Die Lügen, die wir uns selbst erzählen - Jon Frederickson - E-Book

Die Lügen, die wir uns selbst erzählen E-Book

Jon Frederickson

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Beschreibung

Wir sind immer wieder getrieben, wider besseres Wissen zu handeln & ein Spannungszustand, der oft zum Selbstbetrug führt. Jon Frederickson zeigt in seinem Buch auf, was wir uns vormachen und wie wir uns davon befreien können. Auch wenn wir Unwahrheiten benutzen, um Schmerzen zu vermeiden, kann das Festhalten an unseren Fantasien tatsächlich zur Quelle noch größeren Leidens werden. Anhand von zahlreichen Geschichten und Beispielen stellt der Autor dar, dass die scheinbare Ursache unserer Probleme fast nie der Motor unserer Schwierigkeiten ist. Er arbeitet heraus, was wir wirklich fürchten und wie wir dem begegnen können; welche Lügen wir uns selbst erzählen und wie wir uns den Wahrheiten stellen können, um die wir bisher einen Bogen gemacht haben. Dabei wird deutlich, dass eine Therapie nicht nur ein Gespräch ist, sondern eine Beziehung zwischen zwei Menschen. Es geht darum, wie die Auseinandersetzung mit dem, was wir vermeiden, zu echter Veränderung führen kann. So befasst sich das Buch mit den Grundfragen des Lebens: Wer sind wir? Warum leiden wir? Was suchen wir?

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Inhalt

Der Autor

Jon Frederickson, Master of Social Work (MSW), ist seit über dreißig Jahren Fakultätsmitglied der Washington School of Psychiatry in Washington, DC. Er lehrt Intensive Psychodynamische Kurzzeittherapie (ISTDP) in Nordamerika, Europa, Asien und Australien. Er ist Autor mehrerer Bücher und hält regelmäßig Vorträge und Seminare zu verschiedenen Themen.

Der Übersetzer

Der Übersetzer Dr. Eik Niederlohmann ist als integrativ arbeitender Psychiater und Psychotherapeut an einer psychiatrischen Akutklinik in Leipzig sowie im Rahmen einer psychotherapeutischen Selbstzahler-Praxis tätig. Er ist Dozent, Supervisor und Selbsterfahrungsleiter in der psychotherapeutischen Ausbildung, Gastdozent an der Universität Leipzig und Gründungsmitglied der Integrativen Gesellschaft für ISTDP.

Jon Frederickson

Die Lügen, die wir uns selbst erzählen

Wie man sich der Wahrheit stellt, sich selbst akzeptiert und ein besseres Leben führt

Übersetzt von Eik Niederlohmann

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 bei Seven Leaves Press, 420 Main Street, #700, Kansas City, MO 64111, USA, www.sevenleavespress.com, unter dem Titel»The Lies We Tell Ourselves. How to Face the Truth, Accept Yourself, and Create a Better Life« von Jon FredericksonAlle Rechte vorbehaltenCopyright © Jon Frederickson 2017

1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-040378-9

E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-040379-6epub:ISBN 978-3-17-040380-2

Vorwort

Das Leben ist hart, aber seelisches Leiden kann unerträglich sein. Um es erträglich zu machen, können wir uns an einen Therapeuten oder eine Therapeutin wenden. Der Erfahrungsschatz guter Therapierender ist aus eigenen Schicksalsschlägen erwachsen; eine Weisheit, die nur so erworben werden kann. Aber wenn wir diese Person für uns gefunden haben, wie können wir mit ihr zusammenarbeiten, um unser Leiden zu beenden?

Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir verstehen, warum wir leiden und wie wir wieder gesund werden können. Wir werden krank, weil wir belogen wurden und uns selbst belügen, um Leid zu vermeiden. Vielleicht war es leichter, die Lüge zu ertragen, dass wir selbst schlecht sind, anstatt zu erkennen, dass uns jemand Unrecht getan hat. Vielleicht haben wir uns selbst in Sicherheit gewiegt mit Worten wie: »Es wird schon alles gut werden«, statt uns unserer scheiternden Ehe zu stellen. Wir werden gesund , indem wir uns zusammen der Wahrheit unseres Innen- und äußeren Lebens stellen. Jeder von uns nutzt Ausflüchte, um die Härten des Lebens abzufedern. Das ist nur menschlich. Also wo liegt das Problem? Wir bemerken nicht, wie wir damit unsere Augen vor der Realität verschließen. Deswegen suchen wir die Hilfe eines Therapeuten: um unseren Problemen wieder ins Gesicht zu sehen.

Dieses Buch bietet Ihnen nicht nur Hilfe dabei an, die Ausflüchte zu erkennen, die letztlich Ihr Leiden verursachen, und wieder frei Ihren eigenen Weg gehen zu können. Es wird Sie auch darin unterstützen, eine wirkungsvolle Therapie zu erkennen. Denn eine Therapie ist nicht einfach eine Unterhaltung, das Durchgehen einer Checkliste oder das Lösen Ihres biographischen Kreuzworträtsels. Eine Therapie ist eine Beziehung zwischen zwei Menschen, die sich zusammen den tiefsten Wahrheiten unseres Lebens stellen, damit wir gesund werden können.

Wir werden die krankmachenden Lügen erkunden, um die heilenden Wahrheiten annehmen zu können. In Zeiten der »Managed Care«, laufen wir Gefahr, die zutiefst menschlichen Aspekte der Therapie aus den Augen zu verlieren. Wer sind wir? Warum leiden wir? Wonach suchen wir? Das Buch versucht, diese Fragen zu beantworten. Nicht mit Definitionen, sondern anhand von Vignetten – kurzen, beispielhaften Dialogen – , die zeigen, wie die mutige Auseinandersetzung mit zuvor Vermiedenem zu echten Veränderungen führt.

In diesen Vignetten wurden alle persönlichen Informationen entfernt oder so abgeändert, dass die Vertraulichkeit der Betroffenen gewährleistet ist. Die Beispiele zeigen die Gegebenheiten, mit denen wir tagtäglich zu kämpfen haben, und die allseits verbreiteten Umwege, mit denen wir versuchen, ihnen aus dem Weg zu gehen. In gewisser Weise erzählen diese Berichte mit fremden Worten unsere eigene Geschichte. Wir alle tun uns schwer mit den Gegebenheiten unseres Lebens.

Viele der Menschen, die hier zu Wort kommen, haben so schreckliche Erfahrungen machen müssen, dass es schwer sein kann, dies zu lesen. Ihre Aufgabe wird es sein, Empathie für deren Leid aufzubringen und auf diesem Weg Ihr eigenes Leid zu erkennen. Anhand der Geschichten in diesem Buch werden Sie sehen, dass der scheinbar offensichtliche Grund unseres Schmerzes nicht die eigentliche Ursache für unser Leiden ist.

Wir leiden, denn wir versuchen vor dem Leben, dem Tod und deren Erkenntnissen davonzulaufen. Wir werden gesund, wenn wir unser Innenleben, die geliebten Menschen um uns und unser Leben selbst akzeptieren können. Sind alle Geheimnisse Ihres Ichs zu lüften? Nein, aber Sie können diese Tatsache akzeptieren. Dieses Buch zeigt Ihnen, wie Sie Ihr Ich mit all seinen Licht- und Schattenseiten annehmen.

Einleitung

Eine Frau setzte sich mir gegenüber hin, seufzte und sagte: »Ich weiß nicht, wie es mit meiner Ehe weitergehen soll. Mein Mann geht weiter fremd. Wir waren zur Paartherapie, aber die hat nichts gebracht. Er hat ein schlechtes Gewissen, zumindest sagt er das. Aber nach jedem Treueversprechen fängt er mit einer anderen eine neue Affäre an. Ich sollte ihn verlassen. Aber es ist einfacher, verheiratet zu bleiben, als sich scheiden zu lassen.«

»Er verspricht, treu zu sein, lässt sich dann aber mit anderen Frauen ein?« erwiderte ich.

»Ja.«

»Wäre es treffend zu sagen, dass Sie bei dem Mann bleiben, der Versprechungen macht, und versuchen, den Mann zu vergessen, der Affären hat?«

»Aber ich kann es einfach nicht vergessen.«

»Sie können die Tatsachen nicht vergessen, aber es hört sich so an, als ob Sie seine Versprechen geheiratet haben.«

»Das klingt hart.«

»Es ist nicht meine Absicht, hart zu sein. Kann es sein, dass Ihr Mann hart mit Ihnen umgeht? Dass seine Affären Ihrem Wunsch nach Treue widersprochen haben?«

»Ja.«

»Und wenn Sie seinen Worten anstelle seiner Taten glauben, wird der Glaube an seine Worte Ihnen dann schaden?«

»Ich sehe, was Sie meinen.«

»Wenn ich sehe, wie Sie sich selbst schaden, indem Sie ein Verhalten ignorieren, das Sie erkennen müssen, habe ich dann Ihre Erlaubnis, Sie darauf aufmerksam zu machen? Damit wir ihr Leiden beenden können?«

»So gesehen hat es Sinn. Aber wir schlafen nicht mehr gemeinsam.«

»Ich kann nachvollziehen, dass Sie nicht mehr mit ihm schlafen. Aber da Sie noch mit ihm zusammen sind,« ich machte eine Pause, »kann es sein, dass Sie mit seinen Lügen zusammenleben?«

Ihre Augen füllten sich mit Tränen: »Wie schaffe ich es, ihn zu verlassen?«

»Das brauchen Sie gar nicht mehr. Der treue Ehemann ist schon fort. Möchten Sie, dass ich Ihnen helfe? Nicht mehr darauf zu warten, dass der treue Ehemann zurückkommt?«

Diese Frau hoffte, dass ihr treuer Glaube ihren Ehemann treu machen würde. Aber er tat es nicht. Warum log sie sich selbst an? Warum lügen wir alle uns selbst an? Es ist leichter, in unserem Wunschdenken zu leben als in der Realität. Als Therapeut dieser Frau konnte ich in dieser Sitzung nicht herausfinden, warum sie den Lügen ihres Ehemannes Glauben schenkte. Und vielleicht würde ich es auch in der folgenden Sitzung nicht herausfinden, da sich der Sinngehalt erst mit der Zeit erschließt.

Egal wie viel wir über jemanden wissen, er wird immer ein Geheimnis für uns bleiben. Wenn jeder Mensch also ein Geheimnis ist, trifft in einer Psychotherapie ein Geheimnis auf ein anderes Geheimnis.

Warum suchen wir Therapierende auf? Mit der geringer werdenden Bedeutung traditioneller Religionen wenden wir uns zunehmend an Therapeutinnen und Therapeuten, um Hilfe zu bekommen, unser Leiden zu beenden und unserem Leben Sinn zu geben. Eine Therapie ist für viele zu einer säkularen Beichte geworden. Innerlich möchten wir Veränderung und bitten gleichsam andere, sich mit uns gegen die eigene Veränderung zu stellen: Wir bitten sie darum, uns zu bestätigen, uns gesundzumachen oder uns Ratschläge zu geben, wie wir andere verändern können. Therapierende, angetrieben von der Berufung zu heilen, mögen unsere Denkfehler korrigieren, uns zuhören, während wir unsere spontanen Gedanken berichten, oder Erkenntnisse möglich machen. Aber obwohl dies alles essentielle Therapiebestandteile sind, ist keiner für sich allein genommen eine Therapie.

Eine therapeutische Beziehung kann nicht eine reine Methode, eine Technik sein oder etwas, das mit uns gemacht wird. Um zu heilen, müssen wir uns unbequemen Wahrheiten stellen. Wahrheiten, denen wir mit Ausflüchten uns selbst und anderen gegenüber zu entkommen versuchen. Wir brauchen keine Ratschläge. Wir müssen hinter die Trugbilder schauen, um ans Ziel zu gelangen.

Wir müssen nicht repariert werden. Wir mögen davon überzeugt sein, dass wir uns selbst wieder instand setzen müssen. Dabei bauen wir stattdessen oft nur unsere Fantasien wieder auf: zerstörte Illusionen, ein gebrochenes Selbstbild und verzerrte Ideen, welche unser Leiden erzeugen. Nur wenn wir uns von Trugbildern abwenden, können wir die Realität erkennen. So können wir uns selbst akzeptieren und erneut über die Lebendigkeit verfügen, die von unseren Lügen aufgezehrt wurde.

Verständige Therapierende reden nicht nur über unsere Gedanken. Therapie ist kein intellektueller Austausch. Verständige Therapierende sitzen nicht ruhig da, während wir plaudern, nur Höflichkeitsfloskeln austauschen oder alles von uns geben, was uns gerade einfällt. Würden ungefilterte Äußerungen Menschen bessern, hätten Kneipen schon vor langer Zeit die Menschheit geheilt. Verständige Therapierende verlassen sich nicht auf Selbsterkenntnis allein. Eine Erkenntnis im Kopf lindert nicht den Schmerz in unseren Herzen. Wie aber kann Heilung zustande kommen?

Therapierende laden uns zu einer Selbsterfahrung ein: zu erleben, wer wir hinter unserer Fassade aus Worten, Ausflüchten und Erklärungen sind. Wir nehmen unser Innenleben an (unsere Bedürfnisse, Gedanken und Gefühle) und die Außenwelt, die zuvor hinter unseren trügerischen Annahmen über uns selbst und andere versteckt war. Und indem wir uns unseren Ausflüchten stellen, stellen wir uns unserer inneren Herausforderung. Ein Prozess, der auch als »Heilung« bekannt ist.

Wenn Wissen die Nahrung der Seele ist, wie Plato angenommen hat, dann kann Heilung geschehen, wenn wir uns unseren Ängsten stellen und dadurch Wissen gewinnen. Tabletten, Injektionen und Elektrokrampftherapie sind kein Ersatz für die lebendige Beziehung einer Therapie. Dieses Buch zeigt, wie wir gesund werden, indem wir unseren Ängsten entgegentreten. Die Beispiele aus meiner Praxis stellen Menschen mit Problemen vor, mit denen jeder von uns zu kämpfen hat. Menschen, die dieselben Ausflüchte machen wie wir. Und die Beispiele zeigen, wie Menschen zusammen mit ihren Therapierenden das Unerträgliche ertragen, um sich ihren zuvor unüberwindbaren Ängsten zu stellen.

Durch eine Reihe von Vignetten werden wir an den Begegnungen von Menschen teilhaben, deren Herzen im emotionalen Kontakt mit einem Therapeuten oder einer Therapeutin heilen. Ungeachtet ihrer Suche nach schnellen Ratschlägen und einfachen Lösungen möchten Patientinnen und Patienten wissen, welche Person unter ihrem Leiden verschüttet liegt. Welche Erkenntnis streben sie bzw. wir an? Warum suchen Menschen in der heutigen Zeit, in der dem Konzept von Wahrheit oft keine Beachtung mehr geschenkt wird, immer noch nach Wahrheit in dem zwischenmenschlichen Bündnis, genannt Psychotherapie?

1 Irgendetwas stimmt hier nicht

Wir alle haben unser Päckchen zu tragen. Jeder von uns hat schon erlebt, dass die Last unserer schmerzlichen Lebenserfahrungen uns ins Straucheln bringt oder gar zu Boden gehen lässt. Droht uns die Lebensrealität zu erdrücken, versuchen wir sie zu verleugnen. Anstatt den Rucksack abzusetzen, schauen wir nach vorn und laufen immer schneller in der Hoffnung, das erlösende Ziel doch endlich zu erreichen. Früher haben uns unsere Bewältigungsstrategien überleben lassen, jetzt sind sie Irrlichter, die uns vom Weg abbringen.

Wir suchen uns Unterstützung und halten uns für orientierungslos, obwohl unsere Orientierungshilfen fehlerhaft sind. Überall dort, wo sie versagen, treffen wir auf unsere vergrabenen Gefühle. Vertraut und gleichsam furchteinflößend lassen sie uns tiefer ins Dickicht unseres Leidens fliehen.

Was wäre, wenn der heilversprechende Weg in den Abgrund führt und unsere Furcht uns zum sicheren Hort weist? Wenn das Ausgraben der Gefühle sie nicht nur ins Helle holt, sondern uns auch den Mut gibt, ihnen in die Augen zu schauen?

Im folgenden Abschnitt werden wir uns damit beschäftigen, wie der Therapeut uns den Weg durch das – für uns allein – undurchdringbare Dickicht unsere Symptome zeigt. Hin zu unseren Gefühlen, durch die düsteren Tiefen unserer Vergangenheit, hinaus ins Helle, in die Freiheit, zu uns selbst.

Therapie – ein vor uns liegender Weg oder das erreichte Ziel?

Wenn wir der Angst nachgeben und unseren Gefühlen ausweichen, statt uns ihnen zu stellen, entwickeln wir die therapiebedürftige Symptomatik. Wir ertragen widrige Lebensbedingungen, aber unser inneres Leiden kann unerträglich sein: ein geplatzter Traum, der Tod einer geliebten Person oder gar die aufgegebene Hoffnung, jemals geliebt zu werden. Sigmund Freud hat Psychotherapie als »Heilung durch Liebe«1 bezeichnet und damit vielfältige Reaktionen hervorgerufen. Ungeachtet dessen wurde Psychotherapie vor kurzem bei einer Konferenz von einem Redner dort als Prozedur zum Erzielen von Veränderung und nicht als Liebe bezeichnet. Therapie reduziert auf einen standardisierten Prozess? Wo bleibt da die zwischenmenschliche Beziehung? Sind wir Menschen oder Objekte, die manipuliert werden können?

Unser Herz sehnt sich nach Zuwendung in einer Zeit, in der menschliches Leiden definiert wird über das Ungleichgewicht von chemischen Botenstoffen im Gehirn, über Denkfehler oder schlechte Gene. Wir sind keine Eimer, die mit Tabletten gefüllt werden müssen. Wir sind liebenswerte und liebesbedürftige Menschen; ächzen wir unter der Last unserer Lebensrealität, braucht es keine Tablette, sondern eine helfende Hand.

»Der Heilungsprozess findet zwischen zwei Menschen statt, die voneinander lernen und die sich – in gemeinsamer Anstrengung – der harten Wirklichkeit, Verlust und Tod stellen.«

Kein Mensch allein hat die Antwort auf alle Fragen, die das Leben jeden Tag auf ein Neues an uns stellt. Zusammen aber können wir unser Päckchen tragen, uns stützen, einander heilen. Patient und Therapeut lernen voneinander und stellen sich gemeinsam den Herausforderungen unserer menschlichen Existenz.

Natürlich bin auch ich selbst keine Ausnahme. Im Auswahlgespräch meiner Therapieausbildung fragte mich der interviewende Analytiker, ob ich selbst in Therapie gewesen sei. Ich antwortete:

»Ja.«

»Warum haben Sie die Therapie begonnen?«

»Weil ich am Ende war.«

Ich brauchte keine standardisierte Prozedur, sondern ein Gegenüber, um mich den überfordernden Erlebnissen meiner Kindheit zu stellen. Im Erwachsenenalter blind für den Ursprung meiner Qualen bedurfte es jemanden, der mit mir gemeinsam den Schleier des Vergessens lüftete und mir half, das zu ertragen, was zum Vorschein kam. Nur so konnte ich meine vermeintlichen Schutz- und Bewältigungsstrategien aufgeben, die in Wahrheit zum Motor meiner Schwierigkeiten geworden waren. Statt die Erkenntnis von anderen zu bekommen, erlangte ich sie durch die therapeutische Unterstützung selbst.

Ich begab mich auf den Pfad der Psychotherapie. Doch wo führt dieser hin, wie kommen wir zum Ziel? Scheinbar paradox, indem wir innehalten. Statt unser Leben der Suche nach einem unklaren Ziel (der Erleuchtung, Heilung oder wie auch immer wir es etikettieren) zu widmen, kommen wir im Hier und Jetzt zu uns selbst, mit all unseren Gefühlen, Ängsten, Lügen. All das finden wir in unserem Hier und Jetzt.

Das erfuhr eine 40-jährige Frau am eigenen Leib. Ihr autistischer Sohn war erkrankt und musste mehrere Wochen bei ihr leben, bis er wieder in seine Wohnstätte zurückkehren konnte. Sie sagte:

»Ich war so wütend auf ihn. Er ist, ohne zu schauen, auf die Straße gelaufen und wurde fast von einem Bus überfahren! Ich schrie ihn an: ›Du sollst normal sein! Du sollst gesund sein!‹«

»Sie wollen, dass Ihr autistischer Sohn normal ist?«

»Ja.«

»Sie wollen, dass er nicht er selbst ist.«

»Er muss sich ändern.«

»Der Sohn, der seit 40 Jahren autistisch ist, muss sich ändern. Glauben Sie daran?«

»Nein, wohl nicht wirklich.«

»Wir wünschen uns, dass unsere Frustration seinen Autismus verschwinden lässt. Aber das wird sie nicht, oder?«

»Nein, wird sie nicht.«

»Er ist autistisch und wird immer autistisch sein. Sie hoffen seit 40 Jahren, dass ihr autistischer Sohn zu einem normalen Sohn wird. Das ist nachvollziehbar. Wer würde sich das nicht wünschen? Wollen wir die Fantasie eines normalen Sohnes, den Sie nicht haben und nicht bekommen werden, zusammen begraben?«

[Sie beugte sich nach vorne und begann zu schluchzen.]

Ich führte der Mutter die von ihr verleugnete Realität nicht vor Augen, um ihr Schmerzen zuzufügen, sondern um ihr Erleichterung zu verschaffen. Erleichterung von einer Illusion, die sie vierzig Jahre ihres Lebens gequält hatte. Indem ich mich den Gegebenheiten ihres Lebens mit ihr zusammen stellte, zeigte ich ihr, dass sie diesen auch selbst entgegentreten konnte. Als sie die Illusion eines nicht autistischen Sohnes aufgab, konnte sie ihren tatsächlichen Sohn in die Arme schließen.

Kann sie es schaffen, die Dinge in der Form anzunehmen, wie sie sind? Kann sie ihren Sohn mit seinem Autismus annehmen? Dazu braucht es nicht einen Therapeuten, der offensichtliche Gegebenheiten ausspricht, sondern der die Mutter beim Zulassen der Einsicht stützt, die schon verborgen in ihrem Inneren existiert.

Sobald die Mutter sich ihr Wunschdenken eingestand, konnte sie das wahrnehmen, womit sie jetzt leben konnte: ihren Sohn, so wie er tatsächlich war. Für diesen wurde durch das Verschwinden der Fantasie ein Platz in ihrem Herzen frei. Genau wie in ihrem Leben, das die Mutter jetzt mit ihrem Sohn führen konnte. Nicht frei von Schwierigkeiten, aber frei von Vorwürfen an ihn und von dem resultierenden Leiden.

Sie musste ihre natürlichen Sehnsüchte nicht aufgeben, aber konnte sie als solche einordnen. Sehnsucht hin oder her, ihr Sohn ist, wie er eben ist. Ob ihr das gefällt, oder nicht. Er ist und bleibt autistisch. Selbstverständlich wird die Sehnsucht immer wieder aufkommen. Nur anstatt diesem Wunsch nachzugeben, konnte sie sich eine Weile daran erfreuen und sich dann wieder liebevoll ihrem Sohn zuwenden.

Nur allzu oft schauen wir in die Ferne und übersehen dabei das Glück direkt vor uns. Als die Frau ihren Blick auf das Hier und Jetzt richtete, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: »Mein Gott, in Wahrheit bin ich diejenige, die lernen muss, mit ihrem Leben zurechtzukommen. Ich muss lernen, die Realität zu sehen, um nicht von ihr überfahren zu werden.«

Wir gesunden an der Wahrheit, egal wie hart sie sein mag, und erkranken daran, einem Phantom nachzujagen. Der Therapeut lässt uns innehalten und im Hier und Jetzt zu Atem kommen. Geerdet im gegenwärtigen Moment, können wir unsere Gefühle spüren, die zuvor in den Schatten als körperliche Anspannung versteckt blieben. Gänzlich unerwartet reicht unsere Angst uns die helfende Hand, um genau diese Schatten zu erkunden, vor denen wir panisch flüchten.

Übrigens sagt uns der Therapeut immer wieder dasselbe: »Hör auf davonzulaufen und stell dich deinen Ängsten.«

Aber wir haben uns angewöhnt, nicht zuzuhören. Wir führen ein Leben auf der Flucht, ohne dabei zu realisieren, dass wir vor unseren Gefühlen und ihren Auslösern flüchten. Wir haben nie gelernt, den Unterschied darin zu erkennen, wer wir sind und wer wir zu sein versuchen. Um endlich auf unserer Flucht innezuhalten, brauchen wir eine Partnerin oder einen Partner, die oder der uns dabei hilft, zur Ruhe zu kommen und unsere Gefühle wahrzunehmen. Denn was allein unerträglich war, wird zu zweit erträglich.

Dieses Vorgehen ist kein standardisierter Prozess, sondern das beiderseitige Akzeptieren unseres Innen- und äußeren Lebens, der Realität. Und was würde dies treffender bezeichnen als Liebe? Sobald die Frau den Autismus ihres Sohnes akzeptierte, konnte sie ihn lieben und hörte auf, das Unmögliche von ihm zu fordern: ein nicht autistisches Kind zu sein. Um zu heilen, müssen wir das zuvor Unerträgliche akzeptieren: die Realität und unsere zugehörigen Gefühle.

Das Unerträgliche

»Jon, Jon!« schrie meine Schwester. Mit ihren zweieinhalb Jahren stand sie im Kinderbettchen neben dem Fenster und musste mit ansehen, wie mein eineinhalbjähriger Bruder sich in der Gardinenschnur verfangen hatte und langsam erstickte. Ich sprang aus dem Bett, rannte zum Kinderbett, kletterte zu meiner Schwester hinein und half ihr, meinen Bruder zu stützen, der verzweifelt mit seinen Beinen strampelte. Mit vereinten Kräften wollten wir ihn aus der Schlinge der Gardinenschnur befreien, was nicht gelang. Wir versuchten alles, aber in seiner Panik war er einfach zu schwer. Schließlich stürmte ich in die Küche, um Hilfe zu holen. Ich hörte die Babysitterin noch nach meiner Mutter im Garten schreien. Meine nächste Erinnerung ist die an meine Mutter, wie sie meinen Bruder verzweifelt von Mund zu Mund beatmete. Minuten später, mein Bruder lag tot auf dem braunen Teppich neben der grünen Sauerstoffflasche, führte mich eine Nachbarin an der Hand in ihr Haus. Dort blieb ich bis nach der Beerdigung und sah meinen Bruder nie wieder.

Leben. Tod. Schuldgefühle wegen des Tods meines Bruders. Ich stand vor Fragen, die mich mit meinen fünf Jahren einfach überwältigten.

Doch bin ich nicht der Einzige. All diejenigen, die sich nach Heilung sehnen, mussten Qualen erdulden, die zu viel für sie allein waren. Die Mutter einer Patientin hatte versucht, sie zu ertränken. Der Vater eines Mannes hatte ihn grün und blau geprügelt. Die psychotische Mutter einer weiteren Patientin zog sich mitten auf einer Straßenkreuzung nackt aus und hielt vor den vorbeifahrenden Autos eine Predigt. Diese Betroffenen sind unsere Leidensgenossen.

Alle, die wir nach Heilung suchen, haben gebrochene Herzen, Verluste und qualvolle Gefühle in unserer Vorgeschichte erfahren. Beschwert davon konnten wir unsere Suche nie zum Ziel führen. Um endlich anzukommen, sehnen wir uns nach einer Person, die uns auf dem Rest des Weges begleitet.

Heilung

Im Laufe der Behandlung können wir feststellen, dass wir innerhalb der therapeutischen Beziehung heilen. Die Wunden, die in zwischenmenschlichen Beziehungen entstanden sind, können nur in einer solchen wieder heilen. In einer Beziehung, in welcher die Therapeutin nicht zu uns, sondern mit uns spricht, um herauszufinden, wer wir hinter all unseren Worten, Ideen und Fantasien sind. Sie fragt nach unseren Gefühlen, nicht nach unseren Überzeugungen, und lädt uns zu einer neuen Art von Beziehung ein, in eine andere Welt. Dort wird uns nicht gesagt, dass wir den Mund halten, uns nicht so haben oder einfach damit abschließen sollen. Stattdessen wird gemeinsam mit der Therapeutin ein Tor geöffnet, durch das unsere tiefsten Gefühle ins Bewusstsein treten können.

Anstatt am Küchentisch über die Welt zu plaudern, fragt sie nach den Schmuddelecken unserer inneren Welt. D. h. nach unseren heimlichen Bedürfnissen und Wünschen, die wir schuldbesetzt vor uns selbst und anderen verstecken. Sie ermutigt uns, die Scherben unserer Vergangenheit zusammenzukehren: »Wie wäre es, mit Ihnen selbst ins Reine zu kommen? Schließlich sind Sie selbst die bedeutendste Person, die Sie jemals treffen werden.«

Um mit uns ins Reine zu kommen, müssen wir uns selbst unter dem Scherbenhaufen aus Worten, Ausflüchten und Rechtfertigungen finden. Dazu ein Beispiel, in dem eine Frau ihre Therapie damit begann, von einem Besuch beim Friseur und Dermatologen zu berichten, anstatt ein Anliegen zu benennen.

Ich fragte: »Wenn wir Ihren Dermatologen außen vor lassen, bei welchem Problem möchten Sie meine Hilfe?«

»Mein vorheriger Therapeut hat gesagt, dass ich als Kind traumatisiert wurde.«

»Und Sie? Woran möchten Sie arbeiten?«

»Da gibt es so viele Sachen. Es ist schwer, mich auf eine festzulegen.«

»Wenn Sie konkret werden, bei welchem Anliegen möchten Sie meine Hilfe?

»Ich kann von meiner Kindheit erzählen, vielleicht hilft Ihnen das weiter.«

»Bevor wir auf Ihre Biographie zu sprechen kommen, bei welchem Problem möchten Sie meine Hilfe?«

Sie seufzte und offenbarte: »Es ist mir unangenehm, das direkt anzusprechen.«

»Sie möchten meine Hilfe und fühlen sich gleichzeitig unwohl dabei, mir Ihr Problem zu offenbaren. Wenn wir das Problem nicht kennen, was wird passieren?«

»Ich werde keine Hilfe bekommen.«

»Sie wollen Hilfe und verhindern gleichzeitig, dass Sie die gewünschte Hilfe bekommen. Könnte dieses Muster ein Problem sein, bei dem Sie meine Hilfe möchten?«

Ihre Lippen zitterten und ihr stiegen Tränen in die Augen.

Im Alltag haben sich viele von uns eine Fassade zugelegt: »Ich habe alles unter Kontrolle!« In einer Therapie kann gemeinsam hinter diese Fassade geschaut werden, zu der wahren Person, die sich schutzsuchend hinter der Mauer versteckt hat. Wenn die Person mit Unterstützung der Therapeutin sich der einschränkenden Mauern gewahr wird, kann sie in ihrem Tempo aus der Deckung hervorkommen und wieder ins Licht treten. Nackt und ohne den Schutz des bisherigen Vermeidungsverhaltens kann sie nicht mehr vorgeben, dass alles gut wäre.

Die Therapeutin nimmt uns, wie wir sind. Zwei Menschen begegnen einander.

Die Therapeutin akzeptiert unsere Gedanken, Gefühle und unbewussten Ängste, und wir können erleben, was wir zugleich wollen und fürchten: bedingungslos geliebt zu werden, wie wir sind. Wir fürchten den Schmerz und die Trauer, wenn die wärmende Liebe die vorherige Kälte bewusst werden lässt.

Unsere vertraute Selbstablehnung und Furcht lösen sich durch die beidseitige Akzeptanz unserer Gefühle auf. Warum beiderseitig? Wenn nur die Therapeutin uns akzeptiert, aber wir selbst uns nicht, setzen wir unsere Selbstablehnung heimlich fort. Wir heilen nur, wenn wir uns auch selbst annehmen. Uns selbst zu akzeptieren beginnt damit, unsere Probleme anzuerkennen.

Das Zögern meiner Patientin, ihr Problem zu benennen, stellte sich letztendlich als Vorteil heraus. Ihre Furcht, mir ihr Problem zu offenbaren, führte uns zu ihrer Furcht, sich von mir abhängig zu machen. Ihr Zögern offenbarte ihren nicht erfüllten Wunsch, akzeptiert zu werden. Ihr depressiver Anteil lehnte ihren aktuellen Lebensstil ab und deutete damit indirekt auf das Leben hin, welches sie sich zu bejahen scheute. Ich akzeptierte ihre Nähe abwehrenden Gedanken, dass ich eine weitere Person sei, die sie ablehnen würde. Mit der beidseitigen Akzeptanz konnten die Tränen fließen und eine Lüge wegspülen: die Lüge, dass wir nicht liebenswert sind.

Stimmt etwas nicht mit mir?

Immer wieder sagen wir uns selbst: »Irgendetwas stimmt nicht mit dir!« Lassen Sie uns ein Beispiel anschauen, bei dem klarer wird, was sich hinter dieser Lüge verbirgt. Eine ehemals Kokainabhängige, die Stimmen in ihrem Kopf hörte, die sie zum Substanzkonsum aufforderten, sagte: »Ich kann nicht sagen, woran es liegt, aber etwas fühlt sich falsch an. Ich weiß nicht genau, was richtig ist, das ist jedenfalls nicht richtig.« Manchmal ist es ein unstimmiges Gefühl, dass auf eine heranwachsende, innere Einsicht hindeutet.

Diese Patientin hatte sich jahrelang selbst gestraft mit dem Glauben, dass sie es verdient habe zu leiden. Warum? Um ihren Substanzkonsum zu finanzieren, hatte sie angefangen, als Prostituierte zu arbeiten. Damit ihre Töchter dies nicht mitbekamen, gab sie diese zu deren Vater, einem Exfreund. Während sie anschaffen ging, erfuhr sie, dass der Kindsvater die älteste Tochter sexuell missbraucht hatte. Sie nahm ihre Töchter sofort zu sich zurück und zeigte ihn an. Ungeachtet dessen war der Schaden angerichtet. Die Drogen waren ihr wichtiger gewesen als die Sicherheit ihrer Töchter.

Ihre vorherigen Therapierenden hatten versucht, ihr die Schuld auszureden, und sie dazu aufgefordert, sich selbst zu vergeben. Sie fürchtete dasselbe Verhalten von mir: »Was ich gemacht habe, war falsch! Und das lasse ich mir von niemandem ausreden.«

»Sie haben recht, Sie haben falsch gehandelt. Und diese Schuld wird Sie bis an Ihr Lebensende begleiten. Niemand kann sie Ihnen nehmen. Und ich habe kein Recht, es zu versuchen, denn die Reue ist der gesündeste Anteil in Ihnen. Gerade weil Sie Ihre Töchter lieben, fühlen Sie sich reumütig. Es ist ein Zeichen Ihrer Liebe. Und eine Therapie kann daran nichts ändern. Aber wir können Ihnen mit diesen schrecklichen Selbstbestrafungen helfen, die Sie sich seitdem antun. Schließlich hilft es Ihren Töchtern nicht, wenn Sie sich selbst bestrafen, oder?«

Sie litt, weil sie einer Lüge glaubte: »Ich habe es verdient, für immer zu leiden.« Was sie als Fehler sah, war tatsächlich ihre gute Seite. Ihre Reue, die auf die Liebe zu ihren Töchtern hinwies. Als es ihr schließlich gelang, die Reue zuzulassen und auszuhalten, konnte sie auch die Liebe zu ihren Töchter spüren, ihre innere Schönheit. Da sie sich nun nicht mehr selbst bestrafen musste, hörte sie auf, Drogen zu konsumieren und sich zu prostituieren. Sie stellte sich dem, was sie angerichtet hatte, begann in einer Kindertagesstätte zu arbeiten und reparierte damit symbolisch den Schaden aus der Vergangenheit.

Sie hatte als Prostituierte gearbeitet. Könnte es auch eine Art Prostitution sein, wenn man vorgibt, einen Job zu mögen, von den man nicht angetan ist? Ein Mann, der darauf vorbereitet worden war, in das Familienunternehmen einzusteigen, wurde während seiner Arbeit immer mürrischer. »Mit mir stimmt etwas nicht«, sagte er, »ich sollte nicht depressiv sein.« Tatsächlich hatte sein depressiver Anteil recht. Er war ein begabter Maler. Seine Symptomatik war eine Botschaft seiner Seele: »Verlasse das Familienunternehmen und werde Künstler.« Er wurde depressiv, weil er eine Lüge lebte. Sobald er damit aufhörte und seiner wahren Berufung folgte, verschwanden die depressiven Symptome.

Eine andere Frau musste ihren Job nicht wechseln, sondern stattdessen damit aufhören, sich selbst anzulügen. Sie wunderte sich: »Warum bin ich nur so angespannt? Mein Leben ist großartig. Meine Kinder sind erwachsen. Das hat doch keinen Sinn.« Unbewusste Angst und Anspannungen lassen keinen Sinn erkennen, bis wir uns den Tatsachen stellen und diese zusammenfügen.

Eigentlich war sie diejenige, die das Familienunternehmen führte. Stattdessen wurde aber ihr Ehemann als Leiter wahrgenommen. Wiederholt unterminierte er ihre Autorität gegenüber Mitarbeitenden. Als wir explorierten, welche Gefühle sie ihm gegenüber empfand, wenn er sie sabotierte, versicherte sie mir: »Ich bin nicht wütend«. Sie war überzeugt davon, dass ihr Ärger unangemessen sei. Sie verleugnete die Wut auf ihren Mann und ließ ihren Ärger stattdessen an den anderen Mitarbeitenden aus.