einmalige Chance und vielleicht die letzte Gelegenheit, bevor ich um das verfluchte Bürgergeld betteln gehen muss!

Niemand würde den Verdacht hegen, dass er etwas herausgeschnitten hatte. Schon gar nicht, wenn er sich selbst meldete. So kämen sie gar nicht erst auf den Gedanken, seine Dateien zu durchwühlen. Es musste ihm nur gelingen, authentisch zu wirken, dann würde es schon klappen.

Wieder griff er zum Telefon und tippte die Nummer der Bonner Polizeidirektion ein. Er kannte sie auswendig, in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten hatte er schließlich bei dem einen oder anderen Auftrag immer wieder mal mit der Polizei zu tun gehabt.

Als dem Beamten in der Telefonzentrale klar wurde, was ihm der Anrufer da sagte, wurde er sofort mit Kriminaldirektorin Heyden verbunden. Er dürfe es unter keinen Umständen verbreiten oder kopieren, sie habe seine Meldung offiziell aufgenommen. Bei Zuwiderhandlung würde er sich sonst strafbar machen, hatte sie ihn eindringlich gewarnt. Die Polizei würde sich bei ihm melden, um das Video abzuholen. Er bestätigte, dass er verstanden hatte, und legte auf.

Nach dem Telefonat wählte er eine andere Nummer. Ein dumpfes »Ja?« erklang.

»Ich bin’s. Ich brauche ein paar Informationen. Eine IP-Adresse … Was? … Nein, keine offene … Ja, ich weiß, wie aufwendig das ist, du bekommst schon dein Geld … Gut. Und eine Anschrift dazu … Nein, ich weiß nicht, ob sie hier in Bonn ist. Und es muss schnell gehen, verstehst du?«

Faust nannte den Namen der Frau. Es war ein seltener Name, der auf dem Namensschild auf ihrem Kleid gestanden hatte, deshalb hatte er ihn sich merken können.

Hava hatte sie geheißen. Hava Kaufmann.

Sie war nicht allein gewesen, ein Mann hatte ihr hinter der Theke geholfen. Faust hatte ihn noch nie in der Bibliothek gesehen, er schien jünger zu sein als sie. Auffallend an ihm war seine Frisur: In einer Zeit, in der die meisten Männer mit so kurz geschorenen Haaren herumliefen, wie es in den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts Mode war, fiel jemand mit langen schwarzen Locken besonders aus dem Rahmen. Sie hingegen war ihm schon öfter aufgefallen, wenn er bei seinen bisherigen Kleinaufträgen in den Bibliotheken von Bonn Fotos und Videos für die Regionalpresse oder bei anderen Veranstaltungen machte.

Er hatte versucht, den Namen des Mannes herauszubekommen, er erinnerte ihn an jemanden. Aber die Bibliotheksleiterin Frau Schmied wusste nur, dass er mit Frau Kaufmann gekommen war.

 

 

 

3

 

Gut, dass ich unterwegs was gegessen habe, dachte Bartholomé, als er sich die Bilder der Toten ansah, die am Whiteboard in ihrem Büro hingen. Heyden hatte bei ihrer kurzen Schilderung wirklich nicht übertrieben: Niemand hätte anhand des Äußeren eine Identifizierung vornehmen können.

»Sieht schlimm aus.« Simon Glauber kam mit zwei Bechern Kaffee, einen reichte er Bartholomé.

»Allerdings.« Vorsichtig nippte Bartholomé an der Tasse. Wider Erwarten schmeckte der Kaffee. Erstaunt sah er auf. »Hast du den von zu Hause mitgebracht? Der ist ja fast gut.«

Glauber grinste. »Ich werde Jeanette davon berichten, dass du ihr zutraust, einen fast gut schmeckenden Kaffee zu kochen. Nein, in der Kantine steht seit gestern ein neuer Automat. Alle sind angetan, der Kundendienst wird bestimmt öfter antanzen müssen, um ihn aufzufüllen. Und in jeder Abteilung gibt es jetzt mindestens einen Wasserspender. Auch im Besprechungsraum.«

»Wasserspender? Diese Dinger mit den Kunststofftanks oben drauf?«

»Genau. Man kann wählen zwischen gekühlt und Raumtemperatur. Äußerst angenehm.«

»Mmh.« Bartholomé trank den heißen dampfenden Kaffee in kleinen Schlucken, während er sich die einzelnen Fotos einprägte.

Glauber wartete. Er wusste, dass sein Chef zu Anfang nicht mit Fakten zugeschüttet werden, sondern sich irgendwie in den neuen Fall einfühlen wollte.

Der Körper der Frau war bis zur völligen Unkenntlichkeit verbrannt. In verkrümmter Haltung hing ein verkohltes Etwas, das entfernt an einen Menschen erinnerte, an einem der Fernrohre, mit denen man von den Aussichtspunkten am Drachenfels hinunter zum Rhein schauen konnte. Er hatte diese Dinger irgendwann mal selbst versucht und dabei festgestellt, dass nicht nur die Qualität der Optik nicht seinen Vorstellungen entsprach, sondern auch noch das Geld so schnell durchlief, dass er empört gegen das Gestell getreten hatte. Vielleicht ist es sogar dasselbe, schoss es ihm durch den Kopf.

Der Lack auf dem Stahl war ebenfalls verkohlt, die Optik geschmolzen. Das Feuer musste eine Höllenhitze entwickelt haben.

»Sind das Ketten?«

Glauber nickte. »Ja, sie hat sich selbst damit angekettet. Eine Familie war oben, als es passierte. Eine der Frauen sagte, sie habe gesehen, wie die Frau das obere der beiden Vorhängeschlösser zudrückte, mit der sie die Ketten an sich befestigt hatte.«

»Welche von ihnen?«

»Die Mutter. Sie hatte auf dem Plakat gelesen, dass es sich um eine Kunstaktion handeln sollte, und hatte immer wieder zu ihr hingesehen.« Er verstummte. Bartholomé sah, wie er schluckte. »Ein Mädchen. Knapp vier Jahre alt. Eine ganze Familie traumatisiert: Mutter, Vater, Tochter, Großeltern. Alle völlig erledigt. Das Kind hat die Schreie gehört, obwohl ihr die Oma Augen und Ohren zugehalten hat. Erklär einem Kind mal so was.«

Bartholomé schüttelte den Kopf. »Unfassbar. So was Rücksichtsloses. Wieso können sich die Menschen nicht auf eine Art und Weise umbringen, ohne Unbeteiligte völlig aus der Bahn zu werfen.« Er versuchte es mit Sarkasmus, um die Stimmung zu drehen. »Wir bekommen ja wenigstens Geld dafür, uns die Scheiße anzusehen, die Menschen machen. Aber die anderen!«

Simon reagierte nicht auf die Bemerkung. Er starrte in seine Tasse. »Das Mädchen dachte, ein Drache wäre gekommen, und hätte die Prinzessin verbrannt.«

Bartholomé starrte ihn verständnislos an. »Ein Drache? Welcher Drache, um Himmels willen?«

»Ein Drache, der den rächen wollte, den Siegfried getötet hat.« Er verstummte kurz, seine Stimme zitterte. »Sie waren vorher in der Ausstellung in der Nibelungenhalle.«

Bartholomé drehte sich um, ging ein paar Schritte zum Fenster. Er tat so, als sähe er hinaus. Die Geschichte befasste ihn, machte ihn betroffen. Simon versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber Bartholomé war sich sicher, ihn längst richtig einschätzen zu können. Simon ging es mehr als nah. Die Tatsache, dass er die Familie kannte, machte es zu einem persönlichen Thema, und Simon war niemand, der Beruf und Seelenleben wirklich trennen konnte.

Kein guter Polizist kann das, dachte Bartholomé. Aber wir müssen alle lernen, damit umzugehen. Oder es ganz lassen.

»Schmeckt wirklich gut, der Kaffee«, sagte er und trank den Becher leer. Dann kam er zurück, sah wieder auf die Bilder. Ich werde nie verstehen, warum sich Menschen das Leben nehmen, dachte er. Und dann auch noch so!

»Also war sie bei vollem Bewusstsein? Nicht sediert?«

Glauber schüttelte den Kopf. »Nichts. Die Gerichtsmedizin hat bisher nichts gefunden, keine Medikamente, keine Drogen, keinen Alkohol. Sie hat sich den Sprit übergegossen und angesteckt und alles mitbekommen, bis sie das Bewusstsein verlor. Die Leute haben nichts machen können, da oben stehen keine Feuerlöscher oder sonst etwas. Außerdem ist so ein Kerosinfeuer auch höllisch heiß.«

Wird sich jetzt wohl ändern – sobald wir den Platz wieder freigeben, werden mit Sicherheit welche da oben hingestellt, dachte Bartholomé grimmig. Es ändert sich immer erst dann etwas, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Die, die Deckel darauflegen, kommen immer zu spät. Und irgendwelche Spinner kommen dann hinterher, um das nachzumachen.

»Wird sich jetzt sicher ändern, denk ich«, sagte Glauber, »wenn erst mal einer mit so was angefangen hat, bleiben die Nachahmer nicht aus.«

Bartholomé zog belustigt die Augenbrauen hoch. Jetzt hat der Bof doch tatsächlich schon die gleichen Gedanken wie ich!

»Gibt es Videoaufnahmen? Die haben doch erst vor Kurzem da oben alles renoviert.«

»Ja, gibt es.«

»Und?«

»Du kannst sie dir ansehen. Alles drauf. Ist wirklich heftig.« Wieder schluckte er, und ein kurzes Flackern war in seinem Blick.

Ich muss professionell bleiben, sonst rutscht er mir ab, dachte Bartholomé. »Kann ich mir denken. Haben wir sie beschlagnahmt?« »Klar. Die Leute vom Sicherheitsdienst haben eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben müssen genauso wie die Leute, die dabei waren.« Wieder das Flackern. »Die Familie, mein ich.«

Verdammt, was sag ich nur? Bartholomé fühlte sich hilflos.

»Bien. Hat denn keiner bemerkt, was da vor sich ging? Die Frau muss doch eine Weile gebraucht haben, bis sie alles aufgebaut hat, die Absperrgitter und das alles.«

»Der Sicherheitsdienst sagt, dass der Mitarbeiter am Monitor noch dabei war, nachzufragen, ob jemand etwas über die Aktion wüsste, als es auch schon losging.«

»Aber es war doch keine? Eine Kunstaktion? Irgendwas, das aus dem Ruder gelaufen ist?«

»Ich hab es schon überprüft. Hätte ja sein können. War aber keine. Jedenfalls war nirgends etwas angemeldet oder sonst was.«

»Nein, natürlich nicht. Ich dachte nur. Die Leute kommen heutzutage auf die seltsamsten Gedanken, um in die Medien zu kommen. Wenn du dir nur diese Idioten ansiehst, die irgendwo auf Hochhäusern herumturnen und Selfies von sich machen, dann muss man doch den Glauben an eine vernunftbegabte Menschheit verlieren. Und oben war niemand? Irgendjemand von der Sicherheit?«

Glauber zuckte die Schultern. »Der Posten war wohl gerade pinkeln. War schon nichts mehr los, da oben. Die letzte Bahn rauf war sozusagen fast leer, wir haben das schon überprüft. Im Restaurant war auch schon Feierabend. Wer rechnet denn auch mit so was?«

»Wann machen die denn zu?«

»Sechs Uhr«.

»Hm. Lass uns nachher mal rauffahren. Ich will mir ein Bild davon machen, wie es dort aussieht.«

»Gut.«

Ich versuch es mal, dachte Bartholomé. »Was haben die denn dann noch da oben gemacht, wenn die letzte Bahn doch schon weg war? Marie sagt, du kennst sie?«

Glauber nickte. »Die Heinzers aus Lengsdorf. Lotta geht mit Mara in denselben Kindergarten, wir haben uns bei den Elternabenden kennengelernt. Lotta war auch schon auf Maras letztem Geburtstag. Nette Leute. Sie wollten zusammen mit ihren Eltern einen schönen Abend verbringen. Ein Picknick oben machen, danach mit Taschenlampen eine Nachtwanderung über Rhöndorf zurück. Sie sind zu Besuch. Wohnen in Süddeutschland, irgendwo bei Stuttgart. Dass ausgerechnet die …« Er verstummte. »Wenn ich mir vorstelle, was das mit Mara machen würde, wenn sie so etwas sehen müsste. Oder Jeanette.«

Oder mit dir, dachte Bartholomé. Merde. »Ich weiß genau, was du meinst. Aber es nützt nichts, so zu denken, das weißt du.«

»Ja, natürlich.«

Bartholomé versuchte, in Simons Gesicht etwas zu erkennen, etwas zu lesen. Ob er weitermachen könnte.

---ENDE DER LESEPROBE---