Die Löwen kommen - Vladímir Palko - E-Book

Die Löwen kommen E-Book

Vladímir Palko

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Beschreibung

Wären heute die Nürnberger Prozesse? Welche Ideologie siegt im Kalten Krieg? Wussten Sie, dass der Kommunismus in Brüssel entstanden ist? Wie hat sich die kommunistische Ideologie im Westen verändert, nachdem sie im Osten begraben wurde? Gibt es heute in Europa und Amerika Christenverfolgung? Welchen Charkater haben heute im Westen christliche politische Parteien? Entsteht in der katholischen Kirche ein stiller Bürgerkrieg? Wie würde eine Weltregierung aussehen, falls sie kommt? Antworten auf diese Fragen versucht das vorliegende Buch des ehemaligen slowakischen Innenministers Vladimir Palko zu geben.

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Vladimír Palko

Die Löwen kommen

Warum Europa und Amerika auf eine neue Tyrannei zusteuern

Gewidmet Papst em. Benedikt XVI.

Inhaltsverzeichnis

KAPITEL I

Lieber Kommunist als Christ – sowohl im Warschauer Pakt wie in der Europäischen Union

KAPITEL II

Der Kommunismus wurde in Brüssel geboren

KAPITEL III

Sexy-Katholiken in Amerika

KAPITEL IV

Kranke europäische christdemokratische Stars

KAPITEL V

Die euro-amerikanische Kulturrevolution

KAPITEL VI

Die Löwen kommen

KAPITEL VII

Die europäische Geschichte der slowakischen Christdemokratie

KAPITEL VIII

Zum Kampf geboren

Vorwort

Vor rund 25 Jahren haben wir die ersten Kontakte zu Christen in unserem Nachbarland, der Slowakei, geknüpft. Damals gab es zwar noch den Eisernen Vorhang, der Österreich im Osten umschloss, aber schon bald sollte sich die Situation ändern: Ab 1989 lebten wir Wiener nicht mehr am äußersten Rand der westlichen Welt, sondern es öffneten sich die Tore zu unseren östlichen Nachbarn, zu Ländern, mit denen uns eine lange gemeinsame Geschichte verband.

So brachen wir also in das nur 80 Kilometer entfernte Bratislava auf, nicht um dort zu Spottpreisen zu dinieren, sondern um die Christen unseres Nachbarlandes näher kennenzulernen. Wie beschenkt wurden wir doch durch die Begegnungen, die sich dabei ergaben! Wir lernten eine glaubensstarke, im Widerstand gegen den Kommunismus bewährte Kirche kennen. In der Zeitschrift »Vision2000«, die wir seit 25 Jahren herausgeben, haben wir das Zeugnis einer Reihe von Persönlichkeiten, die sich in der Ausei­nandersetzung mit dem Kommunismus und im Aufbau einer Untergrundkirche große Verdienste erworben hatten, veröffentlicht.

Zu diesen Persönlichkeiten gehört auch František Mikloško, einer der wichtigsten Akteure im Untergrund und danach viele Jahre Abgeordneter für die Christlich-Demokratische Bewegung (KDH) sowie Vorsitzender des Slowakischen Nationalrats von 1990 bis 1992. Ihm verdanken wir den Kontakt zu Vladimir Palko, dem Autor dieses Buches, das 2012 auf Slowakisch unter dem Titel »Levy prichádzajú« erschienen ist.

Als wir dessen deutsche Übersetzung in die Hand bekamen, war uns klar: Diese Studie der politischen Entwicklung in Europa und Nordamerika musste unbedingt für den deutschen Sprachraum zugänglich gemacht werden. Im fe-Verlag fanden wir dafür auch den geeigneten Herausgeber.

Flott geschrieben, mit viel Dokumentation versehen, schildert das Buch, wie sich in den letzten Jahrzehnten ein neuer Wertekanon in den westlichen Gesellschaften etabliert hat. Dieser stellt eine fundamentale Abkehr vom bis ins 20. Jahrhundert prägenden christlichen Menschenbild dar. Christen, die Jahrzehnte hindurch im Kampf mit der kommunistischen Diktatur gestanden waren und unter deren Verfolgung leiden mussten, erlebten nun nach 1989, wie sich ihre ehemaligen Unterdrücker im Handumdrehen an das westliche System anpassten und von diesem mit offenen Armen aufgenommen wurden. Palko –langjähriger Abgeordneter im Nationalrat und von 2002 bis 2006 Innenminister der Slowakei – hat diese Entwicklung aus unmittelbarer Nähe und nicht nur in seinem eigenen Land miterlebt.

Ausführlich schildert er das für die Christen aus dem Osten zunächst unfassbare Phänomen, wie die konservativen und christdemokratischen Parteien im Westen dem Sog der linken Ideologie in fast allen Ländern des Westens erlagen, ja zum Teil sogar aktiv an der Etablierung der mittlerweile vorherrschenden Kultur des Todes mitwirkten. Für uns hier im Westen gehört das mittlerweile so zum Alltäglichen, dass erst der breit angelegte Rückblick in diesem Buch dem Leser erschreckend vor Augen führt, was die mehrheitlich christliche Bevölkerung Europas und Nordamerikas in den letzten Jahrzehnten mehr oder weniger stillschweigend geschluckt hat.

Wir selbst haben diese Entwicklung im Zuge der Arbeit für die Zeitschrift »Vision2000« ebenfalls mitverfolgt und auch analysiert. Palkos Buch zu lesen, war für uns dennoch ein enormer Gewinn, weil es breitgefächert und bestens dokumentiert das Geschehen gut leserlich – ja geradezu spannend – aufbereitet.

Die Anthropologische Revolution, wie der Autor diesen Paradigmenwechsel bezeichnet, ist drauf und dran, sich mit Machtmitteln auszustatten, um ihre Errungenschaften zu festigen und gegen Kritik abzusichern. Die heutige Situation erinnere ihn an die Vorläufer der kommunistischen Machtergreifung, diagnostiziert Palko und illustriert diese Feststellung an der wachsenden Zahl von Übergriffen und Benachteiligungen, denen Christen heute ausgesetzt sind, wenn sie sich gegen den vorherrschenden Wertekanon auflehnen und nicht bereit sind, sich nach dessen Spielregeln zu verhalten. Daher auch der Titel des Buches: »Die Löwen kommen«.

Ja, wir leben in spannenden Zeiten, in Zeiten einer fundamentalen Konfrontation um das Menschenbild. Das vorliegende Werk versteht sich als Appell an uns Christen, die Zeichen der Zeit zu lesen und sich der Konfrontation mit der Kultur des Todes nicht zu entziehen. Es ist höchste Zeit!

Seit Jahrzehnten vom wachsenden Wohlstand verwöhnt sowie von gleichgeschalteten Medien eingelullt und ruhig gestellt, sind wir Christen im Westen besonders in Gefahr, die auf uns zukommende Herausforderung zu übersehen oder zu verdrängen. Die durch die Konfrontation mit der Diktatur des Kommunismus geschulten Glaubensgeschwister aus dem Osten haben sich da ein empfindsameres Sensorium bewahrt. Bedingt durch ihre Erfahrungen mit Zeiten der Bedrängnis, verfügen sie darüber hinaus auch über ein Repertoire von Mitteln, die helfen, in schwierigen Zeiten zu bestehen. Vladimir Palko liefert dazu im letzten Kapitel – »Zum Kampf geboren« – einige Anregungen: sich der Wahrheit, die befreit, stellen und sie auch sagen; Buße tun; Kultur schaffen; sich vernetzen ... – und vor allem den Zuruf Papst Johannes Pauls II. nach seiner Wahl im Leben umsetzen: »Fürchtet euch nicht!«

Alexa und Christof Gaspari

Kapitel I

Lieber Kommunist als Christ – sowohl im Warschauer Pakt wie in der Europäischen Union

»Wie stehst du zur Religion, Genosse?«

Frage, mit der die Generation unserer Väter rechnen musste

Europäisches Parlament 2004: Lieber Kommunist als Christ

»Vati, wer ist hinter dem Stacheldraht?«

»Wir, mein Sohn, wir ...«

Witz aus der Zeit des Kommunismus

Wissen Sie, was SUP bedeutet? Im Wörterbuch des kommunistischen Grenzschutzes war es eine Abkürzung für den Begriff »selbstständig angreifender Hund«. Wenn die elektrischen Sensoren am Stacheldrahtzaun eine Verletzung der Staatsgrenze meldeten, dann öffnete sich die Tür am Hundezwinger automatisch. Dort warteten speziell geschulte Hunde, die sofort loshetzten, den Flüchtling stellten, durch Anspringen zu Boden warfen – und ihn töteten. Das heißt, diese Hunde attackierten nicht etwa die Hände, sondern sie bissen direkt in die Kehle. Meistens griffen diese Hunde zu zweit an. In einer Sommernacht 1986 haben am Rande von Petržalka, des größten Stadtteils von Bratislava, Grenzschutzhunde mit den niedlichen Namen Roby und Ryšo den 19-jährigen Deutschen Hartmut Tautz aus Magdeburg tot gebissen. Der junge Tautz hatte versucht, aus Honeckers Ostdeutschland in den Westen zu seinen Verwandten zu fliehen. Er war in diesem Sommer in die Tschechoslowakei gereist und hatte unser Petržalka ausgesucht, um dort die Grenze zwischen der Slowakei und Österreich zu überqueren. Er wollte durch den Eisernen Vorhang, der sich Tausende von Kilometern vom Baltischen Meer bis zur Adria zog und dem Winston Churchill in seiner legendären Rede im amerikanischen Fulton seinen poetischen Namen gegeben hatte. Die tschechoslowakischen Behörden haben den Leichnam von Tautz seiner Mutter übergeben. Schließlich wurde er in Magdeburg begraben, ohne dass sein Sarg geöffnet werden durfte. Über Tautz wissen wir, dass er musikalisch begabt war und Klarinette spielte.

Seit damals lebe ich ungefähr einen Kilometer vom Ort entfernt, wo Tautz’ tragisches Schicksal besiegelt worden ist. Bei meiner täglichen Fahrt in die Arbeit fuhr uns der Bus nur 30 Meter vom Stacheldrahtzaun entfernt an der Grenze zu Österreich entlang. Die Bewohner von Petržalka schauten aus den Fenstern ihrer Plattenbauwohnzimmer auf diesen Zaun. Sie sahen auch die hohen Wachtürme, auf denen die Mitglieder des Grenzschutzes mit ihren Sturmgewehren patrouillierten. Und sie sahen die Betonsperren, die verhindern sollten, dass ein heranrasender LKW die Grenze durchbricht. Weder ich noch die 120.000 Bewohner von Petržalka hatten damals eine Ahnung von Tautz und seiner Geschichte. Das kommunistische Regime hat solche Vorfälle verschwiegen.

Wie viele Menschen sind in den 40 Jahren an diesem Eisernen Vorhang beim Versuch, vom kommunistischen Lager in den Westen zu fliehen, ums Leben gekommen? Wie viele starben an der Berliner Mauer? Wie viele ertranken im kalten Wasser der Donau? Wie viele haben eine Kugel aus einer Kalaschnikow von einem eifrigen Grenzsoldaten in den Wäldern des tschechischen Böhmerwalds in den Rücken bekommen? Wie viele Hartmut Tautz gab es? Es waren Hunderte. Und wie viele Opfer des Kommunismus gab es insgesamt? Millionen. Der junge deutsche Tautz ist in der Slowakei ums Leben gekommen, weil der Kommunismus unsere gemeinsame europäische Geschichte gewesen war.

Ende 1989 ist der Kommunismus in Osteuropa zusammengebrochen und mit seinem Fall wurde auch der Eiserne Vorhang geöffnet. Der definitive Schlusspunkt der Teilung Europas war Sonntag, der 1. Mai 2004. An diesem Tag sind acht ehemalige kommunistische Länder, unter ihnen auch die Slowakei, in die Europäische Union eingetreten. Am Dreiländereck, dort wo die Grenzen der Slowakei, Ungarns und Österreichs inmitten der Felder und Wiesen aneinander stoßen, habe ich mich als slowakischer Innenminister mit dem österreichischen Kollegen und der ungarischen Kollegin sowie mit den Bürgermeistern und den Bewohnern der naheliegenden Gemeinden zu einem schönen Fest getroffen. Dieser Ort war nur einige Kilometer von der Stelle entfernt, wo 18 Jahre zuvor der Weg von Hartmut Tautz in die Freiheit endete. Aber an diesem Tag dachten wir nicht daran. Wir waren endgültig zurück in Europa. Mit dem Helikopter überflogen wir das österreichische Hohenau und danach ging es nach Moravský Svätý Ján in die Slowakei. Überall schien die Sonne, Volksfeste wurden gefeiert, die Menschen freuten sich, aßen und tranken. Jemand sagte in seiner Rede: »Dies ist die echte Europäische Union. Ein Ort, an dem sich Menschen treffen und es sich zusammen gut gehen lassen. Die EU – das ist nicht nur Brüssel.«

Aber die EU ist eben auch Brüssel, und es ging alles seinen Gang. Nach der Erweiterung der EU folgten die Wahlen zum Europäischen Parlament und danach die Bildung der neuen Europäischen Kommission. Jedes Mitgliedsland wird in der Europäischen Kommission durch einen eigenen Kommissar vertreten. Die Bewerber für die Kommissarsposten müssen sich bei einer Anhörung einem Ausschuss des Europäischen Parlaments stellen. Das Parlament entscheidet nicht über jeden einzelnen Bewerber, sondern über die ganze, zur Wahl stehende Gruppe. Zum ersten Mal hatten nun auch die ehemaligen kommunistischen Länder ihre eigenen Kommissare.

Die Angehörigen von kommunistischen Parteien sind nach dem Fall des Kommunismus in der Regel zu linken sozialistischen Parteien gewechselt. In manchen Fällen haben sie sich in neue Parteien integriert. Und so kam es, dass 2004 vor den Ausschüssen des Europäischen Parlaments auch aussichtsreiche Bewerber standen, die in der jüngsten Vergangenheit Mitglieder von kommunistischen Parteien im Sinne von Lenin gewesen waren. Erinnern wir uns an das ehemalige Ziel dieser Parteien. Sie strebten einen Kommunismus unter der Führung der Sowjetunion an. Durch den Klassenkampf sollte mit dem dekadenten westlichen Imperialismus zusammen mit seinen Institutionen, inklusive des Europäischen Parlaments, abgerechnet werden.

Hat einer dieser Ex-Kommunisten im Europäischen Parlament irgendwelche Probleme mit seiner Bestätigung als EU-Kommissar gehabt? Kein einziger. Und so wurden ehemalige Kommunisten zu Kommissaren wie Andris Piebalgs aus Lettland, Siim Kallas aus Estland, Dalia Grybauskaite aus Litauen, Danuta Hübner aus Polen und László Kovács aus Ungarn. Der oberste Parteichef von Piebalgs und Kallas war Leonid Breschnew gewesen. Siim Kallas war neben seiner Mitgliedschaft in der KPdSU auch Journalist beim Presseorgan der estnischen Kommunisten »Rahva Hääl« – der estnischen »Pravda« – gewesen. László Kovács gehörte zum Apparat der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei während fast der gesamten Ära des »Gulaschkommunismus« von János Kádár. Danuta Hübner war 17 Jahre lang bei den polnischen »roten Socken«, davon sechs Jahre nach der Erklärung des Ausnahmezustandes und der Unterdrückung der unabhängigen Bewegung Solidarność. Mit nur sieben Jahren hatte Grybauskaite die kürzeste Parteimitgliedschaft. Siim Kallas ist von allen der erfolgreichste Politiker. Er wurde auch in der zweiten Kommission von Barroso Kommissar und Stellvertreter der Liberalen Internationale. Ich habe in vielen Sprachversionen der Enzyklopädie Wikipedia Informationen über die genaue Zeit seiner Mitgliedschaft in der Partei von Breschnew, Andropov, Tschernenko und Gorbatschow gesucht. Die Information, dass er von 1972 bis 1990 Parteimitglied war, fand ich erst in der russischen Version. Neben Siim Kallas arbeiten in der heutigen Europäischen Kommission auch weitere osteuropäische Kommunisten, die nach 2009 ernannt worden sind.

Wir halten eine Kampagne gegen die ehemaligen Kommunisten für unnötig. Aber über die Problemlosigkeit, mit der die ehemaligen Kommunisten in der Europäischen Kommission einen Platz fanden, muss aus einem anderen Grund gesprochen werden. Der Umstand, dass man ihnen nämlich keine Schwierigkeiten machte, macht die Probleme eines anderen Menschen umso bedeutsamer.

Es war 2004 und es handelte sich um einen vollkommen anderen Kandidaten. Dieser war niemals Mitglied einer politischen Partei, die eine Diktatur unterstützt hatte, niemals in einer Partei, die ihre Opponenten ins Gefängnis hatte sperren lassen. Dieser Kandidat war stets ein demokratischer Politiker gewesen. Alle kennen ihn als friedlichen, ehrwürdigen Universitätsprofessor: Rocco Buttiglione, den Kandidaten der italienischer Regierung für den Posten des Kommissars für Inneres und Justiz. Warum aber hatte das Europäische Parlament mit ihm ein unüberwindbares Problem?

Weil Rocco Buttiglione Christ ist.

Sein Christentum wäre für die Europaabgeordnete kein so großes Hindernis gewesen, wenn es sich, wie man sagt, um ein »tolerantes« Christentum gehandelt hätte. In moderner Neusprache bedeutet dies: jederzeit im Stande zu sein, das eigene Wesen zu verleugnen. Aber Rocco war aus einem anderen Holz geschnitzt. Wenn er Ja sagte, meinte er Ja, und sein Nein war ein Nein.

Liberale Abgeordneten haben ihn im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Inneres und Justiz nach seiner Meinung zur Homosexualität gefragt. Die katholische Kirche, die sich auf die biblische Lehre stützt, hält homosexuelles Verhalten für eine Sünde. Der Katholik Buttiglione antwortete den Abgeordneten im Sinn des Katechismus der Katholischen Kirche. Es handle sich da um eine Sünde, sagte er. Gleichzeitig hat er aber klargestellt, dass seine Meinung ihn bei der Ausübung seiner Tätigkeit als Kommissar nicht einschränken werde.

Durch dieses Bekenntnis hat unser italienischer Katholik in den Augen der europäischen Linken nun aber selbst eine Sünde begangen – und zwar eine der schlimmsten. Die Abgeordneten fragten Buttiglione auch nach seiner Meinung zur Familie. Er hat aufrichtig geantwortet: Es sei Zweck der Familie, dass Frauen Kinder bekommen können und sich dabei des Schutzes ihres Mannes, der für die Familie sorgt, erfreuen dürfen. Sie würden sagen: na und? Hat er etwa gesagt, dass die Frau wegen der Kinder ihr ganzes Leben am Herd verbringen muss? Hat er nicht! Aber genauso haben die Abgeordneten seine Aussage interpretiert. Und daher hat der Ausschuss Buttiglione nicht nur für den Posten des Kommissars für Inneres und Justiz abgelehnt, sondern für jeden anderen EU-Kommissarsposten. Diesen Standpunkt vertraten Sozialisten und Liberale.

Der Fall Buttiglione ist ein Meilenstein, mit dem eine neue Ära begann. Die Linke im Westen vertrat damit im Fall dieses profilierten Katholiken unverblümt die gleiche Position, wie sie kurz davor noch im kommunistischen Osten von der kommunistischen Linken propagiert worden war: Ein Katholik, der nicht zickzack läuft, sondern sich konsequent zu seinem Glauben bekennt, sei nicht geeignet, eine politische Funktion zu bekleiden. Der katholische Glaube, wenn er nicht geheim gehalten wird, sei eine Eigenschaft, die politisch disqualifiziert.

Worin liegt nun der Unterschied zum Kommunismus? Nur darin, dass die Liberalen keine so absolute Macht besitzen, wie sie die Kommunisten hatten. Sonst hätten die Christen wohl die gleichen Probleme wie zu Zeiten des Kommunismus. Die Generation unserer Eltern hat Zeiten erlebt, in denen ihnen das Regime Fragen stellte wie: »Genosse, wie stehst du zur Religion?« Wenn sich der Genosse vom Glauben distanzierte oder ihn bei seiner Antwort verleugnete, war alles in Ordnung. Bekannte er sich aber zum Glauben an Jesus Christus, so gefiel dies den Genossen aber ganz und gar nicht. »Weißt du, Genosse, wenn du keine wissenschaftliche Weltanschauung besitzt, so kannst du diesen Posten nicht übernehmen ... Du musst anderswohin gehen. Das ist keine Diskriminierung, Genosse. Die Diskriminierung von Gläubigen gibt es in unserer sozialistischen Gesellschaft ja nicht. Du willst doch nicht etwa behaupten, dass es sie gibt, Genosse ...«

Darüber, was wissenschaftlich und was überholt ist, darüber entschieden selbstverständlich die Kommunisten. Und so ähnlich maßt sich heute die europäische Linke an, darüber zu entscheiden, was eine veraltete Sichtweise und deshalb nicht mehr akzeptabel ist. Lieber Rocco, wie stehst du zur Frage der Homosexualität? Sünde? Deine Ansichten sind veraltet und nicht akzeptabel. Über die Nichtakzeptanz entscheiden wir. Wir knobeln es aus und jede Seite des Würfels hat sechs Punkte.

1981 beendete ich mein Studium der Mathematik an der mathematisch-physikalischen Fakultät in Bratislava und wollte dort als Pädagoge arbeiten. »Es ist über Sie bekannt, dass Sie als Christ nicht die wissenschaftliche Weltanschauung vertreten. Die Hochschule erzieht die Menschen für unsere Gesellschaft. Sie können sie nicht erziehen«, sagte mir der Dekan der Fakultät, Michal Greguš. »Sie können überall arbeiten, aber nicht in der Schule.« Der Umstand, dass ich im selben Jahr im landesweiten Wettbewerb um »Die beste studentische wissenschaftliche Arbeit« den ersten Platz belegt hatte, war da nicht von Bedeutung.

Ähnliche Erfahrungen haben tausende slowakische Christen gemacht, Erfahrungen, die an die Geschichte von Rocco Buttiglione erinnern. Jetzt, als Politiker, versetzte ich mich in seine Lage und dabei wurde mir bewusst: Als christlich-demokratischer Politiker würde ich genauso sprechen wie er. Und es würde mir genauso ergehen. Ich wäre für die Abgeordneten des Europäischen Parlaments genauso inakzeptabel wie er.

Wir können also schlussfolgern: Die Mitglieder der ehemaligen kommunistischen Parteien sind akzeptiert in der EU. Die Christen aber haben es schwarz auf weiß bescheinigt bekommen, dass auf EU-Ebene gilt: lieber Kommunist als Christ. Wenn slowakische Christen über den Fall Rocco Buttiglione nachdenken und sich an das Happening im Dezember 1989 erinnern, als an den Grenzen zu Österreich der Stacheldraht aufgeschnitten und die Parole »Zurück nach Europa« skandiert wurde, so müssen sie sich doch fragen: Um was für eine Rückkehr handelt es sich da? Um eine Rückkehr vor das Jahr 1948? Oder vielleicht doch wieder vor das Jahr 1989?

Wer hat denn in Zeiten des Kommunismus am meisten dafür getan, den Kommunismus zu stürzen, damit die europäischen Völker wieder zusammenleben können? Damit der Eiserne Vorhang verschwindet? Waren es nicht Christen? Ja, jedenfalls in der Slowakei haben die Christen am meisten dazu beigetragen. Wie ist es möglich, dass nun die Christen neuerlich so wenig willkommen sind, wie sie es in Zeiten des Kommunismus waren, während gleichzeitig diejenigen, die den Eisernen Vorhang errichtet und erhalten haben, im Westen willkommen sind?

Erinnern Sie sich an den Kommunismus?

»Wir werden öffentlich auftreten, wenn wir viele sind.«

Aus der ungeschriebenen Strategie der geheimen Kirche in der Slowakei

»Ich habe mich der kommunistischen Ideologie niemals verschrieben«, erklärte der zweifache EU-Kommissar Siim Kallas, der beinahe zwei Jahrzehnte Mitglied in der kommunistischen Partei der Sowjetunion war. Es gibt keinen Grund, ihm nicht zu glauben. Viele haben sich ja im gesamten kommunistischen Lager so verhalten: Sie glaubten zwar nicht mehr an die Ideologie, aber durch ihre Mitgliedschaft in der Partei erhielten sie das Regime am Leben. Und dieses Regime schien felsenfest etabliert zu sein. Die Propaganda-Maschinerie arbeitete 24 Stunden am Tag. Die Geheimpolizei mit ihrem umfangreichen Netz an geheimen Mitarbeitern war jederzeit bereit, jede Art von Protest zu unterdrücken. Und falls ihr dies nicht gelingen sollte, war die Sowjetarmee stets bereit, einzugreifen und mit ihren Panzern jeglichen Widerstand niederzuwalzen. So wie es 1956 in Ungarn oder 1968 in der Tschechoslowakei geschah. Es schien, als hätte sich der Kommunismus für 1.000 Jahre fest etabliert.

Auch viele seiner Gegner haben das geglaubt. »Der Kommunismus stellt die Umgestaltung des ganzen sozialen Organismus dar, sodass eine Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung grundsätzlich ausgeschlossen ist«, schrieb 1980 der sowjetische Dissident Alexander Zinoviev in der Emigration. Dieselbe Überzeugung teilte Jahrzehnte vor ihm der Amerikaner Whittaker Chambers. Noch vor dem Krieg war er Mitglied der kommunistischen Partei und sowjetischer Spion geworden. Später hat er mit dem Kommunismus radikal gebrochen. Vor einem Kongress­ausschuss hat er als Zeuge seine Vergangenheit enthüllt und seine Aussagen haben dazu beigetragen, hochrangige sowjetische Spione in der amerikanischen Regierung wie Alger Hiss zu entlarven. Auch nach seiner Wandlung zum Antikommunisten war Chambers überzeugt, dass der Kommunismus siegen würde und er sich freiwillig auf jene Seite begeben habe, die den historischen Kampf verlieren würde. Den Kampf mit dem Kommunismus hat Chambers als Kampf um die Seele des Menschen begriffen – auch als Kampf um seine eigene Seele. »Ich weiß, dass ich die Siegerseite verlasse und zu den Verlierern übertrete, aber es ist besser, auf der besiegten Seite zu sterben, als im Kommunismus zu leben«, schrieb er.

Hunderttausende Slowaken haben während der Zeiten des Kommunismus weder von Whittaker Chambers noch von Alexander Zinoviev jemals etwas gehört. Über die Langlebigkeit des Kommunismus jedoch haben viele das Gleiche gedacht wie diese beiden. Die Menschen hatten ja nie etwas anderes kennengelernt und weit und breit waren keine Anzeichen für einen möglichen Wechsel erkennbar. Daher verhielten sich manche wie der Este Siim Kallas: Sie sind der Partei beigetreten, weil man ohne Mitgliedschaft keine Karriere machen konnte. Andere wiederum wollten vom Regime nur in Ruhe gelassen werden, sie erfüllten ihre Pflichten in der Arbeit und lebten ihr privates Leben.

Hat wirklich keiner offen Widerstand geleistet? Hat denn keiner offen gesagt, dass das Regime lügt und dass ein Wechsel notwendig sei?

Ja, doch, es hat auch solche gegeben. Es gab einige bekannte Dissidenten unter den ehemaligen Mitgliedern der kommunistischen Partei, die nach der Okkupation der Tschechoslowakei durch die Armeen des Warschauer Paktes ausgeschert sind. Das waren zum Beispiel Miroslav Kusý und Milan Šimečka. Proteststimmen gab es auch unter liberal orientierten Menschen. Einige Monate vor dem Kollaps des Kommunismus in Osteuropa hat der Schauspieler Milan Kňažko aus Protest dem Staat den ihm verliehenen Titel »Verdienstvoller Künstler« zurückgegeben. Es gab Verfasser von bürgerlichen Samisdats wie Ján Budaj oder unabhängige Aktivisten im Bereich des Umweltschutzes wie Mikuláš Huba. Jede Stimme, die gegen den Kommunismus erschallte, sei an dieser Stelle gewürdigt. Aber es sei auch klar zum Ausdruck gebracht: Bei den genannten Personen handelte es sich um Einzelgänger. Dies nüchtern festzustellen, mindert aber auf keinen Fall die moralische und politische Bedeutung ihrer Taten. Umso bemerkenswerter war jedoch die Passivität von Zehntausenden ehemaliger Kommunisten, die nach den Säuberungen nach 1968 aus der Partei ausgeschlossen worden waren. Diese Masse von »Achtundsechzigern« blieb eben passiv bis zum Fall des Kommunismus 1989. Menschen wie Kusý und Šimečka waren unter ihnen eine Ausnahme.

Hat es in der Slowakei nur revoltierende Einzelgänger gegeben? Konnte die Regimepropaganda ruhig behaupten, dass nur unzufriedene Einzelgänger sich gegen den Kommunismus erhoben? Menschen, die nicht im Stande waren, sich in die zahlreichen Kollektive der Werktätigen zum Aufbau des Sozialismus einzureihen?

Zeitweise schien es tatsächlich so, besonders nachdem Husak mit seiner »Normalisierung« begonnen hatte, dass ein Gegner des Kommunismus in der Slowakei nur ein einsamer Irrender sein konnte. Aber mit der Zeit änderte sich das Bild. Verantwortlich dafür waren die Christen.

Sie können mit hervorragendem strategischem und taktischem Denken ausgestattet sein, aber Sie werden dennoch kein erfolgreicher General, wenn Sie nicht auch über ein Heer verfügen. Ohne Heer werden Sie siegreiche Kriege höchstens mit Zinnsoldaten auf einer Tischplatte führen. Ein wirklicher General sind Sie nur dann, wenn sich auf Ihr Signal hin auch eine wirkliche Armee in Bewegung setzt. Am 25. März 1988 am Hviezdoslav Platz in Bratislava hat sich eine Armee in Bewegung gesetzt. Es gehörten ihr Tausende an. Und die Waffen dieser Heerschar waren das Gebet, der Rosenkranz und brennende Kerzen. In ihrer überwiegenden Mehrzahl waren es slowakische Christen, obwohl unter ihnen auch bürgerlich gesinnte Regimegegner waren, die nutzen konnten, dass die Christen so gut organisiert waren. Sie alle standen zusammen Arm in Arm.

Das Regime war darauf vorbereitet. Es kämpfte mit Wasserwerfern und Hunderten von Polizisten. Es ließ verhaften und Tränengas versprühen. Ein paar Liter Wasser habe auch ich abbekommen, als ich bereits den Platz verlassen wollte. Zum Glück konnte ich mich in der Wohnung meiner Eltern, nur einige hundert Meter von dort entfernt, wieder trocknen. Die Polizei nahm damals auch die Redakteurin des Österreichischen Fernsehens, Barbara Coudenhove-Calergi, fest, denn nur Polizisten war es gestattet, Aufnahmen von dem Geschehen zu machen. Das Regime hat die Christen verjagt, aber diese Armee konnte es nicht zerstören. Das Regime hat geahnt, dass es diesmal zwar eine Schlacht gewonnen hatte, den Krieg selbst jedoch nicht gewinnen würde. Und so ist es auch gekommen. Das Regime existierte von da an nur noch eineinhalb Jahre.

Diese »Kerzendemonstration« gab eine eindeutige Antwort auf die Frage, ob in der Slowakei die Ablehnung der kommunistischen Ideologie die Angelegenheit von Einzelnen oder die von Massen war. Es waren besonders die Christen, die diesem Kampf für die Freiheit den Charakter einer Massenbewegung gegeben haben. Wenn sich der Organisator der Kerzendemonstration, der katholische Dissident František Mikloško, an den 25. März erinnert, dann erzählt er gern von dem Gespräch mit den Angehörigen des Staatssicherheitsdienstes. Es fand auf der Polizeistation statt an dem Tag, an dem man ihn festgenommen hatte. Zuerst hätten die Polizisten ironische Bemerkungen über die Demonstration gemacht. Dann aber hat einer von ihnen zu Mikloško gesagt: »Ihr wart gut! Vom Papst bekommt ihr eine Auszeichnung.« Mit diesen Worten eines unbekannten Polizisten hat das Regime die Kraft der Christen eingestanden.

Woher kam diese Kraft? Zu Beginn der Sechzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts kehrten bis dahin eingesperrte Christen aus den kommunistischen Gefängnissen zurück. Unter ihnen müssen zwei Namen hervorgehoben werden: Silvester Krčméry und Vladimír Jukl. František Mikloško hat ihre Geschichte treffend die »Monte Christo-Geschichte« genannt. So wie der Edmond Dantès von Dumas waren auch sie im Alter von 20 Jahren unschuldig eingesperrt worden. Und so wie die Haft von Dantès, hat auch ihre Haft 14 Jahre gedauert. Ihr Schatz aber war der Schatz des Glaubens. »Dafür sind wir im Knast gesessen?«, haben sie sich nach ihrer Freilassung gefragt, als sie sehen mussten, wie das kommunistische Regime die Christen zu religiöser und gesellschaftlicher Passivität niedergezwungen hatte. Und so begannen sie, mit Jugendlichen zu arbeiten. Sie gründeten Gebetskreise, diskutierten über die Situation der Christen, machten Ausflüge in die Natur, verbreiteten religiöse Literatur und Privatdrucke. Es entstand eine informelle Organisation, die dann letztendlich auch einen treffenden Namen bekam: Geheimkirche. Lange Jahre waren Krčméry und Jukl die informellen Anführer und 1968 nach seiner Rückkehr aus dem Gefängnis auch der geheim geweihte Bischof Ján Chryzostom Korec.

Die Kraft der Untergrundkirche wuchs mehr und mehr und deshalb hat das Regime von Zeit zu Zeit zugeschlagen. In den Siebziger- und Achtzigerjahren hat es sich nicht gescheut, Dutzende von aktiven Christen festzunehmen. Viele wurden von dem jungen Rechtsanwalt Ján Čarnogurský verteidigt, der dann 1989 selbst im Gefängnis gelandet ist. Ein wirkliches Phänomen wurden dann die christlichen Samisdats – Privatdrucke von illegalen Periodika mit politischem und religiösem Inhalt.

In den Achtzigerjahren wurde die Untergrundkirche so stark, dass sie den Untergrund verlassen und öffentlich in Erscheinung treten konnte. Sie hat dies auf drei Arten gemacht. Zum einen durch die Organisation von Petitionen: 1984 reichte sie eine Petition ein, man möge Papst Johannes Paul II. zu einem Besuch in die Tschechoslowakei einladen. Danach folgte eine Petition gegen die Abtreibungsgesetze. 1988 hatte eine Petition mit 31 Forderungen einen beispiellosen Erfolg. Der mährische katholische Aktivist, Augustín Navrátil, hatte sie organisiert. Für diese Petition wurden in der Slowakei 400.000 Unterschriften gesammelt.

Eine weitere öffentlichkeitswirksame Aktivität waren katholische Pilgerfahrten, die sich manchmal in politische Demonstrationen wandelten. So war das kommunistische Regime 1985 bei den Feierlichkeiten in Velehrad anlässlich des 1.100. Todestags des heiligen Methods erstmals mit einer protestierenden Menge konfrontiert. Als dritte Manifestation gab es schließlich die Kerzendemonstration. Sie war ein politischer Auftritt mit präzise formulierten Forderungen wie: Besetzung von freien Bischofsstühlen, religiöse Freiheit für alle Gläubigen und Einhaltung der Menschenrechte für alle Bürger.

In eineinhalb Jahren hat sich der gewaltlose Geist des »Großen Freitags« in Bratislava, der Geist des 25. März 1988, in den ruhigen Geist der Novemberplätze gewandelt, in die Samtene Revolution. Der Kommunismus ist wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen und hat der Freiheit Platz gemacht. Zu Ende war die Kaderpolitik, die Vergabe von Arbeitsplätzen nach politischen und religiösen Einstellungen. Zu Ende war die Einschüchterung der Menschen durch die Geheimpolizei. Freie Wahlen fanden statt. Wer wollte, konnte unternehmerisch tätig werden, konnte in Europa reisen, konnte studieren und im Ausland arbeiten, seine Ansichten frei äußern. Die sowjetische Besatzungsarmee musste das Land verlassen. An der Grenze zu Österreich wurde der Stacheldraht weggerissen. Es begann der Prozess der europäischen Einigung.

Es ist und bleibt eine historische Tatsache, dass es die Christen in der Slowakei waren, die diesen historischen Umbruch am aktivsten vorbereitet haben. Sie haben den Widerstand gegen den Kommunismus zu einer Massenbewegung gemacht und auch die meisten Opfer gebracht. Auch in den anderen Ländern waren Christen die Hauptantriebskraft der antikommunistischen Rebellion. So war es auch in Polen, das 1978 durch die Wahl von Karol Wojtyla zum Papst richtiggehend elektrisiert worden war. Nicht einmal zwei Jahre nach diesem Ereignis wurde nämlich die unabhängige Gewerkschaft Solidarność unter der Führung des Arbeiters Lech Wałęsa gegründet.

Warum erinnern wir uns an die historischen Verdienste der slowakischen Christen am Untergang des Kommunismus? Um christlichen Triumph zu feiern? Nein. Diese Erwähnung einer sieghaften Geschichte soll lediglich die Paradoxa in der heutigen Welt deutlich machen. Diese zeichneten sich nämlich bereits kurz nach dem Sieg über den Kommunismus ab und sind heute sehr ausgeprägt, betreffen allerdings nicht nur die Slowakei, sondern die ganze euro-amerikanische Zivilisation.

Gedenkt man noch der christlichen Aktionen, des Sieges über den Kommunismus, des Eintritts in ein vereintes Europa? Ein Europa, das seine Einigung gerade dem Fall des Kommunismus verdankt, einem Sturz, an dem sich slowakische, polnische und viele andere Christen große Verdienste erworben haben? Nein! Ganz im Gegenteil.

Die ersten Signale haben wir slowakischen Christen sehr rasch vernommen. Bei einer Großveranstaltung in Bratislava im November 1989 hat einer der Redner, der sich als Neffe von Vladimír Clementis vorgestellt hatte, zwar die Forderungen der Versammlung unterstützt – mit einer Ausnahme: »Wie können Sie einen Extremisten wie Ján Čarnogurský unterstützen?«, fragte er. Der Christ Čarnogurský saß zu diesem Zeitpunkt noch im Gefängnis. In der Menge kamen plötzlich Bedenken auf. Irgendeine Frau drehte sich zu mir um und sagte: »Ich bin aber nur deswegen hier, weil ich für Čarnogurský bin.« Unmittelbar darauf trat ein unbekanntes Mädchen auf die Tribüne und fragte den Vorredner: »Und wer hat ihren Onkel ermordet? Christen oder Kommunisten?« Es waren die richtigen Worte im richtigen Moment. Die Menge hat erleichtert geklatscht.

Dieser Redner konnte auf der Novembertribüne auftreten, weil er ein Neffe von Clementis war, den die Kommunisten 1952 hingerichtet hatten. Clementis war einerseits ein unschuldiges Opfer, denn die Anschuldigungen gegen ihn waren erfunden. Aus der Sicht des Novemberplatzes war er aber doch schuldig. Schließlich war er vorher, bevor ihn die Kommunisten zum Opfer gemacht hatten, ein hochrangiger kommunistischer Funktionär gewesen, der sich selbst an der Verfolgung von Nichtkommunisten beteiligt hatte. Dennoch durfte sein Neffe auf einer Versammlung auftreten, die den Kommunismus wegfegen wollte. Seiner Meinung nach aber sollte die Versammlung den inhaftierten Čarnogurský nicht unterstützen, obgleich dieser niemanden verfolgt, wohl aber als Rechtsanwalt viele Menschen vor dem Kommunismus verteidigt hatte. Dieser Vorfall war ein Vorgeschmack auf eine neue Welt, eine Welt, in der Christen unwillkommen sein würden, obgleich sie sich die meisten Verdienste um diese Welt erworben hatten.

Ein paar Monate später sahen die slowakischen Christen dann schon klarer: Der neue tschechoslowakische Präsident, der Liberale Václav Havel, wollte bei seiner Wahl zum Vorsitzenden der Föderalen Regierung lieber Marián Čalfa haben als den Christen Čarnogurský. Marián Čalfa aber hatte die kommunistische Partei erst Anfang 1990 verlassen. Und mit Erstaunen nahmen die Christen wahr, wie sich auf einmal die ehemaligen Kommunisten mit den Liberalen einig waren und die Parole verbreiteten, Christen hingen einem »schwarzen Totalitarismus« an.

Der Fall Buttiglione hat dann aber in großer Deutlichkeit gezeigt, dass diese Ablehnung der Christen ein europäisches Phänomen ist.

Ende 2004 habe ich in Prag am Treffen der Innenminister der mitteleuropäischen Länder teilgenommen. Beim Mittagessen entwickelte sich eine informelle Diskussion, bei der die Rede auch auf den Fall Buttiglione kam. Die ungarische Ministerin Monika Lamperth begrüßte dessen Ablehnung mit größter Selbstverständlichkeit. Ihrer Meinung nach hätte Buttiglione »die Frauen wieder an den Herd und in die Küche schicken« wollen. Dieser lieben und kultivierten Politikerin war anzumerken, dass sie sich für eine moderne Europäerin hielt und Buttiglione für total antiquiert. Monika Lamperth war noch 1987 in die ungarische kommunistische Partei MSZMP eingetreten – in eine Partei, die damals noch immer von János Kádár geführt wurde, unter dessen Regierung 1956 sowjetische Panzer eingesetzt worden waren. Nach der Niederschlagung des Aufstandes hatte dessen Regierungschef Imre Nagy Asyl in der jugoslawischen Botschaft gesucht. János Kádár hatte ihm schriftlich freies Geleit zugesagt. Als aber Nagy das Botschaftsgebäude verlassen hatte, wurde er von sowjetischen Soldaten verhaftet. Und Kádár hat ihn hinrichten lassen.

Warum konnte dieses jüngste Mitglied von Kádárs Partei mit so großer Selbstverständlichkeit beim Kaffee den italienischen, christlichen Professor kritisieren? Und warum verhält sich der Westen heute so? Haben sich nicht der demokratische Westen und der kommunistische Osten am Rande eines gigantischen Konflikts befunden? Hat es etwa nicht den Rüstungswettlauf zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt gegeben? Haben die Pershing- und SS 20-Raketen nicht aufeinander gezielt?

Hat uns die kommunistische Propaganda nicht jahrelang gelehrt, dass der amerikanische Imperialismus Hand in Hand mit dem Vatikan und dessen Spähtruppe agiert, um gemeinsam unseren Sozialismus zu vernichten? Sind nicht viele Christen in den 40 Jahren der Unterdrückung in den Westen emigriert, weil dort Religionsfreiheit herrschte? Haben nicht wir über Jahre hinweg heimlich die Sendungen der Sender »Stimme Amerikas« und »Freies Europa« aus dem westdeutschen München gehört? Erst dort haben wir unter anderem erfahren, wie das kommunistische Regime immer wieder bei uns gegen die Kirche vorging. Haben nicht christliche Politiker wie der Deutsche Konrad Adenauer, der Italiener Alcide De Gasperi, der Franzose Charles de Gaulle nach dem Krieg erfolgreich den Aufbau der Länder Westeuropas vorangetrieben? Haben sie nicht auf die Gefahr des sowjetischen Kommunismus aufmerksam gemacht? Haben nicht Adenauer und De Gasperi ihre Länder in die NATO geführt?

Und spielte nicht der französische Finanzminister, der Christ Robert Schuman, bei der Gründung der Montanunion eine führende Rolle? Diese Gemeinschaft, aus der schrittweise die Europäische Union mit ihren Institutionen sowie das Europäische Parlament hervorgegangen sind?

Wie ist es möglich, dass heute die Abgeordneten des Europaparlaments Buttiglione wegen seiner Ansichten ablehnen? Ansichten, die natürlich auch Schuman verteidigt hätte? Was ist im Westen passiert? Die Antwort: Im Westen sind Lenins Vettern an die Macht gekommen.

Kapitel II

Der Kommunismus wurde in Brüssel geboren

»Religion ist Opium des Volkes.«

Karl Marx

Der Kommunismus wurde in Brüssel geboren

»In der Familie ist der Mann der Bourgeois und die Frau repräsentiert das Proletariat.«

Friedrich Engels

»Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst des Kommunismus«, hat Karl Marx im Kommunistischen Manifest geschrieben. Diese Feststellung wurde 1948 tatsächlich verwirklicht, und sie wäre auch dann wahr, wenn Marx sie nur auf Westeuropa bezogen hätte.

Der Marxismus, der Sozialismus und der Kommunismus wurden im Westen geboren. Es ist eine wenig bekannte Ironie der Geschichte, dass die beiden Gründungsikonen des Marxismus, Karl Marx und Friedrich Engels, an den Vorbereitungen zum Kommunistischen Manifest im belgischen Brüssel gearbeitet haben. Aus dem Text und auch aus dem Titel des Manifests sehen wir, dass Marx und seine Anhänger sich selbst als Kommunisten bezeichnet haben. Also im Westen, und wir können ruhig sagen in Brüssel, der Hauptstadt der Europäischen Union, wurde der Kommunismus geboren. Das Ziel des Marxismus, der Kommunismus, ist die Beseitigung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, vor allem die Ausbeutung des Arbeiters – vor allem, aber nicht nur – durch den Kapitalisten, den privaten Besitzer von Produktionsmitteln. Aus Engels Aussage, die wir als Motto gewählt haben, geht hervor, dass die ersten Marxisten nicht nur die Fabrik, sondern auch die Familie als Ort der Ausbeutung begriffen haben. Der ausgebeutete Proletarier war in der Ehe nach Ansicht von Engels die Frau, eine seiner Meinung nach institutionalisierte Prostituierte.

Was hat man 160 Jahre später Rocco Buttiglione vorgeworfen – im selben Brüssel, in dem schon Marx und Engels gewirkt haben? Man warf ihm vor, er habe verlangt, die Frau, die Gattin, die Mutter solle auch im 21. Jahrhundert ihre proletarische Stellung beibehalten. Für dieses Vergehen muss – selbst wenn auch nur der geringste Verdacht dafür besteht – eine Hinrichtung folgen. Stellen Sie sich das vor! 160 Jahre linker Kampf für die Befreiung der Frau aus den Fesseln der traditionellen Familie – und dann will ein Mensch Kommissar werden, der die Meinung vertritt, es sei Aufgabe des Ehemanns, seine Frau zu schützen! Sind wir denn in den 160 Jahren, seit den Zeiten von Engels, nicht weitergekommen? Doch, wir sind weitergekommen. Buttiglione hatte keine Chance.

Wie lässt sich dieser 160-jährige Bogen spannen? In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde in den westeuropäischen Salons und Universitäten – vor allem in Deutschland, Frankreich und in England – eine Idee geboren, die bis zum Ende des Jahrhunderts ganz Europa im Sturm erobern und das 20. Jahrhundert beherrschen sollte. In diesem Umfeld hat auch der Westeuropäer Marx sein »Kapital« geschrieben, dort wurden alle seine Werke gedruckt und vertrieben. Viele Jahre bevor die kommunistische Revolution den riesigen russischen Staat zu beherrschen begann, fanden im Westen die kommunistischen Gedanken ihren Weg von den Intellektuellen zu den Arbeitermassen sowie in die nationale und internationale Politik. Im Westen entstanden die ersten marxistischen politischen Parteien und eroberten allmählich die Parlamente. Dort entstanden auch die I. und die II. Internationale. Dort hat sich der Marxismus nach und nach in unterschiedliche Ableger verzweigt, die wiederum in den folgenden Jahrzenten dazu verdammt waren, untereinander zu konkurrieren. Diese Ableger vergaßen jedoch nie, dass sie – wenn schon nicht mehr Brüder – so doch zumindest Cousins waren. Und Cousins müssen im Kampf gegen den gemeinsamen Feind zusammenhalten.

Wer aber ist dieser gemeinsame Feind? Die Liste der gemeinsamen Feinde hat sich im Laufe der Jahrzehnte geändert, aber stets standen das Christentum und sein Wertesystem auf dieser Liste. »Religion ist Opium des Volkes!« Dieser Spruch von Marx hat alle seine Nachfolger geeint.

Jahrzehnte bevor die russischen Bolschewiken begannen, das Leben von russischen Christen, Priestern und Bischöfen zu zerstören, floss im Westen das Blut christlicher Märtyrer, der ersten Opfer des westeuropäischen Sozialismus. Am 24. Mai 1871 donnerten im Gefängnis La Roquette nicht weit von Paris Schüsse aus den Waffen eines Hinrichtungskommandos, bestehend aus Soldaten der Pariser Kommune. Durch ihre Kugeln starben einige katholische Geistliche, unter ihnen der Erzbischof von Paris, Georges Darboy. Einige Jahre zuvor hatte dieser Hierarch eine Biografie des heiligen Thomas Beckett geschrieben, in der dieser sagte: »Ja, leiden und sterben für die Liebe zur Kirche, das ist ein Schicksal, das man sich wünschen soll. Ein wunderbares Schicksal und nützlich vor allem anderen.« Thomas Becketts Verhängnis ist auch das Verhängnis von Darboy geworden. Im 20. Jahrhundert jedoch wurde ein derartiger Tod auch zum Schicksal von unzähligen christlichen Laien und Geistlichen im kommunistischen Osten.

Durch den erfolgreichen bewaffneten Putsch von 1917 im großen Russischen Reich entstand im 20. Jahrhundert der stärkste Ableger des Marxismus, der Marxismus-Leninismus. Uljanov Lenin gründete den ersten kommunistischen Staat und stellte sich damit auf die gleiche Stufe wie die theoretischen Gründer Marx und Engels. In den unruhigen Jahren nach dem I. Weltkrieg entstanden nach dem Muster der leninschen Bolschewiken beinahe in allen europäischen Ländern kommunistische Parteien. Sie waren in ihrer überwiegenden Mehrheit Vasallen von Moskau, eben »jüngere Brüderchen«. Auch die westeuropäischen Kommunisten hatten ihre Parteien, ihre ergebenen Anhänger, ihre Presse, ihre intellektuelle Avantgarde. Die russischen Kommunisten hatten zusätzlich noch ihren großen Staat mit der Armee und alle Geldquellen. Dadurch wurde Moskau zur Hauptstadt des Weltkommunismus. Auf Moskau richteten Lenins Brüder und Cousins ihre Blicke. In zwei großen, westeuropäischen, katholischen Ländern stand der Kommunismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sogar fast vor dem Sieg. In Spanien wurde dieser Sieg nur durch den blutigen Bürgerkrieg und die Diktatur Francos verhindert. Und in Italien hat 1948 nur eine außerordentliche Mobilisierung aller antikommunistischen Kräfte den Sieg der kommunistischen Partei bei den zweiten demokratischen Wahlen nach dem Krieg verhindert. Die italienische kommunistische Partei blieb jedoch in den folgenden Jahrzehnten weiterhin die stärkste kommunistische Partei westlich des Eisernen Vorhangs.

Die kommunistische Weltrevolution, zu der es nach dem Sieg des Kommunismus in Russland kommen sollte, hat zwar nicht stattgefunden, dennoch aber gilt der Kommunismus in Europa und Amerika als modern und fortschrittlich: Ihm gehöre die Zukunft. Dem Jesus von Nazaret jedoch sollte die Zukunft nicht gehören. In den intellektuellen Kreisen Europas genossen die prokommunistischen Intellektuellen das Ansehen, überlegen zu sein. Kommunist oder zumindest Sympathisant des Kommunismus zu sein, war irgendwie »cool«.

In den 20er und 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts haben unzählige bekannte Persönlichkeiten in der westlichen Kulturszene mit dem Kommunismus sympathisiert: John Reed, Pablo Picasso, Charlie Chaplin, H. G. Wells, G. B. Shaw, Henri Barbusse, Lion Feuchtwanger, Louis Aragon … Nach dem Sieg über Hitler umgab sich die kommunistische Idee mit dem Nimbus der Unbesiegbarkeit und gewann neue Generationen von Intellektuellen wie Jean Paul Sartre und andere. Der Hauch des kommunistischen Frühlings hatte schon vor dem Krieg den jungen Gustáv Husák, Ladislav Novomeský, Vladimír Clementis und Dominik Tatarka erobert. Nach dem Krieg kamen Zeloten wie Ladislav Mňačko dazu. Aber auch die einfachen Leute bewunderten den sowjetischen Kommunismus und wollten an ihm teilhaben. Tausende Menschen aus den verschiedensten Ländern Europas und Amerikas brachen in das sowjetische Russland auf. Sie wollten den Kommunismus mit aufbauen. In den Zwanzigerjahren ist auf diese Weise auch der kleine Alexander Dubček mit seinen Eltern nach Russland gekommen.

Nichts ist so stark wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Die Idee des Kommunismus erwies sich als enorm stark. Ihre Kraft wurde besonders deutlich in den Momenten, wenn ihre Sympathisanten vor der Alternative standen, zwischen ihrer Liebe zur Idee und der Anerkennung der Realität zu wählen. Die Mehrheit hat sich dann stets für die Idee entschieden – selbst dann, wenn die Realität besonders schrecklich war.

Hungersnot und Terror, die es angeblich nicht gab

»Kein Gedenken an mich soll das Zeichen des Kreuzes tragen.«

George Bernard Shaw

Es gab kein schrecklicheres Verbrechen der Bolschewiken als die Kollektivierung der Landwirtschaft in den Jahren 1929 bis 1933. Sie verursachte eine Hungersnot, durch die Millionen von Russen, Ukrainern und Kasachen starben. Wie viele Menschen damals verhungerten? Fünf Millionen? Acht? Zehn? Das weiß keiner. Welche Tragödie, wenn man die Zahl der Opfer nicht einmal mit der Genauigkeit von Millionen bestimmen kann! Die Bauern starben in ihren Dörfern, wo ihnen der Staat das Getreide beschlagnahmt hatte. Sie starben in den Straßen der Städte, wohin sie sich aus Verzweiflung vor dem Hunger flüchteten. Sie starben in Sibirien, wohin sie mit Gewalt ausgesiedelt worden waren. Noch in den 90er-Jahren konnte man an der Alterspyramide der ukrainischen Bevölkerung ablesen, dass irgendein unsichtbarer Zahn eine Unmenge von Menschen weggebissen hatte, die dann 60 Jahre alt hätten sein sollen. Die ukrainische Regierung bemüht sich um Anerkennung dieser ungeheuren Tragödie durch möglichst viele Parlamente auf der ganzen Welt. Der Nationalrat der Slowakischen Republik hat 2008 eine derartige Erklärung verabschiedet. Die Propaganda des Sowjetregimes hat es aber teilweise fertiggebracht, diese Katastrophe vor dem Ausland zu verheimlichen – allerdings nicht ohne die Hilfe von »Cousins«.

Eine der größten journalistischen Legenden in den USA ist die »Old Gray Lady«, die »alte graue Dame«. Es ist die »New York Times«. Eineinhalb Jahrhunderte bestimmte sie die Trends des liberalen Journalismus sowohl in Amerika als auch in der Welt. In den 30er- und 40er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts war Walter Duranty der führende Korrespondent der »New York Times« in Moskau. Zu Durantys Reputation trug bei, dass ihm Stalin persönlich im Jahre 1929 ein Interview gegeben hat. Und Duranty hat sich erkenntlich gezeigt. Zu Beginn der 30er-Jahre gibt er zwar in seinen Artikeln eine gewisse Unmenschlichkeit bei der russischen Kollektivierung zu. Er hielt sie jedoch für unerlässlich. Ein anderer Weg sei seiner Meinung nach in Russland nicht möglich gewesen. In seinen Artikeln wurde Stalins Politik durchwegs gutgeheißen. Für diese Artikel hat er 1932 den Pulitzerpreis bekommen. Der Pulitzerpreis ist die höchste journalistische Auszeichnung in den USA. »Jeder derartige Bericht ist eine Übertreibung oder eine böswillige Propaganda«, schrieb er noch am 23. August 1933 in der »New York Times«, als bereits Millionen gestorben waren. So hat sich die »New York Times« unauslöschlich in der Geschichte der Leugnung des Holocausts an den russischen und ukrainischen Bauern verewigt.

Stalin zeigte sich dankbar. Ende desselben Jahres richtete er an Duranty folgende Worte: »Sie haben durch Ihre Informationen über die Sowjetunion gute Arbeit geleistet. Obwohl sie kein Marxist sind, haben Sie sich bemüht, über unser Land die Wahrheit zu sagen ... « Nach Jahrzehnten, als endlich die Wahrheit ans Licht gekommen war, wurde darüber diskutiert, ob Duranty der Pulitzerpreis aberkannt werden sollte. Es ist niemals geschehen.

Es gab aber auch Journalisten, die damals die schreckliche Wahrheit berichtet haben. Der junge Reporter Gareth Jones hat nach seiner Rückkehr aus Russland im »Manchester Guardian« geschrieben: »Es gibt kein Brot. Wir sterben. Diese Klagen kommen aus allen Ecken Russlands ...« Duranty reagierte auf Jones Bericht mit einem Artikel, in dem er Jones Enthüllungen leugnete. Es gab Menschen, die bei der Wahl zwischen ihren Sympathien zum Kommunismus und der Wahrheit die Wahrheit gewählt haben: Malcolm Muggeridge, der als Journalist nach Moskau gefahren war, weil er mit dem Kommunismus sympathisierte, hat die reale Hungersnot schnell erkannt und Duranty später als »den größten Lügner, dem er im Journalismus begegnet« sei, bezeichnet.

Duranty war allerdings nicht der Einzige, der die Hungersnot geleugnet hat. Louis Fischer, Korrespondent von »The Nation«, schrieb das Gleiche wie Duranty, aber mit dem Unterschied, dass er sich nach dem II. Weltkrieg vom Kommunismus lossagte. Auch die linken Intellektuellen G. B. Shaw, Herbert G. Wells und Edouard Herriot, dreimal französischer Premier und Mitglied der Radikal-Sozialisten, haben diese Hungersnot nach einem Besuch in der Sowjetunion abgestritten. »Die Ukraine ist wie ein Garten voller Blumen«, sagte Herriot nach seinem Besuch.

Die Geschichte von Herriot, Duranty, Wells, Shaw, Fischer und anderen ist nicht die Geschichte von einsamen Versprengten. Es ist die Geschichte der ganzen westlichen Gesellschaft und ihrer Schizophrenie in ihrem Verhältnis zum Kommunismus. Der ehrliche Linke, George Orwell, hat darüber geschrieben: »Man hielt es für richtig, über eine Hungersnot in Indien zu berichten und die in der Ukraine zu verschweigen.«

In der zweiten Hälfte der 30er-Jahre entfesselte Stalin eine weitere Welle des Terrors, diesmal in der kommunistischen Partei selbst. Die Zahl der Hingerichteten erreichte bis zu einer Million, die der Inhaftierten war noch höher. Ein Element des grauenhaften Geschehens waren manipulierte politische Schauprozesse von Mitgliedern der alten »Lenin Garde« – Zinoviev, Kamenev, Bucharin, Radek und anderen. Auch dieses verbrecherische Vorgehen Stalins wurde im Westen entschuldigt und auch diesmal hat Walter Durantys Berichterstattung Stalins Partei ergriffen.

Ein trauriges Kapitel war weiterhin das Wirken des amerikanischen Botschafters in Moskau, Joseph E. Davies. Er hatte persönlich an einem der Schauprozesse als Zuschauer teilgenommen. Seiner Regierung versicherte er dann, dass es Beweise gegen die Beschuldigten gebe, die über jeden Zweifel erhaben seien. Dabei interessierte es Botschafter Davies offensichtlich nicht, dass massenhaft Menschen in Russland verschwanden. Selbst das Schicksal von Amerikanern, die nach Russland ausgewandert waren und ebenso unschuldige Opfer der Säuberungen wurden, bereiteten ihm keine großen Sorgen. Er war sogar bemüht, Stalin so weit entgegenzukommen, dass er die Auslieferung des russischen Dissidenten Viktor Kravtschenko an die Sowjetunion betrieb. So war Davies zwar ein erfolgreicher Jurist, aber welcher Platz in der Hierarchie »der nützlichen Idioten«, wie Lenin ähnliche Typen nannte, steht ihm wohl zu?

Und wie verhielt sich sein wichtigster Arbeitgeber, der amerikanische Präsident Franklin Delano Roosevelt? Er sagte dem ehemaligen Botschafter in der Sowjetunion, William Bullitt, vor der Konferenz auf Jalta:

»Ich habe das Gefühl, dass Stalin nichts anderes will als Sicherheit für sein Land, und ich glaube, wenn ich ihm alles gebe, was ich kann, und im Gegenzug nichts von ihm verlange, noblesse oblige, so wird er nichts annektieren wollen und mit uns für Demokratie und Frieden kooperieren.«

Der Kommunismus in Osteuropa dauerte dann 40 Jahre.

George Bernard Shaw war ohne Zweifel ein hochbegabter Intellektueller, ein Freund des großen katholischen Gilbert Keith Chesterton, dafür aber sehr gutgläubig den sowjetischen Kommunisten gegenüber. Denn kaum einer der westlichen Intellektuellen ist so weit gegangen, die eiserne Faust der kommunistischen Partei, die Tscheka, und deren Nachfolgeorganisationen in Schutz zu nehmen, wie Shaw dies getan hat. Wer das Vorwort zu seinem Stück »On the rocks« liest, erkennt, dass seine naive Gutgläubigkeit in Sachen Kommunismus einhergeht mit seiner Abneigung gegen die organisierte Religion, vor allem das Christentum. Wer das liest, empfindet Wehmut beim Gedanken an diesen treuherzigen Intellektuellen.

Aber sparen wir uns die Wehmut noch ein wenig auf. Gerieten diese Verteidiger des Massenterrors, die Millionen von Europäern und Amerikanern beeinflusst und auf den Kommunismus eingestimmt haben, etwa in Misskredit? Nein, keineswegs. Duranty und der »New York Times« wurde der Pulitzerpreis keineswegs aberkannt. Die »New York Times« belehrt die Welt weiterhin darüber, was fortschrittlich ist und was nicht. Roosevelt wird nach wie vor zu einem der größten amerikanischen Präsidenten verklärt. Davies war jahrelang ein erfolgreicher Diplomat, Herriot ein erfolgreicher Politiker. Auch nach ihrem Tod behielten Shaw und Wells ihren Ruf als erfolgreiche Berühmtheiten. Nach ihnen sind Straßen und Plätze benannt, auf Straßen und Plätzen stehen ihre Denkmäler .

Fragen wir, wie ist es denen ergangen, die im Westen offen erklärt haben, der Kommunismus sei ein unmenschliches System? Denjenigen, die eine Opferstatistik seiner Unterdrückung enthüllt haben? Denjenigen, die sich nicht mit dem Kommnismus abfinden wollten? Wie ist es den westlichen Antikommunisten ergangen? Dabei kommen interessante Geschichten ans Licht.

Kommunisten, Antikommunisten und Anti-Antikommunisten

»Es ist ein Reich des Bösen.«

Ronald Reagan über die Sowjetunion

»Die Rede über ein Reich des Bösen war primitiv.«

Anthony Lewis, New York Times

Im Westen gab es also viele Sympathisanten des sowjetischen Kommunismus. Andererseits gab es nicht genügend von den erwähnten »Lenin Brüdern«, um den Westen kommunistisch zu prägen. Der Westen war allerdings auch nicht antikommunistisch. Es lebten dort viele Menschen, die zwar nicht Kommunisten waren, aber noch mehr als den Kommunismus bekämpften sie den Antikommunismus. Diese Cousins waren »Anti-Antikommunisten«. Sie glaubten, dass sowohl der demokratische Westen als auch das kommunistisch-sowjetische Lager ihre Fehler und Mängel hätten und moralisch auf der gleichen Stufe stehen. Die Anti-Antikommunisten hielten den Antikommunismus für rückständig und intolerant. Eine klare Verurteilung des Kommunismus und die Aussage, dass der Westen moralisch überlegen sei, war für sie primitive Schwarz-Weiß-Malerei.

Und es gab ausreichend viele Anti-Antikommunisten, um den westlichen Antikommunisten das Leben schwer zu machen. Der westliche Anti-Antikommunismus kann am Schicksal von vier Amerikanern illustriert werden. Einer von ihnen war zuerst Kommunist und sowjetischer Spion. Zwei weitere wurden amerikanische Präsidenten. Der vierte wurde zweimal für den Staat Wisconsin in den amerikanischen Senat gewählt. Ihre Namen lauten Whittaker Chambers, Richard Milhous Nixon, Ronald Wilson Reagan und Joseph McCarthy. Beginnen wir mit Whittaker Chambers, dem Mann, der nach dem Krieg Amerika spaltete. Seine Geschichte ist der Schlüssel zum Verständnis der amerikanischen Politik in der Zeit des Kalten Krieges.

1939 hatte der antikommunistische russische Emigrant Isaac Don Levine dem stellvertretenden Außenminister Adolph Berle einen unauffälligen, stämmigen, 40-jährigen Mann vorgestellt. Dieser sagte Berle etwa Folgendes: »Ich bin Whittaker Chambers. Ich bin Kommunist und sowjetischer Spion gewesen. Ich habe damit aufgehört und will nun die sowjetischen Spione entlarven, die in amerikanischen Ministerien arbeiten.« Chambers begann, Namen zu nennen – und dies von keineswegs unwichtigen Leuten. Der prominenteste unter ihnen war Alger Hiss, ein wichtiger Beamter im amerikanischen State Department, dem Außenministerium, mit dem Chambers persönlich zusammengearbeitet hatte.

Berle informierte Präsident Roosevelt und das FBI, aber es passierte nichts. Zwei Jahre später wurde Walter Krivický in einem Hotelzimmer erschossen aufgefunden. Krivický, ein ehemaliger sowjetischer Nachrichtenoffizier, war nach dem Hitler-Stalin-Pakt zu den Amerikanern übergelaufen. Es war übrigens Krivický, der Chambers zu seinen Aussagen überredet hatte. Berle begriff, dass Chambers genauso wie Krivický enden könnte, und alarmierte wieder das FBI. Dieses hat Chambers vernommen, nahm ihn jedoch immer noch nicht ernst. Alger Hiss war inzwischen im Ministerium aufgestiegen und nahm als Mitglied der amerikanischen Delegation an der Konferenz von Jalta teil, wo Roosevelt, Churchill und Stalin über die Verteilung der Welt nach dem Weltkrieg entschieden haben. Unmittelbar darauf wurde er Generalsekretär der Konferenz der Vereinten Nationen in San Francisco, wo die Gründung der UNO vorbereitet wurde.

1945 spitzte sich die Affäre zu: Elisabeth Bentley, ebenfalls ehemalige Kommunistin und sowjetische Spionin, packte aus – und ihre Informationen bestätigten, was Chambers gesagt hatte. Jetzt erst lernte ganz Amerika Chambers kennen. Er und auch Alger Hiss wurden vor das HUAC – das Komitee des Repräsentantenhauses zur Ermittlung von unamerikanischen Umtrieben – geladen. Hiss leugnete alles, sogar dass er Chambers jemals getroffen habe. Dieser konnte allerdings beweisen, dass Hiss log, indem er detaillierte Dokumente aus dem Außenministerium vorlegte, die ihm Hiss für die Sowjets überreicht hatte. Hiss wurde des Meineids überführt und dafür ins Gefängnis geschickt. Dort verbrachte er vier Jahre.

Ganz Amerika hat die Auseinandersetzung Chambers – Hiss verfolgt. Wer hatte Recht? Chambers oder Hiss? Hiss wurde vom liberalen Amerika unterstützt, Chambers vom konservativ christlichen Amerika. Auch die Redaktion der Zeitschrift »Time«, bei der Chambers arbeitete, spaltete sich in Chambers- und Hiss-Anhänger – und so musste schließlich Chambers die Redaktion verlassen.

Die Lossagung Chambers vom Kommunismus muss auf dem Hintergrund seiner Bekehrung zum Christentum gesehen werden. Seinen eigenen Kampf und den Kampf ganz Amerikas mit dem sowjetischen Kommunismus verstand er nicht als politischen, sondern als geistigen Kampf. »Die kommunistische Vision ist die eines Menschen ohne Gott«, sagte er. Mit dem, was er sagte und schrieb, wirkte er beinahe etwas mystisch. Alger Hiss hingegen war der Prototyp des modernen liberalen Amerikaners, ein aufgeklärter Mann. Ihm zur Seite standen Menschen, die sich die Zusammenarbeit mit dem Kommunismus wünschten. Ein Mensch wie Chambers wirkte auf viele von ihnen bigott und fanatisch. Aber Chambers sagte die Wahrheit und Hiss log. Das liberale Amerika war wegen der Niederlage und der Verurteilung von Hiss verbittert. Der Streit um Chambers und Hiss wurde medial und politisch noch jahrzehnte lang fortgeführt.

Chambers starb 1961. Er hatte ein schweres Leben hinter sich: Noch bevor das Gericht Hiss für seinen Meineid verurteilt hatte, hatte dieser einen Prozess gegen Chambers angestrebt. Er wollte ihn, allerdings erfolglos, wegen Ehrenbeleidung anklagen. Chambers stand finanziell längere Zeit am Abgrund. Die liberalen Medien standen auf der Seite von Hiss. Die Journalisten von der »Washington Post« drohten, sie würden Chambers fertig machen. Der Standpunkt dieser Medien entspricht dem bekannten Muster: »Lieber Kommunist als Christ«.

Chambers schrieb 1952 ein autobiografisches Buch »Der Zeuge«, ein Werk, das sich schwer liest, aber nicht, weil es besonders umfangreich wäre. Es ist ein Buch über den Kreuzweg eines Christen, der in der modernen Zeit Zeugnis für die Wahrheit ablegt – nicht etwa in einem kommunistischen und damit offiziell atheistischen Land, sondern in Amerika, wo es durchaus zum guten Ton gehörte, sich zur Bibel zu bekennen.

Bis zu seiner Aussage vor dem HUAC 1948 wurde Chambers von einem bis dahin unbekannten 30-jährigen kalifornischen republikanischen Kongressabgeordneten unterstützt. Sein Name war Richard Milhous Nixon. Nixon war bereits seit einem Jahr Mitglied des Repräsentantenhauses, aber nach dem Fall Chambers/Hiss kannte ihn ganz Amerika. 1950 kandidierte er für den Senat und wurde mit Hilfe einer antikommunistischen Bewegung gewählt. 1952 bei der Wahl Dwight Eisenhowers zum US-Präsidenten, wurde Nixon dessen Vizepräsident. Dank des Engagements für Chambers dauerte Nixons Weg von der Bedeutungslosigkeit bis ins Amt des Vizepräsidenten nur vier Jahre. Damit begann auch das beidseitige, von Hass geprägte Verhältnis zwischen ihm und den liberalen Medien. Diese betrachteten Hiss vor allem als Nixons Opfer, mehr noch als das von Chambers. In seinem Buch »Sechs Krisen« schreibt Nixon 1962: »Der Hiss-Fall hat mir landesweiten Ruhm eingebracht. Aber ich zog mir durch ihn auch Hass und Feindschaft zu – und zwar nicht nur von Kommunisten, sondern auch von wesentlichen Teilen der Presse und der Gemeinschaft der Intellektuellen.« Nixon erklärt, warum: »Der beste Weg, um sich jemanden zum Feind zu machen, der sich für einen Intellektuellen hält, ist es, ihm zu beweisen, dass er sich geirrt hat ... Die Emotionen schwappen dann über, so wie es im Fall von Hiss gewesen ist.«

Ein Vierteljahrhundert nach dem Fall Hiss haben die Medien dann doch den Skalp von Nixon bekommen. Nach der Watergate-Affäre haben sie eine derartige Hysterie erzeugt, dass Nixon im Sommer 1974 auf sein Amt als Präsident verzichten musste. Das war die Rache für Nixons Antikommunismus Ende der 40er-Jahre. Der Anti-Antikommunismus hatte gesiegt. Im Wahljahr 1972 hat die »Washington Post« 79-mal einen Bericht über die Watergate-Affäre auf ihre Titelseite gebracht. Man mag einwenden, Nixon habe seinen Untergang durch seine politischen Fehltritte selbst verursacht. Der Historiker Paul Johnson, und nicht nur er, ist der Meinung, alle Unregelmäßigkeiten von Nixon in der Watergate-Affäre hätten sich auch Nixons Vorgänger im Präsidentenamt zuschulden kommen lassen. Bei ihnen hätten es aber die Medien toleriert. Nixon hingegen hätten sie dämonisiert.

Einer der Leser von Chambers Buch »Der Zeuge« war auch Ronald Reagan. Nach seinen eigenen Worten sei dieses Buch der Meilenstein bei seiner Wandlung vom Demokraten zum antikommunistischen Republikaner gewesen. 1984 hat Reagan Whittaker Chambers posthum die Freiheitsmedaille verliehen.

Whittaker Chambers hat über den Kommunismus gesagt: »Im Kommunismus sehe ich den Kern des konzentrierten Bösen unserer Zeit.« Jahrzehnte später, nachdem dieser Satz in die Welt gesetzt worden war, am 8. März 1983, gab es in Orlando, Florida, ein Echo von Chambers Worten. Es war so laut, dass es in der ganzen Welt widerhallte. Der amerikanische Präsident Ronald Reagan bezeichnete die Sowjetunion in seiner Rede vor der Evangelischen Allianz der USA als »das Reich des Bösen«.

Es ist kein Zufall, dass Reagan seinen »Evil Empire Speech« gerade vor diesem Auditorium vortrug. Er wusste, dass er sich im Kampf gegen den Kommunismus auf diese Menschen verlassen konnte, dass sich diese Menschen schon allein wegen ihres Glaubens niemals vom Kommunismus verblöden lassen würden. Seine Rede galt allerdings nur am Rande dem Kommunismus. Er thematisierte auch die Sünde der Abtreibung, die Verdrängung der Religion aus den Schulen, die Bedrohung durch Drogen. Er sprach über einen Kampf in der Welt, der nicht durch Raketen entschieden werden würde, weil es sich um einen geistigen Kampf handle. Es war keine Hetzrede. Reagan plädierte nämlich dafür, ebenfalls für die andere Seite zu beten. Er erzählte auch über Whittaker Chambers. Es war eine religiöse Rede.

»So geht das nicht«, rümpfte das liberale und anti-antikommunistische Amerika, in vorderster Front die Medien, die Nase über diese Rede. »Man muss doch miteinander reden.« Aber so war es halt. Ein paar Jahre später tauchte Gorbatschow mit der Glasnost auf. Und selbst die Russen begannen, über ihren Herrschaftsbereich Dinge zu berichten, durch die klar wurde: Reagan hatte nicht übertrieben. Ein Jahr nach Reagans Ausscheiden aus dem Amt war der Kommunismus in Europa am Ende.

Die Geschichte des vierten Mannes begann zwei Wochen, nachdem das Gericht Alger Hiss wegen Meineids verurteilt hatte. Es war Senator Joseph McCarthy, der am 9. Februar 1950 in Wheeling, West Virginia, seine berühmte Rede hielt. Er sprach über die Unterwanderung amerikanischer Institutionen durch Kommunisten und sowjetische Spione. Er gab an, über eine Liste dieser Leute zu verfügen. Diese Rede katapultierte ihn ins Zentrum der medialen Aufmerksamkeit. McCarthy nannte allerdings niemals neue Namen, sondern nur solche, die bereits zuvor von irgendjemand veröffentlicht worden waren. Er war ein Politiker, der die mediale Aufmerksamkeit suchte. Da er das Pferd »Kommunismus« bestiegen hatte, musste er auch auf ihm weiter galoppieren. Dazu fehlten ihm jedoch die Fähigkeiten. Eine seriöse Ermittlung durch den US-Kongress, die neue und exakte Ergebnisse gebracht hätte, war ihm nicht gelungen. Ab 1954 war er politisch kompromittiert und er starb 1957 als Senator. Mit seinem Namen wird eine Ära bezeichnet, die einige Jahre Ende der 40er- und Anfang der 50er-Jahre währte: die »McCarthy-Ära«.

McCarthy hat »seine« Ära nicht selbst initiiert. Sie fing einige Jahre vor seiner Rede in Wheeling an, nämlich mit der Aussage von Chambers vor dem Kongressausschuss. Da McCarthy niemals von sich aus neue Namen ins Spiel brachte, kann man ihm auch nicht vorwerfen, er habe durch ungerechtfertigte Anschuldigungen das Leben konkreter Menschen zerstört. Joseph McCarthy sagte im Prinzip die Wahrheit über die kommunistische Unterwanderung Amerikas. Beweis dafür war unter anderem der Fall Chambers/Hiss. Aber sein politisches Ungeschick haben anti-antikommunistische Kräfte benutzt, um die Tatsache der kommunistischen Unterwanderung in Frage zu stellen. Das alles sollte lediglich als gewöhnliche Hexenjagd hingestellt werden.

Man muss nicht einmal hinzufügen, dass die anti-antikommunistischen amerikanischen Medien den »McCarthyismus« all die Jahre über in der gleichen Weise wie die Moskauer »Prawda« beurteilten.

Die Geschichte der vier Amerikaner wirft eine beunruhigende Frage auf. Zweifellos hatten sie Recht. Was sie als wahr erkannt hatten, führte letztendlich zur totalen Niederlage eines Zweigs des wuchernden Marxismus: Der Sowjet-Kommunismus, also der Marxismus-Leninismus, kollabierte und ging zugrunde. Demnach hätten die Vier eigentlich gesiegt.

Aber haben sie wirklich gesiegt?

Eine in der Öffentlichkeit stehende Person siegt, wenn die Kultur eines Landes ihren Sieg moralisch gutheißt: Film, Literatur, Musik, Architektur. Wenn aber die Kulturschaffenden es anders sehen, ist es kein wirklicher Sieg.

Wird Hollywood irgendwann einen Film über die Bekehrung von Whittaker Chambers drehen? Über seinen heldenhaften Kampf gegen eine Gefahr, von der nicht nur sein Land, sondern die ganze Welt bedroht war? Wahrscheinlich nicht. In der Enzyklopädie Wikipedia finden sie unter dem Stichwort »Bibliography for Whittaker Chambers« drei Filme, in denen die Person Chambers auftritt. In »Concealed enemies« aus dem Jahr 1984 und »The trials of Alger Hiss« aus dem Jahr 1980 steht eine Anmerkung, dass sie Pro-Hiss-Filme sind. »Nixon« von Oliver Stone ist aus dem Jahr 1995. Chambers erscheint dort nur sehr kurz. Der Zuschauer ahnt nicht, was er für Nixon bedeutet hat.