Die Ludowinger und die Takeda - Reinhard Zöllner - E-Book

Die Ludowinger und die Takeda E-Book

Reinhard Zöllner

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Beschreibung

Diese Parallelstudie des thüringischen Landgrafengeschlechts der Ludowinger und des Hauses Takeda, Landesherren der japanischen Provinz Kai, untersucht mit Hilfe der Systemtheorie nach Parsons und Luhmann feudale Herrschaft als kulturübergreifendes Handlungssystem. Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur der beiden Herrscherhäuser werden quellennah dargestellt, um ihre teils übereinstimmenden, teils gegensätzlichen Handlungsstrategien funktional zu erklären. Auf diese Weise wird es möglich, Ähnlichkeiten und Unterschiede mittelalterlicher Herrschaft in Deutschland und Japans als Varianten desselben feudalen Handlungsrahmens zu verstehen und ihre historischen Konsequenzen neu zu bewerten.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

Die Ludowinger

A. Haus und Wirtschaft

Am Himmel wie auf Erden

Das Haus der Ludowinger

Die Münzen der Ludowingel-7

Die Städe der Ludowinger

G. Formen der Besitzergreifung

Lehen

Das Erbe

Kauf und Verkauf

Beute und Ausbeutung

I. Abhängige und Herren

Bauern und Bürger

Vasallen und Ministerialen

Lehensherren

L. Geben und Nehmen

Barmherzigkeit und Milde

Die Sonne der Gerechtigkeit

Die Takeda

A. Haus und Wirtschaft

Krieg der Sterne

Haus und Hof

2.1 Die Grundherrschaft

2.2 Die Entwicklung des

bushi

-Hauses

2.3 Haus und Grundherrschaft

Die Domäne

Das Vasallenland

Landesaufnahmen und Besteuerung

Der Hunger nach Geld

Handel und Wandel

G. Formen der Besitzergreifung

Das Lehen

Erbe und Heiraten

Kaufen, Verkaufen, Leihen

Beute und Ausbeutung

I. Abhängige und Herren

Nichtkrieger

Vasallen

Herren

L. Gaben und Begabung

Gnade

Geschick

Die Ludowinger und die Takeda

Ein systematischer Vergleich -

A. Haus und Wirtschaft

Abhängigkeit von der Natur

Haus und Hof

Geld und Münzen

Städte und Märkte

G. Formen der Besitzergreifung

Lehen

Erbe und Heirat

Kauf und Verkauf

Beute und Ausbeutung

I. Abhängige und Herren

Die Untertanen

Der Verwaltungsstab

Herren

L. Geben und Nehmen

Milde und Gnade

Gerechtigkeit und Geschick

Schrifttumsverzeichnis

Häufige japanische Orts-, Personen-und

Werknamen Japanisches Glossar

Verzeichnis der Abkürzungen

CD:

Kadokawa Chimei daijiten, Bd. 19: Yamanashi-ken

CH:

Nagahara Keiji (Hg.), Chûsei-shi handobukku

DRT:

Dobenecker, Regesta ... Thuringiae

KSS:

Kôfu-shi shi

UB:

Urkundenbuch

ZYR:

Zusetsu Yamanashi-ken no rekishi

Hinweise zur Wiedergabe japanischer und chinesischer Begriffe

Die Umschrift japanischer Begriffe folgt dem modifizierten Hepburn-System; dabei sind Vokale in etwa wie im Italienischen, Konsonanten wie im Englischen auszusprechen. Chinesische Begriffe werden in Pin’yin-Umschrift wiedergegeben; bei Eigennamen wird dabei von einer Kennzeichnung der Tonhöhen abgesehen.

Ein Glossar der wichtigsten im Text verwendeten japanischen und chinesischen Begriffe und Namen befindet sich im Anhang dieser Arbeit.

Hinweise zur Zitierweise

Belege aus wiederholt zitierten Werken erfolgen bibliographieorientiert in der Grundform Verfasser-/Herausgeber-/Werkname, Jahr der benutzten Ausgabe, Seitenzahl (NN aaaa.bb), bei mehrbändigen Werken mit Bandangabe (NN aaaa.I:bb). Bei Quellenwerken ist stattdessen die Form gewählt: Titel, ggf. Band, Stück oder Kapitel, ggf. Seite der benutzten Ausgabe (ABC aa.bbb oder ABC I:aa oder ABC I:aa.bbb); in solchen Fällen gibt also die erste Zahl stets die Dokumenten- oder Kapitelnummer an, die folgende die Seitenzahl des Druckes. Bei Chroniken wird mitunter statt der Seitenangaben der Deutlichkeit halber das Jahr, auf das sich der Eintrag bezieht, angegeben (»a. 1130« usw.).

Vorwort

Etwas unvollendet zu lassen, macht es interessant und gibt den Eindruck,

daß noch Platz zum Wachsen ist.

Yoshida Kenkō (ca. 1283-1350), Tsurezuregusa, 82

Durch den Charme dieses Kenkō-Wortes ermutigt, habe ich in der vorliegenden Studie den Ergebnissen eines Versuches mit der Geschichte zweier Länder eine Form gegeben, die genug Platz zum Wachsen erkennen lassen soll, um bestehen zu können. Daß in ihr, wie Kenkö auch von den chinesischen Klassikern behauptet, viele Kapitel fehlen, wird hoffentlich anderen als Anreiz dienen, die Lücken angemessen zu schließen. Vieles konnte nur angedeutet, vieles nur halb ausgeführt werden, weil sich erwies, daß viel mehr von dem, was die Menschen - Herrscher und Beherrschte - in Thüringen und der Provinz Kai taten und dachten, in diese Arbeit hineingehört hätte, als der ursprüngliche Entwurf erlaubt hätte. So steht, damit die Form doch im Ganzen erkennbar werde, ein Teil des Gebäudes nur als Gerüst. Auch beim Bau des Kaiserpalastes, so sagt Kenkö tröstend, werde stets ein Teil unfertig gelassen.

Für den Bauplan, architektonische Mängel und Fehler im Mauerwerk der Argumentation trage ich die Verantwortung. Dank aber gebührt allen, ohne deren Hilfe es nie zum Richtfest gekommen wäre: Allen voran Herrn Professor Dr. Werner Paravicini, der die europäische Seite meines Unternehmens zu entwickeln half und sich der japanischen unvoreingenommen öffnete, und Herrn Professor Dr. Hermann Kulke, der mein Vorhaben anschließend in die asiatische Dimension überführte und überprüfte. Beiden Doktorvätern danke ich für ihre geduldige und fördernde Begleitung.

Als sachkundig und gastfreundlich erwiesen sich während meines Japan-Aufenthaltes 1989-1990 die Herren Prof. Iida Bun’ya (Präfektur-Bibliothek Kōfu), Prof. Ishii Susumu (damals Tōkyō-Universität), Prof. Isogai Masayoshi (ehemals Yamanashi-Universität Kōfu), Kiyogumo Toshimoto (Hōkōji-Tempel Enzan) und Shibatsuji Shunroku (Waseda-Universität Tōkyō). Besonderen Dank schulde ich Herrn Prof. Satō Masayuki von der Yamanashi-Universität in Kōfu für uneigennützigen Rat und Unterstützung. Der zu früh verstorbene Prof. Nagazumi Akira und seine Gattin, Prof. Nagazumi Yōko, haben buchstäblich meine ersten Schritte durch das Archiv der Tokyō-Universität ermöglicht und begleitet.

Ohne die freundlichen Menschen in der Präfektur Yamanashi hätte ich die Heimat der Takeda nicht auf derart unvergeßliche Weise kennenlernen können. Stellvertretend danke ich den Familien von Mitsui Takeshi in Ryūō, bei der wir ein Jahr lang zu Gast sein durften, und von Uehara Masaaki in Enzan. Für die Unterstützung während der Aufenthalte in Tōkyō danke ich der Familie meines Schwiegervaters, Dr. Uehara Shigetsugu.

Geholfen haben auch zahlreiche Gesprächspartner hierzulande, von denen vor allem die Herren Prof. Dr. Klaus Antoni (Hamburg), Prof. Dr. Wilhelm Brauneder (Wien), Rainer Hofer, M.A., Dr. Dr. Wilhelm Röhl (Hamburg) und Prof. Dr. Carl Steenstrup (München) mit Dank zu nennen sind. Herrn Prof. Dr. Klaus Müller, meinem »Dienstherrn« an der Universität Düsseldorf, verdanke ich neben zahlreichen Hinweisen auch großzügiges Entgegenkommen hinsichtlich der Arbeitseinteilung während der Niederschrift des Manuskriptes. Ohne die Zuwendungen der Studienstiftung des Deutschen Volkes, die mich zwischen 1981 und 1990 als Stipendiaten gefördert hat, und die vertrauensvolle Geduld ihrer Mitarbeiter wäre diese Arbeit nicht zustande gekommen. Sie erst öffneten mir Wege nach Japan außerhalb der üblichen akademischen Pfade.

Am meisten beeinflußt haben diese Arbeit Ermutigung und Kritik meiner Familie. Meinen Eltern danke ich für den Mut zur Ferne. Meine Tochter Erika hat geduldig ertragen, daß ich öfter mit dem Computer als mit ihr »spielte«. Meine Frau Kumiko hat jeden Schritt meiner Studien begleitet, häufig inspiriert und oft zur Verbesserung angeregt. Diese Arbeit sei daher ihr gewidmet.

Düsseldorf, im Frühjahr 1994

Reinhard Zöllner

Vorwort zum unveränderten Nachdruck

Dieses Buch erschien zuerst 1995 im Verlag Dieter Born in Bonn. Nach dem viel zu frühen Tod des Verlegers 2013 wurde der Verlag liquidiert. Das Buch ist deshalb seit längerem nicht mehr im Buchhandel erhältlich. Aufgrund der anhaltenden Nachfrage habe ich mich deshalb entschlossen, es in unveränderter Form neu zu publizieren. Ich tue dies nicht, ohne in Dankbarkeit Dieter Borns zu gedenken, dessen Begeisterung für die Sache die Veröffentlichung erst möglich machte.

Berlin, im Sommer 2017

Reinhard Zöllner

Zeittafel zur Geschichte der Ludowinger

ca. 1030Ludwig mit dem Barte errichtet eine Rodungsherrschaft im Thüringer Wald1070Beginn des Widerstandes sächsischer und thüringischer Adliger gegen die Krone1080Erste urkundliche Nennung der von Ludwig dem Springer erbauten Wartburg1122Ludowinger erben Besitz der Grafen Werner und Giso in Hessen1131Ludwig I. wird Landgraf von Thüringen1147Ludwig II. auf Kreuzzug in Palästina (-1149) (?)1158Ludwig II. begleitet Friedrich Barbarossa nach Italien (-1161)1165Ludwig II. legt die Mauern Erfurts nieder1166Kampf Ludwigs II. gegen Heinrich den Löwen, Herzog von Sachsen1178Erste Nennung aller vier Hofämter der Ludowinger1180Ludwig III. wird Pfalzgraf von Sachsen. Kampf gegen Heinrich den Löwen.1184Ludwig III. nimmt mit großem Gefolge am Mainzer Hoffest teil1190Ludwig III. stirbt auf Kreuzzug1198Hermann I. beteiligt sich in Akko an der Gründung des Deutschen Ordens. Wechselt im welfisch-staufischen Erbfolgestreit häufig die Seiten.1210König Philipp II. Augustus von Frankreich verspricht einer Tochter Hermanns I. die Ehe1227Ludwig IV. stirbt bei der Abreise zum Kreuzzug1236Heiligsprechung Elisabeths von Thüringen1239Konrad wird Hochmeister des Deutschen Ordens1246Heinrich Raspe wird zum Gegenkönig gewählt1247Heinrich Raspe stirbt ohne männlichen Erben

Zeittafel zur Geschichte der Takeda

1130Minamoto Yoshikiyo und sein Sohn Kiyomitsu werden aus Hitachi nach Kai verbannt1180Die Minamoto in Kai, darunter die Takeda, kämpfen an der Seite ihrer Verwandten in Kamakura erfolgreich gegen die Taira1221Die Takeda kämpfen für das bakufu gegen den Kaiserhof1331Die Takeda, shugo in Kai, kämpfen an der Seite des Kamakura-bakufu gegen Kaiser Godaigo1335Die Takeda unterstützen Ashikaga Takauji gegen Kaiser Godaigo; Takeda Nobutake zieht in die Provinz Aki1416Takeda Nobumitsu beteiligt sich am erfolglosen Aufstand des Uesugi Zenshū gegen das bakufu und nimmt sich das Leben1519Takeda Nobutora gründet Burg Tsutsujigasaki (Kōfu)1541Takeda Harunobu (Shingen) vertreibt seinen Vater Nobutora1547Harunobu erläßt die »Gesetzessammlung für Kai« (Kōshū hatto no shidai), sein Hausgesetz (1557 ergänzt)15531. Schlacht zwischen Harunobu und Uesugi Terutora (Kenshin) aus Echigo bei Kawanakajima1554Dreiländerbund von Kai (Takeda), Suruga (Imagawa) und Sagami (Hōjō)1558Hauslehre (kakun) des Takeda Nobushige1563Landesaufnahme (kenchi) des Erinji-Tempels, Bezirk Yamanashi15645. und letzte Schlacht bei Kawanakajima zwischen Takeda Harunobu und Uesugi Terutora1567Ende des Dreiländerbundes; Suruga verhängt Salzembargo gegen Kai1572Harunobu führt das Bündnis gegen Oda Nobunaga an, siegt bei Mikatagahara über Tokugawa Ieyasu und beginnt mit dem Zug auf Kyōto1573Tod Harunobus1575Oda Nobunaga und Tokugawa Ieyasu siegen über Takeda Katsuyori bei Nagashino1582Nobunaga und Ieyasu fallen in Kai ein. Untergang der Familie Takeda.

Einleitung

In dieser Untersuchung verbinden sich zwei fremde Welten. Ich werde darstellen, wie eine deutsche und eine japanische Herrscherfamilie im Mittelalter ihre Herrschaft entwickelten und organisierten. Dafür wähle ich einen systemtheoretischen Ansatz, um Handlungsweisen in diesen voneinander unabhängigen historischen Umwelten vergleichen zu können. Mit diesem Ansatz möchte ich zugleich eine neue Antwort auf die Frage versuchen: Was ist Feudalismus?

Dabei folge ich den systemtheoretischen Vorgaben Talcott Parsons’ und Niklas Luhmanns. Der Begriff »System«1 geht von einer Grundtatsache des menschlichen Lebens aus: »Der Vorgang der Menschwerdung findet in Wechselwirkung mit einer Umwelt statt.«2 Identität und Handlungsfähigkeit entstehen erst, wenn zur Umwelt eine Grenze gezogen wird, anders gesagt: eine Differenz geschaffen wird.3 Indem ausgewählt wird, welche Teile der Welt innerhalb dieser Grenze liegen sollen und welche nicht dazu gehören, werden System und Umwelt definiert. Das System gibt den für sich selbst beanspruchten Elementen eine eigene Ordnung und einen Zusammenhang. In einem System herrscht daher größere Ordnung als in seiner unmittelbaren Umwelt; gleichzeitig ist seine Binnenwelt einfacher.

Grundsätzlich besteht also die Aufgabe eines Systems darin, sich durch Auswahl und Bindung bestimmter Teile der Welt zu definieren und zu erhalten. Daher ist jede Persönlichkeit ein System, nämlich ein psychisches, denn sie definiert sich mit Hilfe ihres Bewußtseins. Eine Mehrzahl von Persönlichkeiten wiederum definiert sich mit Hilfe der Kommunikation als soziales System.4 Ein soziales System ist ursprünglich ein Handlungssystem; es besteht aus den aufeinander bezogenen Handlungen seiner Mitglieder.5 Diese Handlungen und Beziehungen gewinnen aber erst Sinn und funktionale Bedeutung für das soziale System, indem und wenn sie sich darüber verständigen; wie auch Handlungen und Umwelt des psychischen Systems erst dann Sinn ergeben, wenn sie ihm bewußt sind.6 Ein solches System entwickelt sich (autopoietisch) fort, indem es den in sich selbst und seiner Umwelt beobachteten Ereignissen Sinn zuschreibt und damit Wahlmöglichkeiten für anschließende Operationen schafft. Da die Möglichkeit zur Auswahl die Möglichkeit des Irrtums mit sich bringt, erfahren wahlfähige Systeme Kontingenz, d.h. die Wahrscheinlichkeit, eine (möglicherweise existenzbedrohende) falsche Wahl zu treffen. Systeme entwickeln daher Strategien zur Bewältigung dieser Kontingenz.

Menschliches Leben findet im Alltag demnach in sinngebenden psychischen und sozialen Systemen statt; beide Arten von Systemen sind wechselseitig aufeinander angewiesen.7

Talcott Parsons unterscheidet in sozialen Systemen (nur diese interessieren im Rahmen dieser Arbeit) vier essentielle »funktionale Imperative«: Anpassung an die Systemumwelt und ihre Kontrolle (»Adaptation«), Erreichen selbstgewählter Ziele (»Goal attainment«), Integration der Systemteile (»Integration«) und Bewahrung der gemeinsamen Wertstrukturen gegenüber äußeren und inneren Spannungen (»Latent pattern maintenance and tension management«). Parsons stellt fest: »Any system of action can be described and its processes analysed in terms of these four fundamental categories.«8 (Die Anfangsbuchstaben ihrer englischen Bezeichnungen ergeben »AGIL«, weshalb Parsons’ Theorie kurz als »AGIL-Schema« bezeichnet wird.) Komplexe Handlungssysteme neigen dazu, diese Funktionen spezialisierten Subsystemen zuzuweisen. So verfolgt das jeweilige ökonomische Subsystem (»Wirtschaft«) die Aufgabe der Anpassung und Kontrolle der Systemumwelt, das politische (»Politik«) die Aufgabe, die Systemziele zu erreichen, das gesellschaftliche Subsystem (»Gesellschaft«) die Aufgabe der Systemintegration und das kulturelle (»Kultur«) die Stabilisierung der Werte und Motive aller Teilnehmer.9

Auf dem Gebiet der Geistesgeschichte hat zuvor schon Bellah, in der modernen Wirtschaftswissenschaft Schmiegelow vorgeführt, daß Parsons’ Theorie mit Gewinn auf Japan angewandt werden kann.10 In dieser Arbeit werde ich sie zur Untersuchung der mittelalterlichen Lebenswelt übernehmen. Allerdings beschränke ich mich dabei auf ein einzelnes Subsystem, nämlich das politische (»goal attainment«), in seiner für das Mittelalter typischen Form, der adligen Herrschaft. Mit Max Weber soll dabei Herrschaft »die Chance heißen, für spezifische (oder: für alle) Befehle bei einer angebbaren Gruppe von Menschen Gehorsam zu finden.«11 Anders gesagt, man muß seine erklärten Ziele im eigenen sozialen System durchsetzen können. Diese Beschränkung folgt arbeitsökonomischen Gründen, denn ich werde im Sinne einer doppelten Beweisführung dasselbe Verfahren an zwei voneinander unabhängigen Gegenständen erproben, nämlich einem Fall aus dem mittelalterlichen Deutschland und einem aus dem mittelalterlichen Japan. Beide sollen dabei in ihren funktionalen Subsystemen dargestellt werden. Ich werde also untersuchen, wie ihre Herrschaft jeweils wirtschaftlich, politisch, sozial und kulturell funktionierte.

Abb. 1: AGIL-Schema nach Parsons/Smelser 1964.53

Über den Begriff des funktionalen Äquivalents wird anschließend ein Vergleich dieser beiden räumlich, zeitlich und kulturell voneinander unabhängigen Handlungssysteme möglich. Funktionalismus ist essentiell »eine vergleichende Methode« und dient mit den Worten von Niklas Luhmann dazu, »das Vorhandene für den Seitenblick auf andere Möglichkeiten zu öffnen.«12 Gelingt es, Parsons’ AGIL-Schema gleich zweimal kontrolliert und aussagekräftig anzuwenden, halte ich mein erstes Ziel, einen Ausschnitt der historischen Welt als Handlungssystem zu erklären, für erreicht. (Dasselbe Ziel ließe sich auch erreichen, wenn man andere Systemfunktionen, z.B. die mittelalterliche Wirtschaft, als Ausgangspunkt wählte.)

Die Konzentration auf die politische (herrschaftliche) Dimension ermöglicht auch, das zweite Ziel dieser Untersuchung, die Weiterentwicklung des Feudalismus-Begriffs mit den Mitteln der funktionalen Systemtheorie, anzugehen. Bereits Max Weber betrachtete Feudalismus unter dem Aspekt des »Gemeinschaftshandelns«.13 Kann man unter Anwendung des Parsonsschen Funktionalismus auch den Feudalismus als Handlungssystem verstehen?

Diese Fragestellung bedarf der wissenschaftsgeschichtlichen Begründung. Feudalismus ist, wie Elizabeth A.R. Brown festgestellt hat, ein theoretisches Konstrukt der Historiker.14 Der Historiker konstruiert seine Wirklichkeit genauso wie jeder andere Wissenschaftler auch,15 nur daß sie in der Vergangenheit liegt. Ohne Konstrukte dieser Art, zu denen übrigens auch »Mittelalter«, »Herrschaft« und »Gesellschaft« gehören, gäbe es für uns keine sinnvolle Geschichte, sondern nur höchst gleichgültige Überreste, die wir registrieren und verwalten könnten, aber nicht verstehen. Durch die Verständigung über die Begrifflichkeiten konstruieren wir unser Verständnis der Geschichte. Feudalismus ist ein umstrittener Begriff, weil er bislang disparat diskutiert wurde, und nicht etwa, weil er ein theoretisches Konstrukt darstellt.

Es steht fest, daß die Wörter »feudal« und »Feudalismus« erst seit dem 18. Jahrhundert zur Bezeichnung einer bestimmten Gesellschaftsordnung benutzt wurden; die französische Nationalversammlung proklamierte am 11. August 1789 förmlich die Zerstörung des »régime féodal«, worunter sie bestimmte Arten von Rechten und Pflichten, insbesondere die Leibeigenschaft, verstand.16 Die geschichtswissenschaftliche Diskussion des Feudalismus begann demgegenüber erst, als »Feudalismus« in das Vokabular des marxistischen Historischen Materialismus Eingang fand.

Karl Marx betrachtete den Feudalismus als eine naturgemäße Entwicklungsstufe in der Geschichte der Menschheit.17 Als sein entscheidendes Element nahm er an, daß die Bauern ihre Produktionsmittel (Land und Geräte) zwar besaßen, aber persönlich abhängig waren von deren Eigentümern (den Grundherren), die sich das bäuerliche Mehrprodukt in Form der Grundrente aneigneten. Die politische und rechtliche Organisation folgte den wirtschaftlichen Vorgaben, baute also auf Privateigentum an Produktionsmitteln und persönlicher Abhängigkeit (Knechtschaft, Hörigkeit, Leibeigenschaft, Patrimonialgerichtsbarkeit) auf.18 Marx nannte Japan in der Mitte des 19. Jahrhunderts wegen seiner »rein feudalen Organisation des Grundeigentums und seiner entwickelten Kleinbauernschaft« ein treues Bild des europäischen Mittelalters,19 während er in Indien bestimmte Kennzeichen wie Leibeigenschaft, Vogtei, »Bodenpoesie« und Patrimonialgerichtsbarkeit vermißte.20 Zentrales Thema marxistischer Feudalismus-Studien sind immer die »Aneignungsstrukturell des bäuerlichen Mehrprodukts«,21 d.h. die Frage, wie die herrschende Klasse die Ausbeutung der Produzenten (einschließlich Handwerkern und Kaufleuten) organisierte. Feudale Herrschaft wird also vorrangig als eine bestimmte Form von Wirtschaftsordnung (»Ökonom. Gesellschaftsformation«)22 betrachtet. Von den japanischen Vertretern der marxistischen Geschichtsauffassung definiert beispielsweise auch Nagahara Keiji Feudalismus als »eine Gesellschaft, welche auf starren Beziehungen zwischen Grundherren und Bauern gründet«.23

Gegen diese materialistische Auffassung wandten sich zunächst die Vertreter rechtshistorischer Feudalismus-Theorien. Heinrich Mitteis sah Feudalismus und Lehensrecht als Werkzeuge politischer Herrschaft, die je nach den sozialen und politischen »Strukturverschiedenheiten in den führenden Schichten«24 unterschiedliche Gestalt annehmen konnten. Deswegen erforschte er die »Grundlinien einer vergleichenden Verfassungsgeschichte«, wie der Untertitel seines 1940 erschienenen Werkes lautet, das gleichzeitig den Höhepunkt der rechtshistorischen Feudalismus-Diskussion darstellt. Seiner Auffassung nach entwickelte sich das europäische Lehenswesen als ein Sonderfall des Feudalismus aus zwei Elementen: Der persönlichen Unterwerfung unter einen Herrn (Vasallität) und der Vergabe von Herrschaftsrechten an die neuen Vasallen (Lehen).25 Die mit Lehen ausgestatteten Vasallen wurden zur staatstragenden Schicht,26 aus ihnen entstand nach dem 11. Jahrhundert der Ritterstand. Die Gesetze des Lehenswesens beherrschten die gesellschaftliche Ordnung. Ähnlich erkennt auch Walter Ullmann den wirksamsten Integrationsfaktor der mittelalterlichen Gesellschaft im Lehensrecht, weil die Vertragstreue Lehensherren und Lehensleute im beidseitigen Interesse fest zusammenhielt.27 Die Rechtshistoriker, zu denen auch F.L. Ganshof zu zählen ist,28 interessieren sich in erste Linie für die Fragen: Welches vertragliche Verhältnis bestand zwischen Herren und Vasallen? Welche Rechte und Pflichten (Dienste) verknüpften sich mit einem Lehen? Wie gestaltete das feudale Recht das Zusammenleben von Obrigkeit und Untertanen? Es geht ihnen also um die politische Ordnung des Mittelalters. Bündig definiert daher ein japanischer Anhänger dieser Richtung, Ishii Ryōsuke, Feudalismus als »a political system of a military nature. In substance, it is a relationship of a feudal lord and his vassals but the physical bond that binds them is land or the rights attributable to it.«29

Seit Beginn dieses Jahrhunderts benutzten Soziologen und in ihrem Gefolge Sozialhistoriker »Feudalismus« zur Bezeichnung einer Gesellschaftsform. Max Weber ordnete Feudalismus in seiner Soziologie der Herrschaft als Unterform der patrimonialen Form traditionaler Herrschaft an der Grenze zur charismatischen Herrschaft ein.30 Für Weber stand die soziale Beziehung zwischen dem Lehensherrn und dem Lehensmann im Vordergrund, »unter deren Zusammenwirken ein Gemeinschaftshandeln entsteht.«31 Die Idealtypen Webers sind zwar per definitionem »weltfremd«, weil sie nach den »generellen Regeln des Geschehens« konstruiert wurden.32 Genau deshalb aber mußte Weber möglichst umfassend vergleichen, um typisieren zu können, weswegen er auch den japanischen Feudalismus ausgiebig untersuchte. Das Lehen war zwar auch nach Weber militärischen (also politischen) Ursprungs, diente aber zur Begründung einer »Herren-Existenz«:33 Ein Lehensmann war zugleich Krieger, Diener und Herr. Die ihm unterstehende Grundherrschaft war ein wirtschaftlicher und sozialer Verband, der seine Selbständigkeit sichern sollte, aber wegen der fortgeschrittenen Dezentralisierung der öffentlichen Gewalt auch politische Hoheitsrechte beinhaltete.

Demgegenüber unterschied Otto Hintze drei Komponenten des Feudalismus: die militärische, die wirtschaftliche und die politische.34 Vasallität und Lehen sollten die Krieger (Ritter) in einem Privatvertrag an ihre Herren binden. Gleichzeitig gewannen sie als Grundherren Gewalt über die nicht mehr waffenfähigen Bauern. Durch die Aneignung obrigkeitlicher Rechte in Gerichtsbezirken und Grafschaften vergrößerten die Ritter ihre Macht und Unabhängigkeit.35

Norbert Elias untersuchte Feudalismus als einen gesellschaftlichen Prozeß.36 Ein rasches Wachstum der Bevölkerung führte seit dem frühen Mittelalter zu verfestigten Besitzverhältnissen und Bodenknappheit. Diejenigen Nachkommen der Adelsschicht, die zu überzähligen »Have-nots« wurden, mußten sich durch Dienst einen Lebensunterhalt zu verschaffen suchen. Sie sammelten sich an den neu entstandenen großritterlichen Feudalhöfen, die sowohl wirtschaftliche wie soziale Zentren der Herren waren. Im höfischen Konkurrenzkampf bildeten sich strikte Regeln und Umgangsformen aus, die als Grenze zwischen der höfischen Gesellschaft und ihrer Umwelt diente. Ein »Monopolmechanismus«, den Elias als »gesellschaftlichen Selektionsprozeß« bezeichnet,37bewirkt, daß einzelne immer mehr Leute von sich abhängig macht, bis schließlich am Ende der Stärkste als Herrscher übrigbleibt.

Als Typus sozialer Organisation faßte auch Marc Bloch den Feudalismus auf.38 Ihm kam es vor allem auf die Gestaltung der Beziehungen zwischen Herren und Abhängigen an. Man begab sich im frühen Mittelalter in den Schutz eines Stärkeren, um nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung in Staat und Sippe Sicherheit zu finden. Herren suchten andererseits militärisches Personal und entgalten es mit Geschenken, der Aufnahme in den eigenen Haushalt oder der Überlassung von Land. Je größer die Zahl der abhängigen Krieger wurde, desto notwendiger wurde es, sie außer Haus - auf eigenem Lehens-Land - zu versorgen. Die Bauern, die dieses Land bestellten, wurden ihrem eigentlichen Herrn und der öffentlichen Gewalt dadurch entfremdet und mediatisiert. Für Bloch stand außer Frage, daß sowohl Europa als auch Japan das Stadium des Feudalismus durchlaufen hatten, wenn auch mit starken Abweichungen.39

Auch für den japanischen Historiker Asakawa Kan’ichi stand »the personal agreement in arms between the lord and his man«40 im Mittelpunkt feudaler Beziehungen. Welthistorisch sah er im Feudalismus allerdings keinen idealen oder normalen Typus, sondern »a fortunate abnormality that has been the gift of a very few races.«41 In Japan entstand Feudalismus nach Asakawas Ansicht aus dem »maladjustment between the Chinese regime, which was introduced in the seventh and early eight century, and the primitive social habits of the nation, which reacted upon the alien institutions.«42

Nach dem Zweiten Weltkrieg verwandten Historiker zunächst vor allem in Frankreich zunehmend psychologische, mentale oder kulturelle Erklärungsmuster. Sie griffen dabei auf Ansichten zurück, die bereits um die Wende zum 20. Jahrhundert als Minderheitenposition in der Geschichtswissenschaft zu beobachten waren. Karl Lamprecht hatte bereits 1912 die eigentlichen Antriebe der Entwicklung der Grundherrschaft »in der Bedürfhisempfindung und in dem Trieb oder Willen, das empfundene Bedürfnis zu befriedigen«, ausgemacht.43 Zum Träger der öffentlichen Ordnung konnte die feudale Grundherrschaft werden, weil »ein psychologisches Motiv«, nämlich die in der Bindung von Lehensherrn und Lehensmann »als eigentlich charakteristisch« enthaltene Treue, durch »soziale Reflexbildung« zum allgemein wirksamen und integrierenden Prinzip werden konnte.44 In dieselbe Richtung zielte wenig später Johan Huizinga, für den Feudalismus ein Gesellschaftsspiel war: »Das System des edlen Kampfes als Lebensideal und als Lebensform im höchsten Sinne ist natürlicherweise besonders mit einer gesellschaftlichen Struktur verbunden, in der ein zahlreicher Kriegeradel mit mäßigem Besitz von einer fürstlichen Macht mit geweihtem Ansehen abhängig ist, mit der Treue gegenüber dem Herrn als zentralem Motiv des Daseins.«45 Für Huizinga sind »das Gefühl, mehr als andere zu sein«46 und »männlicher physischer Hochmut«47 treibende Kräfte der Feudalisierung. Ähnlich erklärte Georges Duby 1958 Feudalismus als »disposition d’esprit« oder »attitude mentale«.48 Später erläuterte er, daß Weltbilder (»Ideologien«) allgemein den Menschen dabei helfen, sich in ihrem Verhalten den materiellen Gegebenheiten anzupassen.49 Die feudale Ideologie im besonderen habe der Ritterschaft dazu gedient, die übrige Bevölkerung zu unterwerfen.50 Treue und bewußtgewordene Ungleichheit und Abhängigkeit erkannte Jacques Le Goff schließlich als Hintergrund des »système symbolique«, als welches er die »feudo-vasallitische« Ordnung bezeichnete.51 Eingebettet in eine globale Symbolwelt, schaffen die symbolischen Handlungen von Mannschaft, Hulde und Investitur eine Hierarchie von Gleichen in einer exklusiv männlichen Gruppe der Gesellschaft. Auch Le Goff suchte den Vergleich mit anderen Ordnungen, z.B. der japanischen.52

Diese Beiträge der Historiker von Lamprecht bis Le Goff möchte ich als kulturanthropologische Richtung bezeichnen, weil es ihnen mit den Worten Eduard Meyers vor allem um die »geistigen Eigenschaften, materiellen Erwerbungen, Vorstellungen, Sitten und Ordnungen, die wir unter dem Namen Kultur zusammenfassen«,53 geht. So lassen sich wissenschaftsgeschichtlich bisher vier Hauptströmungen der Feudalismusdiskussion erkennen:

Die materialistische Richtung beschäftigt sich hauptsächlich mit vier Komplexen: Privateigentum an Produktionsmitteln (Land und Leuten); Abhängigkeit der Produzenten von den Eigentümern der Produktionsmittel; Grundherrschaft als der Schnittstelle zwischen den Eigentümern der Produktionsmittel (Grundherren) und den Produzenten (Abhängigen); Wirtschaftsmentalität der Grundherren im Gegensatz zur Mentalität des Frühkapitalismus (Naturalwirtschaft versus Geldwirtschaft; Grundherren versus Kaufleute, Bürger).

Die politisch-rechtshistorische Richtung untersucht Vasallität und Lehen als Begründung einer politisch-militärischen Einheit; als Legitimation kriegerischer und ziviler (richterlicher, steuerlicher, allgemein: hoheitlicher) Gewalt.

Die soziologisch-sozialhistorische Richtung analysiert die Integration von Herren und Vasallen in eine soziale Einheit; Sozialisation und Gemeinschaftshandeln dieser Einheit; ihr Verhältnis zu den älteren Einheiten von Familie und Adel.

Die kulturanthropologische Richtung forscht nach: Bedürfnissen oder handlungsbestimmenden Motiven wie Streben nach Unabhängigkeit und Treue; Ideologien, Mentalitäten, Geisteshaltungen; symbolischer und ritueller Selbstdarstellung.

Nicht als absolute Chronologie, doch als Abfolge des hauptsächlichen wissenschaftlichen Diskurses verstanden, sind demnach Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur nacheinander zu den vier Hauptfeldern der Beschäftigung mit dem historischen Konstrukt »Feudalismus« geworden. Trotz gewisser Überschneidungen und notwendiger Berührungen behandelt jede Richtung eindeutig unterscheidbare Fragen und führt zu je eigenen Ergebnissen. Ihre Ergebnisse können daher die Ergebnisse der anderen Richtungen keinesfalls direkt widerlegen oder bestätigen. Sie werden für sich stehen, bis es gelingen wird, sie in einer integrierenden Ebene zusammenzuführen. Eine solche Zusammenführung wird möglich, wenn man jeder Richtung den Gegenstand einer Funktion im Rahmen eines sozialen Systems zuweist.

Mit Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur sind tatsächlich alle von Parsons postulierten Funktionen eines sozialen Systems einzeln untersucht worden. Durch die funktionalistische Betrachtung gewinnen isolierte wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle Erkenntnisse einen neuen Sinn; die Fragestellung lautet nun, wie sie zum Aufbau und Erhalt des Gesamtsystems Feudalismus beitrugen und zusammenspielten. Von einem Primat der einen oder anderen Funktion, etwa des Überbaus über die Basis oder der rechtlichen Strukturen über die sozialen, darf dabei nicht die Rede sein; wie jedes andere Handlungssystem auch ist das feudale auf ein funktionales Gleichgewicht angewiesen.54 Monokausale Erklärungsversuche vertragen sich nicht mit der Komplexität eines sozialen Systems. Auch dies möchte ich in meiner Doppelstudie aufzeigen.

Erste Fallstudie: Die Ludowinger und Thüringen

Zu den Trägern autorisierter Herrschaft im europäischen Mittelalter gehörten (neben geistlichen Instituten wie Klöstern und Kirchen) adlige Familien, die zugleich auch Grund- und Lehensherren waren.55 Diese vierfache Qualifikation (wirtschaftlich: Grund-und Lehenseigner; politisch: Mächtige; sozial: adlige Herren; kulturell: genealogische Traditionsverbände) sowie ihr unübersehbar häufiges Vorkommen rechtfertigt, »die Herrengewalt des Adels über Land und Leute«56 anhand einer dieser Familien zu betrachten, nämlich der Familie der von der Wissenschaft so genannten Ludowinger aus Thüringen.

Thüringen besitzt im deutschen Kulturraum »die Stellung eines Landes der Mitte«;57 wegen seiner landschaftlichen Beschaffenheit nennt es sich heute gern »das grüne Herz Deutschlands«. Im Norden durch den Harz, im Westen und Süden durch den Thüringer Wald und den Frankenwald, im Osten durch die Ausläufer des Erzgebirges mit natürlichen Grenzen versehen, liegt das thüringische Becken nur nach Nordwesten und Nordosten hin ungeschützt. Unter den Franken, die das einheimische Kleinkönigtum der Thüringer im 6. Jahrhundert beseitigten, wurde Thüringen Grenzland zum slawischen Osten jenseits der Saale, bis sich die Ostgrenze des deutschen Reiches im 10. Jahrhundert an die Elbe vorschob. Seit dieser Zeit war es Brücke zwischen dem sächsischen Norden und dem fränkisch-bayerischen Süden, wiederholt aber auch Aufmarschgebiet in deren Auseinandersetzungen. Trotz seiner geographischen Geschlossenheit fand das mittelalterliche Thüringen niemals vollständig auch zu politischer Einheit; kirchliche und weltliche Herrschaften aus Sachsen, Franken und Thüringen sowie Königsgut verteilten sich im Land. Durch Teilungen der herrschenden Adelshäuser verstärkte sich die politische Zersplitterung in der frühen Neuzeit noch. Erst 1918 wurde das »Land Thüringen« als Nachfolger von nicht weniger als sieben Bundesstaaten gegründet, 1952 freilich wie alle Länder auf dem Gebiet der damaligen DDR suspendiert. Mit der Einrichtung des Bundeslandes Thüringen wurde 1990 an die Tradition der Weimarer Republik angeknüpft. Dasjenige westdeutsche Bundesland, welches beim Wiederaufbau Thüringens als Partner helfen soll, ist Hessen - nicht nur geographisch Nachbar im Südwesten, sondern durch die Geschichte Thüringen besonders verbunden. Dies geht auf die Zeit zurück, als die Ludowinger zwischen 1131 und 1247 als Landgrafen von Thüringen, Grafen von Hessen und seit 1180 auch Pfalzgrafen von Sachsen zu einer der mächtigsten deutschen Fürstenfamilien wurden und eine Vormachtstellung in Thüringen und Hessen innehatten.

Der Aufstieg der Ludowinger begann, als Graf Ludwig der Springer (selbst erst in der zweiten Generation in Thüringen ansässig) seit den 1080er Jahren gemeinsam mit vielen anderen thüringischen und sächsischen Adligen hartnäckig und letztlich erfolgreich Widerstand gegen die Versuche der Kaiser Heinrich IV. und Heinrich V. leistete, die königliche Machtstellung in Nord- und Mitteldeutschland auszubauen. Der 1125 gewählter Nachfolger Heinrichs V., Lothar von Supplingenburg, schuf 1131 für Ludwig I., den Sohn Ludwigs des Springers, das Amt des Landgrafen in Thüringen: eine Neuschöpfung, die sowohl gegenüber dem König als auch gegenüber dem einheimischen Adel weniger Machtfülle und Selbständigkeit als das Amt eines Herzogs gewähren sollte, immerhin aber Gerichtsherrschaft über ganz Thüringen und die Aufnahme in den sich eben erst bildenden Reichsfürstenstand einschloß. Sowohl reichs- wie auch territorialpolitisch nutzten die Ludowinger ihre Stellung nach Kräften zum Aufbau einer weite Teile Thüringens, nach einer Erbschaft 1122 auch Hessens umfassenden Herrschaft. Damals waren die Regionen im Westen und Nordwesten Thüringens das Hauptziel der ludowingischen Ausdehnungsbestrebungen. Landgraf Ludwig II., ein Schwager des seit 1152 regierenden Kaisers Friedrich I. Barbarossa, erwies sich dabei als ein rücksichtsloser, aber ehrgeiziger und erfolgreicher Politiker, wie sein Beiname »der Eiserne« bezeugt. Das gute Einvernehmen mit dem Kaiser führte sein Sohn Ludwig III. fort, der sich am Kampf Barbarossas gegen den Herzog von Sachsen, Heinrich den Löwen aus dem Hause der Welfen, beteiligte. Sein Lohn bestand in der Belehnung mit der Pfalzgrafschaft Sachsen und in einem weiteren Ausbau der ludowingischen Herrschaft in ehemals welfischen Besitzungen. Zu seiner Zeit empfing der ludowingische Hof seine Form nach dem Vorbild der ritterlich-höfischen Kultur des Kaiserhofes und Frankreichs. 1191 starb Ludwig III. während eines Kreuzzuges; er erhielt daher den Beinamen »der Fromme«. Sein Bruder Hermann I. konnte sich mit viel taktischer Finesse, die ihm den Ruf eines chronischen Opportunisten eintrugen, gegen König Heinrich VI. und die um dessen Nachfolge streitenden Philipp von Schwaben und Otto IV. behaupten, während sein Land von allen Seiten mit Krieg überzogen wurde. Zugleich aber gilt die Zeit Hermanns als kulturelle Blüte der Ludowinger-Herrschaft; Hermann, 1198 an der Gründung des Deutschen Ordens beteiligt, verschaffte sich bleibenden Ruhm als »milder Landgraf«, als freigebiger Mäzen ritterlichhöfischer Kunst, als der er in der Sage vom Sängerkrieg auf der Wartburg fortlebt. Immerhin hielten sich auch Walther von der Vogelweide und Wolfram von Eschenbach an seinem Hof auf. Seinem Sohn Ludwig IV. konnte Hermann I. die Hand der ungarischen Königstochter Elisabeth verschaffen. Landgraf Ludwig IV. verstand sich ebenfalls auf Machtpolitik; er sicherte sich und seinem Sohn von Kaiser Friedrich II. die Eventualbelehnung mit der Mark Meißen für den Fall, daß sein Mündel und Neffe, der junge Heinrich von Meißen, erbenlos sterben sollte. Auch scheint er geplant zu haben, mit Hilfe des Deutschen Ordens (an dessen Spitze seit 1209 mit Hermann von Salza ein Thüringer stand) das nichtdeutsche Land östlich Thüringens, einschließlich des heidnischen Preußen, zu erobern. Sein Blick war demnach konsequent auf eine Expansion in Thüringens Osten gerichtet. Bereits zu dieser Zeit sorgte seine Frau Elisabeth auf der Wartburg in Eisenach, dem gerade erst überaus prunkvoll hergerichteten Hauptsitz der Ludowinger, für Unruhe, indem sie sich zu einem Leben in der Nachfolge Christi bekannte. Durch strenge Speisegebote und demonstrative Mildtätigkeit erregte sie in der höfischen Gesellschaft Anstoß. Als Ludwig IV. 1227 kurz vor dem Aufbruch als Kreuzfahrer ins Heilige Land starb (er erhielt daher den Beinamen »der Heilige«), mußte Elisabeth die Wartburg verlassen. Sie gründete in Marburg ein Spital und führte ein Leben in freiwilliger Armut im Dienst an Armen und Kranken, ehe sie 1231 starb. Ihre Schwäger Heinrich Raspe und Konrad, die gemeinsam als Landgrafen amtierten, erreichten zusammen mit Elisabeths Beichtvater, dem Prediger Konrad von Marburg, sowie im Zusammenspiel mit dem Deutschen Orden bereits vier Jahre später die Heiligsprechung Elisabeths. Kaiser Friedrich II. selbst krönte den Leichnam der Heiligen 1236 symbolisch in der Elisabethkirche in Marburg, der größten Kirche des Deutschen Ordens im Reich. In der Folge trat Landgraf Konrad in den Deutschen Orden ein und entsagte der weltlichen Herrschaft; statt seiner wurde der einzige Sohn Ludwigs IV., Hermann II., Landgraf neben Heinrich Raspe. 1238 wurde Hermann II. mit einer Tochter des Kaisers verlobt. 1239 wurde sein Onkel Konrad zum neuen Hochmeister des Deutschen Ordens gewählt; doch bereits 1240 starb Konrad, bald darauf Hermann II.; als letzter männlicher Ludowinger blieb Heinrich Raspe zurück, der sich 1243 auf die Seite des neuen römischen Papstes Innozenz IV. und gegen Kaiser Friedrich II. stellte. 1246 wurde Heinrich Raspe von den geistlichen Fürsten Deutschlands zum Gegenkönig gewählt; nach militärischen Anfangserfolgen starb er, der Letzte der Ludowinger, zu Beginn des Jahres 1247. Das ludowingische Erbe wurde 1264 nach heftigem Streit zwischen seinem Neffen Heinrich von Meißen, der Thüringen erhielt, und seiner Nichte Sophie von Brabant, deren Sohn Hessen bekam, geteilt.

Zweite Fallstudie: Die Takeda in Kai

In der Mitte der japanischen Hauptinsel Honshū, aber genau wie Thüringen am östlichen Rand des Zentrums, liegt Kai. Anders als Thüringen bezeichnet der Name Kai nicht das Siedlungsgebiet eines japanischen Stammes, sondern ist die Bezeichnung einer Landschaft: eines von hohen Bergen vollständig umringten Talkessels, der sich selbst mit dem Kameraauge eines Satelliten noch eindeutig in seiner Geschlossenheit erkennen läßt. Daher haben sich die Grenzen der im 7. Jahrhundert eingerichteten Verwaltungseinheit - Provinz (kuni) - Kai an diesen natürlichen Grenzen ausgerichtet. Als Provinz ist Kai auch nie aufgelöst worden; die Ende des 19. Jahrhunderts eingerichtete und nach einer Region Kais benannte Präfektur Yamanashi ist räumlich deckungsgleich mit dem Gebiet der Provinz. Im japanischen Staat des Altertums (7.-12. Jh.) wurden die 66 Provinzen von durch die kaiserliche Verwaltung bestellten Gouverneuren und deren Provinzregierungen verwaltet. Jede Provinz war in Bezirke unterteilt, die Bezirke wiederum in kleinere Untereinheiten wie Kreise und Gemeinden. Vor allem in den von der Kaiserstadt Heian (Kyōto) entfernteren Provinzen blieb die straff zentralisierte Landesverwaltung jedoch graue Theorie. In Wirklichkeit teilten sich hier lokale Große, ehemals mit der kaiserlichen Familie verbündete Einheimische, deren bodenständiger Ursprung mit Hofämtern und Hoftiteln lediglich verkleidet wurde, die Herrschaft mit den schnell wechselnden Abgesandten des Kaisers. Die Gouverneure und ihr Anhang knüpften Bande mit den einheimischen Herren, so daß die großen Sippen des Adels am Kaiserhof - die Fujiwara, später auch die Minamoto und Taira - zahlreiche Provinzialen zu ihrer Sippschaft zählten. Bestanden auf Grund der politischen Entwicklung die Notwendigkeit oder das Bedürfnis, sich aus der Hauptstadt zu entfernen, konnten sich Hofadlige, auf die ländliche Verwandtschaft gestützt, eine neue Herrenexistenz in der Peripherie schaffen. So erging es im 12. Jahrhundert zahlreichen Mitgliedern der Minamoto-Sippe, unter anderen auch Minamoto Yoshimitsu (genannt Shinra Saburō), der sich mit seinen Söhnen in der östlich gelegenen Provinz Hitachi niederließ. Einer dieser Söhne, Yoshikiyo, siedelte offenbar in der Gemeinde Takeda in Hitachi und wurde 1130 mit seinem eigenen Sohn Kiyomitsu in die Provinz Kai verbannt. Die zahlreiche Nachkommenschaft Yoshikiyos und Kiyomitsus verteilte sich binnen zwei Generationen über die gesamte Provinz Kai. Als Minamoto Yoritomo, eines Ururenkels des Yoshiie (Hachiman Tarō), des älteren Bruders von Yoshimitsu - ein entfernter Verwandter also - 1180 von seinem eigenen Refugium in der Provinz Izu aus die Minamoto-Sippe zu den Waffen rief, um gegen die Kyōto beherrschende Taira-Sippe zu Felde zu ziehen, schlossen sich ihm nach kurzem Zögern auch die Minamoto in Kai an, angeführt von den Söhnen Kiyomitsus. Einer von ihnen, Takeda Nobuyoshi, soll zum Dank dafür zum Militärgouverneur (shugo) der südlichen Nachbarprovinz Suruga ernannt worden sein. Dieses Amt war eine Neuschöpfung; anders als der zivile Gouverneur wurde er als Vasall der politischen Zentrale der Minamoto, des bakufu in Kamakura, eingesetzt. Das Verhältnis der Takeda zum Minamoto-Haupthaus unter dem ersten shōgun Yoritomo und seinem bakufu war nicht frei von Spannungen und Verrat auf beiden Seiten, die in der Hinmetzelung einiger mit den Takeda verwandter Familien einerseits und der von den Takeda zumindest geduldeten Ermordung der beiden Söhnen und Erben Yoritomos andererseits gipfelte. Mit den »Nachlaßverwaltern« der Minamoto, den Hōjō, sowie deren Bezwingern, der neuen shōgun-Familie Ashikaga, die ihr bakufu 1336 in Kyōto im Stadtteil Muromachi errichtete, kamen die Takeda besser zurecht. Ein Teil der Familie ging als Militärgouverneure in die Provinz Aki (heute Hiroshima-Präfektur) in Westjapan, ein weiterer Teil später von dort später nach Wakasa nördlich von Kyōto. So gab es im späten Mittelalter drei verschiedene Zweige der Takeda. Obwohl es scheint, daß die Takeda das Amt des Militärgouverneurs von Kai zu dieser Zeit ständig innehatten, machten ihnen einheimische Familien und die Herren benachbarter Provinzen die Macht streitig. Takeda Nobumitsu versuchte vergeblich 1416 an der Seite von Uesugi Zenshū einen Aufstand gegen die Regionalverwaltung des bakufu für Ostjapan in Kamakura und büßte dabei sein Leben ein. Seine Söhne stritten gegeneinander und mit einheimischen Familien um die Nachfolge. Der schwindende Einfluß und die innere Zerstrittenheit des bakufu begünstigten seit dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts zahlreiche, auch die Provinzgrenzen überschreitenden Kleinkriege zwischen aufstrebenden lokalen Herren. Immer wieder fielen aus den Nachbarprovinzen feindliche Kräfte nach Kai ein. 1482 kam es zu einem Bauernaufstand in der ganzen Provinz. Hungersnot herrschte. Die zahlreichen Zweigfamilien der Takeda waren untereinander uneins. Diese Zeit der Wirren in ganz Japan von ca. 1467 bis 1582 wird in Anlehnung an eine Periode der chinesischen Geschichte58 die Sengoku-Zeit, das »Zeitalter der kämpfenden Provinzen«, genannt. In ihrem Verlauf richteten sich überall in Japan mächtige Herren als Herrscher über große Territorien ein; sie werden daimyō genannt. Zum größten Teil entstammten sie den Reihen der Provinzialen (kokujin), waren also Gebietsherren gewesen, die ihre Herrschaft durch strategisches und organisatorisches Vermögen zielstrebig und im Kampf aller gegen alle vergrößerten. Dabei setzten sie sich oftmals über die alten Herrschaftsstrukturen und Provinzgrenzen hinweg. Ein kleiner Teil der alten Militärgouverneure konnte allerdings die kleinen Herren in ihren Provinzen in ihre Herrschaft integrieren und selbst zu daimyō oder Landesherren werden. Zu ihnen gehörten die Takeda in Kai. Takeda Nobutora gelang es bis 1520, sich die meisten der Provinzialen in Kai zu unterwerfen. Auch den Kampf gegen die benachbarten daimyō - die Uesugi und Hōjō im Osten, die Imagawa im Süden - sowie die Provinzialen der nördlichen Nachbarprovinz Shinano bestand er. Freilich vertrieb ihn 1541 sein eigener Sohn Harunobu (der sich später Shingen nannte)59 aus Kai. Harunobu eroberte in der Folge weite Teile Shinanos, schließlich auch das südliche Nachbarland Suruga und einzelne Gebiete der im Norden, Nordosten und Westen angrenzenden Provinzen. Den inneren Ausbau der Takeda-Herrschaft zu einer wohlorganisierten Landesherrschaft, der schon unter Nobutora begonnen hatte, setzte er mit Mitteln fort, die ihm Respekt und Nachruhm in ganz Japan verschafften. Auf der Höhe seines Erfolges starb Harunobu 1573, als er soeben im Begriffe war, ein großangelegtes Bündnis gegen den Herrn in Zentraljapan, Oda Nobunaga, ins Feld zu führen. Harunobus Sohn Katsuyori gelang es anschließend nicht, sich der vereinten Kräfte Nobunagas und dessen Verbündeten Tokugawa Ieyasu zu erwehren. Seine Niederlage in der Schlacht von Nagashino raubte ihm 1575 die Kraft zu mehr als hinhaltendem Widerstand. Das Ende der Takeda-Herrschaft in Kai zog sich noch bis 1582 hin; dann drangen die Truppen Nobunagas und Ieyasus in Kai ein. Von den meisten Verbündeten und Vasallen im Stich gelassen, kamen Katsuyori und seine Familie ums Leben. Tokugawa Ieyasu wurde Herr über die Provinz Kai, und die meisten der ehemaligen Takeda-Vasallen schlossen sich ihm an. Wenige Monate später wurde Oda Nobunaga selbst von einem Vasallen ermordet. Sein Feldherr Toyotomi Hideyoshi setzte sich im Kampf um die Nachfolge durch; 1590 war die Einheit Japans unter seiner Führung hergestellt. Im selben Jahr ließ Hideyoshi seinen größten Vasallen, Tokugawa Ieyasu, mit all seinen Vasallen (darunter auch über 1.000 Familien aus Kai) nach Ostjapan umziehen. Acht Jahre später starb Hideyoshi, und 1600 setzte sich Tokugawa Ieyasu als neuer Herrscher und (seit 1603) shōgun durch. In seiner Verwaltung und Armee machten zahlreiche ehemalige Vasallen der Takeda Karriere. Nur während eines kurzen Zwischenspiels - 1704 bis 1724 - fand Kai danach unter den Yanagisawa, Nachfahren ehemaliger Takeda-Vasallen, noch einmal zu relativer Eigenständigkeit als Fürstentum (han); vorher und nachher befand sich der größte Teil der Provinz in den Händen der Tokugawa. Doch blieb die Erinnerung an die Zeit der Takeda - worunter gemeinhin die drei Generationen Nobutoras, Harunobus und Katsuyoris verstanden werden - ungebrochen. Dies gilt auch für die Zeit nach 1868, als Verwaltungspräfekturen an die Stelle der alten regionalen Einheiten rückten.

Zu Forschungsstand und Quellenlage

Den ludowingischen Anteil an der Gesamtgeschichte Thüringens behandeln einige Beiträge der von Patze und Schlesinger herausgegebenen sechsbändigen Geschichte Thüringens (1967-1982). Hans Patze stellte an das Ende dieses monumentalen Sammelwerkes den Zweifel, »ob es nach unserer ‘Geschichte Thüringens’ wieder eine Darstellung der Geschichte dieses Landes geben wird.«60 Wer hätte damals wohl zu hoffen gewagt, daß Thüringen als Bundesland wiedererstünde, wie es ein knappes Jahrzehnt später geschehen ist.

Die erzählenden Quellen sind zunächst zwei Tempelchroniken: Das Myōhōji-ki (Katsuyama-ki), die Chronik des gleichnamigen Tempels in Kawaguchiko (Bezirk Süd-Tsuru), enthält Angaben über ein knappes Jahrhundert zwischen 1466 und 1561 - also fast die gesamte Sengoku-Zeit. Es ist hauptsächlich an den Ereignissen im Südosten Kais interessiert, berichtet aber zuverlässig auch über den Rest der Provinz. Besonders wertvoll sind seine Beobachtungen zur wirtschaftlichen Entwicklung. Das Kōdai-ki wurde von dem jeweiligen Priester des Fugenji-Tempels (Stadt Yamanashi) im Stile von Annalen geführt. Seine Angaben sind kurz und unregelmäßig, gehen aber zeitlich in beiden Richtungen über das Myōhōji-ki hinaus. Eine dritte Hauptquelle ist das Tagebuch des Takeda-Vasallen Komai Masatake, dessen Mönchsname Kōhakusai dem Werk den Namen Kōhakusai-ki gegeben hat. Es wurde 1724 von Shibata Nakanosuke herausgegeben, der es allerdings als Aufzeichnungen seiner Vorfahren, der Kurihara, ausgab und bearbeitete. Mit dieser Einschränkung betrachtet, schildert es die Vorgänge am Hof der Takeda zwischen 1498 und 1553, also die Zeit Nobutoras und die ersten Jahre Harunobus. Mit größerer Vorsicht ist das Kōyō Gunkan zu benutzen, der »Kriegsspiegel der illustren Provinz Kai«. Es wurde zu Beginn des 17. Jahrhunderts veröffentlicht und fand rasch zu großer Popularität. Chronikartig und nicht immer zuverlässig erzählt es vom Wirken Harunobus und Katsuyoris. Eingesprengte Dokumente gehen sicher auf originale Vorlagen, die anekdotischen Passagen vom Hofleben und aus dem Hofgericht wahrscheinlich auf die Aufzeichnungen von Takeda-Vasallen selbst zurück. Trotz erkennbarer Mängel und Retuschen zugunsten der Protagonisten des Werkes halten viele seiner Angaben (vor allem zur Vasallität der Takeda) einer kritischen Prüfung stand und sind unersetzlich (Zöllner 1991).

Durch seine umfangreichen Exzerpte aus Primärmaterial gewinnt auch der die Präfektur Yamanashi behandelnde Band 19 in der von Takeuchi Rizō herausgegebenen Reihe »Kadokawa Nihon chimei daijiten (Kadokawas Großes Lexikon der japanischen Ortsnamen)« (1984) faktisch Quellenwert. Zwei Überblicksdarstellungen zur Geschichte Yamanashis (Isogai/Iida 1985 und Zusetsu Yamanashi-ken no rekishi [Illustrierte Geschichte der Präfektur Yamanashi] 1990) und ein Abriß seiner staatlichen Entwicklung (Zöllner 1992) erleichtern die landesgeschichtliche Einordnung der Takeda-Zeit.

Bislang wurden allerdings weder die ludowingische Herrschaft noch die der Takeda explizit im Rahmen einer Feudalismus-Diskussion dargestellt. Die Reichheit der Quellen und der Forschung läßt aber erwarten, daß eine solche Darstellung - hauptsächlich gestützt auf Material aus Thüringen bzw. Kai - als Fallstudie zum feudalen Handlungssystem möglich ist. Manche Einzelheit daraus wird schon aus anderen Zusammenhängen hinlänglich bekannt sein und eine erneute Darstellung redundant wirken; aber gerade im Hinblick auf den angestrebten interkulturellen Vergleich erscheint es mir wichtig, so viel wie möglich unmittelbar aus den autochthonen Quellen zu belegen und nur so wenig wie nötig aus dem historiographischen Vorwissen zu ergänzen.

Die beigegebenen Zeit- und Stammtafeln sowie Karten mögen dem Leser als Hilfsmittel zur schnellen Orientierung dienen.

Stammtafel der Ludowinger

Stammtafel der Takeda

1 Gr. σύστημα < σνρ-ίστημι, ‘zusammenstellen, in einen Bund bringen’. Der Begriff ‘Struktur’ kennt dagegen keine Umwelt oder Grenzen. Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1987.52.

2 Peter Berger / Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Ndr. Frankfurt a.M. 1987.51

3 Luhmann 1987.35. Die folgenden Ausführungen zu selbstreferentiellen (psychischen und sozialen) Systemen folgen Luhmanns Darstellung.

4 Luhmann 1987.92

5 Talcott Parsons, Edward A. Shils (Hgg.): Toward a General Theory of Action, Kap. 4: The Social System. Cambridge 1959.190.

6 Vgl. Weber 1980.1: »‘Handeln’ soll ... ein menschliches Verhalten ... heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ‘Soziales’ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.«

7 Luhmann 1987.92-95.

8 Parsons/Smelser 1964.18

9 Ebd. 47-50

10 Robert N. Bellah: Tokugawa Religion. The values of pre-industrial Japan. Boston 1970 (zuerst 1957). Michèle Schmiegelow: Japans Antwort auf Krise und Wandel in der Weltwirtschaft. Hamburg usw. 1989. S. 323-419.

11 Weber 1980.122

12 Luhmann 1987.85

13 1980.636

14 The Tyranny of a Construct: Feudalism and Historians of Medieval Europa. AMERICAN HISTORICAL REVIEW 79:4 (1974), S. 1063-1088

15 Vgl. Peter Berger / Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt a. M. 1987 (Ndr.) und Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a.M. 1976 (2. Aufl.).

17 Karl Marx: Lohnarbeit und Kapital. In: Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 6. Berlin 1959.408 (zuerst 1849).

20 Vgl. die sog. Kovalevsky-Exzerptevon 1880-82, zit. in Erhard Lucas: Der späte Marx und die Ethnologie. Saeculum 26 (1975).388.

21 Eckhard Müller-Mertens: Zum Verhältnis von Struktur und Dynamik in der mittelalterlichen Feudalentwicklung. Jahrbuch für die Geschichte des Feudalismus 8 (1985).9-22, hier S. 11.

22 »Feudalismus«. In: Kleine Enzyklopädie Weltgeschichte. Bd. 2. 2. Aufl. Leipzig 1979.494.

23 Nagahara Keiji: Ninon ni okeru kodai kara chūsei e no ikō. In ders.: Nihon hōken-sei seiritsu katei no kenkyū. 4. Aufl. Tokyō (Iwanami shoten) 1965.489-502, hier S. 489.

24 Heinrich Mitteis: Der Staat des Hohen Mittelalters. Köln / Wien 1986.23 (11. Aufl.; zuerst 1940).

25 Mitteis 1986.37

26 Mitteis 1986.108

27 Walter Ullmann: Die lehnsrechtliche Praxis. In ders.: Individuum und Gesellschaft im Mittelalter. Göttingen 1974.40-73 (zuerst 1966).

28 François Louis Ganshof: Was ist das Lehenswesen? 6. Aufl. Darmstadt 1983 (zuerst 1944).

29 Ishii Ryōsuke: Japanese Feudalism. Acta Asiatica 35 (1978). 1-29, hier S. 1.

30 1980.625 ff

31 Ebd. 636

32 Ebd. 9 f

33 Weber 1980.627

34 Von der »ökonomischen, politischen und militärischen Funktion« u.a. »des Ritters und Vasallen« hatte schon Weber (1980.825) gesprochen.

35 Otto Hintze: Wesen und Verbreitung des Feudalismus. In ders.: Feudalismus - Kapitalismus. Göttingen 1970.12-47 (zuerst 1929).

36 Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. 2 Bde. Frankfurt a.M. 1976 (zuerst 1936).

37 Elias 1976.134

38 Marc Bloch: Die Feudalgesellschaft. Frankfurt a.M. usw. 1982 (zuerst 1939/40).

39 Ebd. 531

40 Asakawa Kan’ichi: The Origin of the Feudal Land Tenure in Japan. AMERICAN HISTORICAL REVIEW 20 (1914-1915).l-23, hier S. 78.

41 Asakawa 1914-15.82

42 Asakawa Kan’ichi: Feudalism, Japanese. In: Encyclopedia of the Social Sciences, s.v. »feudalism«. New York 1931.214-219, hier S. 214.

43 Karl Lamprecht: Einführung in das historische Denken. Leipzig 1912.105.

44 Karl Lamprecht: Der Lehensstaat des Mittelalters. In ders.: Ausgewählte Schriften. Aalen 1974.750-752, hier S. 751 (zuerst 1912).

45 Johan Huizinga: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. 110.-113. Tsd. Reinbek 1987.115 (zuerst 1930).

46 Huizinga 1987.30

47 Huizinga 1987.102

48 La féodalité? Une mentalité médiévale (Zuerst 1958. Ndr. in: Ders. Hommes et Structures du Moyen Age. Paris 1973. Hier S. 110

49 Sozialgeschichte und Gesellschaftsideologien (Zuerst 1974. Ndr. in Kerner, Max [Hg.]. Ideologie und Herrschaft im Mittelalter. Darmstadt 1982. S. 332-355. Hier S. 332 f)

50 Die drei Ordnungen. Das Weltbild des Feudalismus. Frankfurt a.M. 1986 (zuerst 1978). S. 239; 441.

52 Ebd. 401

53 Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. 1. Bd. 1. Hälfte. 2. Aufl. Stuttgart / Berlin 1907.79

54 Parsons/Smelser 1964.16

55 Luhmann nennt die Hausherrschaft »das Modell aller Herrschaften« (1987.542).

56 Schlesinger 1963.48

57 Kötzschke 1930.1

58Zhànguó, 480-220 v. Chr. Nach Einschätzung von Wolfgang Eberhard unter allen Perioden der chinesischen Geschichte »the fullest, or one of the fullest, of strife ... The various feudal states had lost all sense of allegiance to the ruler, and acted in entire independence. It is a pure fiction to speak of a Chinese state in this period; the emperor had no more power than the ruler of the Holy Roman Empire in the late medieval period of Europe« (A History of China. Berkeley 1977 [4. Aufl.] S. 47).

59 Der Mönchsname Ehingen’ ist für Harunobu erstmals 1559 belegt. Um den deutschen Leser nicht zu verwirren, habe ich den weltlichen Personennamen ‘Harunobu’ fortlaufend verwendet. Japanern ist Harunobu allerdings als ‘Shingen’ wesentlich geläufiger. Gleiches gilt för Harunobus Erzfeind Uesugi Terutora, der eigentlich Nagao Kagetora hieß und sich später zeitweilig Masatora, als Mönch aber ‘Kenshin’ nannte. Allgemein führte jedes japanische Kind einen Kindernamen, sozusagen einen »Milchnamen«, den es bei seiner Volljährigkeit gegen einen Erwachsenennamen tauschte. Dieser Erwachsenenname konnte später beliebig geändert werden. Der Wechsel des Fami/iennamens kam zwar auch im hochmittelalterlichen Europa noch vor, wenn z.B. die Stammburg gewechselt wurde. Da der Rufname aber als Töw/hame geheiligt war, konnte er grundsätzlich nicht abgelegt werden; es sei denn bei Annahme eines geistlichen Ordensnamens.

60 Patze/Schlesinger 1967-1982.VI:233

61 Der Vergleich des Takeda-Hausgesetzes mit dem Hausgesetz der Imagawa ist Gegenstand einer im Entstehen begriffenen Dissertation von Ronald Frank (Berlin).

62 Über die Rolle des Ōkubo Nagayasu, eines angeblichen ehemaligen Vasallen der Takeda, bei der Entwicklung der Finanzverwaltung des Tokugawa-baukufu et Rainer Hofer (Bochum) eine Dissertation vor.

I. Die Ludowinger

A. Haus und Wirtschaft

1. AM HIMMEL WIE AUF ERDEN

Die Annalen des Erfurter Petersklosters aus dem 12. Jahrhundert berichten in ihren drei Kodizes übereinstimmend, im Februar 1148 (nach Kodex 1 am 21.2., dem Sonnabend vor Estomihi) sei ein »Zeichen um die Sonne herum« erschienen.63 Zwei der Kodizes geben es in Abbildungen wieder:

Abb. 1: Himmelserscheinung von 1148; das mittlere Bild ist die um 180° gedrehte Wiedergabe des linken Bildes (aus Annales S. Petri Erphesfurdenses S. 20).